Die nationalsozialistische Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel der besetzten osteuropäischen Länder


Diplomarbeit, 2001

91 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Die Thematik
1.2. Forschungsstand
1.3. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit

2. Bevölkerungspolitik und Bevölkerungstheorien

3. Die ideologischen Grundlagen

4. Die Ziele der NS-Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik in Osteuropa
4.1. Die geplante Nachkriegsordnung
4.2. Die angestrebte Veränderung der Bevölkerungsstruktur in Polen
4.3. Die nationalsozialistischen Hungerpläne für die UdSSR
4.4. Die kriegswirtschaftliche Funktion Osteuropas

5. Die räumliche Aufteilung des besetzten Osteuropas: „Mustergaue“, Abschiebegebiete, Vernichtungszonen
5.1. Polen
5.1.1. Angeschlossene Gebiete
5.1.2. Das Generalgouvernement
5.2. Die Sowjetunion

6. Selektion
6.1. Das Nationalitätenprinzip
6.2. Siedler
6.2.1. Ansiedlung von Reichsdeutschen
6.2.2. „Regermanisierung“
6.3. Versklavung
6.4. Vertreibungen
6.5. Vernichtungspolitik
6.5.1. Vernichtung der Nicht-Arbeitenden
6.5.2. Vernichtung der Führungs- und Intelligenzschicht
6.5.3. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung / Sinti und Roma

7. Fazit

Literatur

Abkürzungen

Einleitung

1.1. Die Thematik

Die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges kann mit einem einzigen Begriff treffend charakterisiert werden. Er lautet: Selektion. Die Bevölkerung Osteuropas wurde in drei Gruppen selektiert, in jene, die zu Deutschen erklärt wurden und später in ökonomischer Hinsicht als Siedler privilegiert werden sollten, in jene, die unter sklavenartigen Bedingungen für deutsche Interessen arbeiten sollten und in jene, die durch mangelnde Versorgung oder in Vernichtungslagern ermordet wurden. Es entstanden gigantische Pläne, die die Besiedlung weiter Teile Osteuropas mit Deutschen oder angeblich Deutschstämmigen vorsahen. Diese wurden allerdings während des Krieges weitgehend nicht in die Tat umgesetzt. Millionen Menschen wurden schon während des Krieges größtenteils mit physischer Gewalt gezwungen, unter sklavenartigen Bedingungen als sog. Fremdarbeiter im Altreich zu arbeiten. Hunderttausende Menschen wurden in Ghettos oder Kriegsgefangenenlagern durch bewußt unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und Brennstoffen umgebracht. Millionen Menschen wurden in Todesfabriken vergast, deren einziger Zweck es war, möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit zu ermorden. Entsprechend hoch war die Zahl der Todesopfer. Mehr als 3 Millionen christliche Polen und etwa ebensoviel jüdische Polen verloren ihr Leben. Nur ein ganz geringer Teil von ihnen kam in den erbitterten Verteidigungskämpfen um; die meisten starben durch die Politik, die die NS- Besatzungsbehörden betrieben. Noch höher war die Zahl der Toten in der besetzten Sowjetunion. Der sowjetische Historiker Alexandr Kvasa geht von insgesamt 26 bis 27 Millionen Menschen aus, die durch Kriegseinwirkungen getötet wurden.1 Hervorzuheben ist, daß diese Menschen keineswegs aufgrund einer Notsituation, die durch den Krieg entstand, umkamen, sondern daß es sich um eine bewußte Politik oder besser gesagt um Massenmord handelte.

Die Nationalsozialisten sprachen also ganz offensichtlich - aus welchen Gründen auch immer - ganzen Bevölkerungsgruppen - Juden und großen Teilen der Russen und Polen - ein Recht auf Leben ab. Es ist deshalb gerechtfertigt von einer „Vernichtungspolitik“ zu sprechen. Diese Vernichtungspolitik stand im fundamentalen Gegensatz zu dem bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Bürger- und Menschenrechtserklärungen verkündeten Recht auf Leben. Es war ganz offensichtlich ein Ziel der NS-Politik, mit allen Mitteln, zu denen auch der Massenmord gehörte, die Bevölkerung in Osteuropa zu vermindern. Dieses Ziel wurde in militärischen Führungskreisen sogar vielfach explizit formuliert. So soll Heinrich Himmler Anfang 1941 eine Rede gehalten haben, in der er davon sprach, „daß der Zweck des Rußlandfeldzuges die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um dreißig Millionen sein sollte.“2

In meiner Diplomarbeit möchte ich untersuchen, welche Rolle die NS-Ideologie und welche Rolle rationale politische bzw. ökonomische Ziele bei der NS- Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik in Osteuropa spielten.

1.2. Forschungsstand

Die Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten in Osteuropa wird in einer kaum überschaubaren Anzahl von Büchern berührt. Dabei schenkt die Literatur dem Holocaust, d.h. der Vernichtung der Juden, große Aufmerksamkeit.

Bis zu Beginn der neunziger Jahre waren sich die Historiker weitgehend darüber einig, daß der Holocaust nicht durch rationale Gründe motiviert war. Es konnten zwei Gruppen von Forschern unterschieden werden. Die erste Gruppe bezeichnete den Holocaust entweder als „Vernichtung um der Vernichtung willen“ (Hannah Arndt) oder als „schwarzes Loch des Verstehens“ (Dan Diner). Diese Gruppe erachtete sogar das Suchen nach politischen bzw. wirtschaftlichen Motiven für den Holocaust für illegitim, weil er dadurch verharmlost werde.3 Eine solche Sichtweise ist allerdings sicherlich nicht gerechtfertigt. Im Umkehrschluß würde daraus nämlich folgen, daß die Vernichtungspolitik zu rechtfertigen wäre, wenn es dafür rationale - politische oder ökonomische - Motive gäbe. Dies ist ohne Zweifel nicht der Fall, denn ein Mord - geschweige denn ein Massenmord - kann niemals durch solche Gründe gerechtfertigt werden. Christian Gerlach betont vollkommen zu Recht:

„Wirtschaftliche, quasi volkswirtschaftliche rationale Motive entlasten und entschuldigen die Initiatoren und Befehlshaber nicht - eher im Gegenteil, weil sie ihren mörderischen Vorsatz, ihr reflektiertes Handeln unwiderleglich beweisen.“4

Die andere Gruppe kam etwas vorschnell - ohne ausführliche Untersuchung - zu dem Ergebnis, daß die Vernichtung der Juden kriegsökonomisch kontraproduktiv gewesen sei, weil dadurch wertvolle, im Krieg dringend benötigte Arbeitskräfte vernichtet wurden bzw. weil die Judenvernichtung unnötig knappe Transportkapazitäten verbraucht hätte. Diese These wird noch näher zu untersuchen sein (Kapitel 6.5.3.). Bemerkenswert ist, daß selbst Wissenschaftler, die im weitesten Sinne als „sozialistisch“ eingestuft werden können und die sonst beinahe jedes Phänomen mit wirtschaftlichen Gründen erklären konnten, für den Holocaust keine rationalen Motive fanden. So kam Reinhard Kühnl 1971 zu folgendem Schluß:

„Daß jedoch während des Krieges, als die deutschen Armeen in die Defensive geraten waren und jede Arbeitskraft dringend benötigt wurde, die faschistische Regierung enorme Kräfte dafür einsetzte, um den Massenmord an den europäischen Juden zu vollenden, läßt sich durch keine rationale Kalkulation mehr begründen.“5

Insbesondere von Historikern, die dem konservativen Lager zugeordnet werden können, wurde häufig der Versuch unternommen, den Holocaust zu relativieren und damit zu ver- harmlosen. Oftmals wurde die Vernichtung der Juden und Teile der Slawen mit anderen Verbrechen - etwa mit dem türkischen Massenmord in Armenien oder der stalinistischen Politik - verglichen. Abgesehen davon, daß die NS-Herrschaft während des Zweiten Weltkrieges insbesondere in Osteuropa ohne jeden Zweifel unheilvoller und brutaler war als jede andere Herrschaft, halte ich hier den Ansatz schon für äußerst fragwürdig. Die Schuld der Nationalsozialisten wird nämlich durch andere Verbrechen - so furchtbar diese auch gewesen sein mögen - keineswegs verringert. Wolfgang Sofsky schreibt treffend:

