Die Musiksoziologie Theodor W. Adornos


Dossier / Travail, 1994

15 Pages, Note: 1,5


Extrait


Der Name Adorno ist sowohl Soziologen als auch Musikwissenschaftlern ein Begriff. Diese beiden Wissenschaftsbereiche werden von seinem Werk aufgegriffen und gelegentlich auch vermengt. Beispiele hierfür sind die "Einleitung in die Musik­soziologie"[1] und der Aufsatz "Ideen zur Musiksoziologie"[2], mit denen sich der fol­gende Text befaßt.

In der "Einleitung" befaßt er sich mit verschiedenen Bereichen, die in das Gebiet der Musiksoziologie fallen. An den Anfang stellt er eine Definition dessen, was Musiksoziologie eigentlich sei: "Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen den Musik Hörenden, als vergesellschafteten Einzelwesen, und der Musik selbst."[3] Damit ist eine Aufgabenstellung gegeben, die sich nach zwei Seiten orientiert: zum einen die Musik als gesellschaftliches Produkt und zum anderen das Individuum, das die­ses Produkt konsumiert. So wendet sich Adorno denn auch zunächst den Hörern von Musik zu, die in dem Dreigespann Komponist/Interpret - Musik - Hörer die pas­sive (im Sinne von "bloß aufnehmende") Rolle spielen. Die Gesellschaft besteht aus mehreren Schichten, so ist es nur natürlich, daß auch die Hörer verschiedenen Schichten angehören - Adorno kategorisiert sie in Typen musikalischen Verhaltens.

Diese Typen sind nach seiner Einteilung:

1. Der Experte

Er zeichnet sich "durch gänzlich adäquates Hören"[4] aus, ist der "voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt"[5]. Adorno stellt die Vermutung an, daß sich dieser Typ heute auf die Gruppe der Berufsmusiker beschränkt (das "heute" in seiner Formulierung legt nahe, daß er der Meinung ist, es habe "früher" mehr Experten unter den Hörern gegeben).

2. Der gute Zuhörer

Vom Experten unterscheidet ihn sein geringer bis gar nicht ausgeprägtes Vermögen, die Musik strukturell und technisch ganz zu erfassen. Er ist der "musikalische Mensch"[6], der "sinnvoll mithört"[7]. Auch ihn hält Adorno für eine aussterbende Art von Hörer - dies aber mit Rücksicht auf die proportional anwachsende Menge der Hörenden überhaupt, die durch die Entwicklung des Rundfunks sprunghaft angestiegen ist.

3. Der Bildungskonsument[8]

Diesen Typ bezeichnet Adorno als den "eigentlich bürgerliche[n]"[9]. Er versteht Musik vor allem als ein kulturelles Gut, das man um der eigenen sozialen Stellung kennen muß. Adorno spricht diesem Typ nicht eigentliches (strukturelles) Verständnis der Musik zu, sondern eher eine gewisse Belesenheit, was die Hintergründe über Biographien und Interpreten angeht, "über die man stundenlang nichtig sich unterhält."[10]

4. Der emotionale Hörer

Ein nicht nur auf musikalischem Gebiet naiver Typ.[11] Für die musikalische Kulturindustrie ist dieser Typ interessant, denn "er will nichts wissen und ist daher von vornherein leicht zu steuern."[12]

5. Der Ressentiment-Hörer

Er verkörpert den Gegensatz zum emotionalen Hörer und zeichnet sich durch einen übertriebenen Hang zur Werktreue aus, die zum Selbstzweck wird.

6. Der Jazz-Experte bzw. der Jazzfan

Ihm steht Adorno sehr kritisch gegenüber, vergleicht ihn auch mit dem Ressentiment-Hörer. Hauptkritikpunkt ist dabei der von dem Jazz-Experten verkörperte Pseudoprotest gegen die offizielle Kultur, der längst harmlos geworden ist.

7. Der Unterhaltungshörer

Die sicherlich größte Gruppe unter den Musikhörenden. Strukturelles Hören geht diesem Hörertyp gänzlich ab, "Musik ist ihm nicht Sinnzusammenhang sondern Reizquelle."[13]

8. Der musikalisch Gleichgültige, Unmusikalische, Antimusikalische

Eigentlich kein echter Hörertyp. Adorno stellt einen Zusammenhang zwischen strengen Vätern und unmusikalischen Kindern auf[14] ; eine psychologisch eher zweifelhafte Hypothese.

Bei Betrachtung dieser Typologie kommt man nicht umhin, sie doch als reich­lich subjektiv, geradezu wertend (bei den letzten sechs Typen abwertend) zu emp­finden.[15] Adorno war sich dessen wohl bewußt, weist er doch darauf hin, daß etwai­ge Mißdeutungen seiner Aufstellung "mit der Abwehr des Gesagten sich verbin­den."[16] Er rechtfertigt seine Einteilung mit dem Verweis auf den Ästhetizismus, den man verfälschen würde, ginge man davon aus, die Menschen seien "dazu da, richtig zu hören"[17]. (Interessant wäre in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, wie man denn "richtig" hört.)

