Die Suche nach Raum in einer Grauzone

Eine raumtheoretische Perspektive auf die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeiten von irregulären Migranten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Gesundheit in Hamburg


Bachelorarbeit, 2013

72 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Rechtliche Grundlagen von Personen ohne gültigeAufenthaltsgenehmigung..
1.1 Rechte im Bereich Arbeit
1.2 Rechte im Bereich Bildung
1.3 Rechteim Bereich Gesundheit

2. Forschungsstand in Hamburg

3. Raumvorstellungen in der Sozialen Arbeit
3.1 Die Entwicklung der Raumvorstellungen
3.2 Der soziale Raum
3.3 Verortungen von Individuen im sozialen Raum anhand der Kapitalarten nach Bourdieu
3.4 Die Aneignung von Raum
3.4.1 Die Verbindung von physischem und sozialem Raum
3.4.2 Der Kampf um Raum
3.5 Der Wandel derRaumdeutung
3.6 Soziale Räume und Soziale Arbeit
3.6.1 Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit
3.6.2 Herausforderungen einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit
3.6.3 Kritik der Sozialraumorientierung
3.7 Die Notwendigkeit einer reflexiven Raumorientierung in der Sozialen Ar­beit

4. Forschungsanliegen
4.1 Wissenschaftstheoretischer und methodologischerAusgangspunkt
4.2 Forschungsmethode
4.3 Forschungsprozess
4.4 Auswertung und Ergebnisse der Interviews
4.4.1 Kapitalarten und -volumen irregulärer Migranten
4.4.2 Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von irregulären Migranten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Gesundheit
4.4.3 Handlungs- und Gestaltungsbeschränkungen von irregulären Mig­ranten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Gesundheit
4.4.4 Handlungsauftrag der Sozialen Arbeit
4.4.5 Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse

5. Die Soziale Arbeit und ihr Mandat

6. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

Anhang

Einleitung

Jeder möchte gern einen Raum sein Eigen nennen können. Ist es ein Wohnraum, wo man sich zuhause odereinen Aufenthaltsraum und Handlungsraum, in dem man sich frei entfalten und sicher fühlen kann, um eigene Absichten oder bevorzugte Formen der Lebensführung zu verwirklichen. Werden diese Räume nun an Orten gesucht, die sich von den bisher bewohnten Orten zum Beispiel aufgrund des Klimas, der Kultur oder Sprache unterscheiden, ist dieser ohnehin schon herausfordernde Prozess mit weiteren oftmals unbekannten Schwierigkeiten verbunden. Fehlt es einem Migranten in dem eingewanderten Land zudem noch an einem legalen Aufenthaltsstatus, so wird es ihm schon allein rechtlich untersagt, sich in dem Land aufzuhalten und das Bedürfnis einen Raum sein Eigen nennen zu können somit grundsätzlich versagt. Gesamt gesehen sind im ersten Halbjahr 2012 447.000 Ausländer nach Deutschland zugezogenen[1]. Dies ist ein Anstieg von 17 % im Vergleich zum ersten Halbjahr2011. Die Zuwanderungen sind im Jahr 2011 gegenüber dem Vorjahr um 20 % gestiegen. Dahingegen wurden im Jahr 2011 318.000 Fortzüge aus Deutschland registriert (vgl. Statistisches Bundesamt 2012). Da in der Bundesrepublik allein schon im Jahr 2010 jede fünfte Person 65 Jahre und älter war, gewinnt die soziale Integration von Migranten in Deutschland immer mehr an Bedeutung (vgl. Statistisches Bundesamt 2012, 25).

In den soeben genannten Zahlen ist jedoch nicht die irreguläre Migration berück­sichtigt worden. Es ist kein Geheimnis, dass sich aus unterschiedlichen Gründen eine unsichere Anzahl von Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere in Deutsch­land aufhalten und diese hier im permanenten Konflikt mit rechtlichen Bestimmungen leben. In der vorliegenden Arbeit wird bewusst der Begriff der Illegalität vermieden und stattdessen die Bezeichnung irregulär verwendet, da diese auf das konfliktive Verhältnis zu den rechtlichen Bestimmungen verweist und dadurch die Prozess- haftigkeit sowie Veränderbarkeit des Konfliktes zum Ausdruck gebracht werden kann (vgl. Buckel 2011,251).

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, was für Möglichkeiten irregulären Mig­ranten haben, um zu handeln und Räume zu gestalten. Eine psychologische Sicht­weise auf die Situation von irregulären Migranten kann in dem Umfang dieser Arbeit nicht gegeben werden. Es wird vor allem das Handeln im Sinne von subjektiv sinn- haftem Verhalten der Betroffenen betrachtet, mit dem ein bestimmtes Ziel verfolgt wird (vgl. Schimank 2010, 29). Zur weiteren Eingrenzung des Themas werden die Lebensbereiche Arbeit, Bildung und Gesundheit von irregulären Migranten in den Fokus gestellt. Diese drei Lebensbereiche wurden gewählt, da sie gerade für die Zielgruppe dieser Arbeit von besonderer Wichtigkeit sind. Denn durch Arbeit kann Lohn erhalten werden, mit welchem sodann Unterkunft bezahlt und Nahrungsmittel gekauft werden können. Ein Zugang bei Bildungsmaßnahmen kann für irreguläre Migrantlnnen nur förderlich sein, denn dadurch könnte die deutsche Sprache erlernt werden und ein informeller Austausch in den unterschiedlichsten Bereichen statt­finden. Erkrankt nun eine Person ohne Aufenthaltspapiere zusätzlich noch, ist sie in ihrer allgemeinen Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Die Bereiche Arbeit, Bildung und Gesundheit hängen somit eng aneinander. Ein Zugang zu diesen Lebens­bereichen könnte den Betroffenen weitere Handlungsmöglichkeiten verschaffen und ist deshalb von besonderem Interesse. Neben der Erarbeitung der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeiten von irregulären Migranten in den vorgenannten drei Lebens­bereiche wird das Ziel verfolgt, in diesem konfliktreichen Arbeitsfeld auch die Hand­lungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit aufzuzeigen.