„Ein Mörder, der sich damit rechtfertigt, daß es auch andere Mörder gibt, mindert nichts an seiner Verantwortung.“6

Erst etwa Anfang der neunziger Jahre wurde damit begonnen, die Vernichtung von großen Teilen der slawischen Bevölkerung und der osteuropäischen Juden in einem größeren politischen und wirtschaftlichen Kontext zu untersuchen. Dies geschah zunächst unter verschiedenen Aspekten in der Reihe „Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Bevölkerungspolitik“. 1991 folgte das Buch „Vordenker der Vernichtung“. In diesem vertraten Götz Aly und Susanne Heim die These, daß es in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs eine „Expertokratie“ aus jungen Wissenschaftlern gegeben habe, der es weniger um ideologische Ziele ging, als vielmehr um eine Modernisierung der Wirtschaft. Zudem wollten die Wissenschaftler Aly / Heim zufolge angesichts von im Krieg knapp werdenden Lebensmitteln durch die Ermordung von jenen Menschen, die nicht in der Kriegswirtschaft als Arbeitskräfte benötigt wurden und die nicht ohne weiteres in die Kriegsökonomie zu integrieren waren, Nahrungsmittel einsparen. Aly untersuchte in seinem Werk „ ‚Endlösung? - Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden“ sowohl den Holocaust samt seiner Genesis als auch die deutsche Siedlungspolitik. Gerlach stellte in seiner Dissertation „Kalkulierte Morde - Die deutsche Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 - 1944“ die gesamte Besatzungspolitik in Weißrußland - unter besonderer Berücksichtigung der Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik - sehr detailliert dar. Mit dem Zusammenhang zwischen „Krieg, Ernährung, Völkermord“ beschäftigte sich Gerlach in seinem gleichnamigen Werk. Einen ungewöhnlichen und aus meiner Sicht nicht unproblematischen Ansatz wählte Michael G. Esch für seine Dissertation „Gesunde Verhältnisse - Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939 - 1950.“ Er verglich die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik im besetzten Polen während des Krieges mit der Bevölkerungspolitik, die die Polen in den wiedergewonnenen polnischen Westgebieten, d.h. den ehemaligen deutschen Ostgebieten, nach dem Krieg betrieben. Dieser Ansatz ist aus meiner Sicht fragwürdig, weil er, obwohl Esch Unterschiede hervorhebt, zu einer Relativierung und damit zu einer Verharmlosung der NS-Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik führen könnte.

Die These, mit dem Holocaust seien wirtschaftspolitische Ziele verfolgt worden , ist bis heute keineswegs unumstritten, sondern hat heftige - zum Großteil stark polemisch geführte - Kontroversen hervorgerufen. Das von Wolfgang Schneider 1991 herausgegebene Buch „Vernichtungspolitik“, in denen zahlreiche Autoren ihre Standpunkte hinsichtlich der Vernichtungspolitik vertreten, gibt einen guten Überblick über den Stand der Diskussion. Die einzelnen Beiträge dieses Buches können hier aus Platzgründen leider nicht im Detail dargestellt, geschweige denn analysiert werden. Dennoch seien zwei besonders gravierende Einwände genannt, die gegen die These sprechen, daß mit der Vernichtungspolitik ökonomische Ziele verfolgt wurden. Christopher R. Browning vertritt die Auffassung, daß für die Auflösung der Ghettos keine wirtschaftlichen Motive ausschlaggebend gewesen seien, weil zwar 1941 kein Mangel an Arbeitskräften in der deutschen Kriegswirtschaft bestand.7 Gleichwohl sei ein solcher Mangel aber aufgrund des anhaltenden Krieges im Frühjahr 1942 entstanden. Diese These wird noch im Kapitel 6.5.3. zu untersuchen sein. Ulrich Herbert stellt zwar richtig fest, daß die Vernichtung der Russen wirtschaftlichen Interessen gedient hätte. Wörtlich schreibt er:

„Ein genuines Ziel war der Massenmord an den ‚Russen? [...] in der nationalsozialistischen rassistischen Weltanschauung nicht, sondern ein rassisch legitimierbares Mittel zur Durchsetzung kontinentaleuropäischer Ziele.“8

Im Gegensatz dazu bestreitet Herbert in Bezug auf die Ermordung der Juden ganz entschieden, daß hierfür ökonomische Gründe ausschlaggebend gewesen seien. Wenn während des Krieges wissenschaftliche Texte verfaßt worden seien, die die Ermordung der Juden ökonomisch begründeten, so geschah dies - Herbert zufolge - nur zu propagandistischen Zwecken, um die Ermordung zusätzlich zu rechtfertigen.9 Gegen diese These spricht meines Erachtens zweierlei. Zum einen ist es wenig plausibel, verschiedene Gründe für die Ermordung der Juden und der Russen anzunehmen. Zum anderen wurden die allermeisten Dokumente, die die Judenvernichtung betrafen, als „streng geheim“, „geheim“ oder zumindest als „vertraulich“ gekennzeichnet. Es liegt aber auf der Hand, daß das Abfassen von „geheimen“ oder „vertraulichen“ Schriften zu Propaganda Zwecken sinnlos ist, da die Propaganda ja gerade die öffentliche Meinung beeinflussen möchte. „Geheime“ Schriften sind aber gerade nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Allenfalls könnten diese Schriften den Tätern dazu gedient haben, ihre Teilnahme am Vernichtungsprozeß sich selbst gegenüber bzw. gegenüber anderen Tätern zu rechtfertigen.10

Viele Autoren gehen nach meinem Eindruck immer noch allzu selbstverständlich von einem Widerspruch zwischen ökonomischen Interessen und der NS-Ideologie aus. So behauptet Leni Yahil:

„Die Planungen für den Krieg und für die Zivilbevölkerung waren abwechselnd von ideologischen und pragmatischen Erwägungen bestimmt.“11

Andere sehen hingegen keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen der Weltanschauung und wirtschaftlichen Interessen. Beispielsweise argumentiert Dietrich Eichholtz:

„Diejenigen Kreise der herrschenden politischen und militärischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Eliten, die den Krieg um die Eroberung des ´Ostraums` wollten und führten, integrierten die rassistische Ideologie als nützlich in ihre Politik, in die Kriegsführung und in ihr Weltbild.“12

Eichholtz zufolge diente die rassistische Ideologie zur Rechtfertigung der wirtschaftlichen und politischen Ziele der NS-Diktatur. An anderer Stelle spricht Eichholtz davon, daß die Ideologie auch als „Stimulus“ für die NS-Vernichtungspolitik anzusehen sei.13

1.3. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit

In meiner Diplomarbeit möchte ich versuchen, die NS-Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik in einem größeren historischen, politischen und wirtschaftlichen Kontext darzustellen. Dabei möchte ich ermitteln, welche Bedeutung die NS-Ideologie und die Bevölkerungstheorien für die NS-Politik hatten. Den Zusammenhang zwischen der geplanten Modernisierung der Wirtschaft und der Vernichtungs-/ Bevölkerungspolitik möchte ich genauso wie die Bedeutung, die die NS-Vernichtungsökonomie für die Kriegsökonomie hatte, untersuchen.

habe, weil die Schriften, die sich mit der Überbevölkerung beschäftigten, allesamt erst nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 entstanden seien. [vgl. Werle, Es gab keine Ökonomie der Endlösung, S. 35] Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Abgesehen davon kann heute mit Recht davon ausgegangen werden, daß die Pläne zur Judenvernichtung nicht erst auf der Wannseekonferenz verabschiedet wurden, sondern bereits im Sommer / Herbst 1941 entstanden.

Ausführlicher: Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord, S. 85-166 oder Aly /Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 453-470

Zunächst ist es erforderlich, zu definieren, was Bevölkerungspolitik überhaupt ist, und die Frage zu klären, welchen ökonomischen Zielen die Bevölkerungspolitik dient. In diesem Abschnitt möchte ich auch anhand einiger Beispiele zum Teil ältere Bevölkerungstheorien kurz analysieren. Diese Betrachtung verbinde ich mit der Hoffnung, dadurch wichtige Aufschlüsse über die Ziele der Bevölkerungspolitik im allgemeinen und über die NS-Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik im besonderen gewinnen zu können.