Die Problematik der Adornoschen Musiksoziologie liegt nicht zuletzt in dieser wertenden Haltung, die es dem Leser schwer macht, sich ein objektives Bild über den Gegenstand "Musiksoziologie" zu machen. Adorno warf der empirischen Musik­soziologie, wie sie von Silbermann vertreten wird, vor, "sie befasse sich nicht mit der Sache selbst."[18] Doch steht die "Sache selbst", nämlich die Musik, bei Adorno wirk­lich an vorderster Stelle?

Kneif bezweifelt dies.[19] Es darf dabei aber nicht außer acht gelassen werden, daß die Musiksoziologie, wie sie in der "Einleitung" dargelegt wird, keine systemati­sche ist, sondern erst ein Entwurf; ein Katalog von verschiedenen Fragestellungen, die sich bei Beschäftigung mit dieser Thematik ergeben.[20]

[...]


[1] Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 81992

[2] ders.: Ideen zur Musiksoziologie in: Klangfiguren, Musikalische Schriften I (Gesammelte Schriften Bd. 16), Frankfurt a.M. 1978, S. 9 - 23

[3] Einleitung in die Musiksoziologie, S. 15

[4] Ebd., S.18

[5] Ebd.

[6] Ebd., S.19

[7] Ebd.

[8] vgl. Tibor Kneif: Musiksoziologie, Köln 1971, S.33: "Bei einem guten Teil der Konzertbesucher kommt es auf die Musik nicht so genau an; der Vorrang gebührt Prestigerücksichten, dem Flirt oder dem Exhibitionismus mit dem, womit man sich verdeckt."

[9] Adorno, Einleitung, S.20

[10] Ebd.

[11] Ebd., S.22: "Wie musikalisch, ist dieser Typ wohl auch dem Gesamthabitus nach naiv, oder pocht wenigstens darauf."

[12] Ebd.

[13] Ebd., S.29

[14] Ebd., S.32: "Die Hypothese sei gewagt, daß damals [während der frühen Kindheit] bei diesem Typus durchweg brutale Autorität Defekte hervorgebracht hat. Kinder besonders strenger Väter scheinen häufig unfähig zu sein, auch nur das Notenlesen zu lernen - übrigens die Voraussetzung menschenwürdiger musikalischer Bildung heute."

[15] vgl. Kurt Blaukopf: Musik im Wandel der Geschichte, S.303: "Selbst dort, wo wir Adorno nicht zu folgen vermögen, wie etwa bei seinem sehr subjektiven Entwurf von »Typen musikalischen Verhaltens«, ist die schöpferische Herausforderung zu korrigierender Weiterentwicklung zu verspüren."

[16] Einleitung in die Musiksoziologie, S.32

[17] Ebd.

[18] Kneif, S.108

[19] Ebd. "Trotz der verkündeten Absicht, sich an der Sache zu orientieren, steht die Musik [...] ebensowenig im Vordergrund wie bei der empirischen Richtung [...], sondern an deren Stelle ent-weder der eigene Assoziationsreichtum vom Typ »Die gesellschaftliche Gestik der Musik von Chopin ist aristokratisch« oder das falsche, ideologische Bewußtsein anderer, jenes etwa , das [...] den ein-zelnen Hörtypen unterstellt wird. Das Urteil, obwohl hart, erscheint daher nicht ungerecht, daß Adorno auf Umwegen das gleiche erreicht hat, was er der empirischen Musiksoziologie vorwarf: sich nicht mit der Sache zu beschäftigen."

[20] vgl. Blaukopf, S.297: "Jeder Versuch, die Musiksoziologie Adornos systematisch aufzufächern, scheitert daran, daß ihr Autor keine Systematik hinterlassen hat. Ihm schien es fruchtbarer, Modelle musiksoziologischer Erkenntnis anzubieten, anstatt eine Übersicht über den Gegenstand und die Methoden dieser Disziplin zu entwerfen."

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Die Musiksoziologie Theodor W. Adornos
Université
University of Freiburg  (Institut für Soziologie)
Note
1,5
Auteur
Année
1994
Pages
15
N° de catalogue
V25180
ISBN (ebook)
9783638278898
ISBN (Livre)
9783638789059
Taille d'un fichier
450 KB
Langue
allemand
Mots clés
Musiksoziologie, Theodor, Adornos
Citation du texte
Christine Knecht (Auteur), 1994, Die Musiksoziologie Theodor W. Adornos, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25180

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