Superstaat Europa - Die Europäische Union aus staatstheoretischer Perspektive


Bachelorarbeit, 2004

63 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Staat und Staatstheorie
2.1. Der Staatsbegriff
2.2. Die Entwicklung des modernen Staates
2.2.1. Die Erosion der feudalen Gesellschaftsstruktur
2.2.2. Geldwirtschaft und die Etablierung regelmäßiger Steuerabgaben
2.2.3. Das Gewaltmonopol und die Trennung von Amt und Person
2.2.4. Westfälischer Friede und staatliche Souveränität
2.3. Staat und Staatstheorie der Gegenwart
2.3.1. Verschiedene Staatsauffassungen und Versuche einer Systematisierung
2.3.2. Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt
2.3.3. Das Problem mit dem Staatsvolk und der Begriff der Nation
2.4. Aufgaben und Grenzen des modernen Staates

3. Die Europäische Union
3.1. Versuch einer Annäherung
3.2. Die Geschichte der Europäischen Integration
3.2.1. Von der EGKS zur EU
3.2.2. Der Unionsvertrag und das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

4. Der Staatscharakter der EU
4.1. Nationalstaatliche und europäische Souveränität
4.2. Staatsgebiet und Staatsgewalt der Europäische Union
4.3. Staatsvolk und europäische Identität
4.4. Die Vereinigten Staaten von Europa

5. Zusammenfassung

Literatur

1. Einleitung

Vor gut 170 Jahren wurde in Europa der erste Band eines Buches veröffentlicht, das weltweit für Aufsehen sorgen sollte. Es hieß: „La démocratie en Amérique“, zu deutsch: „Über die Demokratie in Amerika“, und war die erste umfassende Studie über die noch junge amerikanische Demokratie. Geschrieben hatte es ein 30 Jahre junger Richter aus Frankreich. Sein Name war Alexis de Tocqueville. Angelehnt an Tocquevilles Amerika-Bericht wurde im Jahre 2000 ein Buch mit einem ganz ähnlichem Titel veröffentlicht: „Demokratie in Europa“, geschrieben von Larry Siedentop, einem Universitätsdozenten aus Oxford.[1] Auf rund 350 Seiten versucht der Autor nach dem Vorbild Tocquevilles „eine Debatte anzuregen“.[2] Wie schon der Titel vermuten lässt, erörtert Siedentop dabei nicht zuletzt die Frage nach der Zukunft der europäischen Integration. Namentlich fragt er in Anspielung an den Mitverfasser der amerikanischen Verfassung, James Madison, in der Überschrift des zweiten Kapitels: „Wo bleiben die Madisons für Europa?“

Die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ ist keineswegs neu. Sie stammt auch nicht etwa aus der Feder von Winston Churchill, der sie zusammen mir der „Neugründung der europäischen Familie“ in seiner Züricher Rede vom 19. September 1946 beschwor.[3] Noch während der Zweiten Weltkrieg in Europa wütete kursierten auf dem Kontinent zahllose Ideen und Entwürfe für eine föderale Neuordnung des Kontinents. Oft auf Flugblättern skizzierten und verbreiteten Denker wie Altiero Spinelli (der einige Jahrzehnte später sogar als Abgeordneter in das Europäische Parlament einziehen sollte) detailliert ihre Vorstellung von den Institutionen und Prozessen eines föderal geeinten Europas.[4] Dennoch war es nicht erst der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, der die Idee des föderalen Europas hervorbrachte. Schon im frühen 17. Jahrhundert hatte der französische Herzog Maximilien de Béthune Sully, Minister und Berater Heinrichs IV., die Vision einer europäischen Föderation aus 15 gleichstarken Staaten in Form einer christlichen Republik und unter der Führung Frankreichs skizziert.[5] Und auch bei dem Philosophen Immanuel Kant findet sich in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 die Vorstellung einer „föderalen Organisation Europas mit republikanischen Staaten“.[6]

Auch heute ist Europa ein Thema – möglicherweise mehr denn je. Insbesondere der Entwurf für eine europäische Verfassung, den ein eigens zu diesem Zweck gegründetes Konvent vor wenigen Monaten vorgelegt hat, hat die Frage nach der Zukunft der europäischen Integration wieder auf die politische Agenda katapultiert. „Europa gibt sich eine Verfassung“ titelte etwa die Süddeutsche Zeitung am 14. Juni 2003 und zitiert in der Unterzeile den deutschen Außenminister, Joschka Fischer, der von einem „historischen[m] Tag“ gesprochen habe.[7] Und selbst die New York Times fragt in einer Überschrift nach „United Europe’s Jefferson?“ und meint damit den Konventspräsidenten Valéry Giscard d´Estaign.[8]

Immer wieder geistert das Schlagwort eines geeinten Europas, der „Vereinigten Staaten von Europa“, durch die Medien, und immer öfter bekommen auch Europas Bürger den langen Arm Brüssels selbst zu spüren. Schon jetzt verbindet eine gemeinsame Währung zwölf der 15 Mitgliedsstaaten und damit rund 300 Millionen EU-Bürger. Das europäische Recht ist dem nationalen Recht übergeordnet, Recht gesprochen wird am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Trotz heftigen Widerstand seitens der USA wird jetzt sogar eine europäische Eingreiftruppe mit einem eigenem Planungsstab diskutiert. In Mazedonien leitet die EU schon heute ihren ersten, eigenen Militäreinsatz.