Sodann möchte ich mich mit der NS-Ideologie, die aus extremem Nationalismus, Rassismus samt seinen Unterformen Antisemitismus und Antislawismus und dem Sozialdarwinismus bestand, auseinandersetzen. Hierbei möchte ich versuchen, die Funktion, die diese gesellschaftlichen Konstrukte hatten, darzustellen. Dies ist deshalb erforderlich, weil ich davon ausgehe, daß die NS-Politik ohne diese ideologische Basis wohl kaum möglich gewesen wäre.

In Kapitel 4 soll untersucht werden, welcher Zusammenhang zwischen den politischen und wirtschaftlichen Zielen des Nationalsozialismus und seiner Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik bestand. Hierzu ist es notwendig, zwischen der geplanten Nach- kriegswirtschaftsordnung, die zum Teil schon „Europäische Wirtschaftsordnung“ genannt wurde und den kriegsökonomischen Zielen zu unterscheiden. Die Funktion, die Osteuropa innerhalb der geplanten Nachkriegsordnung zugedacht war, werde ich versuchen kurz zu skizzieren (Kapitel 4.1.). Dabei werde ich arbeits- und ernährungspolitischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit widmen. Sodann werde ich versuchen, herauszufinden, welche politischen und wirtschaftlichen Ziele mit der Siedlungspolitik in Polen (Kapitel 4.2.), die eine Verminderung der Bevölkerung und die Ansiedlung von Deutschen beinhaltete, und mit den Hungerplänen in der Sowjetunion (Kapitel 4.3.) verfolgt wurden. Eine gesonderte Betrachtung der beiden Länder ist aus zwei Gründen erforderlich. Zum einen war die UdSSR im Gegensatz zu Polen keineswegs als Siedlungsland für Deutsche vorgesehen. Zum anderen unterschieden sich die politischen und ökonomischen Verhältnisse zwischen beiden Ländern in erheblichem Maße, weil sie unterschiedliche gesellschaftliche Systeme hatten. Zum Schluß des 4. Kapitels werde ich mich mit der Funktion, die Osteuropa schon während des Krieges erfüllte, kurz auseinandersetzen (Kapitel 4.4). Dies ist deshalb notwendig, weil diese Funktion möglicher- weise gewisse Konsequenzen für die Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik hatte. In diesem Kontext sei daran erinnert, daß schon während des Krieges Millionen Menschen zum Großteil mit brutaler Gewalt in das Altreich zur Fremdarbeit unter sklavenartigen Bedingungen herangezogen wurden. Außerdem kann vermutet werden, daß mit der Vernichtung von Millionen Menschen, die nicht als Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft benötigt wurden, Nahrungsmittel, die aufgrund der kriegswirtschaftlichen Verhältnisse knapp wurden, eingespart werden sollten.

Die nationalsozialistische Politik beinhaltete eine spezifische Aufteilung des Raumes. Mit dieser räumlichen Aufteilung, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der NS-Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik stand, möchte ich mich in Kapitel 5 beschäftigen. Der Errichtung von Siedlungsgebieten stand die Schaffung von Vertreibungs- und Vernichtungszonen gegenüber. In der letzteren sollten die Lebensverhältnisse durch mangelnde Versorgung bewußt in einer Weise gestaltet werden, die ein längeres Überleben sehr unwahrscheinlich machte.

In Kapitel 6 werde ich mich der eigentlichen Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik zuwenden. Hierbei möchte ich durch eine relativ ausführliche Darstellung und Analyse der Selektion die Frage zu klären versuchen, inwiefern ideologische und inwiefern ökonomische und politisch-pragmatische Ziele bei der Selektion eine Rolle spielten. Methodisch möchte ich hierbei folgendermaßen vorgehen: zunächst möchte ich untersuchen, welche Menschen als Siedler vorgesehen waren. Hierbei möchte ich zwischen Reichsdeutschen (Kapitel 6.2.1.) und denjenigen Einheimischen, die zu Deutschen erklärt wurden (Kapitel 6.2.2.), unterscheiden. Bei letzteren werde ich der Frage, nach welchen Kriterien diese Gruppe ausgewählt wurde, besondere Aufmerksamkeit schenken. Dann werde ich mich mit den Versklavungen (Kapitel 6.3.) und mit den Vertreibungen (Kapitel 6.4.) auseinandersetzen. Zum Schluß des Kapitels werde ich mich mit der Vernichtungspolitik beschäftigen. Diesen Abschnitt habe ich wie folgt gegliedert: Vernichtung der Nicht-Arbeitenden (Kapitel 6.5.1.), Vernichtung der Führungs- und Intelligenzschicht (Kapitel 6.5.2.), Vernichtung der jüdischen Bevölkerung / Sinti und Roma (Kapitel 6.5.3.). In Bezug auf letztere versuche ich die Frage zu klären, ob diese ausschließlich ideologische Gründe gehabt hatte oder ob durchaus wirtschaftliche Motive anzunehmen sind.

Aus Platzgründen kann die Politik, die die Nationalsozialisten gegenüber Behinderten, alten Menschen, „Asozialen“, Homosexuellen und politischen Gegnern, wie beispielsweise Kommunisten und Sozialdemokraten verfolgten, keine Berücksichtigung finden. Eine solche Darstellung und Analyse wäre zwar sicherlich auch sehr aufschlußreich. Sie muß aber unterbleiben, da dies den Rahmen meiner Diplomarbeit sprengen würde. Auf die nationalsozialistische Politik gegenüber Juden, Sinti und Roma außerhalb Osteuropas kann ich aus demselben Grund ebenfalls nicht eingehen.

Eine weitere Beschränkung ist aufgrund des Platzmangels erforderlich. Im Nationalsozialismus gab es nämlich eine ganze Reihe von Organisationen und staatlichen Einrichtungen, die sich mit der Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik befaßten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind zu nennen:

- dießmit ihrer Unterorganisation Reichskommission für die Festigung des deutschen Volkstums (RKFV)14,
- das Oberkommando der Wehrmacht (OKW),
- die Reichsministerien - insbesondere das Reichsinnenministerium (RMdI) sowie das Reichsernährungs- und Landwirtschaftsministerium (RMdEuL),
- die Deutsche Arbeitsfront (DAF),
- die Reichsstelle für Raumordnung (RfR),
- die von den einzelnen Gauen oder dem Generalgouvernement nach dem Vorbild der RfR errichteten lokalen Raumordnungsbehörden,
- wissenschaftliche Institutionen, wie die 1935 von regimetreuen Wissenschaftlern
gegründete Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumordnung (RAG) oder das Institut für Deutsches Recht in Krakau.15

Diese Institutionen hatten keine eindeutigen Kompentenzabgrenzungen und entwickelten bei aller prinzipiellen Übereinstimmung doch im Detail unterschiedliche Vorstellungen. Dies führte zu einer kaum überschaubaren Anzahl von Äußerungen, Plänen, Anordnungen und Befehlen, die die Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik betrafen. Diese alle ausführlich darzustellen oder gar zu analysieren, ist im hier zur Verfügung stehenden Rahmen leider nicht möglich.16 Vielmehr werde ich versuchen, die Grundzüge der NS-Politik in Osteuropa zu skizzieren. Dabei werde ich die Frage, ob die NS-Vernichtungspolitik rationalen Motiven politischer bzw. wirtschaftlicher Art entsprach, oder ob angenommen werden kann, daß einzig ideologische Gründe ausschlaggebend gewesen seien, im Auge behalten.

Für meine Untersuchung läßt es sich nicht umgehen, die NS-Sprache zu benutzen. Auf die Verwendung von Anführungszeichen verzichte ich, weil dies vielfach vollkommen unangebracht wäre. Bei dem Begriff „Vernichtung“ beispielsweise handelte es sich eindeutig um ein Wort, daß die Nazis einführten, um die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung und die Ermordung der slawischen Bevölkerung zu verschleiern bzw. zu verharmlosen. Insofern wäre die Verwendung von Anführungsstrichen geboten. Andererseits könnte eine solche Kennzeichnung aber zu dem irrigen Schluß verleiten, die Ermordung hätte niemals stattgefunden.