Zur Beantwortung dieser Fragestellung wird nach einem rechtlich Einstieg in die Thematik und die drei Lebensbereiche sowie der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes in Hamburg eine raumtheoretische Brille aufgesetzt. Der Blick auf den Menschen in der Beziehung mit seiner Umwelt wurde in Anlehnung an die internationale Definition von Sozialer Arbeit gewählt, denn die Mensch-Umwelt bzw. Mensch-Raum Beziehung stellt für sie den Ansatzpunkt in ihrem Handeln dar. Der theoretische Teil dieser Arbeit soll es dem Leser möglich machen, auch andere Ak­teure, insbesondere die Soziale Arbeit im ,Raum‘ betrachten zu können.

Mit der raumtheoretischen Brille werden Deutungs- und Handlungsmuster des Ein­zelnen und des Kollektivs betrachtet. Nach einer Ordnung des vielseitigen Raum­begriffes und einer eher diskursübergreifenden Betrachtung des sozialen Raumes, wird der Prozess der Raumaneignung veranschaulicht, denn gerade der Wille einen Raum für sich beanspruchen zu können, sollte nicht unterschätzt werden. Der theo­retische und handlungskonzeptionelle Blick auf die Mensch-Raum Beziehung in einer sich globalisierenden Welt hat auch in der Sozialen Arbeit Einzug gefunden. In den letzten Jahren tritt vermehrt das Konzept der Sozialraumorientierung auf und wird in zunehmenden Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit angewendet, deshalb wird auch diesem Konzept in dieser Arbeit Beachtung geschenkt.

Um bei der Beantwortung der Fragestellung auch einen Praxisbezug herzustellen, wurden persönliche und telefonische Interviews mit einem Betroffenen und Experten aus diesem Arbeitsfeld sowie der Austausch über Email genutzt. Das Informations­material wurde mit dem Blick auf das Forschungsanliegen analysiert und die er­arbeiteten Ergebnisse abschließend ausformuliert.

In dieser Arbeit werden immer wieder Bezüge zur Sozialen Arbeit hergestellt. In dem abschließenden Kapitel wird sie noch einmal explizit betrachtet und der Handlungs­auftrag verdeutlicht.

1. Rechtliche Grundlagen von Personen ohne gültige Aufenthaltsge­nehmigung

Die relevanten Regelungen über die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern in Deutschland sind vor allem in dem Aufent­haltsgesetz (AufenthG) und dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) festgelegt. Ein Mensch hat keine gültige Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, wenn er nach §4Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit §51 AufenthG keinen Aufenthaltstitel, keine formelle Duldung nach § 60a AufenthG oder Gestattung des Aufenthaltes nach § 55 AsylVfG besitzt.

Bürger aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) werden hier nicht hin­zugezählt, da sie sich in Deutschland normalerweise[2] frei bewegen können und keine Ausweisung bei Bekanntwerden des Aufenthaltes bei der Ausländer- oder Zoll­behörde befürchten müssen (vgl. § 50 in Verbindung mit § 58 AufenthG). Jedoch gibt es für EU-Bürger aus den neuen Mitgliedsstaaten noch teilweise Einschränkungen am Arbeitsmarkt (vgl. Europäische Kommision 2011), wobei diese Personen auch ohne eine Arbeitserlaubnis in einem Arbeitsverhältnis stehen könnten und dadurch teilweise ähnliche Verhaltensweisen aufzeigen, wie Personen ohne gültige Aufent­haltsgenehmigung. Das Gleiche gilt für Personen mit gefälschten Ausweispapieren und falscher Identität mit echten Papieren.

Auch Asylbewerber oder Personen mit einer Duldung werden hier nicht hinzugezählt, auch wenn die Abschiebungsdrohung gegen sie nur temporär ausgesetzt ist. Ein illegaler Aufenthalt tritt bei dieser Personengruppe nur bei Nichteinhaltung der Resi­denzpflicht nach den §§ 56 und 85 AsylVfG und §§ 61 und 95 AufenthG auf. Diese betroffenen Personen halten sich zwar legal in Deutschland auf, können aber eben­falls ähnliche Verhaltensweise aufzeigen wie Personen ohne gültige Aufenthalts­genehmigung, zum Beispiel beim Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ohne Arbeits­erlaubnis.

Wichtig zu nennen ist hier die Meldepflicht nach § 87 AufenthG, wonach öffentlichen Stellen unverzüglich die zuständigen Ausländerbehörden informieren sollen, „wenn sie im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer Aufgaben Kenntnis“ (§ 87 AufenthG) vom Fehlen einer aufenthaltsrechtlichen Genehmigung erlangen.

Ein bedeutendes Kennzeichen der Lebenslage von Personen ohne Aufenthalts­papiere ist die fehlende beziehungsweise als unrealistisch wahrgenommene Mög­lichkeit, rechtlich gegenüber Dritten Ansprüche geltend zu machen und durchzu­setzen. Aufgrund dessen sehen sich diese Personen oftmals gezwungen, Situa­tionen hinzunehmen, gegen die sie sich normalerweise wehren würden. „Als zentrale problematische Lebenslagen haben sich Krankheiten und Unfälle, Schwangerschaft, Kindergarten- oder Schulbesuch, Lohnbetrug und fehlende Rechtsberatung über aufenthaltsrechtliche Optionen herausgestellt“ (Vogel/Aßner 2009, 29).