Europa wächst zusammen. Mit der für Mai 2004 geplanten Erweiterung der Europäischen Union wird die blaue Europaflagge für 25 Staaten und für insgesamt rund 450 Millionen Menschen stehen. Immer öfter werden Entscheidungen nicht mehr auf nationalstaatlicher, sondern auf europäischer Ebene getroffen. Jeder Bürger eines EU-Staates ist seit In-Kraft-Tretens des Vertrags von Maastricht ob er will oder nicht[9] auch gleichzeitig Bürger der Europäischen Union. Zweifellos übernehmen die Organe der Europäischen Union schon jetzt zahlreiche Aufgaben, die ursprünglich Gegenstand nationalstaatlicher Souveränität waren. Anders als die meisten anderen internationalen Organisationen kann sie Recht setzen, dass für die Bürger ihrer Mitgliedsstaaten unmittelbar bindend ist. Sie verfügt über Organe zur Gesetzgebung und zur Verwaltung und kann Entscheidungen zum Teil sogar gegen den ausdrücklichen Willen einzelner Mitgliedsstaaten durchsetzen. Ihre institutionelle Struktur wird vielfach sogar mit der eines Staates verglichen. Ministerrat und Europäisches Parlament bilden demnach gemeinsam die Legislative, die Europäische Kommission die Exekutive. Die Judikative wird vom Europäischen Gerichtshof verkörpert.[10]

Kann aber deshalb tatsächlich schon jetzt von einem europäischen Staat gesprochen werden? Wie berechtigt ist es, der Europäischen Union schon jetzt „Staatscharakter“ zu unterstellen? Droht auf lange Sicht möglicherweise sogar ein europäischer „Superstaat“? Diesen Fragen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.

Um sie zu beantworten, sollen im zweiten Kapitel zunächst einige staatstheoretischen Grundüberlegungen angestellt werden. Was ist überhaupt ein Staat? Wie ist er entstanden und welche Aufgaben hat er zu erfüllen, wo gerät er an seine Grenzen? Das dritte Kapitel schließlich ist der Europäischen Union selbst gewidmet. Sie wird vielfach als ein Konstrukt „sui generis“, als Organisation eigener Art, beschrieben. Aber was heißt das eigentlich? Neben einem kurzen Abriss zur Entwicklung der Europäischen Union soll an dieser Stelle außerdem auf das sogenannte „Maastricht-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts eingegangen werden. Im vierten Kapitel schließlich sollen die zuvor erarbeiteten staatstheoretischen Grundlagen auf die Europäische Union bezogen werden. Abgeschlossen wird diese Analyse dann mit einem kurzen Exkurs zum Thema „Die Vereinigten Staaten von Europa“ und einer Zusammenfassung der dargelegten Überlegungen.

Dass mit dieser Arbeit nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, ergibt sich schon aus der schier unerschöpflichen Fülle an Publikationen zum Thema Staat ebenso wie zur Europäischen Union und zur europäischen Integration. Die vorliegende Analyse wird also definitiv nicht alle Theorien und Meinungen berücksichtigen können. Die Ausarbeitung soll außerdem bewusst auf einer staatstheoretischen und nicht auf einer integrationstheoretischen Basis fußen, obwohl letztere freilich nicht völlig ausgeblendet werden kann bzw. implizit in viele Überlegungen mit einfließen wird. Insgesamt soll der Versuch gewagt werden, mit dieser Arbeit eine zwar aus oben genannten Gründen selektive, aber in sich schlüssige Analyse der Europäischen Union aus staatstheoretischer Perspektive vorzulegen.

2. Staat und Staatstheorie

„L´état c´est moi!“ – „Der Staat bin ich!“ Lange wurde diese Äußerung dem französischem König Ludwig XIV. zugeschrieben. Dieser hatte den Absolutismus in Frankreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Höhepunkt geführt. Und auch wenn heute unklar ist, ob er diesen Satz wirklich jemals so gesagt hat, fasst er den Regierungsstil des Sonnenkönigs dennoch passend zusammen.[11] Weniger egozentrisch und gut dreihundert Jahre jünger ist folgender Definitionsversuch: „Der Staat ist eine Notordnung gegen das Chaos.“ Diese Aussage stammt von Gustav Heinemann, dem ersten Innenminister der Bundesrepublik Deutschland und späteren Bundespräsidenten.[12] Eine weitere und vermutlich eine der bekanntesten Staatsdefinitionen stammt von dem deutschen Soziologen Max Weber. Für ihn ist der Staat „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“[13]

Wie schon diese kleine Auswahl andeutet, gab und gibt es zahlreiche Versuche, „den Staat“ definitorisch zu erfassen. Schon in der Antike gab es Diskurse, zum Beispiel bei Platon und Aristoteles, die aus heutiger Sicht als „staatstheoretisch“ bezeichnet werden können. Und auch heute befassen sich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker regelmäßig mit der Frage, was kennzeichnend für den Staat ist.

In diesem Kapitel soll daher zunächst die theoretische Grundlage für eine Betrachtung der Europäischen Union aus staatstheoretischer Perspektive gelegt werden. Im Kern soll dabei die Frage behandelt werden, was überhaupt unter der Bezeichnung „der Staat“ verstanden werden kann. Wie ist der heutige, „moderne“ Staat entstanden und was ist charakteristisch für ihn? Welche Aufgaben hat er, wo sind seine Grenzen?