Bevölkerungspolitik und Bevölkerungstheorien

Zunächst möchte ich versuchen, den Begriff Bevölkerungspolitik kurz zu definieren. In den Worten des Präsidenten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg handelt es sich bei der Bevölkerungspolitik um „das bewußte, zielgerichtete und möglichst explizite Einwirken auf Entwicklung und Struktur der Bevölkerung.“17 Die Bevölkerungspolitik strebt zumeist ein Bevölkerungsoptimum an, bei dem oftmals auch die räumliche Verteilung der Bevölkerung berücksichtigt wird. Dieses Bevölkerungsoptimum ist fast immer kein Selbstzweck, sondern dient bestimmten volkswirtschaftlichen Zielen. Der Mensch wird dabei keineswegs als Individuum mit eigenen Rechten und Pflichten betrachtet. Vielmehr werden die Menschen zu Bevölkerungen subsumiert und damit zu Variablen, die sich zumindest theoretisch beliebig verändern lassen. Mit anderen Worten: die Bevölkerungspolitik reduziert den Menschen auf seinen ökonomischen Wert. Heutzutage sprechen Wirtschaftswissenschaftler auch von „human resources“.18

Theoretisch kann zwischen der quantitativen und qualitativen Bevölkerungspolitik unterschieden werden. Erstere versucht die Zahl der Menschen zu verringern oder zu erhöhen oder zielt - anders formuliert - auf die Beseitigung einer Über- bzw. Unterbevölkerung. Letztere strebt hingegen eine optimale Bevölkerungsstruktur an. Hierbei können verschiedene Kriterien, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Gesundheit, Beruf, geistige bzw. körperliche Fähigkeiten, aber auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Nationalität eine Rolle spielen.19 In der praktischen Politik werden nach meinem Eindruck in der Regel sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte berücksichtigt.

Als Kriterium für ein quantitatives Bevölkerungsoptimum wird häufig die Zahl der Menschen, die ernährt werden können, zu Grunde gelegt. Zu betonen ist, daß es sich dabei keinesfalls um ein objektives Kriterium handelt, sondern daß die Zahl der Menschen, die theoretisch mit Lebensmitteln versorgt werden können, von den wirtschaftlichen Verhältnissen abhängt.20

Von anderen Bevölkerungswissenschaftlern wird die Zahl der Menschen, die als Arbeitskräfte benötigt werden, als Maß für ein Bevölkerungsoptimum erachtet. Wenn nicht alle Arbeitskräfte voll ausgeschöpft werden, ist von Überbevölkerung die Rede. In diesem Sinne ist der Begriff Überbevölkerung nahezu gleichbedeutend mit dem häufig benutzten Begriff der „verdeckten Arbeitslosigkeit“, der auch schon zur NS-Zeit verwendet wurde. Stehen im umgekehrten Fall nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung, um die volle Wirtschaftskraft zu entfalten, ist Unterbevölkerung gegeben. Es liegt auf der Hand, daß auch das Arbeitskräftekriterium in erheblichen Maße von den ökonomischen Gegebenheiten abhängig ist. Es bietet zudem die Möglichkeit, die Menschen auch nach qualitativen Gesichtspunkten zu sortieren. Hierbei könnte insbesondere die Arbeitsfähigkeit, die u.a. von dem Alter und der Gesundheit der Betreffenden abhängt, eine Rolle spielen.

Die Bevölkerungstheorien standen bereits während der NS-Diktatur in einer längeren Tradition. Schon im Kontext der industriellen Revolution wurden etwa seit Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche mathematische Formeln entwickelt, mit denen ein Bevölkerungsoptimum errechnet werden sollte. Allgemein bekannt ist die These des Briten Robert Malthus aus dem Jahre 1826, wonach die Bevölkerung exponentiell, die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear steigen würde, was zwangsläufig zu einer Ernährungskrise führen würde. Dieses durch nichts belegte Postulat wird bis heute größtenteils unkritisch betrachtet. Robert Kurz hat aber offengelegt, daß die These von Malthus keinesfalls etwas mit einer objektiven Ernährungskrise zu tun gehabt hatte. Vielmehr ging es Malthus darum, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgrund der industriellen Revolution stark gestiegene Zahl der Armen zu begrenzen. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Besitzlosen ein gefährliches Potential für soziale Unruhen darstellten. Um die Zahl der Geburten bei den Armen zu verringern, schlug Malthus vor, die bestenfalls in rudimentären Ansätzen vorhandene Armenfürsorge für künftige Generationen gänzlich einzustellen.21 Auf die Verminderung der Bedürftigen zielte offensichtlich auch ein 1838 unter dem Pseudonym „Marcus“ veröffentlichtes Pamphlet, in dem allen Ernstes „eine Staatsanstalt zur schmerzlosen Tötung von Kindern der Armen“ vorgeschlagen wurde.22

Der Nationalökonom Paul Mombert postulierte Anfang des 20. Jahrhunderts, daß „Nahrungsmittelspielraum gleich Volkszahl mal Lebenshaltung“ (N=V*L) sei. Die Gleichung basierte auf der einfachen Überlegung, daß, wenn die Bevölkerungszahl steigt, entweder mehr Lebensmittel hergestellt werden müssen oder aber der Lebensstandard abnimmt. Sinkt im umgekehrten Fall die Bevölkerungszahl, so werden weniger Nahrungsmittel benötigt bzw. der Lebensstandard steigt. Mombert ließ auf diese Weise die Menschen zu einer Variablen werden und versuchte, komplexe soziale Probleme mit Hilfe einer simplen mathematischen Formel zu lösen. Er sprach sich zwar 1926 deutlich dagegen aus, ein Mißverhältnis zwischen Nahrungsmittelspielraum und Volkszahl „von der Bevölkerungsseite her“ zu lösen, weil eine große Auswanderung einen gewaltigen Kräfteverlust bedeuten würde. Deutlich sollte zudem hervorgehoben werden, daß Mombert kein Nationalsozialist war, sondern im Gegenteil als Jude während der NS-Zeit verfolgt wurde. Dennoch bot die Mombert´sche Formel zumindest in der Theorie die Möglichkeit, durch die Reduzierung der Bevölkerungszahl den Nahrungsmittelspielraum zu erhöhen.23

Theodor Oberländer differenzierte 1935 zwei Formen von Übervölkerung. Nach der „Konsumnorm“ sei die Bevölkerungsdichte dann zu hoch, wenn bei den vorhandenen Produktivkräften nicht genügend Agrarprodukte zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stünden. Nach der „Arbeitsnorm“ sei hingegen schon dann von Überbevölkerung zu sprechen, wenn nicht alle Arbeitskräfte im vollen Umfang produktiv eingesetzt werden könnten. Sechs Jahre später verband Oberländer die beiden Kriterien. In der polnischen Landwirtschaft unterschied er zwischen „wirklich in der Landwirtschaft tätigen Menschen“ und „bloßen ‚Mitessern?“, die nicht wirklich produktiv in der Landwirtschaft arbeiteten. Oberländers Unterscheidung suggeriert, daß es in der polnischen Landwirtschaft produktiv arbeitende auf der einen Seite und arbeitslose „bloße Mitesser“ auf der anderen Seite gegeben hätte. Dies ist jedoch unzutreffend. Es handelte sich vielmehr um eine theoretische Überlegung von Oberländer, die auf der Grundannahme beruhte, daß die Landwirtschaft mit weniger Arbeitskräften auskommen könnte und insofern viele Arbeitskräfte nicht benötigt würden. Letztere wurde von Oberländer als „eine konsumptive Belastung [betrachtet], die eine gesunde Kapitalbildung“ und somit die Industrialisierung verhindere.24

Die ideologischen Grundlagen

Der Plan, Millionen Juden, Russen und Polen zu töten, konnte nur in einer rassistischen, antisemitischen wie antislawistischen Umgebung entstehen und verwirklicht werden. Aus diesem Grund ist es notwendig, die nationalsozialistische Ideologie zu untersuchen. Jan Philipp Reemtsma betont völlig zu Recht:

„Wer vorschlägt, eine Bevölkerung zu dezimieren, indem man den ‚jüdischen Bevölkerungsanteil’ vertreibt oder umbringt, muß sowohl Antisemit sein wie sich in einem antisemitischen Umfeld bewegen, um wegen eines solchen Vorschlags nicht sofort ernstliche Störungen seiner Lebens- und Berufsplanung fürchten zu müssen.“25

Genauso muß jener, der vorschlägt, einen Großteil der Russen und Polen umzubringen, ein Antislawist sein und sich in entsprechenden Kreisen bewegen.

