Die Wechselwirkung von Sozialisation und Marktwirtschaft


Hausarbeit, 2003

51 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sozialisation
2.1 Abriss der psychologischen und soziologischen Sozialisationstheorien
2.1.1 Psychologische Theorien der Sozialisation
2.1.1.1 Persönlichkeitstheorien
2.1.1.2 Lerntheorien
2.1.1.3 Entwicklungstheorien
2.1.2 Soziologische Theorien der Sozialisation
2.1.2.1 Systemtheorien
2.1.2.2 Handlungstheorien
2.1.2.3 Gesellschaftstheorien

3 Die Instanzen der Sozialisation und der Einfluss der Marktwirtschaft
3.1 Die Sozialisation in der Familie
3.2 Die Sozialisation in der Schule
3.3 Die Sozialisation im Beruf
3.3.1 Abriss der beruflichen Sozialisationstheorien
3.3.1.1 Modernisierungs- und Individualisierungstheorie
3.3.1.2 Arbeitspsychologische Handlungstheorie
3.3.1.3 Arbeits- und Berufssoziologie
3.3.1.4 Rollentheoretische Sozialisationstheorien
- Strukturell funktionalistische Rollentheorie
- Beruflicher Habitus
- symbolisch-interaktionistische Rollentheorie
3.3.1.5 Interaktionistische Theorie der Persönlichkeitsentwicklung
3.4 Die Sozialisation durch Massenmedien

4. Der Einfluss der Instanzen auf die Marktwirtschaft

5. Konflikte im Beruf

6. Lösungsansätze

7. Schlusswort

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In dieser Arbeit wollen wir zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen der Sozialisation auf der einen Seite und der Marktwirtschaft auf der anderen Seite besteht. In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns mit den Prozessen der Sozialisation und den marktwirtschaftlich orientierten Organisationen.

Wir möchten den Versuch unternehmen deutlich zu machen, dass eine wechselseitige Beziehung besteht, dass also nicht nur eine einseitige Beeinflussung der Marktwirtschaft auf die Sozialisationsprozesse des Individuums besteht, sondern dass diese Prozesse ebenfalls einen Effekt auf die Ausrichtung der marktwirtschaftlich organisierten Organisationen haben.

Dazu werden wir einen Überblick über die gängigen Theorien der Sozialisation schaffen. Im weiteren Verlauf beschäftigen wir uns detailliert mit den Instanzen der Sozialisation und werden dabei Zusammenhänge zu den theoretischen Grundlagen herstellen und zeigen inwieweit die Marktwirtschaft Einfluss auf die Sozialisation hat - und umgekehrt.

Aufbauend auf diesem Wissen möchten wir mögliches Konfliktpotenzial aufdecken, die Ursachen dafür erklären und nach geeigneten Lösungsansätzen suchen.

2. Sozialisation

In der Geschichte der Sozialisationsforschung wird der Begriff der Sozialisation in enzyklopädischen Werken erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert verwendet, im wissenschaftlichen Zusammenhang findet man diesen Begriff zum ersten Mal 1896 wieder, geprägt vom amerikanischen Sozialphilosophen Edward A. Ross.

Der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) beschäftigte sich in seinen Untersuchungen über den Übergang von einfachen zu arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften. Hierbei konzentrierte er sich auf die Kernfrage, wie in komplexen Strukturen, also eben in diesen Industriegesellschaften soziale Integration hergestellt werden kann. Durkheim geht davon aus, dass der Schritt zur modernen Industriegesellschaft nur dann vollzogen werden kann, wenn alle Gesellschaftsmitglieder die Normen und Zwangsmechanismen verinnerlichen. Er meint, dass diese Normen und Mechanismen auf ein Individuum treffen, welches sich triebhaft, egoistisch und asozial verhält und erst durch den Prozess eben dieser Sozialisation gesellschaftsfähig wird. Durkheim sagt also, dass der unberührte Mensch zunächst in seiner Natur überhaupt gar nicht in der Lage ist gesellschaftlich miteinander umzugehen, sondern dass er existierende Muster und Normen ‚von außen nach innen holen muss’. Damit gilt Durkheim als der eigentliche Gründer dieses Konzeptes der Sozialisation. Er prägte damit den Begriff der Sozialisation, welcher in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis in die 1970er vorherrschte. Durkheims Sichtweise betrachtet allerdings nur die Seite der Unterwerfung des Individuums unter gesellschaftlichen Anforderungen und gilt somit als soziologisch verkürzt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand dieses Konzept erneut unter näherer Betrachtung und sorgte alsbald für einen Aufbruch in Richtung Persönlichkeit- und Erziehungstheorie und wurde somit Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Dabei gab es in Bezug auf diese Forschung einige wichtige Persönlichkeiten, wie auf der persönlichkeitstheoretischen Seite insbesondere Sigmund Freud (1856-1939), innerhalb der Lerntheorie John