2.1. Der Staatsbegriff

Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft „steht von jeher im Zentrum gesellschafts- und politikwissenschaftlicher Theoriebildung“ – so nachzulesen im Wörterbuch Staat und Politik von Dieter Nohlen.[14] Zahlreiche Publikationen schmücken sich mit dem Präfix „Staat“ im Titel, die Liste der Veröffentlichungen zu den Themen Staat, Staatstheorie und Staatsaufgaben scheint endlos. Über 1,7 Millionen Seiten fördert allein die Suchmaschine „Google“ zu Tage, wenn man sie im deutschsprachigen Internet nach dem Begriff „Staat“ fahnden lässt.[15] Die Suche nach Büchern nur zum Thema „Staatstheorie“ beim umsatzstärksten Online-Buchhändler, amazon.com, ergibt eine Auswahl von 70 verschiedenen Büchern, einzelne Aufsätze und Fachzeitschriften nicht mitgerechnet.[16] Dabei ist das Wort „Staat“ selbst noch verhältnismäßig jung. Das etymologische Lexikon der deutschen Sprache datiert seine Entstehung auf das 14. Jahrhundert.[17] Als Wortherkunft wird einerseits das lateinische stare, also stehen, andererseits das französische les états, übersetzt: die Stände, genannt. Gemeint wurde in der Regel entsprechend auch der Stand oder der Rang einer Person oder der Zustand eines Vermögens. Auch heute ist das englische state nicht nur mit einer politischen Bedeutung behaftet, sondern kann auch mit dem deutschen Wort „Zustand“ übersetzt werden (etwa als state of mind = Gemüts- oder Geisteszustand). Die politische Bezeichnung Staat (italienisch: lo stato) für den Zustand eines Herrschaftsverbandes findet sich erstmals im 16. Jahrhundert, nämlich in den Schriften Niccolô Machiavellis (1469 bis 1527).[18] Dennoch wird der Stempel „Staat“ oft rückwirkend und undifferenziert für alle möglichen Formen politischer Machtausübung verwand. So beginnen die meisten staats- oder demokratietheoretischen Einführungswerke mit den sogenannten „Stadtstaaten“ der Antike. Auch Rainer Rotermundt spannt in seiner Einführung in „Staat und Politik“ den historischen Bogen von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit. Er weist den Leser jedoch schon in der Einleitung ausdrücklich darauf hin, dass er die Bezeichnung des „griechischen Stadtstaaten“ keineswegs für sehr glücklich gewählt hält.[19] Eine Kritik, die sich auch in Arthur Benz Einführungswerk „Der moderne Staat“ findet: man spräche vom Staat der Pharaonen, von Stadtstaaten der Antike, vom römischen Staat, vom Staat des Mittelalters, vom Fürstenstaat, vom Ständestaat, vom vormodernen Staat und schließlich vom modernen Staat – dabei habe doch Max Weber in seiner Herrschaftssoziologie eindrücklich gezeigt, dass „der Staat, soweit er als Form rationaler, nach unpersönlichen und kontrollierbaren Regeln ausgeübter Herrschaft existiert, ein Phänomen der Moderne ist.“[20] Streng genommen (und wenn man Max Webers idealtypischen Staatsbegriff zugrunde legt) ist also die Bezeichnung „moderner Staat“ sogar eine Tautologie. Dennoch hat sie sich in Abgrenzung zu jenen von Arthur Benz (s.o.) aufgelisteten Staatsbegriffen bewährt und soll daher auch in dieser Arbeit weiter verwandt werden.

Zum Wesen und zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates gibt es zahlreiche Abhandlungen. Das mag daran liegen, dass die Staatenbildung keineswegs ein Prozess war, der sich in der ganzen Welt gleichzeitig vollzog. Allgemein wird zwar davon ausgegangen, dass der moderne Staat zunächst in Europa entstand – doch auch innerhalb dieses territorialen Raumes hat es Brüche und Rückschritte in der Entstehungsgeschichte gegeben.[21] Zum anderen ist der Staat nicht im Singular, sondern im Plural entstanden, wie beispielsweise der Politikwissenschaftler Andreas Anter in seiner Dissertation über Max Webers Theorie des modernen Staates zu bedenken gibt: „Eine Vielzahl von heterogenen Herrschaftsgebilden entwickelt sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Territorien zu derjenigen Form politischer Herrschaft, die wir heute als Staat bezeichnen.“[22] Anter verweist an dieser Stelle außerdem auf eine weitere Problematik, die sich bei der Frage nach der Entstehung des modernen Staates auftut. Jeder Versuch, dessen Geburtstunde historisch zu verorten setzt einen bestimmten Staatsbegriff voraus. Dieser jedoch muss den modernen Staat von den vorausgegangenen vorstaatlichen Herrschaftsgebilden abgrenzen. Man gerät also fast zwangsläufig in einen Zirkel, aus dem ein ausbrechen nur schwer möglich scheint.[23] Vielfach behilft man sich, indem man den 24. Oktober 1648, der Tag des Westfälischen Friedens und damit das Ende des Dreißigjährigen Krieges, als Anbeginn moderner, europäischer Staatlichkeit deklariert.[24] Dies ist in so fern schlüssig, als das der in Osnabrück und Münster festgeschriebene Nichteinmischungsgrundsatz als eine Grundlage staatlicher Souveränität gelten kann (vgl. Kapitel 2.2.4 dieser Arbeit).[25] Doch auch wenn Souveränität gemeinhin nicht nur als Kennzeichen, sondern auch als konstituierendes Element moderner Staatlichkeit gilt[26], dürfte es schwer fallen, den Staatsbegriff alleine damit hinreichend zu charakterisieren. Fest steht, dass der Staat keineswegs aus dem sprichwörtlichem Nichts entstanden ist. Vielmehr ist er das Produkt eines langjährigen Prozesses, in dessen Verlauf sich nach und nach das herausgebildet hat, was heute gemeinhin als „moderner Staat“ bezeichnet wird. Aus der Beschreibung dieses Prozesses soll im folgenden nun das extrahiert werden, was als charakteristisch für den modernen Staat gelten kann und ihn von seinen Vorläufern unterscheidet. Gleichzeitig soll dieser Rückblick illustrieren, dass auch der moderne Staat abhängig ist von seinen Rahmenbedingungen und daher keineswegs als unveränderlicher Fixpunkt angesehen werden kann. Weder ist er eine unabänderliche, noch die einzige Form menschlichen Zusammenlebens.