Damit möchte ich allerdings keinesfalls den Eindruck erwecken, als ob allein die Ideologie ausschlaggebend für die NS-Vernichtungspolitik war und politische oder wirtschaftliche Erwägungen demgegenüber keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Um die Bedeutung der Ideologie zu bestimmen und zu überprüfen, ob diese den ökonomischen Interessen des Nationalsozialismus entgegen stand oder nicht, ist es notwendig, die faschistische Ideologie näher zu untersuchen. Der Rassismus mit seinen Unterformen Antisemitismus und Antislawismus, der Nationalismus, die Anthropologie und wesentliche Teile des Sozialdarwinismus verschmolzen miteinander und bildeten die Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie. Diese geistigen Strömungen, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen, sind eng miteinander verwoben und können nicht klar auseinander gehalten werden.

Die Ideologie spielte meines Erachtens eine bedeutende Rolle, denn die Massenmorde können keineswegs mit einem geforderten preußischen Kadavergehorsam erklärt oder gar partiell entschuldigt werden. Die Täter erhielten keine Befehle, sondern handelten vollkommen freiwillig. Sie hatten volle Entscheidungs- und Verweigerungsfreiheit. Niemand wurde, weil er die Beteiligung an den Massenmorden ablehnte, bestraft oder gar umgebracht. Die Verweigerer wurden nicht einmal von SS-Kameraden gehänselt oder drangsaliert. Wer nicht mitmachte erhielt eine andere Aufgabe, häufig sogar in der Heimat.26

Eine der Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie war der Rassismus, der die Menschen in verschiedene Rassen einteilte und somit von der Ungleichheit der Menschen ausging.27 Beim Rassismus handelt es sich um ein gesellschaftliches Konstrukt, das im späten 18. Jahrhundert als Antagonismus zu den in der Aufklärung und der Französischen Revolution aufgestellten Postulaten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entstand. Die Überlegenheit der weißen Europäer sollte mit scheinbar wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden, um auf diese Weise Kolonialismus und neuzeitliche Sklaverei zu rechtfertigen.28

Heute kann die Biologie den Beweis erbringen, daß Menschen nicht in Rassen eingeteilt werden können.29 Einzelne Menschengruppen haben keineswegs unterschiedliche geistige Fähigkeiten, sondern, wie Imanuel Geiss richtig erkannt hat, „die gleiche intellektuelle Grundausstattung, die Fähigkeit zu artikulierter Sprache, gedanklicher Abstraktion und gezieltem Lernen“.30 Ungleiche Entwicklungsstände zwischen einzelnen Gesellschaften lassen sich folglich keineswegs auf verschiedene Fähigkeiten von einzelnen Rassen zurückführen. Sie erklären sich vielmehr aus unterschiedlichen Chancen ihrer Mitglieder zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten.31

Es gibt ohne Zweifel äußere Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Herkunft. Die Frage aber, ob es sinnvoll ist, Menschen nach äußeren Merkmalen in verschiedene Rassen einzuteilen, soll im folgendem behandelt werden. Geiss verneint zwar richtig jeden Zusammenhang zwischen Rasse und Intelligenz, vertritt aber die Auffassung:

„ ‚Rasse’ ist in der realhistorischen Realität in ihrer Elementarität unbestreitbar [...] Am auffälligsten sind Unterschiede zwischen größeren und kleineren Menschheitsgruppen nach äußeren, physischen, phänotypischen Merkmalen - Hautfarbe, Nasenform, Beschaffenheit der Haare, teilweise auch Form der Augen bzw. Farbe der Pupillen. Die größten Groß-Gruppen lassen sich als Europiden, Mongoliden und Negriden unterscheiden.“32

Diese Sichtweise ist keineswegs so selbstverständlich und unproblematisch, wie dies bei einer ersten unbefangenen Betrachtung erscheinen mag. Wulf D. Hund hat überzeugend gezeigt, daß die Einteilung der Menschen in verschiedene Rassen nicht auf natürlichen Unterschieden beruht, sondern daß es sich vielmehr um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, das erst im Kontext von Kolonialismus und neuzeitlicher Sklaverei entwickelt wurde. Die später durchweg als rot dargestellten Ureinwohner Amerikas wurden nämlich in zahlreichen älteren Abhandlungen als weiß oder bräunlich dargestellt. Beispielsweise schrieb Amerigo Vespucci 1502 in seinen brasilianischen Impressionen: „Wir fanden das Land von Menschen bewohnt, die völlig nackt gingen [...] Ihre Körper sind wohlgeformt [...], die Farbe weiß“. Genauso wurden die Asiaten, denen später die gelbe Farbe zugeordnet wurde, anfänglich als weiß beschrieben. So behauptete Juan Gonzáles de Mendoza 1585, die Chinesen hätten die Farbe der Deutschen, Italiener und Spanier. Die Kategorisierung der Menschen in verschiedene Rassen beruht also im wesentlichen auf vermeintlichen äußeren Merkmalen.33

Die nationalsozialistische Weltanschauung ging davon aus, daß Rassen und nicht etwa Individuen oder Klassen Subjekte der Geschichte seien. Die verschiedenen Rassen seien durch ihre Tradition und ihren genetischen Code mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet. Die Rasse wurde als Grunddeterminante sowohl von körperlichen und geistigen Eigenschaften als auch von sozialen und moralischen Merkmalen betrachtet.34 Hitler unterschied in seinem programmatischen Grundsatzwerk „Mein Kampf“, das in zwei Bänden erstmals 1925 und 1926 veröffentlicht wurde, zwischen „höheren“ und „niedrigeren“ Rassen. Die „arisch-germanische“ Rasse hielt er für besonders hochwertig. Die Chinesen und Japaner nahmen bei Hitler eine Mittelstellung ein, denn sie seien lediglich „kulturerhaltende“, nicht aber „kulturschaffende“ Rassen. Schwarze, Slawen und vor allem Juden bezeichnete Hitler als besonders minderwertig. Diese Denkweise stand in einer längeren Tradition. Der französische Diplomat und Orientalist Joseph Arthur de Gobineau unterschied in seinem vierbändigen Werk „Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“ („Essai sur l´Inegalite des Races Humaines“), das bereits zwischen 1853 und 1855 in Paris erschien, zwischen der weißen, der gelben und der schwarzen Rasse. Einzig schöpferische Kraft habe die weiße Rasse. Die Gelben hätten eine besondere Begabung für Handel und Handwerk. Die schwarze Rasse war nach Auffassung von Gobineau besonders minderwertig. Allein ihre Musikalität hob er lobend hervor.35

Insbesondere Gobineaus Auffassung zeigt, daß das rassistische Denken untrennbar mit der Anthropologie und der Physiognomik verbunden war. Bei ersterer handelte es sich um eine Wissenschaft, die ursprünglich gegründet worden war, um fremde Kulturen und Völker zu untersuchen und die nunmehr dazu diente, die rassistische These von der Ungleichheit der Menschen zu bestätigen. Bei letzterer handelte es sich um eine Lehre, die auf der Annahme beruhte, daß von der äußeren Erscheinung auf die Intelligenz geschlossen werden könne. So galten blonde, blauäugige Germanen als besonders intelligent, während körperliche Deformationen als Zeichen geistiger Krankheit gewertet wurden. Kriminologen kamen zu dem absurden und durch nichts belegten Schluß, daß sich „die Köpfe aller Diebe einander mehr oder weniger in der Form ähneln.“36 In seiner „Kleine[n] Rassenkunde des deutschen Volkes“ fiel Günther 1935 „die verhältnismäßig große Anzahl vorwiegend nordischer Menschen unter den bedeutenden und überragenden Männern und Frauen aller abendländischen Völker [...], wie die verhältnismäßig geringe Anzahl bedeutender Männer und Frauen ohne merklichen nordischen Einschlag“ auf.37 Diese unsinnige Behauptung, die wohl dazu dienen sollte, die angebliche Überlegenheit der nordischen Rasse und die Minderwertigkeit von anderen Rassen in allgemeinverständlicher Form zu veranschaulichen, ist durch nichts zu belegen. Wie unhaltbar die Feststellung von Günther ist, zeigt sich auch daran, daß selbst die Führungsschicht der Nationalsozialisten von ihrer äußeren Erscheinung nicht dem Ideal vom nordischen Menschen entsprach.