B. Watson (1878-1958) und innerhalb der strukturgenetischen Entwicklungspsychologie John Piaget (1896-1980).

Diesen psychologischen Theorien sind auch heute noch innerhalb der Sozialisationstheorie und -forschung bedeutende Rollen zuzuschreiben, denn hier wird das Verhältnis des Menschen zur direkten sozialen Umwelt verdeutlicht. Auf der Seite der Sozialforschung spielen insbesondere Talcott Parsons (1902-1979) mit seiner strukturell funktionalen Theorie der Zusammenhänge von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung und George Herbert Mead (1863-1931), dessen Arbeiten parallel zu Durkheim entstanden sind, und sich mit der Rolle von Sprache und Kommunikation für die Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt haben, eine bis heute noch entscheidende Rolle.

Wie wir aber alle wissen, haben sich gerade in den letzten Jahrzehnten die westlichen Gesellschaften in dem Maße verändert, dass sie keine Industriegesellschaften wie zu Durkheims Zeiten mehr sind. Die heutigen Gesellschaften sind vielmehr durch eine große Vielfalt von sozialen und kulturellen Lebensformen geprägt und durch ein Zusammenspiel eigenständiger Organisationen und Systeme bestimmt. Nicht zuletzt machen es die durch die Globalisierung herbeigeführten Verflechtungen, und die daraus resultierenden multiplen Muster und Normen nunmehr erforderlich, von der von Durkheim geforderten Adaption der Normen und Mechanismen von außen Abstand zu nehmen, und das Augenmerk auf eine von innen heraus geleitete, sensible Reflexion und Anpassung der sozialen Regeln zu lenken. Diese Erkenntnisse wecken den Bedarf nach neuen, zeitgemäßeren Theorien, wobei das ‚Handbuch der Sozialisationsforschung’ (Hurrelmann/Ulich 1980) eine entscheidende Rolle spielt. Sozialisation wird nun als der Prozess definiert, „in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen innere Realität bilden, und der sozialen und physikalen Realität, die für den Menschen die äußere Realität bilden.“1

Nach dieser kurzen Einführung werden wir nun versuchen, eine Übersicht sowohl der gängigen psychologischen als auch soziologischen Theorien zu liefern.

2.1 Abriss der psychologischen und soziologischen Sozialisationstheorien

2.1.1 Psychologische Theorien der Sozialisation

2.1.1.1 Persönlichkeitstheorien

Die persönlichkeitstheoretischen Konzeptionen befassen sich in erster Linie - wie es der Name schon vermuten lässt - mit der menschlichen Persönlichkeit. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Eigenschaften, Einstellungen, Motivationen, Gefühle und Interessen eines Individuums und auf die biologisch festgelegten Bedürfnisse und Triebe gerichtet. Ein besonders bekannter Ansatz der Persönlichkeitstheorie beschäftigt sich mit der Analyse der in der menschlichen Psyche fest verankerten Triebe und Motivationen, die bei der Persönlichkeitsentwicklung eine ausschlaggebende Rolle spielen. Untersuchungsgegenstand dieser Psychoanalyse ist die ‚Eltern-Kind- Beziehung’. Daneben existieren weitere Persönlichkeitstheorien mit jeweils anderen Schwerpunkten. Zu nennen sind hier z.B. Theorien, die sich mit Persönlichkeitsmerkmalen beschäftigen, welche „[…] zur Bewältigung von Lebensproblemen und für die Aneignung und Verarbeitung der sozialen und materiellen Umwelt notwendig sind.“2 Diese Theorien werden als ‚Stress- und Bewältigungstheorien’ bezeichnet.

