Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1. Grundlagen: Deklinationsklassen des Mittel- und Neuhochdeutschen
1.1. Deklinationsklassen des Mittelhochdeutschen
1.1.1. Traditionelle Einteilung nach Wortstämmen
1.1.2. Eine alternative Einteilung
1.2. Deklinationsklassen des Neuhochdeutschen
1.2.1. Traditionelle Einteilung in Anlehnung an Jacob Grimm
1.2.2. Neuere adäquate Einteilungen für das Neuhochdeutsche
2. Erörterung: Deklinationsklassen der Substantive in den oberdeutschen Dialekten
2.1. Grundeigenschaften der oberdeutschen Kasussysteme
2.2. Einteilung der Deklinationsklassen in den oberdeutschen Dialekten
2.3. Deklinationsklassen der oberdeutschen Substantive aus komparativer Sicht
2.3.1. Vergleich mit dem Neuhochdeutschen
2.3.2. Vergleich mit dem Mittelhochdeutschen
Anhang
Abkürzungen
Literatur
Einleitung
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Einteilung der oberdt. Dialekt-Substantive in Deklinationsklassen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, stelle ich im ersten Abschnitt die Grundlagen vor – die entsprechenden Einteilung der Substantive für das Mittel- und Neuhochdeutsche. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Mhd., das traditionellerweise als Grundlage für Erklärungen und historische Vergleiche in der Dialektologie dient.
Im zweiten Abschnitt wird, ausgehend von allgemeinen Eigenschaften der oberdt. Nominalflexion, eine Einteilung der Deklinationsklassen für das Alem., Schwäb. und Bair. vorgenommen. Die typischen Flexionsformen der jeweiligen Klassen werden anschließend mit nhd. Formen verglichen, und ihre Entwicklung wird anhand eines sorgfältig recherchierten Korpus bis ins Mhd. zurückverfolgt.
Die herangezogenen Dialektgrammatiken benutzen sehr unterschiedliche Schreibweisen der Dialektwörter. Da die genauen Lautwerte der verwendeten Zeichen nicht präzise bestimmt werden konnten, war es nicht möglich, die Schreibweise der Belege in dieser Arbeit zu vereinheitlichen – es wurde in allen Fällen die Schreibweise der jeweiligen Quelle beibehalten. Eine Ausnahme bilden lediglich Belege aus Kollmer (1985): Vokale mit offener Aussprache werden durch einen Gravis (z.B. „è“), Vokale mit geschlossener Aussprache durch einen Akut (z.B. „é“) und alle nasalierten Vokale mit dem Zirkumflex (z.B. „â“) wiedergegeben[1].
1. Grundlagen: Deklinationsklassen des Mittel- und Neuhochdeutschen
1.1. Deklinationsklassen des Mittelhochdeutschen
1.1.1. Traditionelle Einteilung nach Wortstämmen
Vom Idg. über das Germ., das Alt- und Mittelhochdeutsche bis zur Gegenwartssprache vollzieht sich eine kontinuierliche Reduktion des Formensystems der Nominalflexion. In den oberdt. Dialekten ist diese Reduktion, wie noch gezeigt wird, am weitesten fortgeschritten. Während im Nhd. nur zwei Morphemtypen in der Substantivflexion erkennbar sind – das Grundmorphem (Träger der lexikalischen Bedeutung) und das Flexionsmorphem (Träger der grammatischen Merkmale), waren die meisten Substantive im Germ. dreigliedrig: zwischen das Grund- und das Flexionsmorphem trat in den allermeisten Fällen ein Stammbildungselement – oft als Thema bezeichnet (Grundmorphem und Thema bilden zusammen den Wortstamm). Je nach der phonetischen Realisierung des Themas unterscheidet man zwischen vokalischen und konsonantischen Stämmen und entsprechend zwischen starker, d.h. vokalischer, und schwacher, d.h. konsonantischer Deklination. Vgl. die nachstehenden Beispiele:
(1) got. gib-ō-s „die Gaben” (vokalischer Stamm)
(2) got. gum-an-s „die Männer“ (konsonantischer Stamm)
Neben solchen zweigliedrigen Stämmen gab es wenige athematische Stämme ohne Stammbildungselement – sog. Wurzelnomina, die zur schwachen Deklination gerechnet werden.
Der zur Beschreibung des Germ. entwickelte Apparat prägte dauerhaft die Beschreibung der späteren Sprachstufen des Deutschen. Die Weiterentwicklung der Sprache führte allerdings dazu, dass die morphologischen Grundlagen dieses Apparats bereits im Ahd. nur noch rudimentär erkennbar sind (vgl. Meineke/Schwerdt 2001: 238ff. und Singer 1996: 104). Trotzdem halten die meisten älteren Arbeiten aus wissenschafts- und sprachgeschichtlichen Gründen an diesem deskriptiven Apparat fest, obwohl er nicht voll adäquat ist. Seine Oberbegriffe „stark“ und „schwach“ (von Jacob Grimm geprägt) haben sich in den Grammatiken des Nhd. vielfach bis heute erhalten. Bereits eine flüchtige Durchsicht entsprechender Werke zeigt aber, dass das im Germ. noch intakte Flexionssystem, das die Grundlage all dieser Beschreibungen bildet, sich seit dem Ahd. zunehmend in Auflösung befand. Davon zeugt u.a. das Vorhandensein von Restklassen, die nur wenige Substantive umfassen, und der häufige Übergang von Substantiven in eine andere Deklination (Vermischung von Deklinationsklassen und Nivellierung der Unterschiede).
Ursache dafür war der Verfall des idg. Wortstammsystems im Germ., ausgelöst durch die Festlegung des germ. Wortakzents auf die bedeutungstragende Wurzelsilbe. Während der idg. bewegliche Wortakzent es zuließ, dass auch Elemente mit grammatischer Funktion (Vorsilben und Flexionsendungen) betont werden konnten, wird seit dem Germ. stets die semantisch bedeutsamere Wurzel hervorgehoben. Damit geht eine artikulatorisch bedingte Abschwächung von Mittel- und Endsilbenvokalen einher. Bereits im Germ. wurden die Endsilbenvokale gekürzt (ursprünglich lange Vokale) oder getilgt (kurze Vokale). Die gekürzten Vokale behielten jedoch ihre Klangqualität bei. Seit dem Ahd. werden Mittel- und Endsilbenvokale nach und nach zu einem unbetonten /e/ abgeschwächt, was zwei tiefgreifende Veränderungen in der Deklination mit sich bringt. Zum einen werden die Unterschiede zwischen den stammbildenden Vokalen so stark verwischt, dass sich die alten Deklinationsklassen zu vermischen beginnen – die Einteilung nach Stämmen wird mehr und mehr hinfällig. Zum anderen gehen die alten, spezifischen Flexionsendungen verloren, wodurch der Zusammenfall der Kasus und somit die Reduktion des Kasussystems rasch vorangetrieben wird (vgl. Tschirch 1983: 67f., 75f.). Für den weiteren Abbau des idg. Stammbildungssystems sorgen eine Abschwächung der Vokale in Nebentonsilben durch Apokope und Synkope, sowie systemausgleichende Tendenzen im Mhd.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Traditionelle Einteilung der ahd. und mhd. Nominalflexion nach diachronen Kriterien (die genannten Hauptklassen enthalten weitere Subkategorien).
Die in Tab. 1 dargestellten Stammbildungselemente lassen sich im Mhd. nur noch historisch ermitteln. Will man die Flexionsparadigmen der mhd. Substantive aus rein synchroner Perspektive, lediglich auf der Grundlage der Distribution der Flexionsmorpheme in mhd. Textkorpora beschreiben, drängt sich eine andere, abweichende Einteilung auf, in der die bereits erwähnte Vermischung der ursprünglichen Klassen deutlich sichtbar wird.