Eine weitere Grundannahme der NS-Ideologie war, daß gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme im wesentlichen biologisch-genetisch, d.h. erblich, begründet seien. Als „rassisch minderwertig“ galten nicht nur diejenigen, die „nicht arisches Blut“ hatten, sondern auch diejenigen, die nicht leistungsfähig und leistungsbereit waren, insbesondere Kranke, „Kriminelle“ und „Asoziale“. Die rassische Qualität mußte durch angepaßtes Verhalten fortwährend unter Beweis gestellt werden.38 Nach dem „Reichsbürgerschaftsgesetz“ vom 15. September 1935 war „Reichsbürger“ mit vollen Rechten und Pflichten nur derjenige Staatsangehörige, der „deutschen oder artverwandten Blutes“ war und der „durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet“ war, „in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Die übrigen Deutschen wurden zu bloßen Staatsangehörigen degradiert, verloren nach und nach sämtliche Rechte und wurden während des Zweiten Weltkrieges zum Großteil ermordet.39

Der Nationalismus hat eine ähnliche Funktion wie der Rassismus und entstand etwa zur gleichen Zeit wie der Rassismus, nämlich als nach der Französischen Revolution Nationalstaaten im modernen Sinne entstanden. Auch der Nationalismus sollte die Ungleichheit von Menschen legitimieren. Zwar wurde im Gefolge der Französischen Revolution die Rechtsgleichheit im Innern eines Staates hergestellt, zugleich diente der Nationalismus aber zur Abgrenzung nach außen, d.h. zur Abgrenzung gegenüber anderen Völkern.40

Der extreme Nationalismus der Nazis trug zur Legitimierung der imperialistischen Politik bei. Die Nationalsozialisten verfolgten eine vorgebliche „Irredenta-Politik“ [Michael Fahlbusch], d.h. sie begründeten die Eroberung von fremden Ländern ideologisch oftmals damit, daß diese ehemalige deutsche Gebiete, die im Lauf der Geschichte vom Vaterland abgetrennt wurden, umfaßten. Dabei wurden auch Gebiete als „deutsch“ definiert, in denen zwar keine Deutschen lebten, die aber angeblich in früheren Zeiten, etwa im Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit, mit Deutschen besiedelt waren. Schon der Ansatz ist hier problematisch, weil es vor der Französischen Revolution noch keine Nationalstaaten im modernen Sinne gab und demzufolge das Wort „deutsch“ eine andere Bedeutung als heute hatte.41

Das „Recht des Blutes“ (lateinisch „ius sanguinis“), das denjenigen als „deutsch“ definierte, der deutscher Abstammung war, bot die ideologische Basis für die Privilegierung von erwünschten angeblich deutschstämmigen Menschen und eröffnete gleichzeitig die Möglichkeit, nicht erwünschte Gruppen - insbesondere Juden - auszugrenzen.

In der nationalsozialistischen Ideologie kann der Rassismus vom Nationalismus abgrenzt werden. Dies bereitet allerdings einige Schwierigkeiten, weil die beiden weltanschaulichen Konstrukte fast genau die gleiche Funktion für die Nationalsozialisten hatten, nämlich die Überlegenheit der arischen Rasse bzw. des deutschen Volkes ideologisch zu begründen. Dennoch waren beide Begriffe streng genommen nicht gleichbedeutend. Die Nationalsozialisten differenzierten in den zwanziger Jahren und Anfang der dreißiger Jahre - bis kurz nachdem die NSDAP an die Macht gelangte - nicht zwischen Rasse und Volk, sondern verwendeten einfach die Begriffe „arischer Mensch“ bzw. „deutsche Rasse“. Erst als die Rassentheoretiker etwa Mitte der dreißiger Jahre versuchten, ihre Lehre wissenschaftlich zu begründen, wurde der Begriff „deutsche Rasse“ für sie unbrauchbar, da ein Großteil der Deutschen von ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht den Idealvorstellungen der nordischen Rasse entsprach. Viele Deutsche waren in den Worten von Roland Staudinger „klein, grobknochig, braunäugig und schwarzhaarig“. Die Rassentheoretiker vertraten fortan die Auffassung, daß das deutsche Volk aus verschiedenen Rassen bestünde. Die Überlegenheit des deutschen Volkes wurde nunmehr aus einem guten Mischungsverhältnis der verschiedenen Rassen und damit begründet, daß alle Rassen des deutschen Volkes denselben Ursprung in der Steinzeit hätten.42 Das Beispiel zeigt sehr deutlich, daß die NS-Ideologie sehr anpassungsfähig war und innere Widersprüche leicht behoben werden konnten.

Der Antisemitismus und der Antislawismus sollen im folgendem einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Beide geistigen Strömungen können als Unterformen des Rassismus aufgefaßt werden, da Juden bzw. Slawen als eigene Rassen betrachtet wurden.

Bis ins 19. Jahrhundert kann zutreffend von Antijudaismus gesprochen werden, denn die Juden wurden, obwohl man ihnen fast durchgehend feindlich gegenüber stand, sie nur sehr eingeschränkte Rechte besaßen und obwohl sogar ihr Leben vielfach durch Progrome bedroht war, nicht als eigene Rasse angesehen.43 Im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution und dem hier aufgestellten Postulat der rechtlichen Gleichheit innerhalb eines Staates, wurden die Juden im 19. Jahrhundert allmählich emanzipiert, d.h. rechtlich gleichgestellt.44 Die Gegner dieser Emanzipation betrachteten nunmehr die Juden als eigene Rasse und bezeichneten diese als semitische Rasse.45 Daraus ist nun aber keineswegs zu folgern, daß alle Rassisten Antisemiten gewesen waren. Von einigen Rassisten wurden die Juden nicht als eigene Rasse betrachtet, andere sahen die jüdische Rasse sogar als höherwertiger als andere Rassen an. So behauptete der schweizerische Botaniker Arnold Dodel in seinem Werk „Moses oder Darwin“ 1892, daß die jüdische Rasse überlegen sei, weil durch die blutige Verfolgung der Juden ein Ausleseprozeß entstanden sei und nur die besten überlebt hätten.46

Von den Nazis wurde die jüdische Rasse als besonders minderwertig angesehen. Eine Gefahr für das „deutsche Blut“ sahen sie darin, daß die jüdische Rasse schon tief in die deutsche Erbmasse eingedrungen sei.47 Weil die rassische Minderwertigkeit nach nationalsozialistischer Auffassung in den Genen festgeschrieben war und mithin als nicht veränderlich galt, war es vollkommen unerheblich, ob ein Jude über besonderes Wissen oder über besondere Fähigkeiten verfügte oder ob er gar den jüdischen Glauben aufgegeben hatte oder nicht.48

Die Anthropologie und die Physiognomik spielten auch beim Antisemitismus eine ver- hängnisvolle Rolle. So mußten Stereotypen über die körperlichen Merkmale von Juden, die in keiner Weise begründet waren, als „Beweis“ für die Minderwertigkeit der semitischen Rasse herhalten. Eine gekrümmte Figur, kurze Beine, gierige und wollüstige Beleibtheit und die gekrümmte „Hakennase“ waren die körperlichen Merkmale, die den Juden zugeschrieben wurden.49 Wie verkehrt eine solche Zuordnung ist, zeigte bereits eine 1916 von Rudolf Virchow durchgeführte Untersuchung, in der er Juden und Deutsche nach der äußeren Erscheinung untersuchte, um den Rassenmythos als falsch zu entlarven. Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß es keine reinen Rassen gäbe.50 Dieses Resultat ist insofern problematisch, weil schon die Grundthese, daß es unterschiedliche menschliche Rassen gibt, sehr in Frage zu stellen ist (s.o.).