Im Bereich des illegalen Aufenthaltes existiert zudem eine Rechtsgüterkollision, wie beispielsweise zwischen dem Kontrollanspruch des Zuwanderungsrechts und dem Schutzanspruch des Menschenrechts. Es werden dabei bekannte Regeln und Ge­setze auch gegeneinander abgewogen. Das Bundesministerium des Inneren merkt hierzu an, dass der Gesetzgeber aus dem zur Verfügung stehenden Instrumentarium auswählen kann. „Er kann bei der wertenden Entscheidung - neben dem Gesichts­punkt der Einhaltung des Rechts - auch andere Aspekte einfließen lassen“ (Bundes­ministerium des Inneren 2007, 39). Es kann bei einer gleichen Rechtslage somit auch zu unterschiedlichen Praxen und Situationen kommen.

Im Aufenthaltsrecht sind auch die unterschiedlichen Akteure bei der Rechtsanwen­dung zu berücksichtigen. Hierzu zählen die individuelle Rechtsinterpretation der Be­troffenen und die Interpretation der Inhalte der geführten Interaktionen zwischen Menschen ohne Papiere und Menschen mit Papiere, die Anwendung der Gesetze in Organisationen, wie Krankenhäuser, Schulen, Flüchtlingszentren, Ausländerbehörde und Polizei und natürlich die Rechtsprechung durch Gerichte und Anwälte (vgl. Vogel/Aßner 2007, 18f.).

Obwohl sich Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere nach dem AufenthG eigent­lich nicht in Deutschland aufhalten dürften, sie somit offiziell gar nicht existieren sollen, haben sie doch in den unterschiedlichsten Lebensbereichen Rechte, auf die sie sich berufen könnten. In den folgenden drei Abschnitten wird auf die Bereiche Arbeit, Bildung und Gesundheit genauer eingegangen.

1.1 Rechte im Bereich Arbeit

Jeder Mensch verrichtet jeden Tag unterschiedliche Arten von Arbeiten, dies können unter anderem gewöhnliche Hausarbeiten, Kindererziehung oder ehrenamtliche Tätigkeiten sein. In dieser Arbeit wird der Begriff Arbeit nur im Sinne einer Tätigkeit aufgrund eines bestehenden Arbeitsverhältnisses betrachtet, selbstständige Tätig­keiten werden hier nicht näher berücksichtigt. Zu einem Arbeitsverhältnis gehören immer ein/e Arbeitgeberinnen, ein/e Arbeitnehmerinnen und ein privatrechtlicher Vertrag zwischen ihnen. Ein Arbeitsverhältnis kann aufgrund eines Dienstvertrages nach § 611 des Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) oder eines Werkvertrages nach § 631 BGB bestehen. Der feine Unterschied beider Verträge liegt darin, dass durch einen Werkvertrag der durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg seitens des Arbeitnehmers geschuldet und beim Dienstvertrag nur versprochen wird. In beiden Verträgen ist der Arbeitgeber immer dazu verpflichtet, die vereinbarte Ver­gütung zu entrichten (vgl. §§ 611 Absatz 1, 631 Abs. 1 BGB). Ein privatrechtlicher Vertrag ist wirksam, wenn beide Vertragspartner uneingeschränkt geschäftsfähig sind, also zum einen volljährig und zum anderen eine freie Willenserklärung ab­gegeben haben (vgl. § 104 BGB). Dementsprechend muss kein schriftlicher Vertrag vorliegen. Verrichtet nun der Arbeitnehmer die (mündlich) vereinbarte Tätigkeit, so ist auch der Arbeitgeber verpflichtet, ihn dafür angemessen zu entlohnen und zwar un­abhängig vom Aufenthaltsstatus. Die fehlende Arbeitserlaubnis von Personen ohne Aufenthaltspapiere führt in Deutschland nach überwiegender Auffassung nicht zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrages, sondern eher zu einem Beschäftigungsverbot für Arbeitgeber. Besteht also ein (faktischer) Arbeitsvertrag, so sollten die Leistungen nach den getroffenen Vereinbarungen oder den gesetzlichen Regelungen ab­gewickelt werden (vgl. Mitrovic 2009, 214). Wenn eine Vergütung nicht ausdrücklich vereinbart wurde, dann soll sie sich nach der in der jeweiligen Branche üblichen Ver­gütung richten (vgl. § 612 Absatz 2 BGB). Im Falle von Arbeitsausbeutung kann gegen den Arbeitgeber wegen eines sittenwidrigen Lohnwuchers vorgegangen werden (vgl. § 138 BGB). Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22.04.2009 ist es sittenwidrig, wenn der Lohn nicht einmal zwei Drittel des üblicher­weise gezahlten Tariflohns erreicht (vgl. Bundesarbeitsgericht 2009, Aktenzeichen 5 AZR 436/08). Der Arbeitnehmer muss jedoch durch Unterlagen oder Zeugen­aussagen nachweisen können, wie viele Stunden er für den Arbeitgeber tätig war. Ebenso unabhängig vom Aufenthaltsstatus sind die gesetzlichen Regelungen bezüg­lich des Erholungsurlaubes gemäß § 3 des Bundesurlaubsgesetz (BurlG), die Lohn­fortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) und die Unfallversicherung des Arbeitsnehmers nach §2 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) (vgl. Mitrovic 2009, 216f.).