2.2. Die Entwicklung des modernen Staates

2.2.1. Die Erosion der feudalen Gesellschaftsstruktur

Die Wurzeln des modernen Staates werden in der Regel zwischen dem elften und 13. Jahrhundert nach Christi Geburt verortet. Nicht zuletzt durch ein dramatisches Bevölkerungswachstum begann in dieser Zeit im abendländischen Europa ein Wandlungsprozess, der Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche hatte. Diese europäische Bevölkerungsexplosion hielt etwa bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts an.[27] Der daraus resultierende, gestiegene Nahrungsmittelbedarf wurde vor allem durch die Erschließung neuer Anbauflächen und Siedlungsgebieten sowie durch verbesserte Anbau- und Arbeitsmethoden wie etwa die Dreifelderwirtschaft bedient und zugleich angetrieben. Steigende Agrarpreise bei gleichzeitig im Übermaß verfügbarer menschlicher Arbeitskraft ließ viele Grundbesitzer weit über den eigenen Bedarf hinaus produzieren, um die Überschussproduktion anschließend zu veräußern. Die damit einsetzende wirtschaftliche Dynamik erfasste schnell auch das Handwerk, Gewerbe und Handel. Die Folge eine rasch florierende Geldwirtschaft und ein Anstieg des Handelsverkehrs. In den Städten etablierten sich zahlreiche neue Märkte und führten zu einem Aufschwung derselben. Die Städte wurden so auch Anziehungspunkt für die Landbevölkerung. Die bislang in Grundherrschaftsverhältnisse eingebundenen Landarbeiter erhoffte sich durch den Umzug in die Stadt einen sozialen Aufstieg vom abhängigen Bauern oder Leibeigenen zum freien Städter (daher auch Spruch: „Stadtluft macht frei“).[28] Überhaupt, konstatiert etwa das Lexikon, sei diese Epoche neben dem starken Wachstum „durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet, und zwar sowohl durch eine horizontale, d.h. räumliche, vor allem durch das Drängen der Landbevölkerung in neue Siedlungsgebiete und Städte, als auch durch eine vertikale, also soziale, etwa durch den Aufstieg unfreier Bauern zu freien Städtern oder von Vasallen oder Ministerialen zu Rittern.“[29] Im Zuge dieser gesteigerten Mobilität entstand so im Verlauf des 13. Jahrhunderts eine völlig neue Bevölkerungsschicht zwischen Bauernschaft und Adel: die des freien Stadtbewohners, das „Bürgertum“.[30]

Im Verlaufe dieses Prozesses wurde die gesamte mittelalterliche Gesellschaftsstruktur umgekrempelt. Bis etwa in das Jahr 1000 nach Christus war die Gesellschaft in Europa vor allem durch persönliche Abhängigkeiten, wie etwa zwischen Feudalherren und Lehensleuten, geprägt. Zusammengehalten vor allem durch Vertragspflichten und Ehrenkodexe ließ sie jedoch gleichzeitig ein beträchtliches Maß an Willkür in der Machtausübung zu. Noch gab es, wie der Politikwissenschaftler Arthur Benz zusammenfasst, „in weltlichen Angelegenheiten keine formale Institutionalisierung der Herrschaft, kein Gewaltmonopol, keine organisierte Verwaltung, kein gesatztes Recht, Souveränität über ein Gebiet.“[31] Zudem waren die Herrschaftsverhältnisse extrem fragmentiert. Selbst die Macht des Kaisers stellte keine zentrale Herrschaftsgewalt dar, sondern war durch eine Reihe von feudalen Herrschaftsträgern stark eingeschränkt. Auch der Einfluss der Könige war, zumindest teilweise, mehr theoretischer denn praktischer Natur. Da diese nicht nur Grund und Boden, sondern auch königliche Hoheitsrechte, wie das Zollrecht und die Gerichtsbarkeit, in Form von Lehen an sogenannte (Kron-) Vasallen weitergaben, war ihre Autorität begrenzt. Dies gilt insbesondere für die deutschen Länder, da hier tatsächlich nur die direkt durch den König autorisierten Vasallen (eben jene Kronvasallen) diesem zumindest pro forma zur Treue verpflichtet waren, nicht aber die hierarchisch tiefer stehenden Aftervasallen.[32] Erschwerend kam hinzu, dass viele Teile des Landes gar nicht in den Lehnsverbands eingegliedert waren, sondern sich im Besitz des Adels befanden.[33] All diese Faktoren führten zu einer fortschreitenden Erosion der feudalen Gesellschaftsstruktur hin zum sogenannten „Ständestaat“. Charakteristisch für diesen waren Zusammenschlüsse in Form von Ständeversammlungen wider der starken Machtzersplitterung. Ob aufgrund dessen aber schon das Suffix „-staat“ gerechtfertig ist darf durchaus bezweifelt werden. „So ziemlich alle Funktionen, die der neuzeitliche Staat für sich beansprucht, waren damals auf die verschiedensten Träger, auf die Kirche, den grundbesitzenden Adel, die Ritterschaft, die Städte und sonstige Privilegierte verteilt“, beschreibt etwa der Staatstheoretiker Hermann Heller den Zustand im ausgehenden Mittelalter.[34] Auch aufgrund der noch immer geltenden Lehnordnung wird der „Ständestaat“ daher vielfach auch als eine Spätform der feudalen Herrschaftsordnung beschrieben. Zwei wesentliche Merkmale jedoch legen nahe, ihn zumindest als eigene Herrschaftsform zu begreifen, wie es beispielsweise Gianfranco Poggi in seinem 1978 veröffentlichtem Buch „The Development of the Modern State“ getan hat: zum einen die Entstehung von organisierten und in Versammlungen repräsentierten Zusammenschlüssen zu sogenannten „Ständen“, zum anderen die nun einsetzende, formale Institutionalisierung der Machtausübung.[35] Schrittweise begann man, die personengebundene Herrschaft durch eine auf formaler Organisation fußenden Legitimation ersetzen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Merkmale begriff auch Max Weber den Ständestaat zumindest als wichtige Übergangsform bei der Entwicklung des modernen Staates.[36] Die endgültige Trennung zwischen Amt und Person, eines der essentiellsten Merkmale moderner Staatlichkeit, setzte sich jedoch erst später, zum Ende des Absolutismus hin, vollständig durch.[37]

2.2.2. Geldwirtschaft und die Etablierung regelmäßiger Steuerabgaben

Die historischen Hintergründe und die Gründe für diese Trennung sind vielfältig und es wäre vermessen zu behaupten, sie im Rahmen dieser Arbeit in voller Gänze wiedergeben zu können. Schon weil die soeben angerissene Kausalkette im Prinzip nach Belieben verkürzt oder auf einen längeren Zeitraum ausgedehnt werden könnte, erscheint die Zahl der Faktoren, deren Einfluss bedeutend für die Herausbildung des modernen Staates war, zunächst unüberschaubar. Dennoch kristallisieren sich nach und nach Umstände heraus, die untrennbar mit der Entstehung des modernen Staates verknüpft zu sein scheinen. Einer davon ist die sich zum Ende des Mittelalters hin rapide ausbreitende Geldwirtschaft. Sie wird beispielsweise im von Axel Görlitz veröffentlichten „Handlexikon zur Politikwissenschaft“ von Walter Euchner als einer der entscheidenden Faktoren für das Entstehen des „modernen europäischen Staatentyps“ identifiziert.[38] Auch der Soziologe Norbert Elias sieht in der „allmählichen Vergrößerung des geldwirtschaftlichen Sektors“ eine der elementaren Grundvoraussetzungen, die letztlich für die Entstehung des modernen Staates entscheidend waren.[39] Denn während Geld zunächst ein verhältnismäßig rares Gut war, führten die oben skizzierten Entwicklungen, wie etwa das Florieren des Handels, zu einem raschen Anstieg der in Umlauf befindlichen Geldmenge. Diese Transformation der noch in weiten Teilen naturalwirtschaftlich geprägten Gesellschaft in eine monetär-kapitalistische hatte tiefgreifende Folgen. Leidtragende dieser Entwicklung waren vor allem die Feudalherren, die über ihre Güter meist feste, oft nicht in Geldform ausbezahlte, Renten erhielten. Größter Profiteuer hingegen war neben dem Bürgertum vor allem der König, der in Form von Steuern direkt an diesem Prozess verdiente und diesen entsprechend förderte – nach Elias „eine der Voraussetzungen, auf Grund deren die Institution des Königs oder Fürstentums allmählich den Charakter der Absolutheit oder Unumschränktheit erhielt.“[40]

Die Entwicklung von Steuern bzw. des staatlichen Steuermonopols war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur modernen Staatlichkeit, denn sie ist eng mit dem Entstehen des staatlichen Gewaltmonopols verknüpft. Ferner waren Geldwirtschaft und das Steuermonopol ein wichtiger Faktor für die Herausbildung der staatlichen Bürokratie, des Rechts und letztendlich sogar für die Trennung des öffentlichen Haushalts vom Privathaushalt und somit bedeutend für die endgültige Unterscheidung zwischen Amt und Person des Herrschers selbst. In seinem bereits 1939 veröffentlichtem Hauptwerk, „Über den Prozeß der Zivilisation“, widmet Elias der „Soziogenese des Steuermonopols“ daher sogar ein eigenes Kapitel.[41] Auf rund dreißig Seiten beschreibt er die entscheidenden Wegmarken dieser Entwicklung. Gleichzeitig illustriert Elias die Bedeutung regelmäßiger Steuerzahlungen für die Schaffung und Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols. Er sieht den Ursprung des Steuermonopols in einer gesellschaftlichen Institution, die sich im 12. und 13. Jahrhundert entwickelte. Zu dieser Zeit begannen die Feudalherren, neben den ohnehin kriegsdienstpflichtigen Adeligen auch die Stadtbewohner, also jenen schon erwähnten, neuen Bürgerstand zum Dienst an der Waffe heranzuziehen. Diese jedoch zogen es vielfach vor, sich von seiner Pflicht freizukaufen und dem Territorialherren statt dessen Geld anzubieten, damit dieser sich statt dessen Krieger mieten konnte. Sie „kommerzialisieren“[42] also praktisch den Kriegsdienst. Gleichzeitig begründen sie einen Brauch, demnach der König sich von nun an für seine Feldzüge von den Gemeinden einen bestimmten Geldbetrag verlangen kann. Eine solche Form der Beihilfen, französisch „Aides“, waren zuvor auch schon üblich gewesen, etwa wenn der Sohn eines Vasallen zu Ritter geschlagen wurde oder heiratete. Wie diese „Aides“ handelte es sich jedoch bei diesen Geldzahlungen zunächst um einmalige, außerordentliche Transaktionen. Das änderte sich mit dem Hundertjährigen Krieg. Während dieser, mit Unterbrechungen von 1337 bis 1453 andauernden, Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England, wurde der Kriegszustand zur Norm und mit ihm die Beihilfen zur Finanzierung desselben. Mit der Regelmäßigkeit der Zahlungen bildete sich Stück für Stück auch eine gesonderte, zentralisierte Verwaltungsapparatur heraus, die mit dem Einziehen der Aides betraut war. So gab es schon im Jahr 1370 in Frankreich zwei oberste Verwalter, von denen einer sich mit finanziellen, der andere mit gerichtlichen Problemen befasste, die sich beim Einzug der Abgaben ergaben.

Mit dem Verlauf des Krieges erlebte das noch junge und sich immer weiter differenzierende Abgabengeflecht nicht nur einen Aufschwung, sondern auch einige seiner härtesten Proben. Immer wieder revoltierte das kriegsgebeutelte Volk in den Städten und auch der Adel gegen die Abgaben oder die Führung der damit finanzierten Feldzüge, teilweise auch mit Erfolg. Dennoch stärkten Uneinigkeiten zwischen den Ständen und auch innerhalb der Städte letztendlich die Macht des Königs: „Es ist die Stärke der Antagonismen zwischen den verschiedenen Gruppen dieser Gesellschaft, die der Zentralfunktion die Stärke gibt“, formuliert Elias.[43] Im Jahre 1436 erklärte der französische König Karl VII. die Aides endgültig zur ständigen Einrichtung und begann, deren Höhe unabhängig von den bisher üblichen Ständeverfassung festzusetzen und einziehen zu lassen.

2.2.3. Das Gewaltmonopol und die Trennung von Amt und Person

Laut Max Weber beruht der moderne Staat in erster Linie auf Fachbeamtentum und dem rationalem Recht. Charakteristisch und nur ihm zu eigen sei jedoch Monopol der physischen Gewaltsamkeit. Zwar hätten die verschiedensten Verbände, angefangen von der Sippe, gemeinschaftlich ausgeübte oder legitimierte Gewalt als ganz normales Mittel gekannt. Für die Entwicklung des modernen Staates entscheidend gewesen sei jedoch die Monopolisierung der legitimen Gewaltsamkeit durch den politischen Gebietsverband sowie deren rationale Vergesellschaftung zu einer anstaltsmäßigen Ordnung. Das der Gegenwart Spezifische sei, „dass man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zulässt: er gilt als alleinige Quelle des ‚Rechts’ auf Gewaltsamkeit.“[44] Dies schlägt sich auch in der praktischen Organisation der staatlichen Herrschaft wieder: im Gegensatz zum mittelalterlichen, feudalen Herrschaftsverband ist für den modernen Staat die Trennung des Verwaltungsstabes von den sachlichen Betriebsmitteln.[45] Der Verwaltungsbeamte ist im modernen Staat nicht Eigentümer, sondern nur Verfügungsberechtigter über die nun staatlichen Sachmittel. Bildlich gesprochen: War im Mittelalter das Schwert noch im Besitz des Ritters, verbleibt dies zwar auch im modernen Staat in seiner Hand, ist aber nicht mehr dessen Eigentum.

Weber ist nicht der erste, wohl aber der einflussreichste Denker, der dem Staat das Monopol physischer Gewaltsamkeit zuschreibt. Auch der deutsche Jurist Rudolph von Jhering hatte in seiner bereits 1877 veröffentlichten Schrift, „Der Zweck im Recht“ auf die „Zwangsgewalt“ als „das absolute Monopol des Staates“ hingewiesen.[46] Für eben diese Monopolisierung legitimer Gewalt war das Steuermonopol von großer Bedeutung, denn proportional mit den finanziellen Chancen der Zentralgewalt wuchsen auch ihre militärischen.[47] Erst der durch Steuern garantierte, stetige Geldfluss ermöglichte dem Herrscher die Aufstellung und auch dauerhafte Unterhaltung eines stehenden Heeres. Dessen Loyalität wurde durch die wirtschaftliche Abhängigkeit, also durch die Soldzahlungen garantiert. Die nun zur Verfügung stehenden Machtmittel versetzten den Herrscher zugleich in die Lage, nicht nur seinen Machtanspruch, sondern notfalls auch die Quelle desselben, das Steuermonopol, gewaltsam durchzusetzen. Die Verbesserung der Kriegstechnik, insbesondere die Entwicklung des Schießpulvers (in Europa vermutlich im 14. Jahrhundert), verstärkte und beschleunigte diesen Prozess. Eine mit Feuerwaffen ausgestattete und zu Fuß kämpfende „unedle Masse“[48] war nun plötzlich dem Ritter zu Pferde überlegen, was letztendlich den Niedergang des Rittertums bedeutete.[49] Vereinfacht gesagt: die regelmäßigen Steuereinnahmen versetzten den König in die Lage, innerhalb eines bestimmten Territoriums ein Monopol physischer Gewalt für sich zu beanspruchen und gegebenenfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Die Höhe des Steuereinkommens war naturgemäß unmittelbar an das Einkommen der Bürgerschaft und an das Volumen des Handels gekoppelt. Eine Vergrößerung desselben war also im Interesse des Herrschers, und wurde von diesem mit einer merkantilistischen, also auf Export ausgerichteten, Wirtschaftspolitik massiv unterstützt. Ziel war die Stärkung der herrschaftlichen Machtbasis.[50] Jedoch wuchs mit zunehmendem ökonomischen Gewicht der Bürgerschaft nicht nur das Einkommen des Königs, sondern auch der Einfluss dieser neuen Schicht. Denn das Bürgertum zahlte nicht nur, es forderte zudem einen einheitlichen und festgeschriebenen Rechtsrahmen für den aufkeimenden Kapitalismus. Eine verstärkte Rezeption des römischen Rechts untermauerte diese Forderung nach Rechtssicherheit und (gerade im zersplitterten zukünftigen Deutschland) nach der Vereinheitlichung und Konzentration des Rechts. Gleichzeitig bröckelte der Glaube an eine auf Gottesgnadentum beruhende Herrschaft. Der Monarch wurde insbesondere vom Bürgertum zunehmend nicht mehr als Inhaber einer gottgegebenen Macht gesehen, sondern als Träger einer vom Volk delegierten Führungs- und Ordnungsrolle begriffen, seine Herrschaft also abstrahiert von seiner Person und göttlicher Fügung durch seine Funktion begründet.[51] Dementsprechend genügte es nicht, „nur die privatrechtlichen Beziehungen einer zentralen und planmäßigen Regulierung zu unterziehen, sondern es musste ein Gleiches mit den Herrschaftsverhältnissen geschehen“, schreibt Hermann Heller in seiner Staatslehre.[52] Er sieht daher den wahren Ursprung der Institution der herrschaftslegitimierenden Staatsverfassung nicht etwa in dem Streben nach Freiheitsrechten, sondern begreift diese als schlichte ökonomische Notwendigkeit. Der Staat selber wurde immer mehr als „öffentliche Herrschaftsanstalt interpretiert und entsprechend zwischen öffentlichem und privatem Recht unterschieden.“[53] Aus dem, gemäß der Formel „Der Staat bin ich!“ regierenden, Herrscher wurde der „erste Diener des Staates“, wie König Friedrich II. es 1752 in seinem „Politischem Testament“ formulieren sollte.[54]

2.2.4. Westfälischer Friede und staatliche Souveränität

Der Dreißigjährige Krieg zwischen 1618 und 1648 gilt nicht nur als eine der „schlimmsten Katastrophen der deutschen Geschichte“[55], seine Beendigung mit dem Westfälischem Frieden bedeutete gleichzeitig einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur modernen Staatlichkeit in ganz Europa. Die am 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück geschlossenen Friedensverträge zwischen dem Kaiser bzw. dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und Frankreich mit seinen Verbündeten sowie zwischen Kaiser/Reich und Schweden mit seinen Verbündeten gelten noch heute, insbesondere aus völkerrechtlicher Sicht, als Fundament staatlicher Souveränität.[56] Die deutschen Landesherren erhielten über ihr Territorium die volle Landeshoheit inklusive dem Recht, nun unabhängig von Kaiser und Reich Bündnisse mit dem Ausland und untereinander zu schließen, so lange diese sich nicht gegen den Kaiser richteten. Das Gesetzgebungsrecht, die Rechtssprechung sowie die Steuerhoheit fielen nun ebenfalls endgültig in die Kompetenz der Territorialherren. Außerdem wurde der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens, „cuius regio, eius religio“, erneut festgeschrieben (und auf den Calvinismus ausgedehnt). Demnach lag es in der Gewalt des jeweiligen Landesherren, die auf seinem Territorium vorherrschende Konfession festzulegen.[57] Der Souveränitätsbegriff diente in dieser Zeit vor allem der Abwehr von Ansprüchen von außen, etwa durch die Kirche und den Kaiser, aber auch nach innen, etwa gegen Ansprüche, die von den Ständen an den Landesfürsten herangetragen wurden.[58] Geprägt wurde er vor allem durch Jean Bodin. Dieser hatte bereits 1576 sein Hauptwerk, „Les six livres de la république“, heute meist übersetzt mit „Sechs Bücher über den Staat“, veröffentlicht und darin die Souveränität des Fürsten als zentrales Prinzip des Staates[59] definiert. Bodin leitet dafür die Souveränität des Fürsten direkt von Gott ab, als dessen Stellvertreter dieser zum Wohle des Volkes agieren soll.[60] Neben Kapiteln über die Souveränität finden sich in Bodins Werk auch ganz konkrete Regierungsanweisungen, wie etwa „Zur Frage ob der Fürst selbst über seine Untertanen zu Gericht sitzen und häufig mit ihnen verkehren sollte“ (Buch IV, Kapitel 6) oder „Über das Finanzwesen“ (Buch VI, Kapitel 6). Bodin zählt, so die Meinung von Hermann Heller, dessen aus dem Jahre 1927 stammendes Vorwort auch noch das 1981 herausgegebene Buch schmückt, seit jeher „zu den meist zitierten und am wenigsten gelesenen Staatstheoretikern“.[61] Er gilt heute mit seinen Überlegungen zur Souveränität des Fürsten als Wegbereiter für den Absolutismus, wie er vor allem im Frankreich des 18. Jahrhunderts vorherrschte. Außerdem beeinflussten seine Überlegungen Denker wie etwa den Engländer Thomas Hobbes, der mit seinem 1651 erschienenem Werk „Der Leviathan“[62] die uneingeschränkte staatliche Souveränität aus Vertragstheoretischen Überlegungen begründete. Wieder anders sah es hingegen Jean Jacques Rousseau. In seinem 111 Jahre später veröffentlichtem Werk „Du contrat social ou principes du droit politique“, zu deutsch: „Der gesellschaftliche Vertrag oder die Grundregeln des allgemeinen Staatsrechts“, begreift er Volkssouveränität und Gemeinwille gerade wider dem absoluten Herrscher.

[...]


[1] Larry Siedentop, Demokratie in Europa, Klett-Cotta: Stuttgart, 2002;
die englischsprachige Originalausgabe erschien im Jahre 2000 mit dem Titel „Democray in Europe“ bei Allen Lane – The Penguin Press in London

[2] Siedentop 2002, Seite 4

[3] vgl. Gasteyger 2001, Seite 43 (hier finden sich Auszüge aus Churchills Rede)

[4] eine Sammlung dieser Konzepte findet sich ausführlich dokumentiert bei: Lipgens 1986

[5] vgl. Pfetsch 1997, Seite 16

[6] vgl. Pfetsch 1997, Seite 17

[7] Hagelüken / Wenicke 2003

[8] Sciolino 2003

[9] Mit der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht wurde in selbigem die „Unionsbürgerschaft“ (Artikel 8) festgeschrieben. Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen mit dem Beitritt verbundene Änderungen des deutschen Grundgesetzes wurde am 12. Oktober 1993 abgewiesen; vgl. hierzu insbesondere die Dokumentation des Verfahrens in: Winkelmann 1994; auf das „Maastricht-Urteil“ wird außerdem in Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit weiter eingegangen

[10] vgl. z.B. Benz 2001, Seite 278; Pfetsch 1997, Seite 141 und Seite 153

[11] darauf verweist: Schulze 2002b, Seite 154

[12] Weidenfeld 2000, Seite 302

[13] Weber 1980, Seite 822; anzumerken ist, dass Webers Definition an dieser Stelle verkürzt dargestellt wird. Weber definiert den Staat zwar idealtypisch insbesondere über das Mittel Gewalt, hebt jedoch außerdem dessen soziologische Natur als „Anstaltsbetrieb“ hervor; darauf verweist: Anter 1995,
Seite 47 bis 51; zur Staatsdefinition von Max Weber siehe auch Kapitel 2.2.3 sowie Kapitel 2.3.2 dieser Arbeit

[14] Schultze 1996, Seite 733

[15] Suche mit www.google.de nach dem Wort „Staat“ am 1. November 2003

[16] Suche nach deutsche Büchern zum Thema „Staatstheorie“ auf http://www.amazon.de am 26. Dezember 2003

[17] Kluge 1999, Seite 785, Staat

[18] vgl. Fenske 1997, Seiten 242 ff.; Klaus Schubert 1997, Seite 274; Microsoft Encarta 2000, Staat

[19] Rotermundt 1997, Seite 12

[20] Benz 2001, Seite 9; Benz bezieht sich dabei auf: Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 1973, Seiten 146 bis 163; Hannes Wimmer, Evolution der Politik, WUV Universitätsverlag: Wien, 1995; Gianfranco Poggi, The Developement of the Modern State. A Sociological Introduction, Hutchinson: London, 1978

[21] vgl. Benz 2001, Seite 10;

[22] Anter 1995, Seiten 166f.