2.1.1.2 Lerntheorien

Im Gegensatz zu den eben erwähnten Persönlichkeitstheorien geht die Lerntheorie davon aus, dass nicht die Triebe und genetisch festgelegten - also internen Faktoren - Schlüssel der Persönlichkeitsentwicklung sind, sondern dass jedes Individuum durch die Einflüsse der sozialen und materiellen Umwelt - also der externen Faktoren - geprägt wird. Das Verhalten des Individuums wird also durch Erfahrungen determiniert, durch Lernprozesse, z.B. durch Interaktionen mit anderen Individuen. Das geschieht, in dem die äußeren Einflüsse und Eindrücke, sowie Erfahrungen durch kognitive Leistungen des Individuums verarbeitet werden und somit die externen Determinanten auch zu internen werden. Ein bekannter Vertreter dieser Theorie war Brandura (1979).

2.1.1.3 Entwicklungstheorien

Hier wird die gesamte Lebenszeit eines Individuums als Prozess betrachtet, in dem sich Persönlichkeitsmerkmale verändern. Zum einen gibt es die ‚kognitive Entwicklungspsychologie’, die von einer Wechselwirkung von Mensch und Umwelt ausgeht. Innerhalb dieser Beziehung werden Wahrnehmungsstrukturen und Denkmuster ausgebildet, die sich schrittweise weiterentwickeln. Dabei stellt jede Entwicklungsstufe die Voraussetzung für die nächstfolgende dar (vgl. Piaget 1972).

Eine weitere Richtung der Entwicklungstheorie ist die ‚ökologische Entwicklungspsychologie’. Sie geht davon aus, dass der Mensch selbst seine Entwicklung gestaltet und als selbstreflektierendes Individuum sein Bild von der Umwelt aufbaut und flexibel verändert. Menschen und ihre Umwelt werden innerhalb dieser Theorie als ein System verstanden, in dem sich beide gegenseitig beeinflussen.

2.1.2 Soziologische Theorien der Sozialisation

2.1.2.1 Systemtheorien

Innerhalb dieser Disziplin sind zwei Theorien von Bedeutung. Zum einen die ‚struktur-funktionale-Systemtheorie’ (Talcott Parsons 1902-1979) und zum anderen die ‚soziale Systemtheorie’ (Niklas Luhmann 1984). Parsons betrachtet die Strukturen von Systemen, die immer auch eine Funktion haben. Mit Struktur meint er insbesondere den zeitlich überdauernden Aspekt eines Systems und mit Funktion meint er den dynamischen Aspekt. Funktion eines Subsystems ist die Stabilisierung des Gesamtsystems. Analysiert werden hier das Zusammenspiel verschiedener Systeme und Subsysteme der Realität (innere und äußere). Dabei werden verschiedene Blickwinkel zur Hilfe genommen: Einerseits die Mikroperspektive, die sich mit den individuell psychischen Persönlichkeitsstrukturen beschäftigt, und zum anderen die Makroperspektive, welche gesellschaftliche Sozialstrukturen untersucht. Diese beiden Perspektiven werden hier in Bezug gesetzt und versucht in Einklang zu bringen.

Die ‚soziale Systemtheorie’ gilt als eine der einflussreichsten Weiterentwicklungen der Systemtheorie durch Luhmann. Sie beschäftigt sich mit der Eigenständigkeit der Systeme, die in Abhängigkeit zueinander existieren. Er differenziert zwischen einem organischen, einem psychischen und einem sozialen System, welche alle eigenen Entwicklungsgesetzen folgen. So besteht z.B. aus der Differenz zwischen psychischem System (Person) und dessen Umwelt (soziales System) die Möglichkeit und Notwendigkeit von Sozialisation.

„Der Mensch, wiewohl in seiner Persönlichkeitsentwicklung auf Soziales angewiesen, wird durch Sozialisation nicht Teil des sozialen Systems. Dies ist so wenig der Fall, wie umgekehrt dadurch das soziale System sich nicht irgendwie in Psychisches transformiert. Die Gesellschaft kann Angebote machen und Wirkungen in ihrer Umwelt auslösen, sie kann entsprechende Funktionssysteme ausdifferenzieren, deren Wirkungen aber doch nicht kontrollieren, weil sie eben nicht im sozialen System, sondern im psychischem System des Menschen stattfinden.“3

Alle drei Systeme (organisches, psychisches und soziales) werden innerhalb dieser Theorie als selbstorganisierende und selbstgesteuerte Systeme verstanden.