Nicht nur auf internationaler Ebene durch die Ratifizierung der Kernarbeitsnormen der International Labour Organisation[3] (ILO) von der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch als Mitgliedsstaat der EU sind getroffene Richtlinien normsetzend für die Rechtsprechung im Bereich Arbeits- und Sozialrecht. Das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben am 18.06.2009 die Richtlinie 200/52/EG erlassen, in der Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Dritt­staatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, festgelegt sind. Die betreffenden Arbeitgeber sollen hiernach einerseits schärfer sanktioniert und andererseits aber auch verpflichtet werden, ausstehenden Arbeitslohn inklusive Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen (vgl. EU 2009). Der Europäische Gewerkschaftsbund, European Trade Union Confederation (ETUC), bezeichnet die EU-Richtline mit der Pressemitteilung vom 04.02.2009 als kontraproduktiv. Die zu­ständige Sekretärin aus Brüssel, C. Passchier, merkt hierzu an: ,,It will drive vulnerable migrant workers further underground and not provide them with legal bridges out of illegality” (vgl. ETUC 2009).

Die Europäische Kommission bat auch den Europäischen Wirtschafts- und Sozial­ausschuss (EWSA) um Stellungnahme zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik für Europa. Der EWSA erachtet es mit dem Schreiben vom 10.12.2008 für not­wendig, die illegale Beschäftigung zu bekämpfen. Dies soll nicht nur durch die in der Richtlinie vorgesehenen Sanktionen gegen Arbeitgeber geschehen, sondern es sollen auch Anreize und politische Maßnahmen zur Regularisierung und Legali­sierung von Arbeitsverhältnissen von Migranten geschaffen werden (vgl. EWSA 2011).

FürArbeitnehmerInnen ohne Papiere gestaltet sich die Durchsetzung dieses Rechtes jedoch durchaus schwierig, da sie mit ungewollten Konsequenzen rechnen müssen. Sie sehen objektiv eine sehr hohe Abhängigkeit zu den ArbeitgeberInnen, denn auch das Aufenthaltsrecht, sowie die aktuelle Politik verfolgen den illegalen Aufenthalt mit Ausweisung und Abschiebung. Die ArbeitnehmerInnen empfinden ihre Situation zudem als einen insgesamt rechtslosen Zustand, der sich auf alle Lebensbereiche erstreckt (vgl. Mitrovic, 214f.).

Für Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung ist es nicht möglich, einen le­galen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erlangen. Auch können sie nicht auf Sozialhilfe oder dergleichen zurückgreifen. Die Zugänge zum informellen Arbeits­markt sind für die Betroffenen überlebenswichtig, nicht nur für die Sicherung der eigenen Existenz in Deutschland, sondern oft auch, um Familienmitglieder in den Heimatländern zu unterstützen (vgl. ebd., 208f.).

1.2 Rechte im Bereich Bildung

Es gibt keine einheitliche Definition über den Bildungsbegriff. Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) definiert Bildung beispielsweise als die Anregung aller menschlichen Kräfte, welche sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer selbst­bestimmten Individualität und Persönlichkeit führen sollen (vgl. Bax 2013). Ein Dis­kurs zu dem Bildungsbegriff würde den Umfang dieser Arbeit sprengen und wird an dieser Stelle nicht weiter aufgenommen. Für irreguläre Migranten gestaltet sich in erster Linie der Zugang zu Bildungsinstitutionen problematisch und wird dem­entsprechend fokussiert.

Das Recht auf Bildung ist in zahlreichen Gesetzen verankert. Auf internationaler Ebene wurde bereits im Jahr 1948 nach Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinigten Nationen das Recht auf Bildung festgelegt. Weiter­hin findet sich das Recht auf Bildung unter anderem im Artikel 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 oder im Artikel 28 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (kurz UN-Kinderrechtskonvention) von 1989 wieder (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission e.V. 2012). Im europäischen Recht ist unter anderem das Recht auf Bildung in Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheit sowie in Artikel 14 der Charter der Grundrechte der Europäischen Union fest verankert. Zusammen­gefasst regelt das Recht auf Bildung den freien Zugang zu Bildung, die Chancen­gleichheit durch Bildung und das Schulrecht (vgl. Bax 2012).

Im deutschen Grundgesetz ist das Recht auf Bildung nicht explizit ausformuliert. Trotzdem beinhaltet sowohl das Grundprinzip der Menschenwürde, als auch das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung ein Verbot der Diskriminierung beim Er­werb von Bildung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Internatio­nale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (kurz: UN-Sozialpakt) wurden von Deutschland ratifiziert und sind somit bindend. Die Bildungspolitik im Bundesgebiet ist generell Bundesländersache, sodass auf Länderebene weitere un­terschiedliche Regelungen festgelegt sind (vgl. ebd.). Mit dem Schreiben des da­maligen Bundesinnenminister, Wolfgang Schäuble, vom 14.05.2009 erklärt er seine Offenheit gegenüber der Überlegung, das öffentliche Schulen von der aufenthalts­rechtlichen Übermittlungspflicht nach § 87 Absatz 2 AufenthG auszunehmen sind, aber verwies bei der Ausgestaltung der jeweiligen Landesschulgesetze auf die Ho­heiten der einzelnen Bundesländer (vgl. Anhang 1). Einen Monat später stellte die Hamburger Schulsenatorin, Christa Goetsch, mit dem ebenfalls im Anhang bei­gefügtem Schreiben an alle Schuleiterlnnen in Hamburg klar, dass auch Kinder von Eltern ohne gültige Aufenthaltspapiere der Schulpflicht unterliegen und diese Kinder auch ohne eine Meldebestätigung angenommen werden sollen. Wenn ein illegaler Aufenthalt eines Schülers bekannt wird, soll sodann auch keine Meldung an die Ausländerbehörde erfolgen (vgl. Anhang 2).

