Noch heute herrscht in der Wissenschaftsgeschichte zuweilen die Tendenz, Rassenideologien und Rassentheorien auf am Rande stehende politische Extremisten und Pseudo-Wissenschaftler zurückzuführen. Dies betrifft unter anderem auch die Frage, welchen theoretischen Beitrag die Wissenschaft – und in diesem Kontext insbesondere die Lehre vom Menschen, also die Anthropologie oder Humanbiologie – für die Rassenlehren im Nationalsozialismus geleistet hat und inwieweit sie eine geistige Mittäterschaft an den Massenmorden trägt.
Bis vor einigen Jahren war die Ansicht verbreitet, dass die unpolitische und passive Wissenschaftsgilde unter dem Druck des totalitären Systems gestanden habe und machtlos hätte zusehen müssen, wie Politiker und Ideologen die Anthropologie für ihre rassenpolitischen Zwecke missbrauchten. Die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse deuten dagegen auf eine weit über die nationalsozialistische Epoche hinaus führende Kontinuität rassistischer Denkmuster in der deutschen Anthropologie hin.
Diese Arbeit möchte mit einer historischen Analyse der deutschen Anthropologie einen Beitrag an die gerade erst einsetzende Aufarbeitung der Geschichte des Fachs leisten. Kürzlich sind zwar ergiebige Biografien einiger führender Anthropologen und Rassentheoretiker entstanden. Noch sind aber bei weitem nicht alle einflussreichen AkademikerInnen und ihre Beiträge zum Rassismus untersucht worden. Es fehlt darüber hinaus an Überblicksdarstellungen, insbesondere auch für die Zeit vor der NS-Herrschaft.
Diese Arbeit stellt daher die anthropologische und ethnologische Forschung der Weimarer Republik in den Mittelpunkt und untersucht die Rassentheorien der renommiertesten Wissenschaftler dieser Epoche. Das Resultat ist erschreckend: Viele deutsche Anthropologen vertraten in den 20er- und frühen 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts Theorien mit teilweise deutlichen Affinitäten zum Rassendogma der Nationalsozialisten. Es erstaunt denn auch nicht, dass die grosse Mehrheit der Professoren des Fachs ihre Forschungstätigkeit nach der Machtübernahme ohne grosse Zäsur weiterführt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Rassenideologien und Wissenschaftsgeschichte
- Fragestellung
- Vorgehensweise
- Die Lehre vom Menschen – Geschichte der deutschen Anthropologie bis 1918
- Anthropologie und Rassismus
- Wurzeln in der Aufklärung
- Sprachwissenschaft und der arische Mythos
- Gobineau und aufkommendes Nationalbewusstsein
- Das imperialistische Zeitalter
- Entwicklung der Anthropologie in Deutschland
- Liberale, humanistische Tradition
- Nationalismus und der Weg von Virchow und Bastian
- Deutsche Anthropologie und die koloniale Frage
- Wissenschaftliche Diskurse im Imperialismus
- Deutsche Anthropologie im Fahrwasser von Biologie und Eugenik
- Eugen Fischer läutet einen Paradigmawechsel ein
- Der Erste Weltkrieg und der Ruf nach Volksgesundheit
- Deutsche Anthropologie und Ethnologie in der Weimarer Republik
- Situation nach dem verlorenen Krieg
- Völkischer Nationalismus und Houston Stewart Chamberlain
- Ende der Kolonialmacht Deutschland
- Das Konzept der „Nordischen Rasse“ von Hans F. K. Günther
- Günthers Theorien
- Reaktion der Fachanthropologie auf Günther
- Anthropologie und Ethnologie auf getrennten Wegen
- Universitäre Institutionalisierung der beiden Fächer bis 1933
- Drei deutsche Völkerkundler in der Weimarer Republik
- Ethnologische Theorieschulen bis in die 30er Jahre
- Karl Weule (1864-1926)
- Leo Frobenius (1873-1938)
- Richard Thurnwald (1869-1954)
- Zwischenresümee
- Deutsche anthropologische Forschungszentren und Wissenschaftler zwischen 1918 und 1933
- Berlin
- Aufbau des Kaiser-Wilhelm-Instituts
- Eugen Fischer (1874-1967)
- Leipzig
- Otto Reche (1879-1966)
- Stramme NS-Gesinnung
- München
- Rudolf Martin (1864-1925)
- Theodor Mollison (1874-1952)
- Völkischer Mahner
- Breslau
- Egon Freiherr von Eickstedt (1892-1965)
- Kein ernsthafter Abweichler
- Hamburg
- Walter Scheidt (1895-1976)
- Zweifelnder Antikonformist
- Kiel
- Otto Aichel (1871-1935)
- Zahlreiche Affinitäten
- Frankfurt am Main
- Franz Weidenreich (1873-1948)
- Ungehörter Mahner
- Göttingen und Heidelberg
- Karl Felix Saller (1902-1969)
- Heinrich Münter (1883-?)
- Die Verbindung von Rassentheorien und anthropologischer Forschung
- Der Einfluss des Nationalsozialismus auf die anthropologische Disziplin
- Die Rolle von Schlüsselpersonen in der deutschen Anthropologie
- Die Institutionalisierung der Anthropologie an deutschen Universitäten
- Die Verbreitung rassistischer Ideologien in wissenschaftlichen Kreisen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit analysiert die Entwicklung der deutschen Anthropologie in der Zeit zwischen 1918 und 1933. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit sich rassistische Ideologien in dieser Disziplin manifestierten und wie diese wiederum das wissenschaftliche Denken und Handeln beeinflussten.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung beleuchtet den Einfluss von Rassenideologien auf die Wissenschaftsgeschichte und legt die Fragestellung sowie die Vorgehensweise der Arbeit dar. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Geschichte der deutschen Anthropologie bis 1918 und zeichnet die Entwicklung von den Wurzeln in der Aufklärung bis zum Aufstieg des Rassismus im imperialistischen Zeitalter nach. Kapitel drei analysiert die Situation der deutschen Anthropologie und Ethnologie in der Weimarer Republik, mit Fokus auf das Konzept der „Nordischen Rasse“ und die sich abzeichnende Trennung der beiden Disziplinen. Kapitel vier stellt drei bedeutende deutsche Völkerkundler vor: Karl Weule, Leo Frobenius und Richard Thurnwald. Kapitel fünf analysiert die anthropologische Forschung an verschiedenen deutschen Universitäten zwischen 1918 und 1933.
Schlüsselwörter
Deutsche Anthropologie, Rassentheorien, Nationalsozialismus, Eugenik, Völkischer Nationalismus, Weimarer Republik, Ethnologie, Forschungszentren, Wissenschaftler, Universität, Geschichte.
- Arbeit zitieren
- Michael Vetsch (Autor:in), 2003, Ideologisierte Wissenschaft. Rassentheorien deutscher Anthropologen zwischen 1918 und 1933, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25570