Video killed the radiostar!? Stellenwert des Radios seit Aufkommen der Musikkanäle MTV und VIVA


Thesis (M.A.), 2004

172 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Funktionen und Motive jugendlicher Radiorezeption
1.1 Die Entstehung des Radios
1.2 Jugendliche Radionutzung vor Aufkommen der Musikkanäle
1.3 Jugendkulturen und Radio
1.4 Allgemeine Funktionen und Motive der Radiorezeption
1.4.1 Radio als ‚Nebenbeimedium’
1.4.2 Radio als täglicher ‚Begleiter’
1.4.3 Radio als Medium der ‚parasozialen Interaktion’
1.4.4 Radio als Helfer bei Entwicklungsaufgaben
1.4.5 Bedeutung der Musik im Radio

2 Radio im Wandel: Die 90er Jahre
2.1 Programmliche Entwicklung seit den 90ern
2.2 Jugendwellen
2.3 Stellenwert des Radios heute

3 Die Musikkanäle MTV und VIVA
3.1 Entwicklung der Musikkanäle
3.2 Videoclips
3.3 MTV und VIVA
3.4 Musikkanäle als Helfer verschiedener Entwicklungsaufgaben

4 Musikkanäle und Radio im Vergleich
4.1 Die Vorteile des Bildes
4.2 Alleinige Funktionen des Radios
4.3 Das Fehlen des Bildes
4.4 Problematik des Vergleichs zw. Musikkanälen und Radio

5 Radio- und Musikkanalnutzungsverhalten Jugendlicher: Eine qualitative Studie unter 13-17jährigen Schülern
5.1 Methodisches Vorgehen
5.1.1 Auswahl der Methode
5.1.2 Auswahl der Befragten
5.1.3 Probleme bei der Durchführung
5.2 Kurzbeschreibung der befragten Jugendlichen
5.2.1 Radio als bevorzugtes Medium
5.2.2 Musikkanäle als bevorzugtes Medium
5.3 Ergebnisse der Befragung
5.3.1 Musik als Teil der Jugend
5.3.2 Radio
5.3.2.1 Viel- und Wenighörer
5.3.2.2 Radio und seine Hörvarianten: nebenbei oder konzentriert?
5.3.2.3 Weitere Rezeptionsgründe
5.3.2.4 Stellenwert des Radios für Jugendliche: erstes Resümee
5.3.3 Musikkanäle
5.3.3.1 Viel- und Wenigseher
5.3.3.2 Musikkanäle und seine Rezeptionsvarianten: nebenbei oder konzentriert?
5.3.3.3 Weitere Rezeptionsgründe
5.3.3.4 Die Vorteile des Bildes
5.3.3.5 Exkurs: Musikinformationsfluss unter Jugendlichen
5.3.3.6 Stellenwert der Musikkanäle: erstes Resümee
5.3.4 Medien als Inhalt sozialer Kommunikation
5.3.5 Radio gegen Musikkanäle

6 Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Songs sind heute mehr als nur Musik. Jugendliche verbinden neben der rein musikalischen auch ausgeprägte visuelle Assoziationen mit einem Song. Dank der Musikvideos ist nicht mehr nur die Stimme eines Popstars bekannt, sondern auch sein visuelles Image weit verbreitet. Das Musikvideo scheint damit die Tonträger als popmusikalische Imagebildung abzulösen (Langhoff, 1998, S. 364). Diese Veränderung des Musikkonsums Jugendlicher betrifft jedoch nicht nur die Tonträger, sondern gleichermaßen auch das Radio. Allgemein wurden die rein auditiven Medien quantitativ von audiovisuellen Medien überholt.

„Es dauerte 38 Jahre, bis 50 Mio. Amerikaner ein Radio besaßen. Esdauerte 14 Jahre, bis 50 Mio. Amerikaner einen Fernseher besaßen. Und es dauerte lediglich 4 Jahre, bis 50 Mio. Amerikaner das Internet nutzten.“

(Breitsameter, 2001, S. 39)

Diese fortschreitende Entwicklung hat einen erheblichen Einfluss auf das Rezeptionsverhalten der Konsumenten. Insbesondere für Jugendliche, die heutzutage mit einem vielseitigen Medienangebot aufwachsen. Ihr Umgang mit Medien, vor allem mit musikbezogenen, ist zu einem unverzichtbaren und integralen Bestandteil der täglichen Freizeitnutzung geworden. Jugendliche Lebenswelten werden von daher heute mit ‚Medienwelten’ gleichgestellt, welche die gesamte Entwicklung als „Medienkindheit-Medienjugend“ bezeichnet. (Müller-Bachmann, 2002, S. 176)

Galt das Radio noch bis in die 50er Jahre hinein als abendlicher Unterhalter im Familienkreis und darüber hinaus als Freizeitgestalter am Wochenende, büßte es mit der Verbreitung des Fernsehers in den 60ern zunehmend an Bedeutung ein. Anfang der 70er verlor das Radio endgültig den Kampf ums Wohnzimmer, und der Fernseher stand fortan im Zentrum der Abendunterhaltung. (Kiefer, 1999, S. 434ff.)

Indem sich Radio auf andere und später teilweise neue Funktionen spezialisierte, konnte es sich trotz der dominanten Stellung des Fernsehers weiterhin als wichtiges Alltagsmedium behaupten. Beide Medien, Radio und der Fernseher, können als Allround-Medien durch ihre Informations-, Unterhaltungs-, Entspannungs- und Orientierungsfunktionen die Bedürfnisse der meisten Rezipienten stillen. Der Schluss liegt nahe, dass die ‚neuen Medien’ Computer und Internet, die sich im heutigen Medienrepertoire als fester Bestandteil etabliert haben, die ‚alten Medien’ nicht verdrängen können (Berg & Kiefer, 2002, S. 178). So hat sich zwar in den letzten Jahren mit der Verbreitung des Internets auch das durchschnittliche Medienbudget der Bundesbürger um 151 Minuten pro Tag auf mittlerweile achteinhalb Stunden erhöht (Gerhards & Klingler, 2003, S. 115f.1 ), allerdings blieben dabei die Nutzungsanteile für Radio und Fernseher relativ konstant (Berg et al., 2002, S. 178).

Radio ist heute Teil der Infrastruktur. Wie das Wasser aus der Leitung und der Strom aus der Steckdose kommt das Radioprogramm aus dem Lautsprecher (Arnold, 1991, S. 133). Fragen wie „welche Funktionen erfüllt das Radio für seinen Hörer?“, „welche Bedeutung hat es im Alltag seiner Nutzer?“ oder „welche Motive und Bedürfnisse hat der Hörer?“ wurden in der Forschung bisher nur unzureichend behandelt. Vielleicht, weil das Radio eben ‚nur’ ein Nebenbeimedium ist, das zwar immer und überall gehört wird, gleichzeitig aber auch übersehen oder besser überhört wird, weil es in unseren Alltag integriert ist und von daher schon lange zu einem Alltagsmedium zählt. Es ist zwar täglich präsent, aber in der Öffentlichkeit kaum ein Thema (Lindner-Braun, 1998, S. 66).

In der Forschung gilt das Radio, im Vergleich zum Fernseher, als ein unbedeutendes Medium (Gleich, 2000, S. 427). Die Bedeutung des Radios für Jugendliche, seine Informations- und Sozialisationsleistungen wurden bisher mit einigen Ausnahmen ebenso unzureichend thematisiert. Auch die kontinuierlich durchgeführten Standarderhebungen wie ‚Media Analyse’ und die ‚Langzeitstudie Massenkommunikation’ geben keine Auskunft über die Gründe jugendlicher Radionutzung (Six & Roters, 1997, S. 70). Sie bieten lediglich rein quantitative Daten über Reichweiten und Nutzung. Informationen, wie Jugendliche mit dem Radio umgehen, welche Erwartungen sie an das Radioprogramm stellen, inwieweit spezifische Bedürfnisse erfüllt werden und wie dies mit den Lebensumständen der jugendlichen Hörer zusammenhängt, sucht man vergebens (Gleich, 1995, S. 560).

Das wissenschaftliche Desinteresse an der Radionutzung basiert offenbar auf dem Fehlen einer wahrgenommenen Attraktivität dieses Mediums. Im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs werden mit dem Radio und seinen Funktionen, Hören von Musik und Alltagsinformationen, selten solch negative aber auch positive Auswirkungen verbunden, wie sie dem Fernseher zugeschrieben werden (Schönbach, 1993, S. 232). Zwischen 1980 und 1990 wurden rund 30 bis 60 % aller Studien zum Thema Kinder und Medien im Zusammenhang mit dem Fernseher, jedoch nur 3 % mit dem Radio durchgeführt (Gleich, 1995, S. 559). Zudem verzeichnet die Forschung einige Lücken über Nutzungs- und Zuwendungsformen bei Jugendlichen und über die Bedingungen dafür, wann Radio mit welcher Intentionalität und Aufmerksamkeit verfolgt wird. Aufgrund von mangelnder Forschung lässt sich außerdem kaum zwischen den Motiven und Funktionen der Radionutzung Jugendlicher differenzieren (Six, Roters & Gimmler, 1995, S. 85f.). Die mangelhafte Beachtung des Mediums Radio in der Medienrezeptionsforschung steht der alltäglichen Bedeutung dieses Mediums deutlich entgegen (Lindner-Braun, 1998, S. 26).

Selbst kritische Äußerungen über das Radio wurden lediglich im Zusammenhang mit allgemeiner Medienkritik vorgenommen. Genau wie dem Fernseher wurde dem Radio vorgeworfen, gewalttätige Inhalte, in diesem Fall in Form von Musiktexten, zu verbreiten und allgemein eine „zunehmende mutmaßliche Verflachung der Radioprogramme und Berieselung durch ‚entwortete’ Radioprogramme - Stichwort ‚Dudelfunk’ - (…) [zu verantworten], die einer schleichenden ‚Entpolitisierung’ Vorschub leisten würden“ (Ibd., S. 25f.). Eine spezifische und originäre ‚Radiokritik’ findet sich jedoch nicht.

Radio war bis Anfang der 90er nachweislich das wichtigste Medium für Jugendliche (Gerhards & Klingler, 1999, S. 563). Sowohl bezüglich der Nutzungsdauer als auch in der Übernahme bestimmter Sozialisationsfunktionen. Jedoch bleibt es in der heutigen Medienlandschaft fraglich, ob dies immer noch der Fall ist. Mittlerweile konnten bestimmte Funktionen des Radios von den in den 90er Jahren entstandenen Musiksendern im Fernsehen übernommen werden.

Im Verlauf dieser Arbeit soll zuerst die Veränderungen des Stellenwertes des Radios im Verlauf der aufkommenden Medienkonkurrenz anhand von bisher durchgeführten Untersuchungen theoretisch dargestellt werden. Damit soll die

Bedeutung des Radios im heutigen Alltag von Jugendlichen beleuchtet werden. Weiterhuchungen theoretisch dargestellt werden. Damit soll die

Bedeutung des Radios im heutigen Alltag von Jugendlichen beleuchtet werden. Weiterhin wird die Stellung des Radios mit dem neu entstandenen Musikfernsehsendern gegenüber gestellt. Diesen breiten theoretischen Überlegungen folgt eine quantitative Studie, welche die gewonnenen Erkenntnisse einer ersten Überprüfung unterzieht. Dabei soll erforscht werden, welche Attraktivität jeweils von den beiden Medien Radio und Musikfernsehen ausgeht und welche Funktionen sie für die Jugendlichen erfüllen, um schließlich zu klären, welchen Stellenwert das Radio trotz der Musikkanäle heute noch für Jugendliche hat.

1 Funktionen und Motive jugendlicher Radiorezeption

1.1Die Entstehung des Radios

Ein einstündiges Rundfunkkonzert am 29. Oktober 1923 abends um acht Uhr in Berlin bildete den Auftakt zum regelmäßigen Programmdienst des Radios. Mittlerweile hat sich aus einem einstündigen Abendprogramm ein breites Spektrum an Programmen rund um die Uhr entwickelt (Rocholl, 1976, S. 80). Ganze Familien begannen damals, sich in ihrer Freizeit, vor allem abends und am Wochenende, vor dem Radio zu versammeln, um dem Programm zu lauschen. In den 50er Jahren änderte sich dies aufgrund der Erfindung und fortschreitenden Verbreitung des Fernsehers. Durch seine rasche Verbreitung entwickelte sich der Fernseher zu einem bedrohlichen Konkurrenten für das Radio und stellte es vor große Herausforderungen (Nowottnick, 1989, S. 47). Vor allem seine Funktion als Unterhaltungsmedium, das für Entspannung und Ablenkung sorgte und half, die Alltagsprobleme zu vergessen, musste es an den Fernseher abgeben. Dieser wurde zum Familien- und Freizeitmedium und löste das Radio vor allem am Abend und am Wochenende ab (Wilke, 1999, S. 434). Das Radio rückte in den Schatten des Fernsehers und etablierte sich zum Begleitmedium durch den ganzen Tag (Arnold, 1991, S. 140). In Anbetracht dieser Konkurrenz und den erkennbaren Gewohnheiten der Rezipienten mussten sich die Radiosender neu orientieren und über neue Konzepte in ihrer Programmauswahl nachdenken (Wilke, 1999, S. 22). Das Radio musste sich seiner Stärke, das schnellste und mobilste Medium zu sein, bewusst werden, insbesondere aber auch der Fähigkeit, sich auf neue Situationen einstellen zu können (Arnold, 1991, S. 140). So gingen in den 70er Jahren die so genannten Begleitprogramme auf Sendung, die auch heute noch wichtige Servicefunktionen bieten, wie den Verkehrsservice oder den Wetterbericht. Im Zuge einer stärkeren Differenzierung der Angebote nach Zielgruppen richteten sich diese zweiten und dritten Programme an neue, vor allem aber an jüngere Hörer (Gerhards et al., 1999, S. 563).

Das Motto des Radios ab den 70ern lautete, „Informationen auf dem Teppich der Unterhaltung zu transportieren“ (Berg et al., 2002, S. 40). Radio wurde zu einem Nebenbeimedium, das die Menschen durch den ganzen Tag begleitete, aber auch zu einem Überall-Medium, das in und außerhalb der Freizeit gleichermaßen genutzt wurde (Ibd., S. 179). Seine zentrale Rolle, die es anfangs bei der Vermittlung gesellschaftlicher Fragen spielte, musste das Radio ebenfalls an das Fernsehen abgeben. Doch obgleich das Fernsehen eine harte Konkurrenz darstellte und viele ursprüngliche Funktionen des Radios für sich in Anspruch nahm, stieg die Radionutzung kontinuierlich an (Ibd., S. 30) und führte schließlich in den 80ern zu einer ‚Renaissance’ des Radios (Wilke, 1999, S. 22). Diese Entwicklung steht sicherlich im Zusammenhang mit der Einführung des dualen Rundfunksystems in den 80ern, wodurch zu den etablierten öffentlich-rechtlichen Sendern eine Vielzahl neuer privater Programme hinzukam. Für die Hörer gab es nun viele neue Programme, vor allem regionale Sender, die auf großes Interesse bei den Hörern stießen. Für die öffentlich-rechtlichen Sender hingegen wurden die privaten Sender zu einer harten Konkurrenz, auf die sie mit neuen Formaten reagieren mussten (mehr s. Punkt 2.1 und 2.2).

1.2 Jugendliche Radionutzung vor Aufkommen der Musikkanäle

Gerade für Jugendliche war die Erfindung des Kofferradios Mitte der 40er Jahre von großer Bedeutung. Das Radio wurde mobil und so waren die Jugendlichen nicht mehr auf ihre Zimmer begrenzt, sondern konnten außerhalb des familiären Umfelds in ihrer Peergroup Radio hören. Das Radio erschloss sich so neue räumliche Kontexte, in denen es als verbindendes Medium der Gruppe fungieren konnte. (Münch, 1998, S. 389)

Radio war der zentrale Musikvermittler, der Musik- und Jugendszenen bestimmte. In den 60er und 70er Jahren begannen spezielle Jugendsendungen, Rockmusik ernsthaft als Ausdruck einer Jugendkultur in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Berühmt wurden Sendungen wie der ‚Popshop’ im SWF oder die ‚Radiothek’ im WDR. Diese Sendungen waren wöchentliches Pflichtprogramm für die meisten Jugendlichen und von elementarster Bedeutung für ‚die Szene’. Sie waren die wichtigste Quelle für die Informationen über ihre Stars und deren neusten Songs. (Ibd.)

Während die ganze Familie nun ihre Abende vor dem Fernseher verbrachte, bot sich das Radio für viele Jugendliche als ‚freie’ Alternative zum Fernsehen an. Da viele Jugendliche ein eigenes Radio besaßen, konnten sie die Programme nach ihren eigenen Wünschen wählen, während über das Fernsehprogramm meist die Eltern entschieden. Das Radio war die Möglichkeit, sich von der

Erwachsenenwelt abzugrenzen (Nowottnick, 1989, S. 47). Auch die Nutzerzahlen belegen, dass sich Jugendliche in den 60ern stärker dem Radio zuwandten als Erwachsene. Die Tagesreichweite2 1968 betrug bei der Gesamtbevölkerung 64 %, während sie bei den 14-19jährigen sogar bei 73 % lag (Gerhards, Klingler & Milde, 1998, S. 571). Anfang der 70er erreichte das Radio jedoch einen Tiefpunkt bei seinen jungen Hörern (Gerhards et al., 1999, S. 562). 1970 hörten die 1419jährigen nur eine Stunde pro Tag Radio. Dem gegenüber standen 104 Minuten Fernsehnutzung. Auch war in diesem Jahr die Bindung der Rezipienten zu beiden Medien zum ersten Mal gleich stark entwickelt3 (Ibd., S. 563). Durch die neu entstandenen Begleitprogramme der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (zweite und dritte Programme4 ), die sich insbesondere an Jugendliche richteten und für diese von großer Bedeutung waren, gewann das Radio in den 70ern jedoch wieder mehr Hörer für sich (Ibd.). Durch spezielle Sendungen, aber vor allem durch den hohen Anteil an Rock- und Popmusik entsprachen die Programme dem Anspruch vieler jugendlicher Hörer (Nowottnick, 1989, S. 47). Mit Erfolg, denn „weniger Fernsehen, mehr Hörfunk“ lautete der Trend für das Mediennutzungsverhalten Jugendlicher in den 80er Jahren (Ibd., S. 50). Die Nutzungszeit des Radios lag bereits seit 1974 konstant über der Fernsehnutzungszeit5. Bis 1990 blieb das Radio im Gegensatz zum Fernseher, welches einen deutlich geringeren Wert verzeichnete, in dieser rein quantitativen Dimension das wichtigste Medium für die Jugendlichen der Altersklasse der 1419jährigen. Nicht zuletzt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nutzen Jugendliche das Radio überdurchschnittlich länger als andere Medien (Gerhards et al., 1999, S. 5636 ).

Das Radio etablierte sich somit im Laufe der Zeit zu einem so genannten ‚Jugendmedium’, ohne dass es überhaupt spezielle Jugendsender gab, wie wir sie heute kennen, z. B. Fritz, Sputnik, Eins-Live. Inwieweit das Radio auch qualitativ als Topmedium für Jugendliche bezeichnet werden kann, wird im Folgenden anhand des gesellschaftlichen und sozialen Hintergrunds erläutert.

1.3 Jugendkulturen und Radio

Die Jugend ist eine sehr bedeutende Lebensphase. Auf der einen Seite stehen die Jugendlichen vor individuellen Aufgaben wie Entwicklung und Identitätsfindung. Auf der anderen Seite müssen sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden und in zukünftige Aufgaben und Rollen der Erwachsenenwelt hineinwachsen. Im Interesse der Jugendlichen stehen Themen wie Musik, Freundschaft, Liebe und Partnerschaft, Ausbildung und Beruf, Gesundheit, Sport, Mode und vor allem die Beschäftigung mit Medien. (Gerhards et al., 1999, S. 562)

Schon seit den 50er Jahren nehmen Medien für Jugendliche eine herausragende Rolle ein und prägen die Jugendszenen. Das damalige Leitmilieu des Rock‘n’Roll konnte seine Funktion als ästhetisch-expressives Ausdrucksmittel nur dank der schnellen Verbreitungstechnik des Radios etablieren. Durch seine Thematisierung innerhalb des Leitmediums Radio gelang es dem Rock‘n’Roll zum ersten Mal, als musikalische Jugendbewegung seine örtliche Verankerung hinter sich zu lassen und durch die Kraft der Medien weltweite Popularität zu erreichen. Der Rock‘n’Roll wurde so zum musikalischen Zeichen einer ganzen Generation (Vogelsang, 1997, S. 438).

Über 50 Jahre später nehmen heute Medien einen erheblichen Einfluss auf die Sozialisation von Jugendlichen. Sie bestimmen den Alltag, angefangen beim Aufstehen mit dem Radiowecker bis hin zur Lieblingssendung im Fernsehen am Abend (Van Eimeren & Maier-Lesch, 1997, S. 593). Medien helfen, den Alltag zu strukturieren, sie bilden Normen und prägen Wertvorstellungen, etablieren Sprach-, Musik- und Modekulturen, schaffen Möglichkeiten, in für Jugendliche sonst nicht erreichbare Welten abzutauchen und dienen dazu, sich mit der Welt der Erwachsenen auseinanderzusetzen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten speziell an Jugendliche gerichteter Sendungen und Formate innerhalb der einzelnen Medien. Während es vor 15 Jahren noch sehr wenig

mediale Angebote speziell für Jugendliche gab, hat die werbetreibende Wirtschaft inzwischen die Jugend als äußerst attraktive Konsumentengruppe entdeckt, so dass die heutigen Jugendlichen mit Angeboten überhäuft werden. (Ibd., S. 602f.)

Nicht nur über die reine Nutzung sind Medien in den jugendlichen Alltag integriert, sie bieten auch jede Menge Gesprächsstoff. So wird über Filme und Serien im Fernsehen genauso wie über die neuesten Songs aus dem Radio bzw. den Musikfernsehsendern mit Freunden gesprochen. Dabei wird dem Radio im Vergleich zum Fernseher deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt, was an seiner Funktion als Tagesbegleitmedium liegt7 (Feierabend & Klingler, 2000, S. 16f.). Auf der Beliebtheitsskala der Medien liegt das Radio deutlich hinter dem Fernseher. Am Beliebtesten sind das Fernsehen und das Hören von CDs oder Musikkassetten. 94 % der Jugendlichen sehen täglich oder mehrmals pro Woche fern, erst danach kommt das Radio mit 84 % (Ibd., S. 15).

Jugendliche nutzen die Medien Radio und Musikkanäle nicht nur zur Kenntnisnahme und zum Einstudieren von Trends und lebens- und musikrelevanten Informationen, sondern aus ihnen viel wichtiger erscheinenden Funktionen (Müller-Bachmann, 2002, S. 187). Jugendliche werden in ihrer biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung in der heutigen Zeit von den Medien unterstützt (Boehnke et al., 2000, S. 36). Sie ‚bedienen’ sich dieser aktiv, um Aufgaben und Erwartungen, die ihnen von verschiedenen Sozialisationsinstanzen, wie Eltern, Peergroup, Schule oder der Gesellschaft, entgegengebracht werden, besser zu erfüllen (Münch & Boehnke, 1996, S. 555f.). Gerade das Radio und die Musikkanäle sind hierbei sehr häufig genutzte Medien. Die aktive und kreative Aneignung der beiden Medien zur Bewältigung der alterstypischen Aufgaben beschränkt sich nicht nur auf den Moment der Rezeption, sondern auf alle Situationen in denen sie eine Rolle spielen: Im Gespräch mit Freunden, auf einer Veranstaltung, die der Sender präsentiert, beim Kauf einer CD des Senders oder anderen Merchandise-Artikeln, beim Surfen auf der Internetseite, weil einem das vorher gehörte bzw. gesehene Lied nicht mehr aus dem Kopf geht und eine positive Stimmung hervorruft usw. (Boehnke et al., 2000, S. 36f.).

Die Vorteile des Radios bei der Erfüllung dieser Sozialisationsaufgaben liegen vor allem in seiner natürlichen Nähe zur Alltagswelt der Jugendlichen. Zum einen kann Radio im Gegensatz zum Fernseher aufgrund seiner räumlichen Flexibilität und zeitlichen Universalität wesentlich einfacher von den mobilen Jugendlichen in ihren Alltag integriert werden. Zum anderen spiegelt Radio mit seinem, im Vergleich zum Fernseher, hohen musikalischen Programmanteil die zentrale Position wieder, die von den Musikbewegungen im Leben der Jugendlichen eingenommen werden.

Bei den individuellen wie auch gesellschaftlichen Aspekten hat sich im Laufe der Zeit jedoch einiges verändert. Die früheren Jugendkulturen haben sich seit Ende der 70er von Subkulturen hin zu Lebensstilen gewandelt (Gerhards et al., 1999, S. 562). So wird heute oft nicht von einer Jugendkultur gesprochen, sondern von Jugendstilen, Musik- oder Popkultur8. Hier wird bereits deutlich, dass sich Jugendkulturen hauptsächlich durch ihren Musikgeschmack, aber auch durch ihre Mode auszeichnen. Auch die von den Jugendlichen genutzten Medien beweisen dies. Die von Jugendlichen bevorzugten Programmangebote bestehen zu einem Großteil aus Musik oder aber nehmen zumindest auf musikkulturelle Phänomene Bezug. Musik hat also nicht nur allgemein eine hohe Bedeutung für Jugendliche, sondern wirkt sich auch auf den Medienumgang von Jugendlichen aus (MüllerBachmann, 2002, S. 192). Daher setzen die meisten Medien auch auf Musik. Ein Achtjähriger war heute schon mehr über Medien mit Musik konfrontiert als seine Urgroßeltern in ihrem ganzen Leben (Münch, 2002, S. 188f.).

Aber warum ist Musik für Jugendliche so wichtig? Ein wesentlicher Faktor ist, dass sich durch Musik am leichtesten eine Alternative zum gesellschaftlichen Mainstream leben lässt. Egal ob HipHop, Rock‘n’Roll, Punk oder Techno, der jeweilige Stil verkörpert einen starken Eigen-Sinn. Vor allem für die Identitätsbildung Jugendlicher spielen die Wahl eines Musik- und des dazugehörigen Lebensstils eine große Rolle. (Kemper, Langhoff & Sonnenschein, 1998, S. 11)

„‚Sag mir, welche Musik du hörst, und ich sage dir, wer du bist’ - ander Zugehörigkeit zu bestimmten Musikszenen lassen sich (…)bestimmte Identitätsentwürfe und Strategien der Selbstermächtigungablesen.“ (Ibd.)

Den heutigen Jugendlichen bieten sich sehr viele Auswahlmöglichkeiten an Musikstilen innerhalb der Jugendkultur oder -szenen: Rap, Rave, Beat, Grunge, HipHop, Pop, Punk, Rock, House, Elektro, R‘n’B, Techno usw. Der Ursprung für die Entwicklung dieser verschiedenen Musikstile liegt in den 50er Jahren mit dem Aufkommen des Rock‘n’Rolls. Mit dem Rock‘n’Roll erhielten Jugendliche zum ersten Mal die Möglichkeit, sich selbst zu inszenieren und so durch Musik ihre neu entwickelten Identifikationskonzepte zum Ausdruck zu bringen. Diese Demonstration eigener Konzepte ermöglichte erst eine Rebellion gegen die damaligen gesellschaftlichen Werte wie Ordnung und Strebsamkeit. Der Rock‘n’Roll „wurde zum Kennzeichen von Jugendlichen und zum Ausdruck von Jugendlichkeit“ (Schäfer & Baacke, 1994, S. 128).

Rock‘n’Roll war die erste Musikrichtung, die mehr als nur Musik war. Zum ersten Mal vertrat eine Musikrichtung in der Gesellschaft neu entstandene Werte der Jugend. Eine musikalisch geprägte Jugendbewegung entstand und das Phänomen der Popkultur war geboren. Jugendliche hießen ab sofort Teenager und waren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der mit allem versorgt werden musste, was das Jungsein lebenswert macht: Von der ‚Bravo’ übers Kofferradio bis hin zu den richtigen Klamotten. Populär machten die Bands die neuen Looks. In den folgenden Jahren entstanden immer mehr durch die Medien vermittelte Jugendbewegungen, Jugendkulturen und -szenen: Die 68er Bewegung und die Hippiekultur, deren Ambitionen auf politischen Gründen beruhten, in den 70ern die Friedens- und Umweltbewegung bis hin zu immer schneller wechselnden, oder auch parallel zueinander bestehenden Jugendszenen, die sich vor allem durch Musik und Kleidung identifizieren (Punks, Popper, Hooligans usw.).

Seit den 90ern bestehen Unmengen von neuen Jugendkulturen nebeneinander, oft in Form von Medienkulturen. Die heutigen, hauptsächlich durch die Medien

vermittelten Musikstile dienen den Jugendlichen vor allem zur Identifikation und bieten durch das ihnen innewohnende Protestpotential gleichzeitig Abgrenzung von der Erwachsenenwelt. Die ‚klassischen’ Jugendszenen von früher, die einen ausgeprägten institutionellen Charakter aufwiesen (konfessionelle oder politische), bestehen heute so gut wie gar nicht mehr. (Van Eimeren et al., 1997, S. 591)

Zu Beginn des Jahrhunderts verfügte der Begriff ‚Jugendkultur’9 über eine pädagogische Tradition. Heute sind die ‚klassischen’ Jugendkulturkonzepte nach Wyneken wesentlich schulferner und vor allem freizeitbezogen (Baacke, 1999, S. 141). Jugendliche orientieren sich an Maßstäben, die außerhalb der Schule entstehen: „Rock und Pop. Konsum, alternative Lebensformen, alles getragen und bearbeitet in erster Linie durch die Medien als vermittelnde Instanz, gerade nicht durch Familie und/oder Schule“ (Ebd.). Im Zuge dessen haben die Jugendmedien immer mehr an Bedeutung gewonnen (Schmidbauer & Löhr, 1999, S. 342).

Es gibt nicht mehr DIE Jugendkultur, der sich Jugendliche anhängen können, Jugendkultur besteht heute aus verschiedenen Teilkulturen, deren Geschmäcker, Einstellungen und Lebensstile sich auf vielfältige Weise unterscheiden (Barth & Neumann-Braun, 1996, S. 256f.). Dazu gehören zum Beispiel Rollerblader, Skater, Fußballfans, Rapper, Raver, Computerfreaks, Hippies, Punker usw. Rolf Schwendter, Jugendkultur-Forscher, spricht daher auch von „Jugendsubkulturen“ (Schwendter, 1995, S. 11). Diese sind allerdings nicht klar voneinander zu trennen, da viele Jugendliche meist mehreren Subkulturen angehören. Sich an einen bestimmten Stil zu binden, ist für Jugendliche von großer Bedeutung bzw. sogar ‚notwendig’, da hier Potenzial für die Bildung von Gruppen und somit auch Abgrenzung gegenüber anderen entsteht. „Dementsprechend zeigt der Stil eines Individuums nicht nur an, wer ’wer‘ oder ’was‘ ist, sondern auch wer ’wer‘ für wen in welcher Situation ist.“ (Schmidbauer et al., 1999, S. 343)

Die Jugendkulturen prägen den Lebensstil, angefangen vom Musikstil über korrespondierende tänzerische Stile, Kleidung, bevorzugte Freizeitaktivitäten und -orte bis hin zu Ernährungsgewohnheiten, den Umgang mit anderen Menschen, anderen Jugendkulturen oder den Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln (Behne & Müller, 1996, S. 367). Äußere Zeichen der inneren Zugehörigkeit zu einem Kreis Gleichartiger sind der gleiche Musikgeschmack und die gleiche Medienausstattung (Schorb, 1998, S. 21). Musik führt und hält eine Gruppe zusammen. Ihre Mitglieder fühlen sich in einer Gemeinschaft, die sich gegenüber anderen Gruppierungen abgrenzt (Rösing & Oerter, 1993, S. 53). Laut Dieter Baacke ist „Kultur in den heutigen Jugendkulturen (…) die Schaffung von Stilen über Medien, derer ‚bildender Gehalt’ unter Pädagogen eher strittig sein dürfte: Konsum, Pop und Rock, Mode sowie Schaffung neuer sozialer Treffpunkte“ (Baacke, 1999, S. 143).

Eine jugendkulturelle Aktivität kann ein Konzert- genau so wie ein Theaterbesuch sein. Die Partizipation von musikalischen Jugendkulturen kann über face-to-faceInteraktionen, wie zum Beispiel Szenentreffs, stattfinden oder aber durch die Nutzung von Massenmedien (Behne et al., 1996, S. 367). Die Attraktivität der Medien für Jugendliche besteht vor allem darin, dass Medien das mit der Jugendkultur verbundene Lebensgefühl zur Sprache bringen. Jugendkultur und deren mediale Präsenz beeinflussen sich gegenseitig. Die in den Medien vorgelebten Stile dienen den Jugendlichen als Basis, um ihren eigenen Stil und ihre eigene Sprache zu finden. Die Medien wiederum sind in ihren Programmangeboten immer auf Veränderungen und neue Impulse der Jugendkultur angewiesen, die sie aufgreifen, medial verarbeiten und den Jugendlichen wieder als neuen Stil auftischen. Somit verstärken sich jugendkulturelle Stile und ihre mediale Präsenz wechselseitig und sind in einem Prozess der ständigen Veränderung ineinander verflochten. (Barthelmes & Sander, 2001, S. 28)

Früher übernahmen die traditionellen Medien Radio, Kassette, Schallplatte sowie einschlägige Zeitschriften diese Funktionen. Vorteil dieser Medien ist, dass sie aufgrund ihrer Mobilität an allen Orten benutzt werden können. Der Fernseher war von daher immer ein zweitrangiges Medium. Allerdings ist es den Musiksendern inzwischen gelungen, Jugendliche vor den Fernseher zu ziehen, um Rock- und Popmusik nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Anstelle der früheren aktiven und öffentlichen Teilnahme an der Rock- und Popkultur scheint deren passive Aufnahme im häuslichen Rahmen an Bedeutung gewonnen zu haben (Barth et al., 1996, S. 256f.). Während sich die Jugendlichen früher draußen trafen, dort gemeinsame Erfahrungen machten und Lebensgefühle, die in den Songs ihren adäquaten Ausdruck fanden, teilten, gehören sie jetzt einem gemeinsamen Stammpublikum eines Musiksenders und der von ihm vorgegebenen Jugendszene bzw. -kultur an (Ibd., S. 257).

Ein weiterer Grund für eine ansteigende Fernsehnutzung ab Mitte der 80er ist auf die Verbreitung des Kabel- und Sattelitenempfangs zurückzuführen. Jugendliche fanden Ende der 80er mehr adäquate Angebote als zuvor und honorierten diese mit stärkerer Fernsehzuwendung. Hinzu kam, dass die Fernsehgeräte in den Haushalten zunahmen. Viele Familien hatten erst ab diesem Zeitpunkt einen Zweit- oder sogar Drittfernseher. Erst jetzt fanden Fernseher ihren Weg in die Zimmer vieler Jugendlicher, die nun zunehmend allein fernsahen und ihr eigenes Programm selbst bestimmen konnten. (Gerhards et al., 1999, S. 563)

Dass Angebot der Sender ist für einen Jugendlichen heute schon fast lebensnotwendig. Um ‚in’ zu sein, übernehmen die Jugendlichen die ihnen vorgelebten Trends, wodurch das Musikfernsehen die Rolle eines „ meaningmaker s“ erhält (Neumann-Braun & Schmidt, 1999, S. 29). MTV, der international bekannteste Vertreter des Musikfernsehens, beweist, dass er längst mehr als nur ein weiterer Fernsehsender im überfüllten Kabelnetz ist. Er ist ein allumfassender Vermittler der populären Kultur, der sich zu einer kulturellen Ikone entwickelt hat und das einflussreichste kulturelle Einzelprodukt der 80er Jahre ist. MTV steht als Markenzeichen für Postmoderne, Hedonismus und Jugendkultur (Ohler, 2003).

Nach diesen Charakteren der Musikkanäle lässt sich vermuten, dass sich die Jugendkulturen unter dem Einfluss dieser Sender verändert haben. Welche spezifischen gruppenbildenden Funktionen die Musikvideos für die aktuelle Jugendkultur jedoch einnehmen, ist bisher kaum empirisch untersucht worden (Neumann-Braun et al., 1999, S. 29).

1.4 Allgemeine Funktionen und Motive der Radiorezeption

Radio war und ist in den jugendlichen Alltag integriert. Ein Ritual, dass morgens beim Aufstehen genutzt wird, auf dem Weg zur Schule oder Arbeit, mittags nach dem Nachhausekommen und am Abend. Bis in den frühen Abend hinein ist es das dominierende Medium (Gerhards et al., 1998, S. 573), mit zwei Nutzungshöhepunkten von 6:30 bis 7:30 Uhr und 13:30 bis 18:00 Uhr (Van Eimeren et al., 1997, S. 597). Dabei fungiert das Radio in erster Linie als musikalische Hintergrundkulisse, aber auch als Stimmungsregulator, als Anreger und Besänftigter, als ‚soziales Schmiermittel’10 bei der alltäglichen Arbeit sowie als Instrument der Entspannung und Ablenkung. Jedoch ist das Radio bei allen anderen medialen Funktionsebenen nie die erste Wahl. Bei Langweile würden

23 % der 12-19jährigen fernsehen, nur 14 % würden Radio hören. Bei Trauer entscheiden sich 43 % für CDs oder Kassetten, da sie hier die geeignete Musik selbst aussuchen können. 19 % schalten bei Trauer das Radio ein, wodurch das Radio vor dem Fernseher (13 %) liegt. Auch wenn es um die Bewältigung von Sorgen und Problemen geht, liegen CDs und Kassetten mit 31 % vorne, gefolgt von dem Fernseher mit 25 % und dem Radio mit 15 %. Auf der Suche nach Spaß und Unterhaltung bevorzugen Jugendliche unter allen Medien den Fernseher. Mit 40 % liegt er an der Spitze, auf das Radio und CDs/Kassetten entfallen nur 16 % bzw. 15 % (Gerhards et al., 1998, S. 575). Auch Jugendliche, die sich aktuell informieren und Hintergrundinformationen erfahren wollen, schalten zuerst den Fernseher ein oder greifen zur Tageszeitung (Oehmichen, 1998, S. 63). Das bevorzugte Medium, um sich politisch zu informieren, war 1990 bei den 1419jährigen noch das Radio; ab 1995 hat jedoch das Fernsehen diese Funktion übernommen (Lindner-Braun, 1998, S. 43).

Radio ist aber‚das’ Medium, das vor allem Jugendliche mit Nachrichten versorgt, allerdings unbewusst. Viele Jugendliche schalten nicht gezielt eine Nachrichtensendung im Fernsehen ein oder lesen täglich die Zeitung, jedoch werden sie halbstündlich beim Radiohören mit Nachrichten konfrontiert, so dass sie auch beim nicht aktiven Hinhören informiert werden. Interessant ist übrigens, dass Jugendliche mit niedriger formaler Bildung und wenig politischem Interesse am wenigsten das Radio nutzen (Kiefer, 1995, S. 25). Auch als Unterhaltungsmedium, als Medium des Eskapismus und um Ratschläge in jeder Lebenslage zu bekommen liegt der Fernseher weit vor dem Radio. Lediglich als Hintergrundkulisse für verschiedene Aktivitäten liegt das Radio deutlich vor dem Fernseher (Oehmichen, 1998, S. 63).

Aufgrund der musikalisch dominierten Formate der jugendorientierten Radioprogramme wird Radio von Jugendlichen hauptsächlich als Musikmedium und alltagsbegleitendes Unterhaltungsmedium genutzt. Knappe Wortbestandteile und Nachrichten, die den aktuellen Kontakt zur Welt garantieren, werden toleriert, Stimmungsmanagement und -stimulation durch die jeweilige Musik dagegen werden von den Jugendlichen erwartet (Ibd., S. 61). Allerdings nimmt das Radio nicht in jeder Stimmung bei der Verarbeitung von Emotionen eine einzigartige Stellung ein. Dennoch weist es als Medium die größte Bandbreite in der Stimulation und Regulierung emotionaler Stimmungen auf. Dies lässt auf eine ausgeprägte emotionale Universalität des Radios schließen (Gerhards et al., 1998, S. 575).

1.4.1 Radio als ‚Nebenbeimedium’

Ganz im Gegensatz zur Fernsehnutzung, bei der sich der Rezipient vollständig auf den Bildschirm konzentriert, verhält es sich mit der Radionutzung. Radio wird hauptsächlich während der Verrichtung anderer Tätigkeiten wie z. B. Hausarbeit, lesen, Autofahren, Hausaufgaben gehört. Während das Radio die ‚Haupttätigkeit’ begleitet, wird der Rezipient nur teilweise von den Programminhalten eingenommen. Der Hörer widmet sich nur so weit dem Radiogeschehen, als dass er nicht mehr vollständig in der Alltagswelt verweilt. Hierauf basiert auch die Entlastungs- bzw. Entspannungsfunktion des Radios (Weiß, 1993, S. 166). Das Radio kann somit langweilige Aufgaben erträglicher gestalten, weil der Hörer sich gleichzeitig ‚mit einem Ohr’ in der angenehmen Audiowelt des Radios befindet (Altheide & Snow, 1982, S. 280; Snow, 1983, S.112f.). Aufgrund seiner Beschaffenheit ist das Radio das einzige Medium, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann (Rogge, 1988, S. 141).

Während das Radio nebenbei gehört wird, erfüllt es drei Funktionen: Unterhaltung, Information und Bildung (Greven, 1991, S. 193). Für die meisten Menschen dient Radio allerdings hauptsächlich der Unterhaltung und erfüllt somit psychosoziale Funktionen: Es hilft bei der Entlastung und Entspannung und sogar bei der Beschwichtigung von Problemen und Ängsten (Weiß, 1993, S. 165f.).

Da die meisten Rezipienten während der Radionutzung noch anderen Aufgaben nachgehen, bleiben sie relativ lange bei ein und demselben Sender und ‚zappen’ nicht durch die verschiedenen Kanäle, wie es beim Fernseher der Fall ist. Auch wenn dem Hörer ein Lied nicht zusagt, wird er nicht sofort seine Arbeit unterbrechen und sich die Mühe machen, den Sender zu wechseln. Lediglich im Auto verhält sich dies anders. Da der Hörer nah am Radiogerät sitzt, wird er schon bei jeglicher Abneigung gegen das Programm den Sender wechseln.

Die Rolle als Nebenbeimedium hat dem Radio aber zusätzlich zu den genannten Funktionen auch ein negatives Image eingehandelt. Viele Kritiker bezeichnen es auch als „Dudelfunk-Medium“. Gemeint sind hiermit Programme, die ihre Hörer mit unaufdringlicher Musik und wenig Wortbeiträgen berieseln. Diese Behauptung lässt allerdings außer Acht, dass das Radio als Nebenbeimedium, wie zuvor dargelegt, einen nicht zu unterschätzenden positiven Einfluss auf den emotionalen und sozialen Alltag der Hörer nehmen kann (Goldhammer, 1995, S. 237; Lindner-Braun, 1998, S. 25f.).

Aufgrund der Eigenschaft als Nebenbeimedium kann man nach Rogge drei Rezeptionstypen unterscheiden: den konzentrierten Hörer, den halb aufs Zuhörenkonzentrierten Hörer und den inadäquaten Hörer. Der k onzentrierte Hörer lässt sich bewusst und zielgerichtet auf das Programm ein und hört intensiv. Dabei werden höchstens ein paar kleine unkomplizierte Arbeiten nebenbei erledigt. Für den halb aufs Zuhören konzentrierten Hörer ist Radiohören eine „Nebenbei- und Zwischendurch-Handlung“. Er lässt sich zwar auf die Programminhalte ein, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf parallel ausgeübte Tätigkeiten. Dem inadäquaten Hörer dient das Radio hauptsächlich als ‚Klangtapete’. Seine Aufmerksamkeit liegt voll und ganz bei einer anderen Aktivität (Rogge, 1988, S. 141).

Beide letzteren Typen sind jedoch nicht zu unterschätzen, denn trotz der geteilten Aufmerksamkeit ist bei ihnen eine hohe Intensität der Radionutzung sowie eine starke emotionale Bindung zum Programm feststellbar (Guntermann, 1997, S. 67f.). Hierfür finden sich insbesondere empirische Beweise in der Werbeforschung. Bei mehreren Untersuchungen stellte sich heraus, dass „das vielzitierte Nebenbeihören - besser die begleitende Radionutzung - als typisches Rezeptionsmerkmal (...) die Werbewirkung nicht [beeinträchtigt]“ (LindnerBraun, 1998, S. 30). Grund hierfür ist, dass das Radiohören weit weniger durch die Nebentätigkeit gestört wird, als es bei der Fernsehnutzung der Fall ist. Bei der Radiorezeption wird dem Hörer an sich weniger Konzentration abverlangt, da er nur einen Sinneskanal verarbeiten muss (Ibd.). Wenn sogar die Werbung, die sicherlich den unattraktivsten Teil des Radioprogramms darstellt, mit ausreichender Aufmerksamkeit beim Nebenbeihören rezipiert wird, kann dies noch stärker vom restlichen Programm angenommen werden.

1.4.2 Radio als täglicher ‚Begleiter’

Aufgrund seiner Mobilität und seiner begleitenden Nutzung dringt Radio in viel mehr Bereiche des Alltags ein als es der Fernseher jemals schaffen kann (Cerulo, Ruane & Chayko, 1992, S. 112). Radio ist ein täglicher Begleiter, der in den Alltag integriert, dadurch mit bestimmten Ritualen verbunden und in vielen Situationen, wie beim Autofahren oder Aufstehen, nicht mehr wegzudenken ist. Ohne Radio fehlt oft ein wichtiger Bestandteil einer Situation. Beispielsweise wäre ein Auto ohne Radio für die meisten Menschen unvorstellbar (Oehmichen, 1998, S. 67). Das Medium Radio besitzt also eine hohe Bedeutung in unserem Alltag. Am Morgen weckt uns der Radiowecker, im Auto auf dem Weg zur Arbeit, am Nachmittag bei der Hausarbeit usw. ist es immer dabei. Durch diese Alltagsbedeutung für ihre Hörer haben sich die Sender inzwischen mit ihrer Programmgestaltung auf die jeweiligen „soziodemographischen Nutzungsverläufe“ (Goldhammer, 1995, S. 198) eingestellt. Durch Tempo, Musikfluss und Moderationsform gleicht sich das Programm den unterschiedlichen Situationen des Tages an. Am Morgen ist der Programmfluss schneller, um den Hörer in kürzester Zeit mit den aktuell wichtigen Informationen des Tages zu versorgen. Am Vormittag soll durch einen langsameren Fluss aus wenig Wort und viel Musik der Berufsalltag der Hörer erleichtert werden. Trotz dieser unterschiedlichen Anmutungen bietet Radio ganztäglich ein relativ homogenes Programm. Der Hörer kann jederzeit einschalten und wird ohne größere Probleme das Programm und dessen Inhalt sofort verstehen können (Ebd.). Als Begleiter ist das Radio immer und überall verfügbar und laut Rudolph Arnheim ein „Dauergast“, dessen Anwesenheit viele Leute nicht missen wollen (Weiß, 1994, S. 301).

Aber das Radio begleitet seine Hörer nicht nur durch den Alltagsrhythmus, sondern unterteilt den Tag auch in Zeitabschnitte (Mendelsohn, 1994, S. 242). Durch die Anpassung an diesen Rhythmus muss Radio nicht erst aufwendig in die Alltagsroutine eingeplant werden, so wie es beim Fernsehen der Fall ist. Für seine Nutzung muss der Rezipient keine Aktivitäten verschieben oder umplanen. Viele Hörer entwickeln sogar ihre Alltagsroutine anhand des Radios und machen es somit zum selbstverständlichen Begleiter durch den Tag (Snow, 1983, S. 100ff.). Für viele Rezipienten ist das Medium zudem so stark mit dem Alltag verbunden, dass einzelne Programme für sie sogar eine Signalfunktion besitzen, wie folgende Zitate aus einer Hörerbefragung in Phoenix bereits 1983 demonstrieren:

„When Haywoods show [Morgensendung in Phoenix] is over, I know the work-day has begun.“„When `All Things Considered´ comes on, I feel the job part of my day is over.“ (Snow, 1983, S. 103)

1.4.3 Radio als Medium der ‚parasozialen Interaktion’

Radiohören kann gegen das Gefühl von Einsamkeit, Verlassenheit und Nutzlosigkeit, gegen Stille, Verunsicherung, Angst, Wut, Ärger oder Langeweile helfen. Es kann helfen, den Alltag zu vergessen, auf andere Gedanken zu kommen und dient als Ersatz für einen fehlenden Gesprächspartner (Lindner-Braun, 1998, S. 45). Die Gruppe der 14-19jährigen nutzt das Radio hauptsächlich als Nebenbeimedium und zur Unterhaltung. Von Bedeutung ist für sie aber auch die Möglichkeit, die das Radio bietet, eine Beziehung von Mensch zu Mensch zu offerieren - eine parasoziale Interaktion (Adolph, 1997, S. 179). Durch diese Beziehung entsteht die Illusion einer räumlichen und zwischenmenschlichen Nähe. Dafür ist auf der einen Seite die Musik, aber auch der Moderator mit seinen Wortbeiträgen verantwortlich. Der Moderator kann durch Glaubwürdigkeit, Attraktivität und Freundlichkeit verschiedene Funktionen eines Freundes erfüllen, so dass der Eindruck geweckt wird, die Person zu kennen (König & Lessan, 1985, S. 264). Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass der Rezipient beim Radio immer direkt angesprochen wird. So kann mit dem Moderator eine andauernde Beziehung aufgebaut werden, die zu einem hohen Potential an Interesse und Identifikation mit diesem führt. Durch die tägliche Radionutzung und der daraus resultierenden Wiederholung der Begegnung des Hörers mit dem Moderator bzw. der Intensivierung der Radionutzung kann, zumindest für den Moment, eine ausgeprägte emotionale Tiefe entstehen (Cerulo et al., 1992, S. 116). Der Moderator erhält so einen hohen Anteil am emotionalen und sozialen Alltag der Hörer (Guntermann, 1997, S. 67). Durch den Moderator erhält das Radio eine personelle, fast interpersonale Größe (Snow, 1983, S. 101).

„Das persönliche Auftreten [des Moderators] verbindet sich mitunter mit der direkten personalen Ansprache des Publikums zur Suggestion einer gesprächsartigen Situation.“ (Weiß, 1993, S. 174)

Zwar wird der Moderator nie die gleiche Bedeutung eines realen Freundes erhalten, allerdings weist die Bewertung der Beziehungsqualität zu beiden gewisse Ähnlichkeiten auf: Parasoziale Interaktion wird von dem Hörer mit den gleichen Werten einer interpersonalen Interaktion wie Gesellschaft, Freundschaft und enger Kontakt besetzt (Horton & Wohl, 1979, S. 37; Gleich & Burst, 1996, S. 192). Der Hörer denkt während der parasozialen Interaktion über den Moderator in beziehungsrelevanten Kategorien nach und bewertet sie nach ähnlichen Kategorien wie Personen aus seinem Umfeld (Gleich et al., 1996, S. 192).

Im Forschungsbereich über parasoziale Interaktion gibt es hauptsächlich Untersuchungen im Zusammenhang mit Fernsehmoderatoren; Untersuchungen mit Radiomoderatoren wurden allerdings kaum durchgeführt. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Aufgrund des bewegten Bildes ist es wesentlich einfacher, eine parasoziale Interaktion mit einem Fernsehmoderator einzugehen, als mit einem Radiomoderator. Das Bild allein führt allerdings nicht automatisch zu einer parasozialen Interaktion. Bestimmte Sendungs- bzw. Medienformate, wie auch die Musiksender, besitzen ein höheres Potential für eine parasoziale Interaktion als andere (Nordlund, 1978, S. 152). Aber dennoch dienen die Moderatoren beider Medienformate für die Hörer als ein Interaktionspartner, an den sie bestimmte Erwartungen setzten. Es besteht zwischen beiden eine soziale Beziehung, in welcher der Moderator durch seine Präsenz, durch seine Äußerungen und seine Reaktionen auf die Zuschauer bzw. Hörer bestimmte Nutzen oder Anreize erfüllt. Diese ‚Erwartungen’ beziehen sich auf verschiedene soziale Bereiche wie etwa Sympathie, Autorität oder Kompetenz. Wenn der Moderator diese Erwartungen erfüllt, wird er von seinem Publikum akzeptiert, wenn nicht, wird im Normalfall der Sender gewechselt. (Lindner-Braun, 1998a, S. 176)

Aber auch ohne Bild ist eine parasoziale Interaktion möglich. 47 % aller Hörer geben an, dass sie einen Lieblingsradiomoderator haben. 48 % würden gerne mal einen Radiomoderator kennen lernen und 31 % möchten gerne mehr persönliches über den Moderator erfahren. Das Radio gibt den Hörern das Gefühl sowohl ‚dabei’ als auch ‚nicht allein’ zu sein (Ibd., S. 175). Es wird meist allein gehört und erhält dadurch die Eigenschaft ‚persönlich’. Dies erleichtert die Etablierung der parasozialen Kommunikation für den Hörer.

„Der Nutzen besteht in der Herstellung sozialer Nähe, die auf(stellvertretend) affiliative Befriedigung abzielt und einer vielfachbelegten Affektsteuerung beim Hören von Musik.“ (Lindner-Braun, 1998, S. 55)

Es ist daher anzunehmen, dass mit häufiger und langer Radionutzung parasoziale Erwartungen an den Moderator verstärkt vorkommen.

1.4.4 Radio als Helfer bei Entwicklungsaufgaben

Medien gehören nicht nur zum jugendlichen Alltag, sondern zählen auch zu den biographisch relevanten Sozialisationsinstanzen. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden sind Jugendliche bestimmten jugendtypischen Entwicklungsaufgaben ausgesetzt, wie Peergruppenintegration, eigener Lebensstil, enge Freundschaftsbeziehungen/soziale Bindungsfähigkeit, physische Reifung, frühe Selbstständigkeit, Berufsvorbereitung, sexuelle Beziehung, politische Orientierung, Zukunftsorientierung/Leben als Erwachsene und Identitätsentwicklung (Münch & Bommersheim, 2000, S. 62). Um diese Aufgaben besser erfüllen zu können, bedienen sich die Jugendlichen der Medien. Dabei entscheiden sie sich nicht zufällig für ein Programm, sondern wählen zielgerichtet Inhalte aus (Münch et al., 1996, S. 555). Es stehen vor allem Inhalte im Vordergrund, die von den Jungendlichen als wichtiges Gesprächsthema ihrer Peergroup antizipiert werden. Die Medienrezeption wird in diesem Rahmen dazu genutzt, mitreden zu können, auf dem neuesten Stand über jugendrelevante Themen zu sein, sich Trends abzuschauen, Vorbilder zu suchen usw.

Dass auch Programminhalte des Radios für die Entwicklung Jugendlicher taugen, wurde in einzelnen Studien bereits untersucht, allerdings kann nicht genau gesagt werden, um welche Inhalte es sich dabei handelt (Boehnke et al., 2000, S. 39). Zwei Studien sollen an dieser Stelle hervorgehoben werden. Die Studie „ Hörfunknutzung im Kontext jugendlicher Entwicklung11 hat zwar keinen Anspruch auf Repräsentativität, zeigt aber, dass das Radio bei der psychosozialen Entwicklung von Jugendlichen ein Alltagshelfer zu sein scheint. Anhand des

Entwicklungsbedarfs Jugendlicher lassen sich vier Hörertypen unterscheiden (Hoffmann, Boehnke, Münch & Güffens, 1998, S. 141f.):

Bei Typ eins handelt es sich um Jugendliche mit niedriger Radioaffinität, die Radio eher sporadisch und zufällig nutzen und wenig Interesse für das Medium zeigen. In einem Punkt unterscheiden sie sich deutlich von den anderen Typen, denn sie zeigen nicht einmal Interesse an musikthematischen Beiträgen. Sie nutzen Radio weder zur Affektkontrolle oder als parasoziale Kontaktmöglichkeit, noch setzen sie sich mit den Programminhalten auseinander.

Typ zwei weist eine hohe Radioaffinität auf. Diese Jugendlichen nutzen das Medium sehr leidenschaftlich und weitaus mehr als die anderen Typen nutzen sie das Radioprogramm zur Affektkontrolle. Eher als Jugendliche der weiteren drei Typen nutzen sie das Radio in Verbindung mit anderen Tätigkeiten, weil sie glauben, diese gingen dann besser von der Hand. Jedoch hören sie Radio nicht ausschließlich nebenbei, sondern nutzen es durchaus als Informationsmedium, mit dessen Inhalt sie sich beschäftigen und auseinandersetzen.

Der dritte Typ stellt Jugendliche mit speziellen Radioaffinitäten dar. Ihnen dient das Radio vor allem als Medium für parasoziale Kontakte. Sie interessieren sich eher für Wortbeiträge, wählen dementsprechend zielgerichtet spezifische Angebote aus und hören dann meist ohne Nebenbeibeschäftigung. Über das Gehörte tauschen sie sich mit Freunden oder in der Familie aus.

Der letzte und vierte Typ beschreibt Jugendliche mit mäßiger Radioaffinität, für die Radio als Kommunikations- und Hintergrundmedium dient, um dann andere Arbeiten, wie zum Bespiel Hausaufgaben, besser erledigen zu können. Sie setzen sich kaum mit den Radioinhalten auseinander, reden nicht mit anderen Personen darüber und interessieren sich nur peripher für Wortbeiträge. (Ibd.)

Von allen vier Hörergruppen hat Typ drei den subjektiv höchsten Entwicklungsbedarf. Für Anhänger dieses Typs, es handelt sich hier um sehr junge Hörer, scheint das Radio ein wichtiges soziales Referenzsystem zu sein, durch das sich Entwicklungsdefizite im sozialen Bereich verringern lassen und welches ihnen wichtige Hinweise für die Bewältigung entwicklungsbedingter Themen liefern kann. Trotz lediglich mittlerer Radioaffinität ist für sie Radio ein

Gesprächsthema, dessen rezipierte Inhalte und Informationen sie als Möglichkeiten annehmen, um mit anderen ein Gespräch anzuknüpfen. Bei den Typen eins und zwei war nur ein geringer bis mäßiger Entwicklungsbedarf festzustellen. Jugendliche mit hoher Radioaffinität (Typ zwei) benutzen das Medium hauptsächlich zur Affektkontrolle. Mit den Programminhalten setzen sie sich auseinander, Radio dient ihnen zur Information sowie zur Orientierung und gehört zu ihrem Alltag dazu. Die Hörergruppe des Typ eins, Jugendliche mit niedriger Radioaffinität, sind die ‚abgeklärten’ Jugendlichen, für die Radiosender und deren Programmangebote bedeutungslos sind bzw. geworden sind. Der vierteTyp hat laut der Studie den zweithöchsten Entwicklungsbedarf. Jugendliche dieser Gruppe haben soziale Defizite zu kompensieren, bedienen sich dabei allerdings nicht der Radioinhalte als Orientierungshilfe. Für sie gehört das Radio als Lebensstilaccessoire einfach zum Alltag dazu. Zusammenfassend scheint Radiohören und damit verbunden die Vorliebe für bestimmte Programmangebote sowie die erwarteten Funktionen eng mit den jeweiligen Lebensumständen und -bedingungen der jugendlichen Hörer zusammenzuhängen. Gerade Jugendliche mit Entwicklungsdefiziten knüpfen bestimmte Erwartungen an das Radio, die hauptsächlich im sozial-kommunikativen Bereich liegen, d. h. das Radio hat eine parasoziale Funktion oder dient als Katalysator für soziale Kontakte, um durch Programminhalte neue Kontakte zu knüpfen. (Hoffmann et al., 1998, S. 142ff..)

Eine weitere Studie „Sag mir was Du hörst, und ich sag Dir wo Du stehst“, beschäftigt sich mit den Zusammenhängen des Entwicklungsbedarfs und der jugendlichen Radionutzung (Boehnke et al., 2000, S. 40f.). Folgendes galt es zu überprüfen: Wenn Jugendliche das Radio nutzen, um bestimmten Entwicklungszielen näher zu kommen, müsste sich dies darin bemerkbar machen, dass sich Jugendliche in Abhängigkeit von ihren individuellen Entwicklungszielen und dem vorhandenen Entwicklungsbedarf das Radio sehr unterschiedlich „zur Hilfe holen“. Daraufhin wurde angenommen, dass Jugendliche, die in ihrer Peergroup anerkannt werden wollen (Entwicklungsziel Peergruppenintegration), genau die Radioprogramme hören, von denen sie annehmen, dass sie zentraler Inhalt der Gruppenkommunikation sein werden. Jugendliche, die einen eigenenLebensstil entwickeln wollen, greifen vor allem auf jugendspezifische Sender bzw. Programme zurück sowie auf Programminhalte, die von Minderheiten bevorzugt werden. D. h., dass Moderatoren für sie zu Idolen werden und gewisse Sendungen einen Kultcharakter erhalten können. Um enge Freundschaftsbeziehungen aufzunehm en, beteiligen sich Jugendliche aktiv am Radioprogramm. Per Anruf, Mail, Fax oder SMS nutzen sie die musikalischen Grußmöglichkeiten, um die Freundschaft durch Veröffentlichung zu festigen. Von Jugendlichen, die sich politisch orientieren wollen, ist anzunehmen, dass sie die entsprechenden Wortanteile intensiver als andere Jugendliche rezipieren oder gezielt Sender mit dementsprechendem Inhalt einschalten. (Boehnke et al., 2000, S. 40f.)

In der Studie wird festgestellt, dass die Art des Radiohörens tatsächlich im Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand Jugendlicher steht. Jugendliche, die in den Bereichen der Peergruppenintegration, der psychischen Entwicklung, dem Streben nach Autonomie und der Erarbeitung einer politischen Orientierung einen starken Entwicklungsbedarf empfinden, hören Radio verstärkt mit der Konzentration auf parasoziale Kontakte und Affektkontrolle. Des Weiteren führt eine ausgeprägte Tendenz zu parasozial-affektiver Radionutzung zur zunehmenden Ablehnung von ‚leichten Unterhaltungsinformationsprogrammen’. Zuletzt kann gesagt werden, dass es für die Art der Radionutzung eine äußerst wichtige Rolle spielt, welchen Stellenwert Musik im Leben der Jugendlichen einnimmt. (Ibd., S. 55f.)