Diese positive Entwicklung im Bildungsbereich verbirgt für die Betroffenen nach wie vor ein Restrisiko. Auch wenn die Schule einen fehlenden Aufenthaltsstatus den Be­hörden nicht mehr melden muss, könnte sie es trotzdem noch tun. Woraus resultiert, dass nicht nur der Schüler bzw. die Schülerin, sondern auch die Eltern und ge­gebenenfalls weitere Familienmitglieder zur Ausreise nach § 50 AufenthG verpflichtet werden könnten. ln dem § 87 Absatz 2 AufenthG ist jedoch nur eine Übermittlungs­pflicht und nicht eine Ermittlungspflicht ausdrücklich benannt. Somit soll nur bei Kenntnis, die im Zusammenhang mit den dienstlichen Abläufen und Erfordernissen erlangt wird, die Ausländerbehörde informiert werden und nicht gleich bei bloßen Verdachtsmomenten oder Indizienhinweisen (vgl. Mitrovic2009, 183).

Mit dem im Jahr 2006 eingeführten zentralen Schülerregister wurden alle Schul- leiterlnnen verpflichtet, lückenlos alle Schüler mit Meldeadresse und Aufenthalts­status an die Schulbehörde zu melden. Auf die Daten des Schülerzentralregisters hat die Polizei direkten Zugriff. Diese Tatsache führt bei den Betroffenen zu großen Un­sicherheiten, mit der Folge, dass aus Angst entdeckt zu werden, das Recht auf Bil­dung nicht wahrgenommen und gleichzeitig auch gegen die Schulpflicht des Kindes verstoßen wird (vgl. Mitrovic2009, 186).

Auch im Bereich der Kindertagesstätten in Hamburg sind in der Regel bei der An­meldung eine Kopie der Geburtsurkunde des Kindes und eine Kopie des Personal­ausweises eines Elternteils vorzulegen. Bei einem Betreuungsbedarf von mehr als fünf Stunden muss zusätzlich eine Kopie des Arbeitsvertrages oder eine Be­scheinigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs eingereicht werden. Zur Be­rechnung der Elternbeiträge ist die schriftliche Vorlage der letzten drei Einkommens­nachweise erforderlich (vgl. Hamburg 2012). Die Eltern der papierlosen Kinder scheitern an dieser Stelle, da sie nicht angemeldet sind, keinen Arbeitsvertrag, keine Verdienstbescheinigung und auch nicht immer die Geburtsurkunde des Kindes vor­weisen können.

In Hamburg kann für den Besuch eines Kindergartens ein Kita-Gutschein als finan­zielle Unterstützung bei dem zuständigen Jugendamt beantragt werden. Aber gerade die Kontaktaufnahme zu öffentlichen Ämtern wird von irregulären Migranten wohl eher gemieden, da sie nicht entdeckt und sodann abgeschoben zu werden wollen. Wenn ein Kind ohne Kita-Gutschein bzw. ohne Bewilligung betreut werden soll, müssen die gesamten Kosten von den Eltern selbst getragen werden. Diese liegen weit über den Elternbeiträgen und belaufen sich in Hamburg zum Beispiel für Kinder unter drei Jahre bei einer achtstündigen Betreuung auf ca. 1.050 € im Monat (vgl. FHH, Behörde fürArbeit, Soziales, Familie und Integration 2011).

Von den GRÜNEN wurde in der 130. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29.09.2011 ein Gesetzesentwurf (Drucksache 17/6167) vorgestellt, in dem die Meldepflicht von öffentlichen Stellen nach § 87 Absatz 2 AufenthG sich zukünftig nur noch auf staatliche Einrichtungen beschränken soll. Die GRÜNEN fordern hiermit die Einschränkung der Beihilfe als Straftatbestand, da die humanitär motivierte Hilfe für diese Menschen in Deutschland nicht unter Strafe gestellt werden dürfe (vgl. Fraktion Bündnis 90/Grünen 2011). Der Bundestag reagierte darauf mit einem Überweisungs­beschluss zum Innenausschuss und Rechtsausschuss weiterer nationaler Ämter[4] zur weiteren Bearbeitung (vgl. Bundestag 2011). Eine Auswirkung dieses Beschlusses ist beispielsweise aus dem als Anlage 3 beigefügten Schreiben der Hamburger Be­hörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration vom 20.03.2012 zu ersehen, welches im folgenden Kapitel noch einmal zur Sprache kommt.

1.3 Rechte im Bereich Gesundheit

Das Recht auf Gesundheit ist genauso wie das Recht auf Bildung ein Menschen­recht, welches Deutschland in mehreren Übereinkommen anerkannt hat. Dieses Recht wird im Wesentlichen durch den in Kapitel 1.2 genannten UN-Sozialpakt ge­schützt und lautet nach Artikel 12 Absatz 1 wie folgt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn und sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an“ (BBl 1991 I 189 2012). Hierzu gehört nach Artikel 12 Absatz 2d auch das Recht auf medizinische Versorgung für jeden, also auch für Per­sonen ohne legalen Aufenthaltsstatus (vgl. ebd.).

In Deutschland könnten Personen ohne Aufenthaltspapiere in einem Krankheitsfall eventuelle Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) be­antragen, welches heißt, dass sie ihre Identität und ihren Status bekannt geben müssten. Diese Daten werden an die Ausländerbehörde weitergegeben und ihnen würde sodann die Abschiebung angedroht werden. Aus diesem Grund wird diese Möglichkeit einer medizinischen Versorgung erst gar nicht in Anspruch genommen (vgl. Groß 2005, 9f.). Es könnte im Fall einer schweren Erkrankung auch eine Dul­dung aus humanitären Gründen nach §§ 53 Absatz 3, 54 Ausländergesetz (AuslG) unter Vorlage eines ärztlichen Attests erreicht werden. Darüber hinaus könnten sich schwangere Frauen ohne Papiere in Deutschland innerhalb der gesetzlichen Mutter­schutzfrist nach § 53 AuslG legalisieren lassen und Leistungen nach dem AsylbLG erhalten. Die Mutter und das Kind sind somit der Ausländerbehörde bekannt und nach Ablauf des Mutterschutzes ausreisepflichtig. Daraus folgt, dass in Deutschland die Pflicht zur Meldung im Fall der Kostenerstattungen für Nicht-Notfälle mit dem Risiko der Meldung an die Einwanderungsbehörden in der Praxis dazu führt, dass die Notfallversorgung die einzige kostenlose medizinische Versorgung von Schwan­geren und Müttern ist (vgl. FRA2012, 27).