2.1.2.2 Handlungstheorien

Der Begründer einer der einflussreichsten Ansätze der Handlungstheorie ist George Herbert Mead (1863-1931). Mead differenziert menschliches vom tierischen Verhalten durch die Intentionalität und Zielgerichtetheit. Dieses Verhalten bezeichnet er als ‚Handeln’. Bei genauerer Betrachtung wird der Begriff des Handelns als sinnhaft aufeinander bezogene Aktionen mindestens zweier Individuen (Interaktion) verstanden. Der äußere Rahmen des Handelns wird bestimmt durch eine geregelte Folge von Aktionen innerhalb sozialer Situationen unter Befolgung normativer Regeln und der Motivation der teilnehmenden Akteure. Da das Handeln im Mittelpunkt steht, spricht man hier von Handlungstheorie.

In Meads Hauptwerk ‚Mind, Self and Society’ (deutsch 1968) beschäftigt er sich in erster Linie mit dem Ursprung und der Entstehung menschlicher Subjektivität. Demnach steht der Mensch in ständiger Auseinandersetzung mit der natürlichen und der sozialen Umwelt. Mead geht davon aus, dass der Mensch von Grund auf nach physiologischen und organischen Gegebenheiten handelt und sich an seiner Umwelt orientiert. Soziale Interaktionsprozesse beeinflussen aber dieses Handeln in hohem Maße. So sind also Individuum und Umwelt prozesshaft miteinander verbunden. Erst dieses prozesshafte Wechselspiel macht die Entstehung des menschlichen Subjekts möglich.

Hauptaugenmerk legt Mead also auf die Entstehung von Bewusstsein, Individuum und Gesellschaft unter Betrachtung menschlichen Verhaltens als symbolisch vermittelte Interaktion (symbolischer Interaktionismus).

Exkurs:

Der symbolische Interaktionismus deutet die Entwicklung des zwischenmenschlichen Handelns und Verhaltens nicht nach dem Lernmodell von “Reiz” (Stimulus) und “Reaktion” (Response), sondern betont nachhaltig die kommunikativen und symbolischen Aspekte von Sozialisation. Mead verleugnet nicht die Einflüsse der sozialen Umgebung auf die Ausbildung der Identität eines Individuums durch die schlichte Integration desselben in diese vorhandene Struktur; er hebt jedoch hervor, dass dies nicht durch eine reine Adaption von Verhalten geschieht, sondern auf Interaktion basiert. Soziales Handeln wird nicht nach einem reinen Reiz-Reaktions-Schema gesteuert, sondern ist stets mit einem bestimmten Sinn intendiert, was nur möglich ist, weil die Kommunikation bzw. Interaktion die Basis dafür liefert, derartige Sinnzusammenhänge zu erlernen und anzuwenden. Bewusstsein und Geist des Menschen können also nicht losgelöst vom Sozialverhalten des Menschen erklärt werden. Im Laufe seines Lebens übernimmt das Individuum immer wieder die Perspektive anderer ein und bezieht sie auf sich selbst. Durch den Prozess der so genannten Rollenübernahme kann Ego in die Rolle von Alter schlüpfen und sich dadurch dessen Reaktionen und dessen Sichtweisen verdeutlichen; es gewinnt somit eine Außensicht seiner selbst.

Mead unterscheidet zwischen:

- significant others (d.h. die engeren Bezugspersonen, Familie)
- generalized others (d.h. Unbekannte, anonyme Rollenträger).

Ein Kind erlangt seine Ich-Identität in mehreren Stufen:

1. Phase: Play-Phase
2. Phase: Game-Phase

Das Selbst besteht für Mead aus zwei Komponenten:

- dem ME (reflexive Ich-Identität, das soziale Selbst)
- - dem I (das aktive Selbst)

Das 'ME' ist jene Sichtweise des Selbst, die uns von anderen vorgespiegelt wird. Das 'ME' verkörpert also auch die Rollenerwartungen, die von anderen an das Selbst gerichtet werden. Der Gegenspieler des 'ME' innerhalb der Person ist das 'I'. 'I' und 'ME' stehen in einer ständigen Wechselwirkung, die dafür sorgt, dass die von der Außenwelt gespiegelten Selbstbilder internalisiert werden. Das 'I' integriert gewissermaßen die Perspektiven des 'ME' in die Person, setzt sich jedoch auch aktiv mit ihnen auseinander. Das 'I' ist jener Teil der Persönlichkeit, der gewissermaßen für Neuheit und Kreativität verantwortlich ist - während das 'ME' die Erwartungen des generalisierten Anderen (generalized other) repräsentiert und somit eher in Richtung Verhaltensanpassung wirkt.

All diese Annahmen führen hin zu einer gesellschaftstheoretischen Komponente, in dem Mead davon ausgeht, dass Gesellschaft kollektives Handeln ist, welches aus der Verbindung der Handlungen aller am gesellschaftlichen Leben teilnehmenden Menschen besteht. Durch die Adaption gesellschaftlicher Werte und Normen ist soziales Handeln erst möglich. Umgekehrt verändert sich aber auch die Gesellschaft, die diese Werte und Normen bereithält, durch eben genannte Verbindungen sozialer Handlungen.4

2.1.2.3 Gesellschaftstheorien

Gesellschaftstheorien befassen sich mit den gesamtgesellschaftlichen Strukturen und ihrer Dynamik. Im Gegensatz zu den handlungstheoretischen Ansätzen werden hier weit aus stärker die ökonomischen, politischen und kulturellen Strukturen der Person-Umwelt- Wechselbeziehungen betrachtet.

Ein bekannter Vertreter dieser Strömung war Karl Marx (1818-1883) mit seiner ‚materialistischen Gesellschaftstheorie’. Bei der Analyse der Entwicklung der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse formuliert er eine Art ‚Klassentheorie’. In den spannungsreichen Beziehungen zwischen den Produktionsmittelbesitzern und den eigentlichen Produzenten - den Arbeitern - sei eine freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit nicht möglich. Diese Rahmenbedingungen seien, so Marx, von den Menschen allerdings auch selbst geschaffen. Erst mit der Änderung oder der Auflösung von Besitzverhältnissen an den Produktionsmitteln entstünden nach Marx erheblich bessere Bedingungen für die 'Subjektwerdung' der Gesellschaftsmitglieder. Marx sieht den Menschen als ein aktiv handelndes Individuum, das in einer produktiven, durch gegenständliche Auseinandersetzung in Form von Arbeit, und in einer kommunikativen Auseinandersetzung in Form von Interaktion, mit anderen Menschen tätig ist. Der Mensch unterliegt also ständig Prozessen auf Seite der physischen und sozialen Umwelt. Hier kann er emotionale und soziale Fähigkeiten ausbilden, die sein Selbstbewusstsein ausmachen. Marx sagt aber, dass die eigentlichen Potentiale der menschlichen Subjektentwicklung unter den bestehenden kapitalistischen Herrschaftsbedingungen nicht freigesetzt werden können. Durch den ‚Zwang der ökonomischen Verhältnisse’ und die vorherrschenden, unveränderbaren kapitalistischen Produktionsverhältnisse muss sich der Mensch anpassen und unterwerfen. Er ist damit in seinem Handeln und in seiner Entwicklung determiniert und davon abgehalten seine wirklichen Bedürfnisse und Interessen zu erkennen und durchzusetzen (Marx 1966).

Nachdem wir nun einige grundlegende Theorien sowohl auf psychologischer als auch auf soziologischer Ebene vorgestellt haben, werden wir mit dem folgenden Kapitel speziell den Sozialisationsprozess des Kindes innerhalb der Familie beleuchten. (In der gängigen Literatur unterscheidet man 3 Instanzen: Familie - Schule - Beruf)

3. Die Instanzen der Sozialisation

Innerhalb der Sozialisationsforschung wird der Prozess der Sozialisation oftmals in drei Ebenen versucht zu erklären. Man unterscheidet drei Instanzen, wobei wir auch einen vierten Punkt für immens wichtig erachten und diesen als vierte Instanz mit aufführen:

1. Familie
2. Schule
3. Beruf- und Arbeitsumfeld
4. Massenmedien

Bei der Ausführung beschränken wir uns nicht auf eine - als die einzig wahre Theorie der Sozialisation - sondern wir werden versuchen aufzuzeigen, dass Sozialisation als ein Zusammenspiel oder eine Kombination vieler verschiedener Theorien verstanden werden muss.

3.1 Die Sozialisation in der Familie

Seit Jahrhunderten werden Familien als die zentrale Instanz der Sozialisation angesehen. Da sie die früheste und nachhaltigste Prägung der Persönlichkeit von neugeborenen Individuen mit sich bringt, kann man sie auch als ‚primäre Sozialisation’ bezeichnen.

Die kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte machen sich auch in der Familie bemerkbar und unterwerfen diese ebenfalls einem Prozess der sozialen Wandlung. Innerhalb der traditionellen Familie, wie man sie früher kannte, gab es klare

Rollenverteilungen und Hierarchien. Der Vater galt als Familienoberhaupt, die Mutter, die auch für das interne Klima und die Ausgewogenheit der Beziehungen untereinander zuständig war, war als Alleinerziehende der primäre Bezugspunkt des Kindes. Diese traditionelle Familie findet man allerdings immer seltener. Insbesondere das Aufkommen der Emanzipation hat dazu beigetragen, dass sich immer mehr Frauen nicht mehr ‚nur’ um die haushaltsökonomischen Dinge wie Essenszubereitung oder Pflege und Kleidungsreparatur kümmern, sondern ein eigenständiges Berufsleben führen. Man spricht in diesem Zusammenhang von ‚Endtraditionalisierung’.

Durch den Wegfall dieses starren Gerüstes eines traditionellen Familienbildes beobachtet man heute zunehmend eine mehr dynamische Familienkonstellation. Die Väter werden mehr und mehr in die Erziehungsprozesse miteinbezogen, was auch als positiver Wandel der Väterlichkeit interpretiert werden kann, da sich die traditionelle autoritäre und marginale Rolle des Vaters in eine mehr freundschaftliche, liebevolle und zentrale Rolle in der Familie gewandelt hat. Die Beziehung zwischen dem Kind und den Eltern ist somit wesentlich individueller geworden. So kann sich das Kind innerhalb dieser Vater-Mutter-Kind-Triade je nach Entwicklungsstand die Anregungen und Impulse holen, die für seine Persönlichkeitsentwicklung besonders von Nutzen sind.5 Denn wie schon innerhalb der Lerntheorie, Entwicklungstheorie uns Handlungstheorie festgestellt, wird Sozialisation durch eine ständige Wechselwirkung mit der Umwelt herbeigeführt. Verschiedene Disziplinen der Sozialisationsforschung deuten darauf hin, dass die Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Kindes von fast grenzenloser Natur ist. Das Kind lässt sich bei den Eltern auf die allererste Beziehung seines Lebens ein, weswegen diese Kontakte zu Mutter und Vater der Maßstab für alle späteren Beziehungen des heranwachsenden Menschen werden. Innerhalb dieser ersten Kontakte eignet sich ein Kind die Kompetenz an, auch mit anderen Menschen umzugehen und seine soziale Umwelt auszukundschaften.

[...]


1 Hurrelmann 2002, 15f

2 Hurrelmann 2002, 49

3 Hurrelmann 2001, 47

4 Hurrelmann 2001, 52

5 Hurrelmann 2002, 134

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Die Wechselwirkung von Sozialisation und Marktwirtschaft
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Veranstaltung
Sozialisation und Kommunikation
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
51
Katalognummer
V26154
ISBN (eBook)
9783638285759
ISBN (Buch)
9783638702324
Dateigröße
694 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Wechselwirkung von Sozialisation und Marktwirtschaft, Konflikte - Ursachen - Lösungen
Schlagworte
Wechselwirkung, Sozialisation, Marktwirtschaft, Sozialisation, Kommunikation
Arbeit zitieren
Christian+Thomas Schlegtendal (Autor:in), 2003, Die Wechselwirkung von Sozialisation und Marktwirtschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26154

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Titel: Die Wechselwirkung von Sozialisation und Marktwirtschaft



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