1.1.2. Eine alternative Einteilung
Die im vorangehenden Kapitel dargestellte Entwicklung führte dazu, dass eine adäquate Einteilung der mhd. Deklinationsklassen auf der Zweiteilung des flektierten Substantivs in Wortstamm und Flexionsendung – ohne das stammbildende Element – basieren muss. Das in Tab. 2 dargestellte Einteilungsmodell baut auf der Einführung von Seidel/Schophaus (1994: 168ff.) auf, weicht jedoch von den dort vorgeschlagenen Lösungen erheblich ab. Weil für die oberdt. Nominalflexion die Pluralformen von ausschlaggebender Bedeutung sind, stellen wir hier eine getrennte Klassifizierung für den Singular und den Plural auf, um den späteren Vergleich zu erleichtern.
Das Erscheinen von (e) in den Endungen aller Deklinationen kann fakultativ oder obligatorisch sein: bei tac, dienst, wort, knie, gast, lamp, blat, rint, liet ist die e- Variante obligatorisch, bei allen Substantiven auf -e und bei den meisten auf -l und -er ist die Variante ohne e obligatorisch (hirte, gebe, stil, spil, engel, apfel, tal, zal, venster, muoter); bei einigen Substantiva (nagel, gabel, weter, zaher) sind beide Varianten möglich.
Typ 1 Pl. und Typ 2 Pl. haben mit Ausnahme des Umlauts identische Flexionsmerkmale – da aber in Typ 1 ebenfalls Substantive mit einem umlautfähigem, aber im Pl. nicht umgelauteten Vokal vorkommen, und da sich für das Erscheinen des Umlauts keine auf synchroner Grundlage erschließbare Regel aufstellen lässt, müssen diese Paradigmen als unabhängige Deklinationsklassen betrachtet werden. Historisch lassen sich Substantive des Typs 1 als ehemalige a-Stämme und die des Typs 2 als ehemalige i-Stämme erklären:
(3) Sg. tac – Pl. tage (ehemals a-Deklination)
(4) Sg. gast – Pl. geste (ehemals i-Deklination)
Einige ehem. a-Stämme mit umlautfähigem Vokal weisen in ausgehender mhd. Zeit unter Einfluss der i-Stämme umgelautete und nicht umgelautete Doppelformen auf:
(5) Sg. stap – Pl. stabe od. stebe
(6) Sg. nagel – Pl. nagel(e) od. negel(e)
Ein Blick auf die Tabellen 2 und 3 veranschaulicht die im Mhd. erfolgte, bereits erwähnte Vermischung der alten vokalischen Paradigmen. Während die schwache und die alte o-Dekl. auch im Mhd. im Sg. wie im Pl. als eigene Klasse erhalten sind, sind Substantive der alten a- und der alten i-Dekl. auf verschiedene mhd. Klassen verteilt, je nach Genus, Numerus und Umlautfähigkeit des Stammvokals. Ehemalige u-Stämme sind in unserer Einteilung (Tab. 2) überhaupt nicht vertreten, weil sie in vormhd. Zeit in in die a- oder in die i-Dekl. übergegangen sind, z.B. hant (i-Dekl.), site und vihe (ja-Dekl.). In Typ 2 Sg. und Typ 2 Pl. befinden sich außerdem mehrere ehem. Wurzelnomina, die in die i-Dekl. übergegangen sind (vereinzelt mit nicht umgelauteten Nebenformen bei umlautfähigem Vokal).
Den Plural auf -er (Typ 4) bildeten ursprünglich nur wenige Neutra. Diese Pluralbildung breitet sich jedoch schnell aus und erfasst im Fnhd. auch eine Anzahl männlicher Substantive.
Die Verwandtschaftsnamen auf -er (bruoder, muoter, swëster, tohter, vater) bildeten ursprünglich eine gesonderte Flexionsklasse, deren Endungen im Germ. verlorengegangen sind. In mhd. Wörterbüchern sind sie als Substantiva mit anomaler Flexion verzeichnet – im Sg. folgten sie in manchen Kasus der alten a-Deklination oder blieben ohne Flexionsendungen, im Pl. hatten sie umgelautete und nicht umgelautete Formen nebeneinander.
[...]
[1] Bei nasalierten Vokalen bleibt die Unterscheidung zwischen „offen“ und „geschlossen“ abweichend von Kollmer (1985) unberücksichtigt.