Praktisch gesehen liegt hier vor allem das Problem bei der Übernahme der ent­stehenden Kosten im Krankheitsfall einer Person ohne Aufenthaltspapiere, da sie sich nicht im deutschen Krankenversicherungssystem befindet. Der ethische Grund­satz des .hippokratischen Eides“ bzw. der Genfer Deklaration des Weltärztebundes von 1947 als moderne Fassung des hippokratischen Eides kollidiert mit dem ökono­mischen Druck, der auf den Krankenhäusern und den Ärzten lastet. Mediziner sind zur ärztlichen Hilfe für jeden Menschen und zur Schweigepflicht verpflichtet, obwohl die entstehenden Kosten nicht gedeckt werden können (vgl. Hans-Neuffer-Stiftung 2008, 3).

Nach § 88 AufenthG soll die ärztliche Schweigepflicht die Meldepflicht nach § 87 AufenthG dominieren, egal ob der Arzt nun privat oder öffentlich tätig ist (vgl. Mitrovic 2009, 194ff.). Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthalts­gesetz vom 27.07.2009 wurde zudem auch die sogenannte .verlängerte Schweige­pflicht“ bekräftigt. Demnach kann die ärztliche Schweigepflicht auch an die kosten­abrechnenden öffentlichen Stellen, wie das Sozialamt weitergereicht werden. Mit dieser Verwaltungsvorschrift wird auch klargestellt, dass wenn man in der Ausübung seines Berufes oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit Menschen ohne Papiere hilft und berät, man sich nicht automatisch schuldig bei der Beihilfe eines unerlaubten Aufent­haltes nach § 96 AuslG macht (vgl. Bundesministerium des Inneren 2009).

In Hamburg wurde aufgrund eines Beschlusses der Bürgerschaft vom 15.09.2010 eine einmalige Summe von 500.000,- Euro bereitgestellt. Daraufhin wurde Anfang Februar 2012 die .Clearingstelle Gesundheitsversorgung Ausländer“ eingerichtet und der Notfallfond als Zuwendung für eine medizinische Basisversorgung für die nächs­ten drei Jahre zur Verfügung gestellt (vgl. Anlage 3).

Da die medizinische Versorgung für Menschen ohne Papiere sich in einer rechtlichen Grauzone befindet, arbeiten vorwiegend ehrenamtliche Organisationen wie zum Bei­spiel das Medibüro oder die Malteser Migranten Medizin (MMM) auf Spendenbasis. Die Bedürftigen werden an rund 160 verschiedene Mediziner vermittelt, die bereit sind, nicht versicherte Kranke und werdende Mütter unentgeltlich zu behandeln bzw. zu versorgen (vgl. Taz 2012). Wie hoch der ärztliche Behandlungsbedarf in diesem Bereich wirklich ist, lässt sich schwer in Zahlen nennen, da diese Unterstützungs­leistung nicht immer und von jedem in Anspruch genommen wird. Zu den vorgenannten drei Lebensbereichen wird sodann im Forschungsteil dieser Arbeit ein praktischer Bezug genommen.

2. Forschungsstand in Hamburg

Den aktuellen Forschungsstand in Hamburg über die Situation von Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung liefert die Studie des Diakonischen Werkes Hamburg aus dem Jahr 2009 „Leben ohne Papiere. Eine empirische Studie zur Lebenssituation von Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere in Hamburg“.

Zur Schätzung der Zahl der Menschen ohne gültige Papiere in Hamburg bedienen sich die Mitarbeiter dieser Studie der Logicom-Methode, durch welche anhand von Kombinationen aus unterschiedlichen Quellen und Auswertungsansätzen eine Schätzung von einer Ober- und Untergrenze angestrebt wird (vgl. Vogel/Aßner 2009, 54). Nach den Schätzungen der Studie beläuft sich die „Gesamtzahl der Menschen, die entweder keinen Aufenthaltsstatus haben oder bei Aufdeckung einer Erwerbs­tätigkeit von Aufschiebung bedroht sind [...] zwischen 6.000 und 22.000 Menschen“ in Hamburg (ebd., 139 f.). Die Mehrheit der in Deutschland lebenden papierlosen Personen soll im erwerbsfähigen Alter sein. Die Studie deutet auf ein ausgeglichenes Verhältnis der Geschlechter hin. Hinzu kommen ältere Menschen und eine ge­schätzte Anzahl von 240 bis 2.400 Kindern unter 16 Jahren (vgl. ebd., 140).