1.4.5 Bedeutung der Musik im Radio

Nach Münch ist die emotionale Bindung an das Radio überaus hoch. Dies sieht man daran, dass es sich vor allem als Gefühlsmanipulator und als Stimmungsaufheller eignet. Es kann positive Gefühlszustände hervorrufen oder verstärken und beispielsweise gegen morgendliche Müdigkeit, Langeweile bei eintönigen Arbeiten, gegen psychischen Stress oder Ärger, gegen gefühlsmäßige Leere oder bei der Steuerung von Traurigkeit helfen. Diese u. a. stimulierenden Wirkungen sind neben dem kontinuierlich erscheinenden Moderator vor allem auf die emotionale Macht der Musik zurückzuführen. (Münch, 1995, S. 171f.)

Musik fasst Gefühle in Worte, und die Töne bringen sie zum Ausdruck (Sander, 2002, S. 176). Musik kann im Hintergrund atmosphärisch eine Kommunikation begleiten, oder einen parasozialen Kontakt vermitteln (Rogge, 1988a, S. 525). D. h., die Musik im Radio wirkt als ‚mood machine’ (Mendelsohn, 1964, S. 243).

Musik jeglicher Couleur wird zur emotionalen Stimulierung benutzt, entweder zur Unterstützung bestehender Stimmungen oder zur Erzeugung neuer (Guntermann, 1997, S. 72). Per Knopfdruck kann diese Stimmung zu jeder Zeit und an jedem Ort hervorgerufen werden. Musik kann den Hörer in ein positives Umfeld und in eine kontaktfreudige Stimmung versetzen sowie beruhigen (Goldhammer, 1995, S. 192).

Für Jugendliche muss die Musik im Radio immer einen Gebrauchswert haben. Entweder muss sie zur Identitätsbildung bzw. zur Herausbildung eines eigenen Lebensstils oder zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt beitragen. D. h. die Musik dient in erster Linie verschiedenen Formen des Stimmungsmanagements. Untersuchungen zur Funktion jugendlicher Musikrezeption gliedern die Hauptfunktion Stimmungsmanagement in fünf Funktionsbereiche: Musik alsStimmungsausgleich, als Aktivierung zur Stimmungsverstärkung, als Möglichkeitdes Ausbruchs und der Provokation,als Ersatz, indem sie für Ausgeglichenheit und zum Aufbau einer positiven Stimmung sorgt, oder als soziale Funktion, indem sie das Gefühl vermittelt, nicht allein zu sein (Oehmichen, 1998, S. 64; Rösing & Münch, 1993, S. 189f.). Musik kann aber auch distanzierend wirken, wenn der Hörer keine Beziehung zur Musik herstellt und sie lediglich in ihrer Hintergrundfunktion toleriert (Rösing et al., 1993, S. 189).

Während früher für Jugendliche das Radio die beste Quelle war, um die neuesten Songs und aktuellsten Popnews zu erfahren, bieten sich ihnen heute vielfältige Möglichkeiten. Es ist nicht mehr notwendig, den ganzen Tag vor dem Radio mit dem Finger auf der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders zu verbringen, um sein Lieblingslied aufzunehmen und sich womöglich noch zu ärgern, dass der Moderator schon vor Ende des Liedes mit der Moderation beginnt. Jeder beliebige Song ist ohne Unterbrechung und stundenlanges Warten heute auf Abruf sowohl legal als auch illegal im Internet oder bei Freunden zu beschaffen. Im digitalen Zeitalter sind heute die Möglichkeiten gestiegen, durch die sich Jugendliche über Musik informieren können. Auch die Musiksender sind hier eine wichtige Quelle, so dass das Radio die Funktion des musikalischen ‚Grundversorgers’, der über Entwicklungen und Trends im Musikbereich informiert, inzwischen fast komplett an die Musikkanäle hat abgeben müssen (Goertz & Seeger, 1996, S. 24).

2 Radio im Wandel: Die 90er Jahre

2.1Programmliche Entwicklung seit den 90ern

Seit der Einführung des dualen Rundfunksystems in den 80ern stiegen die privaten Programmangebote bis 1998 auf 170 Programme an und eroberten einen Marktanteil von rund 44 % (Lindner-Braun, 1998, S. 48). Sie wurden zu einer bedrohlichen Konkurrenz für die öffentlich-rechtlichen Sender, da sie räumlich und altersmäßig kleinere Publikumssegmente ansprechen und besser bedienen können. Hauptgrund allerdings ist die Art und Weise der Programmgestaltung der privaten Sender. Die öffentlich-rechtlichen Sender waren damals noch eher ‚langweilig’ und ‚dröge’, während die neuen privaten Sender nach dem amerikanischen Vorbild neue Programminhalte, wie zum Beispiel schnelle Moderationsanmutung, Musikformate und -rotationen einführten und mit dem neuen Format die Hörer begeistern konnten. Die Landesrundfunkanstalten mussten also reagieren und ihr bisheriges Programm aus- und umbauen, dabei versuchen sichtbare Schwächen zu beseitigen und vorhandene Stärken auszubauen.

Heute ist die Radiolandschaft in Deutschland übersät von unzähligen lokalen, regionalen und landesweiten Sendern, die jede Art von Programm bieten. Im September 2003 wurden 323 Sender gezählt (Klingler & Müller, 2003, S. 414). Öffentlich-rechtliche und private Sender stehen in einem heißen Konkurrenzkampf und auch das Internet bietet eine weitere Anzahl Sender weltweit. Heute sind fast alle Radioprogramme, ohne Beachtung der verschiedenen Hörertypen (Kapitel 1.4.1) lediglich Begleitprogramm, d. h. Programme zum ‚Hören’ und nicht zum ‚Zuhören’ (Schröter & Wagner, 1992, S. 109). Sie sind auf selektives Hören bzw. Hören neben der Ausübung verschiedener Tätigkeiten ausgerichtet, bestehen meist zu 2/3 aus Musik und haben ein Musikrepertoire von 1000 bis 2000 Titeln (Rösing et al., 1993, S. 188; Münch, 1995, S. 171). Aufgrund bestimmter Musikformate und der regionalen bzw. lokalen Verbreitungsgebiete können sich einige Radiosender an spezifische, relativ kleine Zielgruppen richten. Darin besteht ein klarer Vorteil gegenüber den Fernsehsendern, die aus finanziellen Gründen mit ihren Programmen die breite Masse ansprechen müssen (Snow, 1983, S. 101).

Jedoch werden solche Spartensender mittlerweile immer seltener, da die meisten Sender, vor allem die Privaten, auf das so genannte ‚Hitradio-Format’ umgestiegen sind. Unaufdringliche Moderationen und eine ausgewogene Musikauswahl, aus verschiedenen Sparten der populären Musik, sollen die breite Masse ansprechen. Allerdings geht hierbei die musikalische Positionierung des Senders abhanden. Alle Sender besitzen eine relativ einheitliche Musikfarbe ohne markante oder extreme Spitzen, die niemanden wirklich stört. Diese Sender fallen somit aber auch nicht mehr durch ihre Musikauswahl auf, wodurch ihnen ein wichtiges Identifikationsmerkmal verloren geht.

Um auf der ‚sicheren’ Seite zu sein und den Hörer nicht zu nerven, sind die ‚Hitradio-Formate’ an bestimmte Regeln gebunden. Der Moderator ist relativ neutral, erzählt nicht viel Persönliches oder äußert seine eigene Meinung und hat sich in seinen Moderationen an den ‚Three Element Break’12 zu halten. Diese Sender setzen es sich tatsächlich zum Ziel, eher unauffällig zu sein, um dem Hörer nicht weh zu tun, vor allem aber, um ihn nicht zu verjagen (Sassenroth, 2002, S. 61).

Inzwischen ist die Radiolandschaft übersäht mit solchen Sendern, die durchaus Erfolg bei den Hörern haben, da diese bei Nichtgefallen eines Senders häufig auf einen unaufdringlichen ‚Three Element Break’-Sender wechseln, als zu anderen Formaten (Bayerische Landeszentrale für neue Medien, 2002). Jugendliche hingegen können sich allerdings mit diesem simplen Format nicht identifizieren. Hier wird kaum Platz für parasoziale Interaktionen geboten, die Musikauswahl hat einen Mangel an Authentizität, die Musik kann das persönliche Lebensgefühl nicht ausreichend spiegeln usw. Jugendliche wollen innovative und an Jugendlichen orientierte Sender, die jedoch rar geworden sind (Lindner-Braun, 1998, S.67).

Speziell an Jugendliche gerichtete Programme sind seit den 90ern die neu entstandenen Jugendwellen. In Reaktion auf ein leichtes Sinken der jugendlichen Hörerzahlen wurden diese Programme entwickelt, die sich stärker an den jugendlichen Lebenswelten orientierten (Boehnke et al., 2000, S. 35). Diese werden im Folgenden näher betrachtet.

2.2 Jugendwellen

Eine der ersten Jugendwellen entstand in Zusammenarbeit von SFB und ORB, die 1993 mit ihrem Sender Fritz auf Sendung gingen. 1994 folgte der NDR mit N-Joy Radio und 1995 wurde aus WDR 1 der neue Jugendsender Eins-live (Halefeldt, 1999, S. 224). All diese Sender verfolgten das Ziel, die in den 90er Jahren fallenden Zahlen jugendlicher Radionutzer zurück zu gewinnen. In den Jahren 1994/95 war aufgrund dieser neuen Sender ein Anstieg jugendlicher Hörer deutlich sichtbar13 (Gerhards et al., 1998, S. 571).