Den Juden wurde die Schuld für alles Mögliche gegeben: für den Ersten Weltkrieg, für die Weltwirtschaftskrise, die Auswüchse des internationalen Finanzkapitalismus ebenso, wie für den äußerst negativ beurteilten Sozialismus, der stark abwertend Bolschewismus genannt wurde. Daß es sich bei den letzten beiden Phänomenen um Gegensätze handelte, wurde überhaupt nicht thematisiert.51 Die Nazis unterschieden auch zwischen angeblich „schaffendem“ arischem Kapital und angeblich „raffendem“ jüdischem Kapital und bestritten damit, daß Kapital letzten Endes immer die gleiche Funktion erfüllen soll, nämlich möglichst hohen Profit zu erzielen.52 Der Antisemitismus erfüllte eine schlichte politische Funktion. Er diente einer einfachen Erklärung der Welt und ihrer Mängel. Mit seiner Hilfe wurde vor allem versucht, Mängel und Widersprüche des kapitalistischen Systems zu erklären, ohne jedoch das Wirtschafts- und Sozialsystem an sich in Frage zu stellen.

Russen, Weißrussen, Ukrainer, Tschechen und Polen wurden der slawischen Rasse zu- geordnet. Den Wert der slawischen Rasse stuften die Rassentheoretiker als äußerst gering ein. Sie waren, um die Worte von Robert Cecil zu benutzen, der Ansicht, daß „die Teutonen - im Gegensatz zu den Slawen - die große zivilisatorische Kraft waren, unter deren Führung die rückständige Rasse der Slawen erst in der Lage war, Städte zu bauen, Staaten zu gründen oder ihre eigene Kultur zu schaffen.“53 Die Existenz einer slawischen Kultur wurde sogar bestritten. Die überdurchschnittliche Vermehrung der Slawen wurde als Problem angesehen. Im Jahr 1934 erstellte Friedrich Burgdörfer eine Bevölkerungshochrechnung, der zufolge 1960 von den zu erwartenden 600 Millionen Menschen in Europa mehr als die Hälfte der slawischen Bevölkerungsgruppe angehören würden, was bedeute, daß Europa slawisiert würde.54

Der Antislawismus war eng verzahnt mit den deutschen Expansionsplänen in Osteuropa, die auf Kosten der als rassisch-minderwertig betrachteten slawischen Völker durchgeführt werden sollten. Hitler begründete seine Eroberungspläne damit, daß der jetzige Lebensraum für das deutsche Volk zu klein sei, weil die Menschen nicht ernährt werden könnten und der Wirtschaft notwendige Rohstoffe fehlen würden.55 Diese Behauptung wurde auch unter der Losung „Volk ohne Raum“, die bereits im Ersten Weltkrieg entstand, propagiert.56 Hitlers Ausführungen machen deutlich, daß die deutschen Eroberungspläne keinesfalls ausschließlich ideologisch begründet waren, sondern daß sie von den ernährungspolitischen Interessen des NS-Staates nicht zu trennen waren. Die enge Verzahnung zwischen nationalsozialistischer Weltanschauung und wirtschaftspolitischen Erwägungen wird zudem durch das postulierte Ziel, die Industrie mit Rohstoffen aus den besetzten Gebieten zu versorgen, deutlich.

Als ein weiteres Hauptmotiv für die antislawistische Einstellung der Nationalsozialisten kann der Kampf gegen das sozialistische Gesellschaftssystem der Sowjetunion, das als „Bolschewismus“ diffamiert wurde, angenommen werden. Die Sowjetunion wurde ähnlich wie die Juden mit allem Negativen in Verbindung gebracht. Sie wurde als Urheber und Hort aller nur erdenklichen Grausamkeit, Brutalität, Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit, Verlogenheit und Barbarei dargestellt. Im Gegensatz dazu wurde das deutsche Staatswesen beschrieben, als sei es von reiner Humanität, Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit geprägt.57

Die NS-Ideologie ging davon aus, daß es eine „Wesensgleichheit von Judentum und Bolschewismus“ gebe und daß es sich beim „Bolschewismus“ um eine jüdische Bewegung handele. In Berichten über die großen Säuberungen und Schauprozesse in der Sowjetunion wurden von den jeweils abgesetzten Funktionären und Politikern stets die Nichtjuden und bei Neubesetzungen stets die Juden besonders herausgestellt. Wurde ein Jude aus einer Position entlassen, behalf sich die deutsche Presse zumeist damit, daß nur der Dienstgrad, nicht aber der jüdische Name veröffentlicht wurde.58

Der „Bolschewismus“ wurde für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht. Er sei für die Erschütterung der Disziplin im deutschen Militär verantwortlich und hätte Deutschland, das „im Felde unbesiegt“ gewesen sei, durch den Novemberaufstand in den Niedergang getrieben.59 Dieser Vorwurf, der als Dolchstoßlegende in die Geschichte einging, soll im folgenden kurz untersucht werden. Die Anschuldigung basierte implizit auf der äußerst fragwürdigen Annahme, daß es sich beim Ersten Weltkrieg um einen legitimen Verteidigungskrieg handelte und nicht um einen Angriffskrieg, dessen Ziele die territoriale Erweiterung Deutschlands und die Errichtung eines Kolonialreiches in Afrika waren. Unverhüllt kamen die imperialistischen Ziele des Kaiserreiches in dem Slogan „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ und in der Parole ein „Platz an der Sonne“, mit der die Schaffung von deutschen Kolonien in Afrika gefordert wurden, zum Ausdruck. Die militärische Situation kann hier aus Platzgründen nicht ausführlich dargestellt werden, heute ist aber unter Historikern weitgehend unbestritten, daß der Erste Weltkrieg aufgrund der militärischen Überlegenheit der Gegner verloren wurde. Zwar lehnte der linke Flügel der SPD, der sich später als USPD bzw. als Spartakusbund abspaltete, bereits 1914 den Krieg entschieden ab. Dennoch gewannen die politischen Gruppen und Organisationen, die den Krieg ablehnten, erst mit schweren deutschen militärischen Verlusten an Stärke. Der DDR-Historiker Joachim Petzold analysierte in diesem Kontext durchaus einleuchtend:

„Je schwieriger sich die Lage an den Fronten gestaltete, um so erfolgreicher war die revolutionäre Tätigkeit, je schneller aber eine revolutionäre Situation heranreifte, um so rascher ging der deutsche Imperialismus seiner unvermeintlichen Niederlage entgegen.“60

Mit anderen Worten: Die Dolchstoßlegende verdrehte Ursache und Wirkung, denn der harte, verlustreiche Krieg mit seinen Millionen Toten führte zu revolutionären Bewegungen und nicht umgekehrt.

Sowohl Juden, als auch Slawen wurden entmenschlicht, indem die Nationalsozialisten sie als „Untermenschen“ betrachteten. 1942 war in einer Schrift des Himmler unterstellten Reichsund Sicherheitshauptamtes (RuSHA), die in millionenfacher Auflage verteilt und auch in andere Sprachen übersetzt wurde, zu lesen:

„Der Untermensch, jene biologisch scheinbar völlig gleichartige Naturschöpfung, mit Händen, Füßen und einer Art Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur. Ist nur ein Entwurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen, geistig, seelisch jedoch tieferstehender als jedes Tier. Im Innern dieses Wesens ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser Leidenschaften, namenloser Zerstörungswillen, primitivste Begierde, unverhüllteste Gemeinheit. Untermensch, sonst nichts. Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenanlitz trägt. Wehe dem, der das vergißt.“61

Auch die Häftlinge in den Konzentrationslagern wurden nicht als Menschen betrachtet. Sie erhielten eine Nummer, die die bürgerlichen Namen ersetzte und die dazu diente, die KZ- Häftlinge zu entindividualisieren und damit zu entmenschlichen. „Der Einzelne war“, wie Sofsky richtig erkannt hat, „nur noch eine Nummer unter tausend anderen, ein anonymer Fall. Die Nummer machte jeden einzelnen identifizierbar, aber sie war kein qualitatives Kriterium der Identität, sondern ein quantitatives Kennzeichen in einer endlosen Reihe. Die Nummer bedeutete die Umwandlung des Individuums zum Massenmenschen, die Transformation der persönlichen Gesellschaft zur seriellen Gesellschaft der Namenlosen.“62

Im Zusammenhang mit der äußerst unmenschlichen Behandlung von Häftlingen in Konzentrationslagern, hat Sofsky plausibel die Psyche der Täter analysiert:

„Die Indifferenz gegen das Leiden der Opfer bildet einen Abwehrpanzer gegen alles, was der Täter selbst anrichtet. Sie stellt taub und blind und befreit so von allen Hemmungen des Mitleids und der Schuld. Gleichgültigkeit schafft Distanz, und je größer die Distanz, desto größer die Gleichgültigkeit. Am Ende wird das Opfer gar nicht mehr als fühlendes, denkendes und handelndes Wesen begriffen. Es ist kein Mensch mehr. Für den Täter gehört der andere nicht mehr in dieselbe Kategorie Lebewesen wie er selbst. Der Mechanismus der Distanz setzt ungebremste Grausamkeit frei.“63

Diese Analyse legt die These nahe, daß die ideologische Entmenschlichung, d.h. die Bestreitung von menschlichen Eigenschaften, eine Voraussetzung für die äußerst inhumane Behandlung von Juden und Slawen war, zumindest aber eine solche höchst menschenfeindliche Politik enorm erleichterte. Auch im Altertum und in den USA des 18. und 19. Jahrhunderts wurden die Sklaven nicht als Menschen betrachtet. Aristoteles bezeichnete die Sklaven als „beseelte Werkzeuge“. Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 schloß zwar mit dem bekannten Satz „All men are created equal“. Dennoch wurden den Frauen, den Schwarzen und der Urbevölkerung die gleichen Rechte vorenthalten. Sie wurden schlichtweg nicht als Menschen betrachtet. Auf diese Weise konnte die Sklaverei gerechtfertigt werden.

[...]


1 Vgl. Hass, Weltkrieg - Okkupation - Genozid, S. 245

2 Einer Aussage von Erich v.d. Bach-Zelewski bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen am 7. Januar 1946 zufolge, zitiert nach Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 52

3 Vgl. Roth, Europäische Neuordnung durch Völkermord, S. 181

4 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1161

5 Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, S. 149

6 Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 20; vgl. ebenda

7 Ausführlicher: Browning, Vernichtung und Arbeit, S. 37-52

8 Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, S. 34

9 Ausführlicher: Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, S. 25-36

10 Vgl. Rohwer, Rationalisierungen der Vernichtungspolitik, S. 112Die Position von Herbert deckt sich mit der Auffassung, die Andreas Werle in der Zeitschrift „Links“ vertritt. Er behauptet, daß es keine Ökonomie der Endlösung gegeben

11 Yahil, Die Shoah, S. 354

12 Eichholtz, Der „Generalplan Ost“, S. 121

13 Ebenda, S. 122

14 Die Reichskommission zur Festigung des deutschen Volkstums (RKFV) war eine im Oktober 1939 gegründete Institution, die Himmler und damit derßunterstellt war. Mehr als 1000 Mitarbeiter waren beim RKFV beschäftigt. Die RKFV führte vor allem Forschungen aus, deren Ziel es war, durch eine Veränderung der Bevölkerungs- und Siedlungsstrukur ideale soziale und ökonomische Strukturen zu schaffen. Vgl. Aly, Bevölkerungspolitische Selektion, S. 137

15 Vgl. Esch, „Gesunde Verhältnisse“, S. 21-46

16 Eine etwas ausführlichere Darstellung ist bei Esch, „Gesunde Verhältnisse“, S. 21-46 zu finden.

17 Zitiert nach Esch, „Gesunde Verhältnisse“, S. 3

18 In diese Richtung argumentiert auch: Duden, Bevölkerung, S. 71 - 76

19 Vgl. Esch, „Gesunde Verhältnisse“, S. 3 - 4

20 Wenn man stark vereinfachend von einem geschlossenen Wirtschaftssystem ohne Im- und Exporte ausgeht, wird die Zahl der Menschen, die ernährt werden können, von dem Ernteergebnis bestimmt. Dabei kommt es nicht ausschließlich auf die Größe des Landes an, sondern es spielen eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle. Zu nennen sind die Bodenqualität, die klimatischen Bedingungen, wie etwa Niederschlagsmengen, unterschiedliche Anbaumethoden, der Einsatz von Kunstdünger und nicht zuletzt die Entscheidung, was angebaut wird.Ähnlich argumentiert: Gutberger, Volk, Raum, Sozialstruktur, S. 404 / 405

21 Bedürftige wurden allenfalls in sog. Armenhäusern versorgt. Hier wurden die Besitzlosen eingesperrt, so daß die Zusände durchaus mit denen in Zuchthäusern zu vergleichen waren.

22 Vgl. Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, S. 143-150

23 Vgl. Aly / Heim, Vordenker der Vernichtung, S. 104-109

24 Ebenda, S. 109-110 Welche Ziele mit der Auflösung der polnischen Subsistenzwirtschaften verfolgt wurden, darauf werde ich in Kapitel 4.2. noch ausführlich eingehen.

25 Vgl. Reemtsma, Terroratio, S. 138 / 139

26 Vgl. Aly, Macht, Geist, Wahn, S. 202 / 203

27 Vgl. Röhr, Faschismus und Rassismus, S. 29

28 Vgl. Hund, Rassismus, S. 33

29 Vgl. Staudinger, Rassenrecht und Rassenstaat, S. 312

30 Geiss, Geschichte des Rassismus, S. 21

31 Vgl. ebenda

32 Ebenda, S. 21-23

33 Vgl. Hund, Rassis mus, S. 15-38

34 Vgl. Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, S. 28

35 Vgl. Fenske, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, S. 803-820

36 Mosse, Rassismus, S. 200; vgl. ebenda

37 Zitiert nach: Staudinger, Rassenrecht und Rassenstaat, S. 186

38 Vgl. Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, S. 28; vgl. Röhr, Faschismus und Rassismus, S 33-34

39 Vgl. Staudinger, Rassenrecht und Rassenstaat, S. 47 / 48

40 Zur generellen Funktion des Nationalismus vgl.: Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat, S. 36-43

41 Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik ?, S. 58

42 Vgl. ebenda, S. 185-190

43 Vgl. Fenske, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, S. 805

44 Vor der Reichsgründung war die rechtliche Situation der Juden in den Staaten des deutschen Bundes uneinheitlich. 1872 erhielten die Juden im Deutschen Reich die vollen Rechte, lediglich die Offizierslaufbahn und Ministerposten blieben ihnen weiterhin verwehrt. Detaillierter: Nipperday, Auf dem Weg zur Gleichberechtigung, S. 215-225

45 Die Bezeichnung spielte auf Noahs verstoßenen Sohn Semit an und hatte damit einen religiösen Ursprung.

46 Vgl. Mosse, Rassismus, S.78 / 79

47 Vgl. Herbert, Rassismus und rationales Kalkül, S. 28 / 29

48 Vgl. Staudinger, Rassenrecht und Rassenstaat, S. 171

49 Vgl. Mosse, Die völkische Revolution, S. 154

50 Vgl. ebenda, S.87

51 Vgl. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, S. 93-95

52 Vgl. ebenda, S. 94

53 Cecil, Hitlers Griff nach Rußland, S. 13

54 Vgl. Staudinger, Rassenrecht und Rassenstaat, S. 179

55 Vgl. Förster, Hitlers Entscheidung für den Krieg gegen die Sowjetunion, S. 47

56 Vgl. Segal, Im Osten sollte ein kulturloses Sklavenvolk einer germanischen Herrenrasse dienen, S.89

57 Vgl. Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg, S. 107

58 Vgl. ebenda, S. 109

59 Vgl. Förster, Hitlers Entscheidung für den Krieg gegen die Sowjetunion, S. 48

60 Petzold, Die Dolchstoßlegende, S. 19

61 Zitiert nach Freundlich, Die Ermordung einer Stadt, S. 57;

62 vgl. ebenda. Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 101

63 Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 269

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Die nationalsozialistische Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel der besetzten osteuropäischen Länder
Hochschule
Universität Bremen  (Studiengang Politikwissenschaft)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
91
Katalognummer
V24499
ISBN (eBook)
9783638273626
Dateigröße
976 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Das Ergebnis der Studie lautet: "Die nationalsozialistische Ideologie rechtfertigte die Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik, die im Großen und Ganzen politischen und wirtschaftlichen Zielen diente. Es wäre verfehlt, einen prinzipiellen Widerspruch zwischen ökonomischen Zielen und der Weltanschauung zu konstruieren." (S. 86)
Schlagworte
Vernichtungs-, Bevölkerungspolitik, Zweiten, Weltkrieges, Beispiel, Länder
Arbeit zitieren
Jörg Venderbosch (Autor:in), 2001, Die nationalsozialistische Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel der besetzten osteuropäischen Länder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24499

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