[23] vgl. Anter 1995, Seiten 19 bis 21, sowie Seiten 166 f.

[24] vgl. van der Pijl 1996, Seite 53

[25] vgl. Hartmann 2001, Seiten 15 bis 17; Roth 2001, Seite 15

[26] vgl. Seidelmann 1998, Seite 363; hierauf wird auch in Kapitel 2.2.4 dieser Arbeit näher eingegangen

[27] explizit wird auf diese Bevölkerungsexplosion verwiesen in: Müller 1992, Seiten 139 bis 141, sowie in: Microsoft Encarta 2000, Mittelalter

[28] vgl. Müller 1992, Seiten 139 bis 141, sowie in: Microsoft Encarta 2000, Mittelalter

[29] Microsoft Encarta 2000, Mittelalter

[30] Mit dem Begriff des Bürgers bzw. des Bürgertums (aus dem Französischen für Bourgeois bzw. Bourgeoise) wurden im Laufe der Geschichte die verschiedensten Inhalte verbunden. Grenzte er zunächst den freien Stadtbewohner von der Landbevölkerung und vom Adel ab, wurde er bei Karl Marx zum Synonym für die herrschende, über die Produktionsmittel verfügende Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Nicht umsonst bescheinigt etwa der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dem Wort „Bürger“ eine „bewegte Begriffsgeschichte“ (Münkler 1996, Seite 71). Um nicht den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen, soll daher zunächst auf eine weitere Begriffsbestimmung verzichtet werden und die Bezeichnung „Bürger“ bzw. „Bürgertum“ hier als Abgrenzung der Stadtbewohner zum Adel und zur Landbevölkerung verstanden werden.

[31] Benz 2001, Seite 13

[32] vgl. Microsoft Encarta 2000, Feudalismus

[33] vgl. Microsoft Encarta 2000, Feudalismus

[34] Heller 1970, Seite 126

[35] Gianfranco Poggi, The Developement of the Modern State. A Sociological Introduction, Hutchinson: London, 1978, indirekt zitiert nach: Benz 2001, Seite 14

[36] darauf verweist: Benz 2001, Seite 14

[37] Benz 2001, Seite 14

[38] Euchner 1972, Seite 427

[39] Elias 1997, Seite 17 f.

[40] Elias 1997, Seite 18

[41] Elias 1997, „Zur Soziogenese des Steuermonopols“, Seiten 287 bis 319; Anzumerken ist jedoch, dass Elias selbst die räumliche Gültigkeit seiner Zivilisationstheorie zwar auf das Abendland begrenzt, sich tatsächlich jedoch vornehmlich auf Frankreich und die Entstehung des französischen Staates beschränkt. Darauf verweist insbesondere: Hinz 2002, Seite 34

[42] Elias 1997, Seite 290

[43] Elias 1997, Seite 303

[44] Weber 1980, Seite 822; vgl. auch Zängle 1988, Seiten 27 bis 29; Anter 1993, Seite 21

[45] vgl. Weber 1980, Seite 824

[46] Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 4. Auflage, Leipzig, 1904, Seite 247, zitiert nach Anter 1993, Seite 33

[47] vgl. Elias 1997, Seite 18

[48] Elias 1997, Seite 19

[49] auch Heller weist ausdrücklich auf diesen Umstand hin: vgl. Heller 1970, Seite 130

[50] vgl. Weber 1980, Seiten 819 ff.

[51] vgl. Herzog 1971, Seite 50; Euchner 1972, Seite 428

[52] vgl. Heller 1970, Seite 135

[53] Euchner 1972, Seite 427

[54] FriedrichII. von Preußen: Schriften und Briefe. Aus dem Französischen übersetzt von Herbert Kühn. Herausgegeben von Ingrid Mittenzwei. Leipzig 1985, S.183ff. zitiert nach: Microsoft Encarta 2000, Das Politische Testament Friedrichs des Großen

[55] Müller 1993, Seite 105

[56] Hartmann 2001, Seiten 15 bis 17; vgl. auch: van der Pijl 1996, Seite 51;

[57] vgl. Müller 1992, Seite 230 und Seite 243; Müller 1993, Seite 105; Microsoft Encarta 2000, Westfälischer Friede

[58] vgl. Seidelmann 1996, Seite 675

[59] Bodin selbst verwendet im französischem Original den Begriff republique. In der verwendeten Übersetzung von Bernd Wimmer wird für republique das deutschen Wort Staat verwand, auf diesen Umstand jedoch gesondert hingewiesen

[60] vgl. Bodin 1981, Seite 207;
ferner weist Bodin auf den Seiten 287 ff. ausdrücklich auf die Stellvertreterfunktion hin, welche der Fürst für Gott auf Erden zu erfüllen habe und begründet dies mit Verweisen auf Bibelstellen

[61] Hermann Heller in: Bodin 1981, Seite 9

[62] der vollständige Titel des Werkes war Leviathan or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, zu deutsch: Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Gemeinwesens

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Superstaat Europa - Die Europäische Union aus staatstheoretischer Perspektive
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Sozialwissenschaftliches Institut)
Note
1,8
Autor
Jahr
2004
Seiten
63
Katalognummer
V24453
ISBN (eBook)
9783638273275
ISBN (Buch)
9783638701921
Dateigröße
635 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ein Gebilde "sui generis" wird sie oft genannt und das zu Recht. Nicht umsonst gibt es unzählige Abhandlungen über die Europäische Union. Auch die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit diesem Faszinosum. In Hinblick auf Verfassungsdebatte und Osterweiterung soll provokant nach dem "Superstaat Europa" gefragt werden. Es folgt der Versuch eine Symbiose aus staatstheoretischen Überlegungen und europäischen Visionen und Realitäten.
Schlagworte
Superstaat, Europa, Europäische, Union, Perspektive
Arbeit zitieren
Felix Neubüser (Autor:in), 2004, Superstaat Europa - Die Europäische Union aus staatstheoretischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24453

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