Der 1997 gegründete Sender DAS DING ist mehr als nur ein Radio. Da das ‚herkömmliche’ Radio in Zukunft aufgrund starker medialer Konkurrenz ein Problem bekommen könnte, bietet dieser Sender in Anbetracht dessen eine Lösung durch die Verbindung von allen drei für Jugendliche wichtigen Medien: Radio, Fernsehen und Internet14 (Breunig, 2003, S. 54). So fungiert der Sender als Brücke zwischen den einzelnen Medien, als Angebot für eine interaktive Multimedia-Gesellschaft (Klawitter, 1999). Ziel war und ist es, durch dieses Angebot möglichst viele Jugendliche der Zielgruppe der 14-24jährigen mit dem Programm zu erreichen. Neben der Vielseitigkeit des Senders besteht eine weitere Motivation für Jugendliche, den Sender zu hören: Die Sendungen werden von Jugendlichen selbst produziert. Jugendliche sind Redakteure, Moderatoren, Kameramann, Cutter usw. (Breunig, 2003, S. 55). Da die Macher aus der gleichen Altersgruppe stammen wie die Hörer, sprechen sie die gleiche Sprache, haben die gleichen Interessen und wissen, was Jugendliche ihrer Altersklasse für Ansprüche an das Radio haben (Halefeld, 1999, S. 226). So vereinigen sich die besten Voraussetzungen für einen jugendlichen Sender: Jung, lebendig, präzise und persönlich (Lindner-Braun, 1998, S. 53ff.). DAS DING ist nicht einfach nur ein Jugendsender, sondern ein Sender, der früh erkannt hat, dass die Zukunft des Radios in der Vernetzung mehrerer Medien liegt. Der Sender ist eher ein ‚Multimedium’15 als ein Radio (Halefeld, 1999, S. 226). Diesen Jugendwellen, von denen hier nur einige wenige genannt wurden, gelang es durch eine präzise Zielgruppenansprache, das Radio im Konkurrenzkampf zum Fernsehen wieder zu stärken. Das Rezept für einen erfolgreichen Jugendsender ist dabei relativ simpel: ‚Coole’ Musik und flotte Sprüche scheinen den Erfolg schon zu garantieren. Aber was heißt hier Erfolg? Quantitative Reichweiten in den Zielgruppen geben nicht wirklich Auskunft darüber, ob die Radiokonzepte die Jugendlichen tatsächlich befriedigen (Oehmichen, 1998, S. 61). Um den Interessen und Ansprüchen der jungen Leute tatsächlich gerecht zu werden, muss eine angemessene Umgebung geschaffen werden: ein familiäres Verhältnis. Der Aufbau eines solchen Verhältnisses ist das wichtigste Funktionsprinzip und somit die Besonderheit eines Jugendsenders (Meier, 1997, S. 13). Jugendliche wollen sich mit dem Programm identifizieren können. Vor allem aber wollen sie Programme, die sich von den herkömmlichen, d. h. die auf Erwachsene zugeschnittenen, abgrenzen. Dazu gehören formale (Moderations- und Sprachstil, Tempo und Tonart) sowie inhaltliche (Musikfarbe und Themenauswahl) Bedürfnisse. Dass Abgrenzung sogar wichtiger als Identifikation ist hat N-Joy Radio erkannt und seinen Programmslogan danach ausgerichtet: „Sind wir zu schnell, bist du zu alt“ (Oehmichen, 1998, S. 64).

Zu ‚cooler Musik’ zählen nicht ausschließlich die aktuellen Charts, sondern ein musikalisch differenziertes und breit gefächertes Musikangebot. Eine Studie der Programmwerkstatt Jugendwelle16 ergab, dass der Begriff ‚Charts’ bei den Jungendlichen sehr negativ besetzt ist. Chartsongs gehören zum Mainstream und dieser bedeutet Mangel an Authentizität und kann das persönliche Lebensgefühl der Jugendlichen nicht ausreichend widerspiegeln. Zudem werden Chartsongs im Radio viel zu oft wiederholt, was viele Jugendliche eher als nervig und langweilig bezeichnen, da sich so die Songs in ihrer Wahrnehmung stark ‚abnutzten’. Die ca. 12-14jährigen Hörer hingegen lassen sich von Chartsongs (Dancefloor, Boy/Girlgroups, Kommerz-Techno) noch befriedigen, für Ältere hingegen wird durch solche Songs nur ein kleiner Teil ihres bedeutsamen Musikspektrums abgedeckt (Ibd. S. 64). Während ein herkömmlicher Berliner Kommerzsender ein Repertoire von 500 Songtiteln hat, wählt der Jugendsender Fritz täglich aus 50.000 Titeln aus (Goldhammer, 1995, S. 197). Des Weiteren erwarten Jugendliche von guten

Jugendsendern auch spezielle Musiksendungen, Live-Übertragungen aus Clubs in der Umgebung, Konzerte, ‚live mixes’ von DJs oder Songs von lokalen Bands (Oehmichen, 1998, S. 65). Musik ist eben das ‚A und O’, d. h. weniger die kognitiv-rationale, inhaltliche Ebene als vielmehr affektive Aspekte sind entscheidend für die Wahl eines Senders (Münch et al., 1996, S. 552). Dementsprechend erwarten auch Jugendliche einen relativ hohen Musikanteil von 80 % (Neuwöhner, 1998, S. 161).

Aber selbst wenn Musik mehr zählt als die Worte bei der momentanen Entscheidung, welcher Sender gehört wird, so ist die Sprache bzw. Moderation wichtiger für die längerfristige Bindung an einen Sender. Wortbeiträge dienen der Entlastung und Entspannung vom Druck des Alltags (Münch et al., 1996, S. 552). Allerdings heißt die Devise: wenn schon Wort, dann zumindest nicht zu lang und langweilig. Professionalität ist Voraussetzung und spürbares Interesse an den Themen muss bei den Moderatoren erkennbar sein. Der Moderator muss er oder sie selbst sein, denn Jugendliche wollen seine Persönlichkeit erkennen. Gefragt sind flotte, provokative Sprüche von einem jungen, authentischen Moderator, der aus der gleichen Szene wie die Jugendlichen stammt, sich gut auskennt, musikjournalistisches Hintergrundwissen besitzt, Interesse zeigt und die Jugendlichen ernst nimmt. (Oehmichen, 1998, S. 68)

Wie bereits erläutert, ist die Musik entscheidend für die Radiorezeption. Für 94 % der Jugendlichen ist sie in der Hörsituation der Haupteinschaltgrund. Aber auch Humor und Comedy sind wichtige Faktoren und kommen an zweiter Stelle mit 69 %. Erst dann folgen Nachrichten und lokale Veranstaltungshinweise (56 % bzw. 54 %) (Gerhards et al., 1999, S. 572f.). Wie unter Punkt 1.3 bereits erwähnt, werden durch Musik Freundschaftsbeziehungen gefestigt (Janke & Nieheus, 1995, S. 107). Von daher verwundert es auch nicht, dass für Jugendliche zu 97 % Freundschaft in ihrem Leben am Wichtigsten ist, Musik jedoch gleich danach mit 88 % steht, kurz vor der Wichtigkeit von Liebe und Partnerschaft mit 77 % (Feierabend & Klinger, 2003, S. 451).

[...]


1 Alle genannten Zahlen zu Radio und Fernsehen in dieser Arbeit beziehen sich ausschließlich auf Deutschland.

2 Die Tagesreichweite gibt an, wie viel Prozent der Bevölkerung (Personen ab 14 Jahren) im Durchschnitt täglich vom Radio erreicht werden.

3 1970: 67 % hielten Fernsehen wichtiger, 64 % das Radio.

4 Die ersten und zweiten Programme wurden nach dem theoretischen Konzept „zwei Einschaltprogramme und ein Begleitprogramm“ aufgebaut (Arnold, 1991, S. 137).

5 1970: 61 Min. Radionutzung, 104 Min. Fernsehnutzung pro Tag der 14-19jährigen 1974: 99 Min. Radionutzung , 96 Min. Fernsehnutzung pro Tag der 14-19jährigen 1980: 110 Min. Radionutzung, 81 Min. Fernsehnutzung pro Tag der 14-19jährigen 1985: 129 Min. Radionutzung, 69 Min. Fernsehnutzung pro Tag der 14-19jährigen 1990: 142 Min. Radionutzung, 129 Min. Fernsehnutzung pro Tag der 14-19jährigen (Gerhards et al., 1999, S. 563).

6 1970: für 67 % der Jugendlichen war der Fernseher, für 64 % das Radio das wichtigste Medium 1974: für 60 % der Jugendlichen war das Radio, für 44 % das Fernsehen das wichtigste Medium 1980: für 65 % der Jugendlichen war das Radio, für 34 % der Fernseher das wichtigste Medium 1985: für 63 % der Jugendlichen war das Radio, für 32 % der Fernseher das wichtigste Medium 1990: für 65 % der Jugendlichen war das Radio, für 46 % der Fernseher das wichtigste Medium (Gerhards et al., 1999, S. 563).

7 Die JIM Studie von 1998 besagt: 60 % der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren reden mit ihren Freunden über Fernsehen und das Fernsehprogramm, jedoch nur 28 % über Radio und das Radioprogramm. Auch Zeitschriften, Zeitungen und Computerspiele erreichen höhere Werte als Radio (Gerhards et al., 1999, S. 574).

8 Jugend- und Popkultur bedeuten prinzipiell das Gleiche. Da Popmusik eine Jugendkultur definieren kann, kann man auch von Popkultur sprechen. Für welchen Begriff man sich entscheidet hängt letzten Endes von einem selbst ab. Ein Pädagoge wird eher von Jugendkultur sprechen, ein Musik- oder Kulturwissenschaftler eher von Popkultur.

9 Geprägt wurde die Jugendkultur von dem Pädagogen Gustav Wyneken (1875-1964) (Baacke, 1999, S. 141).

10 Gewisse Medieninhalte zu kennen wird in der heutigen Gesellschaft vorausgesetzt. Über diese Inhalte zu sprechen ermöglicht häufig erst eine Konversation und hält sie aufrecht. Von daher werden Medien auch als soziales Schmiermittel bezeichnet (Altheide & Snow, 1982, S. 273).

11 Hoffmann, Boehnke, Münch & Güffens, 1998, S. 141f.

12 Kurze Moderationen, die aus drei Elementen bestehen, wie Titel, Uhrzeit und Sendername.

13 s. Anhang 1.

14 Sender des SWF. Das Radioprogramm des Senders konnte anfangs nur über DAB empfangen werden, inzwischen auch über UKW in Ballungsräumen. Die Fernsehsendung des Senders läuft seit Sommer 2002 samstags von 10:15 bis 11:00 Uhr im Südwest Fernsehen. Hinzu kommt das Internetangebot, dass sich ausschließlich mit jugendrelevanten Themen befasst (Breunig, 2003, S. 54 f., s. a. http://www.dasding.de).

15 vgl. auch Schuler, 1998.

16 Oehmichen, 1998.

Excerpt out of 172 pages

Details

Title
Video killed the radiostar!? Stellenwert des Radios seit Aufkommen der Musikkanäle MTV und VIVA
College
University of Augsburg  (Professur für Medienpädagogik)
Grade
1,3
Author
Year
2004
Pages
172
Catalog Number
V24211
ISBN (eBook)
9783638271356
ISBN (Book)
9783656451624
File size
1207 KB
Language
German
Notes
Die Arbeit besteht aus einem Theorieteil sowie einer empirischen qualitativen Untersuchung bei 13-17jährigen Schülern.
Keywords
Video, Stellenwert, Radios, Aufkommen, Musikkanäle, VIVA
Quote paper
Andrea Losleben (Author), 2004, Video killed the radiostar!? Stellenwert des Radios seit Aufkommen der Musikkanäle MTV und VIVA, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24211

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