Die Spannweite ist zwar nach wie vor groß, jedoch schon enger als die zuvor in der Presse genannten Zahlen für Hamburg von 10.000 bis 100.000 Menschen (vgl. n-tv 2008). Im Jahr 2003 wurden bei Verwendung derselben Multiplikatoren noch 19.000 bis 65.000 Menschen ohne Papiere geschätzt. Es lässt sich somit einen rückläufigen Trend behaupten. Ein wesentlicher Grund für den Rückgang könnte der EU-Beitritt osteuropäischer Länder sein, wodurch eine erhebliche Anzahl von Menschen aufent­haltsrechtlich legalisiert wurde. Zu beachten ist hier jedoch, dass sich diese Menschen zwar legal in Deutschland aufhalten, aber auch trotz fehlender Arbeits­erlaubnis in einem Arbeitsverhältnis stehen können. Die Anzahl von Menschen ohne Papiere sollte nicht unterschätzt werden, denn die Zahlen der Studie bleiben mit Un­sicherheiten behaftete Schätzungen. Durch weitere Untersuchungen könnte die .Dunkelziffer“ zwar weiter eingegrenzt werden, jedoch wird sie sich wohl nie ab­schließend beziffern lassen. In der Studie wird vermutet, dass sich die Betroffenen Unterstützungen vorwiegend in ethnischen Netzwerken suchen und Organisationen, die Unterstützungsleistungen für Menschen ohne Aufenthaltsstatus anbieten, eher seltener mit ihnen in Kontakt geraten (vgl. Vogel/Aßner 2009, 140).

Nach den nun bisher gemachten Ausführungen könnte der Eindruck entstehen, dass die Arbeit mit Personen ohne einen gültigen Aufenthaltsstatus eher einem politischen und auch rechtlichen Charakter entspricht und weniger einem sozialarbeiterischen. Darauf wird im Laufe dieserArbeit erneut eingegangen.

Die Situation, in denen sich die Betroffenen konkret befinden, stellt sich zum Beispiel aufgrund von Alter, Geschlecht oder Ethnie sehr unterschiedlich dar, wobei sie alle die im Gesetz verankerten rechtlichen Einschränkungen teilen. Aber auch diese Ein- Schränkungen haben sie bisher nicht davon abgehalten, sich in Deutschland auf­halten zu wollen, und werden es wohl auch in Zukunft nicht tun. Eine der wichtigsten Motivationen von Menschen, die aus ärmeren Ländern in Industrieländer wie Deutschland migrieren, sieht Mitrovic vor allem in der Erwartung hier bessere Ar- beits- und Lebensbedingungen vorzufinden sowie bessere Verdienstmöglichkeiten zu erhalten (vgl. Mitrovic 2009, 208).

„Migranten, die von Ländern mit niedrigeren Einkommen in Länder mit höhe­rem Einkommen abwandern, können dort oft Löhne erhalten, die 20 bis 30 mal höher liegen als die, die sie in ihrem Heimatland erhalten können. Auch wenn die Lebenshaltungskosten in den Zielländern in der Regel weit höher sind, können dennoch die meisten Zuwanderer genug verdienen, um ihren Lebens­unterhalt zu sichern und gleichzeitig Rücküberweisungen nach Hause an Mit­glieder ihres Haushalts oder ihrer Gemeinschaft zu schicken“ (GCIM 2005, 12).

Die Lebens- und Problemlage von irregulären Migranten wird in dieser Studie so ein­geschätzt, dass sie teilweise nach Anfangsschwierigkeiten ein relativ normales Leben in unserer Gesellschaft führen, welches gekennzeichnet ist von viel Arbeit und wenig Freizeit. Für viele ist die Situation jedoch weitgehend problematisch, denn der Lebensunterhalt sowie elementare Bedürfnisse können nicht gesichert und befriedigt werden. Ist die Vorstellung von einer Rückkehr ins Herkunftsland nun zusätzlich mit Ängsten verbunden, steigt so auch die psychische Belastung der Betroffenen (vgl. Vogel/Aßner 2009, 26).

Um ein theoretisches Verständnis von diesen Lebens- und Problemlagen erhalten zu können, wird eine räumtheoretische Perspektive eingenommen, in der der Mensch in Beziehung mit seiner Umwelt gesehen wird. Zur näheren Auseinandersetzung zu dem vieldeutigen und verwirrungsstiftenden Raumbegriff wird dieser zunächst ge­ordnet, denn es gibt nicht nur den einen allgemeinen Raum, sondern eher viele nebeneinander existierende Räume in unterschiedlichen Formen, wie beispielsweise den Erlebnisraum oder das Quartier und vor allem der soziale Raum.

3. Raumvorstellung in der Sozialen Arbeit

Darüber, was einen Raum eigentlich ausmacht, wurde bereits in der griechischen Antike nachgedacht. Beispielsweise stellte sich der Philosoph Platon (428/427 v. Chr. - 348/347 v. Chr.) die Frage, was dem menschlichen Sein einen Wirkungsort ge­währt. Auch der Philosoph Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.) interessierte sich dafür, wie die Bewegung menschlicher Körper begrenzt wird und der Philosoph und Naturforscher Theophrast (371 v. Chr. - 287 v. Chr.) ging der Frage auf den Grund, wie die Beziehungen zwischen Körpern geordnet werden (vgl. Kessl/Reutlinger2007, 20). Auch in unserer Zeit werden in Disziplinen wie der Physik, Mathematik, Philoso­phie, Psychologie, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie und auch in der Sozialen Arbeit über die Beschaffenheit und Wirkung des Raumes diskutiert (vgl. Löw 2001, 17ff.; Kessl/Reutlinger 2007, 7).

Der Raum und die raumbezogenen Praktiken in der Sozialen Arbeit werden im We­sentlichen von drei Raumvorstellungen geprägt, welche im nächsten Kapitel erläutern werden. Von besonderer Relevanz ist in Anlehnung an die relationale Raumvor­stellung der soziale Raum. Der Wunsch sich einen Handlungsraum zu erschließen und sodann Handlungsmöglichkeiten erweitern zu können, ist mit ungewohnten Her­ausforderungen verbunden, die von einfachsten Ausprägungen bis hin zu komplexen Zusammenhängen reichen können. Nach einer Veranschaulichung des .Räumlichen“ wird sich mit dem in der Sozialen Arbeit zunehmend verbreiteten Konzept der Sozial­raumorientierung und ihrer Anwendung auseinandergesetzt.

3.1 Die Entwicklung der Raumvorstellungen

Die absolutistische Raumvorstellung nimmt primär Bezug auf den Naturwissen­schaftler und Philosoph Isaac Newton (1643 - 1727). Er geht davon aus, dass der Raum ein fixiertes Ordnungssystem ist, dass nicht von den darin enthaltenen Kör­pern abhängig ist. „Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich“ (Newton 1687, zit. nach Löw 2001, 25). Die absolutistische Raumvorstellung sieht Raum demnach als eine schon immer vorhandene eigene Identität jenseits von sozi­alen Prozessen und handelnden Subjekten, welcher sich auch in Form eines Behäl­ters oder Containers vorgestellt werden kann (vgl. Fritsche/Lingg/Reutlinger 2010, 12). Die Soziale Arbeit ist hier beispielsweise im Bereich des Gemeinwesens oder Gebietsmanagement aktiv, indem sie soziale Brennpunkte, Entwicklungsgebiete oder Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf festlegt. Eine Beschränkung auf eine absolute Raumvorstellung entspricht jedoch nicht der Logik sozialarbeiterischen Handelns, da die Beziehungsstrukturen der Bewohnerinnen und die jeweilige Be­deutung des Gebietes für den Einzelnen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Für Sozialarbeiter stellen solche Gebiete eher den Ausgangs- und Endpunkt für ihr Han­deln dar. Eine übermäßige Konzentration auf die ebengenannte Raumvorstellung, kann Gefahr laufen, das Soziale lediglich als Container erscheinen zu lassen, wo­durch wichtige Ressourcen bezüglich der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten unberücksichtigt bleiben würden (vgl. Werlen 2005, 15ff.). Im Bezug auf die irreguläre Migration müsste die Bundesrepublik den absoluten Raum darstellen. Wie aus der in Kapitel 2 genannten Studie und auch aus den geführten Interviews hervorgeht, sollen sich irreguläre Migranten zwar vermehrt in Metropolen aufhalten, da sie es aber be­vorzugen, nicht in die Öffentlichkeit treten zu wollen, ist es für die Soziale Arbeit in diesem Sinne schwierig konkrete Ausgangs- und Endpunkte für ihr Angebot an Unterstützungsleistungen auszumachen, denn die Betroffenen haben im ganzen Bundesgebiet keinen gültigen Aufenthaltsstatus. Betrachtet man nun einzelne Lebensbereiche wie die Bildung, so wurde bereits in Kapitel 1 deutlich gemacht, dass dieser Bereich in Deutschland Ländersache ist und somit bundesweit unterschiedlich gehandhabt wird. Mit dem Ziel Zugänge zu Bildungsmöglichkeiten für die Zielgruppe dieser Arbeit zu erreichen, könnte man sich somit auch auf ein Bundesland bezie­hen. In diesem Fall wäre der Stadtstaat Hamburg mit seinen Regelungen im Bil­dungsbereich ein Ansatzpunkt der Sozialen Arbeit.

Im Unterschied zu Newton geht Gottfried Wilhelm Leibniz (1618 - 1648) davon aus, dass Räume eher Formen ideeller Ordnungen wiederspiegeln, die erst vom Men­schen geschaffen werden müssen. Leibnitz betonte mehrmals, dass er „den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist“ (Leibnitz 1715/1716, zit. nach Löw 2001, 27). Diese relativistische Raumvorstellung sieht Raum als ein Ergebnis von Beziehungen zwischen Körpern. Er ist nicht absolut be­stimmbar, sondern vielmehr abhängig von dem jeweiligen Blickpunkt des Betrach­ters, wodurch sich erst seine Verortung bestimmen lässt (vgl. Kessl/Reutlinger 2007, 21). Durch die Vermeidung einer festen Verbindung zwischen der Erdoberfläche und Handlungen wird es möglich, auch mehrere Räume an einem Ort zu denken. Hierbei bleibt jedoch der Blick auf die Ressourcenverteilung, die Machtverhältnisse und die räumlichen Strukturen unberücksichtigt.

[...]


[1] Im ersten Halbjahr 2012 sind insgesamt ca. 501.000 Personen zugezogen.

[2] Beachte Möglichkeit der Ausweisung von EU-Bürgern aus Deutschland aufgrund besonderer Bedingungen wie strafbare Handlungen gemäß §§ 53, 54 AufenthG.

[3] Die vier Grundprinzipien sind im Einzelnen, die Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlung, die Beseitigung derZwangsarbeit, die Abschaffung der Kinderarbeit und das Diskriminierungsverbot in Beschäftigung und Beruf (vgl. ILO 2012)

[4] Im Einzelnen die Ämterfür Arbeit und Soziales, Gesundheit, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Die Suche nach Raum in einer Grauzone
Untertitel
Eine raumtheoretische Perspektive auf die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeiten von irregulären Migranten in den Bereichen Arbeit, Bildung und Gesundheit in Hamburg
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
72
Katalognummer
V262069
ISBN (eBook)
9783656667520
ISBN (Buch)
9783656667483
Dateigröße
687 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anhang ist nicht im Lieferumfang enthalten
Schlagworte
Illegalität, irreguläre Migration, Sozialer Raum, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Grauzone, Hamburg, Handlungsfähigkeiten, Gestaltungsfähigkeiten, Suche nach Raum
Arbeit zitieren
Almut Hoffmann (Autor:in), 2013, Die Suche nach Raum in einer Grauzone, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262069

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Suche nach Raum in einer Grauzone



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden