Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke. Erläuterungen zu "Die Physiker" und "Der Besuch der alten Dame"


Livre Spécialisé, 2013

149 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie.
Einleitung
Dürrenmatts Poetik der Komödie
Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie.
Komik – Groteske – Tragik: ein gespannter Bogen
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis

Friedrich Dürrenmatts Physiker
Vorwort
„Die Physiker“ im Blickwinkel der Dramentheorie
„Die Physiker“ – Ein Deutungsversuch
Ausblick
Literaturverzeichnis

Die Figur Claire Zachanassian in Friedrich Dürrenmatts tragischer Komödie „Der Besuch der alten Dame“ – Unter Berücksichtigung des Grotesken
Einleitung
„Der Besuch der alten Dame“ – Hintergründe
Claire Zachanassian – Das Groteske in persona ?
Claire Zachanassian – Personendarstellung
Fazit
Literaturverzeichnis

Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie.

Friedrich Dürrenmatts Poetik der Komödie dargestellt an den Dramen „Romulus der Große“, „Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“, „Der Meteor“ und „Dichterdämmerung“

Von Zurbriggen Eveline

Einleitung

Jan Matthison beklagt sich in Friedrich Dürrenmatts Wiedertäufer-Drama über die entwürdigende Art, mit der die Sache der Täufer dargestellt werde, und erklärt erbost, dass „der Schreiber dieser zweifelhaften und in historischer Hinsicht geradezu frechen Parodie des Täufertums nichts anderes ist als ein im weitesten Sinne entwurzelter Protestant, behaftet mit der Beule des Zweifels, misstrauisch gegen den Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren“[1], und Uebelohe, einer Gestalt aus „Die Ehe des Herrn Mississippi“, zufolge ist Dürrenmatt ein „verlorener Phantast“, „ein Liebhaber grausamer Fabeln und nichtsnutziger Lustspiele“, der Schauspieler und Publikum „heimtückisch“ in eine Handlung „hineingelistet“ habe, bei der es nicht sicher sei, „ob er sich planlos von Einfall zu Einfall treiben liess, oder ob ein geheimer Plan ihn leitete.“[2]

Friedrich Dürrenmatt, Autor und Ziel dieser zwei seiner Figuren in den Mund gelegten ironischen Selbstbetrachtung, ist zweifelsohne ein moderner Klassiker. Seine Werke, die Romane nicht weniger als die Dramen, gehören längst zum Bildungsfundus unserer Zeit, sie sind Teil des Bücherkanons in den Schulen und erfreuen sich nicht nur weltweiter Aufführungen, sondern haben mittlerweile auch in der Filmgeschichte ihren Platz. Erinnert sei hier etwa an den mit Heinz Rühmann unter dem Titel „Es geschah am hellichten Tag“ verfilmten Roman „Das Versprechen“.

Ganz offensichtlich treffen Dürrenmatts Werke auch heute noch den Nerv der Zeit. Themen wie die atomare Bedrohung oder Kindsmisshandlungen sind in aller Munde und verleihen dem Werk Dürrenmatts eine fast schon gespenstische Aktualität. Dies freilich sollte nicht erstaunen, war er doch ein Schriftsteller – als Dichter wollte er nie bezeichnet werden – der sich mit den brennenden Fragen seiner und unserer Zeit intensiv auseinandergesetzt hat und dieser Zeit in seinem Werk Gestalt gegeben hat. So impliziert die Beschäftigung mit Dürrenmatt per se auch das Herangehen an die drängenden Probleme der Gegenwart.

Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, inwiefern und wie Friedrich Dürrenmatt seine aus der Auseinandersetzung mit der Welt erwachsene Poetik der Komödie in seinen Dramen „Romulus der Große“, „Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“, „Der Meteor“ und „Dichterdämmerung“ umgesetzt hat.

Dürrenmatts Poetik der Komödie

Dürrenmatts literaturtheoretische Ausführungen stehen in engem Zusammenhang mit seinem persönlichen Weltbild. Es wird deshalb zum besseren Verständnis notwendig sein, zunächst seine Ansichten über unsere Welt zu reflektieren, um anschließend die Konsequenzen für Dürrenmatts Literatur – in Theorie und Praxis – ziehen zu können. Dabei gilt es zu beachten, dass diese drei Bereiche (Weltbild, Literaturtheorie und literarische Praxis) einander in einem sehr komplexen Wechselverhältnis immer wieder gegenseitig beeinflusst haben.

Dürrenmatts Weltbild

In seinem 1954/55 gehaltenen Vortrag „Theaterprobleme“ charakterisiert Dürrenmatt unsere moderne Welt als ein aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen, der Technisierung, der Medien und anonymen Verwaltungsapparate unpersönlich und unwirklich gewordenes Chaos. Der heutige Staat sei „unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden.“[3] Im Gegensatz etwa zur Zeit Schillers fehlen „die echten Repräsentanten, und die tragischen Helden sind ohne Namen.“[4] Die Welt ist voller Tragödien, „die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, dass sie selber nur noch zufällige, äussere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, ...“.[5]

Als besonders gravierend empfindet Dürrenmatt die Unabsehbarkeit dieser ständigen Machtpotenzierung und der Machtmittel selber: „Die Atombombe kann man nicht mehr darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst als eine Schöpfung des Menschen, weil sie selbst eine Schöpfung des Menschen ist. Zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln, bleiben leer.“[6] Die Moderne lasse sich somit weit besser mit einem Kanzlisten oder einem Polizisten wiedergeben als mit einem Bundesrat oder Bundeskanzler, denn „die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone.“[7]

Um die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen zu veranschaulichen, benutzt Dürrenmatt oft das Motiv des Labyrinths. Sein Vater hatte ihm schon als Kind die Geschichte des im Labyrinth umherirrenden Minotaurus erzählt, die ihn umso mehr faszinierte, als er selbst die ländliche Umgebung Konolfingens und später die Stadt Bern als labyrinthisch empfand: „Mein Leben begann in einer gespenstischen Idylle, und diese Idylle empfand ich als labyrinthisch.“[8] Die daraus resultierende Angst gehört sicherlich zu den primären Erfahrungen des Autors und hat wohl auch zum Teil seine späteren Pläne, über Kierkegaard zu promovieren, motiviert.

Die Welt steht für Dürrenmatt also als ein „Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muss, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.“[9] Dürrenmatt setzt dieser fragwürdigen weil fragwürdigen realen Welt seine Gedankenwelt entgegen. Seine Art, dieses chaotische Labyrinth zu bewältigen, ist das Schreiben.

Aufgabe und Grenzen des Schriftstellers

Dürrenmatt bekennt in seiner Betrachtung „Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit“ freimütig, dass er es nicht liebe, vom Sinn der Dichtung zu reden. Er schreibe, weil er den Trieb dazu habe und weil er es liebe, Geschichten zu erzählen, „ohne mich bemüßigt zu fühlen, bei der Auflösung der Welträtsel dabei zu sein.“[10] Dies scheint ein krasser Widerspruch zum oben Gesagten zu sein, ist aber der Ausdruck von Dürrenmatts Antipathie gegen das Anbieten von fertigen Lösungen, die der geneigte Leser nur noch zu übernehmen braucht. Dürrenmatt zufolge ist der Autor „weder Zyniker noch Moralist. Er stellt weder seine Person zur Diskussion noch seinen Glauben, weder seine Überzeugungen noch seine Zweifel, obgleich er weiß, dass dies alles unbewusst mitspielt. Gerade deshalb. Allein seine Versuche und Experimente in einem schwierigen Metier zählen.“[11]

Aus diesem Grunde wehrt sich Dürrenmatt auch sehr vehement gegen eine Zuordnung seiner Person zu irgendeiner Ideologie. In den „Zehn Paragraphen zu ‘Romulus der Große’“ stellt er beispielsweise klar: „Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner“,[12] und gleich am Beginn seiner Ausführungen zu den „Theaterproblemen“ betont er nachdrücklich, er stehe mit seinen Dramen nicht „als Handlungsreisender irgendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen Weltanschauungen vor der Tür, sei es als Existentialist, sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker ...“.[13] Mehr noch – er schiebt den Ball zum Publikum zurück: „Darin, dass viele der heutigen Zuschauer in meinen Stücken nichts als Nihilismus sehen, spiegelt sich nur ihr eigener Nihilismus wieder. Sie haben keine andere Deutungsmöglichkeit.“[14]

Der Schriftsteller soll entschieden den Tiefsinn fahren lassen, „indem er die Welt als Materie verwendet. Sie ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, dass die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben.“[15]

Dass das nicht immer einfach ist, wird in den „Fingerübungen zur Gegenwart“ deutlich: „In dieser Zeit Schriftsteller sein zu wollen, heißt mit dem Kopf durch die Wand rennen.“[16] Gerade das aber tue er leidenschaftlich gern, und er sei der Meinung, dass Wände gerade dazu erfunden seien. Er sei ja Schriftsteller geworden, „um den Leuten lästig zu fallen“,[17] und er kümmere sich nicht um die Frage, ob er ein guter Schriftsteller sei. Er hoffe jedoch, „dass man von mir sagen wird, ich sei ein unbequemer Schriftsteller gewesen.“[18]

Dürrenmatt schließt seine „Fingerübungen“ mit einem für ihn typischen sinnigen Wortspiel und einer mahnenden Vision, die den Sinn des Schriftstellerdaseins noch einmal prägnant zusammenfasst: „Ich bin Protestant und protestiere. Ich zweifle nicht, aber ich stelle die Verzweiflung dar. Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang; denn ich schreibe nicht, damit Sie auf mich schließen, sondern damit Sie auf die Welt schließen. Ich bin da, um zu warnen. Die Schiffer, meine Damen und Herren, sollen den Lotsen nicht missachten. Er kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schiffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und die Strömungen. Noch ist das offene Meer, aber einmal werden die Klippen kommen, dann werden die Lotsen zu brauchen sein.“[19]

Die Poetik der Komödie

Dürrenmatts Äußerungen zum Theater haben wie seine Werke experimentellen Charakter und stellen nicht ein in sich geschlossenes, nach wissenschaftlichen Regeln erstelltes System dar. Nicht selten bleiben frühere Auffassungen neben revidierten stehen, sodass sich Widersprüche ergeben. Zudem sind einige Äußerungen als Reaktion auf verbale Attacken von Kritikern entstanden und dementsprechend plakativ, pointiert-ironisch formuliert. Zieht man ferner in Betracht, dass Dürrenmatt unter anderem aufgrund seiner Abneigung gegen die etablierte Literaturwissenschaft vieles gerade nicht sagt – „gewiss, auch ich habe eine Kunsttheorie, was macht einem nicht alles Spaß, doch halte ich sie als meine private Meinung zurück (ich müsste mich sonst gar nach ihr richten) und gelte lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen“[20] – so scheint es tatsächlich ein schwieriges Unterfangen zu sein, wenigstens die zentralen Punkte seiner Poetik der Komödie aufzuzeigen. Dennoch soll dieser Versuch gewagt werden, auch wenn sich Missverständnisse einzuschleichen drohen, „indem man verzweifelt im Hühnerstall meiner Dramen nach dem Ei der Erklärung sucht, das zu legen ich beharrlich mich weigere.“[21]

Die Notwendigkeit der Komödie

Wie lässt sich nun unsere aus den Fugen geratene Welt gestalten? Friedrich Dürrenmatt verwirft in den „Theaterproblemen“ die Möglichkeit, sie etwa mit der Dramatik Schillers darzustellen, da Kunst nie wiederholbar sei: „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch.“[22] Eine historische Dramatik lässt sich also nicht einfach bruchlos auf unsere Zeit übertragen.

Darüber hinaus scheint es Dürrenmatt aber auch unmöglich zu sein, den Gegebenheiten der Gegenwart entsprechende Tragödien zu schreiben: „Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie – sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Molière – eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige.“[23]

Es fehlt aber nicht nur am Zustand der Welt, sondern auch an der Ethik der Menschen: „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Mass, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“[24] Dürrenmatt geht sogar so weit, das heutige Gewissen als pervertiert zu bezeichnen, denn: „Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.“[25]

Somit kann nicht erstaunen, dass Dürrenmatt das Fazit zieht: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“,[26] denn: „Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien verstehen.“[27] Das ist aber nicht zwangsläufig resignativ gemeint: „Nun liegt der Schluss nahe, die Komödie sei der Ausdruck der Verzweiflung, doch ist dieser Schluss nicht zwingend. Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Weise gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, ...[28]

Komödie der Handlung

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Dürrenmatt aufgrund seiner Weltsicht und seiner Auffassung von Tragödie diese als Darstellungsform für unsere Zeit verwirft. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Komödie dieser Aufgabe gerecht zu werden vermag. Das hat Dürrenmatt durchaus gesehen und sich bemüht, eine Form der Komödie zu finden, mit deren Hilfe unsere Welt gestaltet werden kann, denn „man kann in der heutigen Welt auch in bewusster Form nicht mehr naiv sein. Die reine Welt des harmlos Komödiantischen ist vorbei.“[29]

Dürrenmatt unterscheidet in seiner „Anmerkung zur Komödie“ zwischen der aristophanischen Tradition der Komödie und der „neuen attischen Komödie“,[30] die die europäische Komödienliteratur von Menander über Plautus bis hin zu Molière viel stärker beeinflusst habe als das aristophanische Komödienmodell, das sich bei Gozzi, Raimund, Nestroy und später bei Wedekind und Brecht erkennen lasse. Der Unterschied liegt für Dürrenmatt vor allem darin, dass die attische Komödie die Typisierung bestimmter Stoffe einleitete und von der Tragödie gewisse dramaturgische Gesetze für den Bau der Komödie übernahm. Bei Aristophanes dominiert jedoch der theatralische Einfall, der die Gestaltung der Gegenwart grotesk deformiert und dadurch Distanz schafft. Die distanzschaffende Wirkung der Komödie bezeichnet zugleich einen weiteren Unterschied zwischen Komödie und Tragödie: „Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz.“[31]

Der Einfall hat aber neben dem Schaffen der Distanz noch eine weitere Funktion. Durch ihn wird das anonyme Publikum als Publikum erst möglich: „Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verführt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird.“[32] Allerdings können die Dramatiker das Publikum so zwar überlisten, jedoch nicht zwingen, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen oder diese gar zu bewältigen.

Dürrenmatt betont ausdrücklich, dass der Einfall an sich noch kein Problem ist, sondern höchstens Konflikte schaffen kann. Genau das ist aber auch seine Absicht, denn wenn der Dramatiker vom Problem ausgehe, dann habe er es auch zu lösen. Gehe er jedoch vom Konflikt aus, dann „braucht er keine Lösung, sondern nur ein Ende. ... Die Beendigung eines Konflikts kann glücklich oder unglücklich ausfallen, der Dramatiker hat nicht ein Problem zu lösen, sondern eine Geschichte zu Ende zu denken.“[33] Und eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, „wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“[34]

Mit der schlimmstmöglichen Wendung einer Geschichte konfrontiert zu werden, erschreckt den Zuschauer und enthüllt ihm gleichzeitig eine groteske, paradoxe Wirklichkeit. Insofern liegt bei Dürrenmatt der Verfremdungseffekt nicht primär in der Regie, sondern im Stoff selbst: „Die Komödie der Handlung ist das verfremdete Theater an sich (und braucht gerade deshalb nicht verfremdet gespielt zu werden, es kann es sich leisten, darauf zu verzichten).“[35]

Es fällt auf, dass Dürrenmatt die Komödie nicht über die Figuren charakterisiert, wie dies etwa in den Typenkomödien Molières (z.B. „L’avare“ (dt. „Der Geizige“), „Le malade imaginaire“ (dt. „Der eingebildete Kranke“) etc.) der Fall ist. Im Gegenteil: Die Figuren können nicht nur nicht-komisch, sondern sogar tragisch sein. Komisch ist vor allem das Geschick, das ihnen widerfährt. Das Theorem von der schlimmstmöglichen Wendung impliziert zudem einen radikalen Verzicht auf das Gattungsmerkmal des versöhnlichen Schlusses.

Dramaturgie des Zufalls

Nachdem wir uns oben mit Dürrenmatts Forderung nach der schlimmstmöglichen Wendung bekannt gemacht haben, stellt sich nun die Frage, wie sich diese konkret manifestiert. Es ist nicht so, dass man aus dem vorangegangenen Geschehen quasi bruchlos auf sie schließen könnte: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“[36] Dabei vermag der Zufall die Menschen umso wirksamer zu treffen, „je planmässiger“[37] sie vorgehen: „Planmässig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Oedipus).“[38]

Schlimmstmöglich bedeutet also nicht zwangsläufig, dass Blut vergossen wird oder viele Leichen die Bühne bevölkern, sondern dass etwas geschieht, das sich der Kontrolle der Figuren (vorerst) entzieht bzw. ihren ursprünglichen Plänen diametral entgegenläuft. Es ist Dürrenmatts Absicht, „to show the reaction of the individual to circumstances beyond his control.“[39] Der Zufall selbst ist dabei unabwendbar – „Die betroffene Figur kann ihn ebensowenig vermeiden wie herbeiführen“[40] – und dem Schicksal der klassischen Tragödie nicht unähnlich.

Der wirksame Einsatz des Zufalls soll die Identifikation des Zuschauers verhindern. Würde Dürrenmatt freilich alle Abläufe für alogisch erklären, wäre sein Theater absurd. Der Zufall tritt nur an bestimmten wirkungsmächtigen Punkten des Verlaufs in Kraft. Wenn der Extremfall eingetreten ist, verläuft alles planvoll. Obwohl der Zufall also die äußere Tektonik des Werks bricht, kann die innere Logik dennoch folgerichtig sein – und auf diese kommt es letztlich an: „Die immanente Logik eines Stückes hat zu stimmen, nicht die äusserliche.“[41]

Der Einbezug des Zufalls wird wiederum mit Blick auf unsere Welt begründet. Es ist ein Irrtum zu glauben, alles planen und genau voraussehen zu können: „Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu grosse Rolle. ... Der Einzelne steht ausserhalb der Berechnung.“[42] Wir haben uns darüber klar zu werden, „dass wir am Absurden, welches sich notwendigerweise immer deutlicher und mächtiger zeigt, nur dann nicht scheitern und uns einigermassen wohnlich auf dieser Erde einrichten werden, wenn wir es demütig in unser Denken einkalkulieren.“[43]

Weil die Figuren in Dürrenmatts Werken immer wieder über solche Zufälligkeiten stolpern, die für sich genommen oft nichts anderes als eigentliche Lappalien sind, spricht Neumann in diesem Zusammenhang von einer „Dramaturgie der Panne“[44] und resümiert: „Alle Stücke Dürrenmatts ziehen ihre Wirkung aus dem Widerspiel zweier Bereiche: der weitgespannten, aus zahllosen Bühneneinfällen gespeisten konventionellen Ordnungswelt und dem Einbruch von irrationalen Zufällen aller möglichen Provenienz in diese.“[45]

Paradoxie und Groteske

Dürrenmatts Zuwendung zu einer neuen Form der Komödie schließt keineswegs die totale Absage an das Prinzip des Tragischen ein. Er bezeichnet das Vergnügen zwar als „Fliegenfänger der Kunst“,[46] betont aber, dass das nicht heiße, dass „ein heutiges Drama nur komisch sein könne. Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, dramaturgische Verhaltensweisen, fingierte Figuren der Aesthetik, die Gleiches zu umschreiben vermögen.“[47] Das Tragische ist immer noch möglich, „auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen sich öffnenden Abgrund, ...“.[48] Die Paradoxie und die Groteske sind die zentralen Mittel, mit denen Dürrenmatt der Komödie tragische Wirkung abgewinnt.

Es gehört zum Wesen der Groteske, dass sie beim Zuschauer ambivalente Gefühle weckt. Einerseits möchte man über das Gehörte oder Gesehene lachen, aber dieses Lachen bleibt einem im Halse stecken, weil man mit einer minimen Zeitverzögerung bereits vom Schauer gepackt wird und sich Abgründe zu öffnen beginnen. Das Groteske ist für Dürrenmatt „ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genauso wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“[49] Dürrenmatt macht nicht zuletzt deshalb so oft von ihm Gebrauch, ja kultiviert es geradezu, weil es „die Perversionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar macht. Es fungiert daher als Mittel zur Selbsterkenntnis der Gesellschaft. Dabei bedient es sich formal mit Vorliebe der Kontraste und Paradoxien, um die Erwartung des Rezipienten überraschend zu täuschen und ihn dadurch zum Nachdenken anzuregen.“[50]

Dürrenmatt betont in den Punkten 19 und 20 der „21 Punkte zu den Physikern“: „Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit“ und „Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.“[51] Paradoxien sind also für ihn ästhetischer Ausdruck der Realität, wes-halb nicht selten der Eindruck entsteht, dass in Dürrenmatts Theater die Welt auf dem Kopf steht – was sie ja in seinen Augen auch tatsächlich tut! Eine Geschichte, die über Zufälle stolpernd der schlimmstmöglichen Wendung zustrebt, ist für Dürrenmatt zwar „grotesk, aber nicht absurd. Sie ist paradox.“[52] Das Paradoxon als nur scheinbare Widersinnigkeit, als zunächst verblüffender Kontrast, vermag dabei den Zuschauer bei genauem Hinsehen auf eine höhere Wahrheit zu verweisen.

In der „Anmerkung zur Komödie“ erläutert Dürrenmatt den Unterschied zwischen der romantischen Groteske und seiner Auffassung von ihr: „Es ist wichtig, einzusehen, dass es zwei Arten des Grotesken gibt: Groteskes einer Romantik zuliebe, das Furcht oder absonderliche Gefühle erwecken will (etwa indem es ein Gespenst erscheinen lässt), und Groteskes eben der Distanz zuliebe, die nur durch dieses Mittel zu schaffen ist. ... Das Groteske ist eine äusserste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein. ... Das Groteske ist eine der grossen Möglichkeiten, genau zu sein.“[53]

Wir können somit mit Hoffmann festhalten: „Dürrenmatt incluye en el mundo de sus comedias lo grotesco y mezcla lo lúgubre con lo cómico, borrando casi los límites entre los géneros dramáticos. ... El elemento cómico des sus tragicomedias no tiene un matiz humorístico, sino satírico y el elemento trágico refleja el esfuerzo heroico, pero insensato, de levantar un orden en el mundo informe cuyo aspecto grotesco revela la tragicomedia.“[54]

2.3.5. Das „Modell Scott“

Dürrenmatt hat in den „Dramaturgischen Überlegungen zu den ‘Wiedertäufern’“ am Modell des großen Forschers Scott einige seiner zentralen Theoreme prägnant zusammengefasst. Da Dürrenmatts dramaturgische Grundüberzeugungen und das, was ihn etwa von Shakespeare, Brecht oder Beckett trennt, meines Erachtens nirgends derart treffend formuliert wird, soll das „Modell Scott“ als Schlusspunkt der theoretischen Betrachtung der Poetik der Komödie und als Übergang zum nächsten Kapitel trotz seines Umfangs ungekürzt zitiert werden:

„Shakespeare hätte das Schicksal des unglücklichen Robert Falcon Scott doch wohl in der Weise dramatisiert, dass der tragische Untergang des grossen Forschers durchaus dessen Charakter entsprungen wäre, Ehrgeiz hätte Scott blind gegen die Gefahren der unwirtlichen Regionen gemacht, in die er sich wagte, Eifersucht und Verrat unter den anderen Expeditionsteilnehmern hätten das Uebrige hinzugetan, die Katastrophe in Eis und Nacht herbeizuführen, bei Brecht wäre die Expedition aus wirtschaftlichen Gründen und Klassendenken gescheitert, die englische Erziehung hätte Scott gehindert, sich Polarhunden anzuvertrauen, er hätte zwangsläufig standesgemäss Ponys gewählt, der höhere Preis wiederum dieser Tiere hätte ihn genötigt, an der Ausrüstung zu sparen; bei Beckett wäre der Vorgang auf das Ende reduziert, Endspiel, letzte Konfrontation, schon in einen Eisblock verwandelt, sässe Scott anderen Eisblöcken gegenüber, vor sich hinredend, ohne Antwort von seinen Kameraden zu erhalten, ohne Gewissheit, von ihnen noch gehört zu werden.

Doch wäre auch eine Dramatik denkbar, die Scott beim Einkaufen der für die Expedition benötigten Lebensmittel aus Versehen in einen Kühlraum einschlösse und in ihm erfrieren liesse. Scott, gefangen in den endlosen Gletschern der Antarktis, entfernt durch unüberwindliche Distanzen von jeder Hilfe, Scott, wie gestrandet auf einem anderen Planeten, stirbt tragisch, Scott, eingeschlossen in den Kühlraum durch ein läppisches Missgeschick, mitten in einer Grossstadt, nur wenige Meter von einer belebten Strasse entfernt, zuerst beinahe höflich an die Kühlraumtüre klopfend, rufend, wartend, sich eine Zigarette anzündend, es kann ja nur wenige Minuten dauern, dann an die Türe polternd, darauf schreiend und hämmernd, immer wieder, während sich die Kälte eisiger um ihn legt, Scott, herumgehend, um sich Wärme zu verschaffen, hüpfend, stampfend, turnend, radschlagend, endlich verzweifelt Tiefgefrorenes gegen die Türe schmetternd, Scott, wieder innehaltend, im Kreise herumzirkelnd auf kleinstem Raum, schlotternd, zähneklappernd, zornig und ohnmächtig, dieser Scott nimmt ein noch schrecklicheres Ende, und deshalb ist Falcon Robert Scott im Kühlraum erfrierend ein anderer als Falcon Robert Scott erfrierend in der Antarktis, wir spüren es, dialektisch gesehen ein anderer, aus einer tragischen Gestalt ist eine komische Gestalt geworden, komisch nicht wie einer, der stottert, oder wie einer, der vom Geiz oder von der Eifersucht überwältigt worden ist, eine Gestalt, komisch allein durch ihr Geschick: Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie.“ [55]

Zwischen Brecht und dem absurden Theater

Wenn nun der Versuch unternommen werden soll, Friedrich Dürrenmatts Theaterkonzeption in das literaturgeschichtliche Umfeld einzuordnen, gilt es, insbesondere zwei zentralen Aspekten nachzugehen: seinem Verständnis der Komödie als Tragikomödie und dem Moment der intendierten Reflexion über das auf der Bühne Dargestellte.

Guthke verweist bereits in seiner Einleitung zur „Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie“ auf die seit der Goethezeit nicht mehr verhallende Klage, „dass es im deutschsprachigen Raum nie zur Ausbildung einer Lustspieltradition gekommen ist.“[56] Unter den unzähligen Argumenten für diese These zieht sich wie ein roter Faden die Behauptung hindurch, dass das Lebensgefühl der Deutschen vorwiegend tragisch sei, und man verweist gerne auf Goethe, der es als Charakter der Deutschen bezeichnet hat, „dass sie schwer werden über allem und alles schwer über ihnen.“[57]

Man könnte einwenden, dass es doch sehr wohl auch bei uns gute Lustspiele gibt und als Beispiele etwa Gotthold Ephraim Lessings „Minna von Barnhelm“ oder Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ nennen. Ob dabei aber gleich von einer Lustspiel tradition gesprochen werden kann, darf zumindest bezweifelt werden, auch wenn man der oben dargelegten pseudo-ethnologischen Erklärung vielleicht nicht in allen Punkten folgen mag. Nun ist es aber auch eine Tatsache, dass einige unserer besten Komödien recht eigentlich Tragikomödien sind, weshalb mir Guthkes Frage, ob „denn vielleicht im Deutschen die tragische Komödie zu einer beachtlicheren Tradition ausgebildet sei als die reine Komödie“[58] und sich das deutsche Lustspielproblem etwa durch den Einbezug der Tragikomödie lösen ließe, durchaus berechtigt erscheint.

Richtet man nun den Blickwinkel auf diesen Aspekt, erkennt man unschwer, dass Friedrich Dürrenmatt mit seinen tragischen Komödien sicher einen Höhepunkt in der Geschichte derselben darstellt, jedoch keineswegs originär ist, sondern vielmehr auf einer langen Tradition aufbaut. Dabei ist es für die Tragikomödie kennzeichnend, dass das Tragische und das Komische sich nicht ihn höherem Verstehen auflösen, sondern in ihrer Eigenqualität bestehen bleiben:

„ ... ihre Identität wird eine dynamische, spannungsvolle, die durch das Tragische das Komische verschärft und vertieft und das Tragische durch das Komische.“ [59]

Diese Entwicklungslinie führt uns – um nur die Meilensteine zu nennen – von Lessing über Lenz und Kleist zu Hoffmann, der zur Erkenntnis gelangt: „Nur im wahrhaft Romantischen mischt sich das Komische mit dem Tragischen so gefügig, dass beides zum Totaleffekt in eins verschmilzt und das Gemüt des Zuschauers auf eine eigene, wunderbare Weise ergreift.“[60]

Es folgen Büchner, Grabbe und Hebbel, dessen Charakteristik der Tragikomödie – „Man möchte vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man möchte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Spuk befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt“[61] – und ihre gesellschaftspolitische Komponente – „Da stellt sich die Tragikomödie ein, denn eine solche ergibt sich überall, wo ein tragisches Geschick in untragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die berechtigte sittliche Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen“[62] – über eine große Affinität zu Dürrenmatts Poetik der Komödie verfügen.

Über Hauptmann und Schnitzler, der die Tragikomödie als „höchste Kunstform“[63] bezeichnet hat, führt unser Weg schließlich zu Thomas Mann, der 1925 im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Joseph Conrads Roman „The Secret Agent“ (dt. „Der Geheimagent“) bemerkte: „… ganz allgemein und wesentlich scheint mir die Errungenschaft des modernen Kunstgeistes darin zu bestehen, dass er die Kategorien des Tragischen und des Komischen, also auch etwa die theatralischen Formen und Gattungen des Trauerspiels und des Lustspiels, nicht mehr kennt und das Leben als Tragikomödie sieht.“[64]

Freilich beruft sich Dürrenmatt nicht explizit auf einen der erwähnten Autoren, obwohl er einzelne, z.B. Kleist, durchaus schätzt. Die Aufzählung ist deshalb auch eher als Leiter zu verstehen, die zum Hochseil hinaufführt, auf dem Dürrenmatt schließlich durchaus selbständig balanciert.

Da Dürrenmatt die Reflexion über seine Stücke und davon ausgehend über die heutige Zeit intendiert, steht er natürlich auch dem epischen Theater, insbesondere Brecht, nahe. Das Verhältnis zwischen den beiden Schriftstellern ist denn auch immer wieder diskutiert worden. Der Einfluss, den Bertolt Brecht auf Dürrenmatt ausgeübt hat, ist unübersehbar. Einige seiner Komödien variieren Brechtsche Themen. Die Verwandtschaft der „Physiker“ zum Galilei-Stoff liegt auf der Hand. Gewisse Parallelen zwischen dem Gangsterspiel „Frank V.“ und der „Dreigroschenoper“ sind ebenfalls evident. Beiden gemeinsam ist auch die Literarisierung des Trivialen: Kabarett-Späße, Bänkelsängerhaftes und Revue-Elemente beleben die Szene. Auch die Technik des Verfremdens gehört zum dramaturgischen Repertoire sowohl des einen als auch des anderen, und beide betrachten die Gesellschaft kritisch und wollen sie nicht wie in den früheren Tragödien idealisieren.

In Dürrenmatts Theaterkonzeption fehlt jedoch Brechts didaktische Absicht. Wo Brecht politisch verändern will, gibt Dürrenmatt nur ein Bild von der Welt. Der Klassenkämpfer Brecht beschreibt die Welt als veränderbar, er glaubt wie die Vertreter des Dokumentarischen Theaters an die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch die Bühne. Dürrenmatt sieht zwar ihre Veränderungsbedürftigkeit, hegt aber massive Zweifel daran, dass die Veränderung auch gelingen könnte: „Der alte Glaubenssatz der Revolutionäre, dass der Mensch die Welt verändern könne und müsse, ist für den einzelnen unrealisierbar geworden, ausser Kurs gesetzt, der Satz ist nur noch für die Menge brauchbar, als Schlagwort, als politisches Dynamit, als Antrieb der Massen, als Hoffnung für die grauen Armeen der Hungernden.“[65] Für Brecht liegt die Ursache unserer Probleme in der Gesellschaft, für Dürrenmatt beim einzelnen Menschen. Der eine nimmt somit eine soziologische und der andere eine psychologische Position ein.

Dürrenmatt betont immer wieder, dass er kein politischer, sondern ein dramaturgischer Denker sei. Er ergreife das Wort, um zu analysieren, er sei „Diagnostiker, nicht Therapeut“.[66] Und folgerichtig beantwortet er Bieneks Frage, ob ein Dichter die Welt verändern könne, kurz und pointiert: „Beunruhigen im besten, beeinflussen im seltensten Falle – verändern nie.“[67] In diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung des Zufalls zu sehen. Würde Brecht ihn ähnlich wie Dürrenmatt zum beherrschenden Prinzip machen, so entzöge sich die Welt der Kontrolle und somit auch der Möglichkeit der Veränderung.

Daraus folgt direkt ein weiterer Unterschied zwischen Brecht und Dürrenmatt: ihr Verhältnis zum Rezipienten. Dürrenmatt hält Brecht nämlich entgegen, dass der Zuschauer auch mit einer epischen Form des Theaters nicht zum Nachdenken gezwungen werden kann: „Die Komödie der Handlung ist die Theaterform, die Brecht von unserem Zeitalter der Wissenschaft fordert unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass der Zuschauer zu nichts gezwungen werden kann. Das Theater ist nur insofern eine moralische Anstalt, als es vom Zuschauer zu einer gemacht wird.“[68]

Schließlich ist auch immer wieder auf die Affinität Dürrenmatts – vor allem des älteren Dürrenmatt – zum absurden Theater verwiesen worden. Dies hat seinen Grund vor allem in den Theoremen des Zufalls und der schlimmstmöglichen Wendung sowie in der Bedeutung der Groteske. Dies scheint mir aber eine eher akzidentielle denn substantielle Ähnlichkeit zu sein. Dürrenmatts Theaterkonzeption geht ja wesentlich von der Handlung als Trägerin der Komik aus. Diese Feststellung ist natürlich schwer vereinbar mit der Tatsache des fast völligen Fehlens einer Handlung im konventionellen Sinn im absurden Drama. Es kommt noch hinzu, dass Dürrenmatt die Welt zwar als Chaos charakterisiert, aber im Gegensatz zum absurden Theater den Sinn des Lebens nicht radikal verneint, sondern zum Bewältigen der Welt auffordert.

So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Dürrenmatt, aufbauend auf der Tradition der Tragikomödie, in der produktiven Auseinandersetzung mit der Pariser Avantgarde des Absurden – Beckett, Adamov, Ionesco – auf der einen und Brecht auf der anderen Seite eigenständigen literarischen Rang erreicht, indem er zentrale Ideen beider Extreme mit seinem Verständnis der Welt und der Bühne zu einer höheren Einheit zu verschmelzen versteht. Es wäre sicher voreilig, bereits heute ein abschließendes Urteil über die Stellung dieser Dramaturgie in der Komödiengeschichte fällen zu wollen. Es kann aber sicher festgehalten werden, „dass hier eine Dramaturgie der Komödie entwickelt wurde, die sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden gab, sondern auf dem Hintergrund der künstlerischen und Bewusstseins-Aporien der Epoche nach glaubwürdigen Auswegen und stichhaltigen Antworten auf die Frage sucht, wie unsere Welt auf der Bühne darstellbar sei.“[69]

Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie.

Im Folgenden soll erörtert werden, wie sich Friedrich Dürrenmatts Theaterkonzeption in seinen Dramen manifestiert, bzw. welcher Mittel er sich in der Praxis bedient, um sein Ziel der Objektivierung und der Distanzierung zu erreichen. Die Einteilung in Figuren-, Sprach-, Situations- und Handlungskomik dient der Systematisierung. Es versteht sich von selbst, dass die Bereiche stark ineinander übergreifen und der Übergang vom einen zum anderen oft fließend ist. Schließlich besteht ein wesentliches Merkmal guter Komödien meines Erachtens gerade darin, dass dem Autor die Integration der verschiedenen komischen Elemente gelingt und diese nicht wahllos nebeneinanderstehen.

Figuren zwischen Komik und Groteske

Obwohl Dürrenmatt seine Komödien nicht primär auf den handelnden Personen aufbaut, springt dem unbefangenen Theaterbesucher doch immer wieder die seinen Figuren anhaftende Komik direkt ins Auge. Dies hat seinen Grund weniger in einer einzelnen, überspitzt gezeichneten Charaktereigenschaft, als in ihren Namen, ihrem Aussehen, ihrer Mimik und Gestik und der Art, wie Dürrenmatt sie gruppiert.

Namen und Kosenamen

Dürrenmatt ist ein Meister im Gebrauch sprechender Namen. So heißt etwa die Ehefrau des Titelhelden in „Romulus der Große“ Julia, was beim Zuschauer natürlich sofort die Assoziation an das berühmte Liebespaar aus Shakespeares Tragödie „Romeo und Julia“ weckt. Der komische Effekt resultiert daraus, dass die beiden sich aus reinem Kalkül geheiratet haben: „Unsere Ehe war fürchterlich, aber ich habe nie das Verbrechen begangen, dich einen Tag darüber im Zweifel zu lassen, weshalb ich dich zur Frau nahm. Ich habe dich geheiratet, um Kaiser zu werden, und du hast mich geheiratet, um Kaiserin zu werden. … Ich habe dich legitimiert, und du mich gekrönt.“[70]

Der Kriegsminister Mares trägt einen Namen, der eine Kombination aus dem römischen (Mars) und dem griechischen Kriegsgott (Ares) darstellt; Tullius Rotundus, der Innenminister, würde frei ins Deutsche übersetzt den Namen „Tullius der Dicke“ tragen, und der Vorname des Reiterpräfekten Spurius Titus Mamma spielt auf seinen Beruf an (vgl. dem Pferd die Sporen geben). Achilles und Pyramus, „zwei uralte Kammerdiener, grau, unbeweglich wie Statuen“,[71] tragen Namen, die so gar nicht zu ihnen passen wollen, ist doch Achilles immerhin einer der tapfersten Helden der griechischen Mythologie und Pyramus ein durch Ovids Metamorphosen bekannter Liebender (Pyramus und Thisbe). Der Name des Kunsthändlers Apollyon schließlich verweist auf den Gott der Schönheit, was insofern komisch wirkt, als er sich rege am Ausverkauf des Reiches beteiligt.

Den wohl gelungensten Namen in diesem Stück hat aber der Industrielle Cäsar Rupf, dessen Vorname auf jenen neuen „Cäsar“ (Kaiser) verweist, den er repräsentiert, nämlich den Kapitalisten, und dessen Nachname nicht nur seine germanische Herkunft bezeichnet, sondern auch überdeutlich auf seine Geschäftspraktiken anspielt. Ferner sind da noch die beiden Zeno begleitenden Kämmerer, Phosphoridos und Sulphurides, wobei mit Phosphor und lat. sulphur (Phosphor und Schwefel) zwei übelriechende Stoffe gemeint sind.

Bei der Titelfigur selbst nimmt Dürrenmatt eine kleine, aber nicht unbedeutende Änderung vor. Der letzte Kaiser Westroms hieß Romulus Augustulus. Dürrenmatt macht aus diesem „Kaiserlein“ (lat. Augustulus) Romulus den Großen. Die ganze Finesse dieser Bezeichnung ergibt sich aber erst durch die Handlung, da Romulus ja zunächst als nichtstuender Hühnerzüchter auftritt und so den Beinamen „der Große“ kaum zu verdienen scheint. Am Schluss freilich ist man sich dann aber doch nicht mehr so sicher, ob Romulus seinen Ehrentitel nicht doch zu Recht trägt.

Im „Besuch der alten Dame“ sind es vor allem die beiden Hauptfiguren, die einen sprechenden Namen haben: Claire Zachanassian und Alfred Ill. Der Name Zachanassian setzt sich Dürrenmatt zufolge aus „Zacharoff, Onassis, Gulbenkian (letzterer beerdigt in Zürich)“[72] zusammen und deutet somit auf Reichtum hin. Die Ähnlichkeit des Vornamens Claire mit der Parze Klotho wird im Drama sogar explizit angesprochen: „Schauerlich, wie sie aus dem Zuge stieg, die alte Dame mit ihren schwarzen Gewändern. Kommt mir vor wie eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin. Sollte Klotho heißen, nicht Claire, der traut man es noch zu, dass sie Lebensfäden spinnt.“[73] Effektvoll ist auch der Unterschied zu Claires Mädchennamen Kläri Wäscher. Das französische Claire tönt natürlich viel vornehmer, und ihr Nachname spiegelt nicht nur ihren sozialen Aufstieg wider, sondern nimmt bereits den Grund ihres Besuches vorweg, nämlich die Stadt Güllen von ihrer Schuld reinzuwaschen, wobei ihre Art, das zu tun, freilich nicht mit den gängigen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit gemessen werden kann.

Ills Nachname wird in der Forschung meistens mit dem englischen Wort „ill“, was ja im Deutschen „krank“ heißt, in Verbindung gebracht. Fickert sieht aber noch einen anderen Zusammenhang: „Ill – French he – functions as an Everyman in the play.“[74] Da sich Dürren-matt seinerseits ganz bewusst nicht von den Güllenern distanziert, sie gar als „Menschen wie wir alle“[75] bezeichnet und sich „nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde“,[76] scheint mir Fickerts Hinweis durchaus einer Überlegung wert zu sein.

Die Güllener werden mit Ausnahme von Ill nur mit ihrer Berufsbezeichnung benannt (der Bürgermeister, der Pfarrer, der Lehrer, der Arzt, der Polizist usw.). Sie haben also keinen persönlichen Namen. Freilich hat auch das Methode, da sie zusammen die Stadt Güllen symbolisieren sollen. Sie agieren nicht als Individuen, sondern als Rollenträger innerhalb eines Kollektivs. Insofern ist auch diese Nicht-Namengebung sprechend. Es kommt hinzu, dass mit dem Namen der Stadt und der Städter bereits ihr – materieller wie moralischer – Zustand bezeichnet ist, ist doch Gülle das schweizerdeutsche Wort für Jauche.

Auch die Figuren in Claires Gefolgschaft sind depersonalisiert, entweder nur durch ihre Funktion gekennzeichnet, bloß numerisch aufgelistet wie die Gatten VII – IX oder mit Pseudonymen belegt. Die Nummerierung der Gatten und die sich reimenden „Namen“ (Toby, Roby, Koby, Loby, Moby, Hoby, Zoby) besagen, dass sowohl die Gatten als auch die Diener auswechselbar sind. Dürrenmatt lässt die Gatten gar von demselben Schauspieler darstellen. In den sich reimenden Namen freilich und der Art, mit der Claire sie emotionslos verteilt und die Personen so ihrer Individualität beraubt, gesellt sich zur Komik bereits das Groteske.

In Bezug auf die Namen der Güllener zeigt sich Claires Macht und Überheblichkeit vor allem im Gebrauch von Diminutiven wie „Annettchen“ oder „Mathildchen“,[77] was umso komischer wirkt, als es sich jeweils um alte Menschen handelt, die erst noch bleich, mager, ausgemergelt und verbittert aussehen.

Vielsagend sind im „Besuch“ auch die Kosenamen. Claire wird von ihrem achten Gatten als „Hopsi“[78] bezeichnet, was man durchaus als Anspielung darauf verstehen kann, dass sie wie ein Hase von einem Gatten zum anderen „hopst“. Und gleich nach ihrer Ankunft erweckt sie zusammen mit Ill ihre alten Kosenamen wieder zum Leben, durchbricht aber die Illusion der neu erwachten Intimität sogleich wieder:

„CLAIRE ZACHANASSIAN Nenne mich, wie du mich immer genannt hast.

ILL Mein Wildkätzchen.

CLAIRE ZACHANASSIAN schnurrt wie eine alte Katze Wie noch?

ILL Mein Zauberhexchen.

CLAIRE ZACHANASSIAN Ich nannte dich: mein schwarzer Panther.

ILL Der bin ich noch.

CLAIRE ZACHANASSIAN Unsinn. Du bist fett geworden. Und grau und versoffen. [79]

Die Komik resultiert vor allem aus dem Umstand, dass Ill Claire weiterhin als „Zauberhexchen“ und „Wildkätzchen“ bezeichnet, ohne zu merken, dass aus ihr längst eine Hexe geworden ist, und dass die Wildkatze bereits bedrohlich ihre Krallen zeigt. Es scheint, als habe sie ihm einen Köder hingeworfen, den er nun zu ihrer Genugtuung begierig ergreift. Zudem stellt sie mit diesem Gespräch auch den Zusammenhang her zwischen Ill und einem realen schwarzen Panther, den sie mit nach Güllen gebracht hat, und an dem sie nun – grausam genug – jenes Schicksal demonstriert, das auch Ill einholen wird: der Mord.

Das Spiel mit den sprechenden Personennamen wird sogar auf Figuren ausgeweitet, die im Personenverzeichnis nicht aufgeführt sind und nur eine ganz kleine Rolle haben. So heißt etwa die Gattin des Bürgermeisters, eine ehemalige Schulkameradin von Claire und damalige Klassenerste, Annette Dummermuth. Die Antithese zwischen der Charakterisierung als Klassenerste und dem im Nachnamen enthaltenen Adjektiv „dumm“ bringt den Zuschauer natürlich zum Schmunzeln.

In den „Physikern“ bedient sich Dürrenmatt wiederum einer anderen Art der Namenskomik. Die drei Hauptpersonen des Stückes sind drei Irre namens Herbert Georg Beutler, genannt Newton, Ernst Heinrich Ernesti, genannt Einstein, und Johann Wilhelm Möbius, dessen Name wohl eine Anspielung auf den Erfinder des Möbiusschen Bandes ist. Der Gegensatz zwischen diesen Irren einerseits und den Koryphäen der Physik, deren Namen sie sich bedienen, ist natürlich komisch. Es kommt noch hinzu, dass sich auch Frau Rose des Diminutivs bedient und ihren ersten Gatten Möbius fast immer mit „Johann Wilhelmlein“[80] anredet. Das entspringt allerdings nicht ihrem Hochmut, sondern klingt eher an die Art an, mit der eine Mutter mit ihrem kranken Kind spricht, was aber in diesem Zusammenhang nichtsdestotrotz ebenfalls komisch wirkt.

Während die Namenskomik schon in den „Physikern“ nur eine untergeordnete Rolle spielt, verzichtet Dürrenmatt im „Meteor“ praktisch ganz auf sie. Einzig die Namen Schwitter und Schlatter sind durch ihren gleichartigen Aufbau komisch. Die Komik der Namen wird aber im Stück nicht weitergeführt, sodass es bei einer rein äußerlichen Reminiszenz bleibt. In der „Dichterdämmerung“ schließlich ist die Namenskomik wieder etwas breiter entfaltet. Sie zeigt sich etwa beim Dramaturgen Weiberlein, dessen Name dem Zuschauer nicht gerade Respekt einflößt, und vor allem beim Bühnenbildner Lothar Kegel. Da Kegels Bühnenbild von Kegeln und anderen geometrischen Körpern, die verschiedenste Dinge repräsentieren sollen, nur so wimmelt, ist die Diskussion um Kegels Kegel immer wieder für einen komischen Effekt gut. So trifft beispielsweise ein Besucher die Feststellung: „Sitzt sich besser auf dieser Kugel von Kegel als auf dem Kegel von Kegel.“[81] Nachdem Dürrenmatt schon im „Besuch“ die Schar der Medienschaffenden schlicht als „Die Lästigen“[82] bezeichnet hat und damit zugleich seine persönliche Ansicht über diese Spezies Mensch kundtut, nennt er hier einen Kritiker Luft und parodiert damit gleichzeitig Friedrich Luft, einen seiner eigenen realen Kritiker. Dieser Name ist für den Autor in der „Dichterdämmerung“ Anlass zu einem ironisch-resignierten Wortspiel: „Für Luft sind wir ohnehin Luft.“[83]

Wir können somit festhalten, dass Dürrenmatt die Wahl der Namen seiner Protagonisten nicht dem Zufall überlässt. Sie sind insbesondere im „Romulus“, im „Besuch“ und in der „Dichterdämmerung“ wesentlicher Bestandteil der Komik: „By his ingenuity he has integrated the names of his dramatis personae and the play, making them a part of the wide-ranging humor which animates his ‘tragicomedy’.“[84]

Die Konzeption der Figuren

In Dürrenmatts Werken finden sich immer wieder Personen, die von ihrer Charakteristik, von ihrem Aussehen oder ihrer Mimik und Gestik her komisch sind. Dabei fällt auf, dass er insbesondere die Nebenfiguren einfach strukturiert und auf wenige Eigenschaften reduziert, was sie zu marionettenhaften, lächerlichen Karikaturen macht.

So betritt etwa Tullius Rotundus, der Innenminister in „Romulus der Große“, gleich bei seinem ersten Auftritt „totenbleich“[85] die Bühne, um Romulus die Nachricht zu überbringen, dass Pavia von den Germanen eingenommen sei. Später beklagt er sich ausgerechnet dem aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten (!) Aemilian gegenüber, dass dieser zwar sicher Schweres erlebt und unseren Respekt verdient habe. Doch müsse man nicht glauben, dass er selbst nichts durchgemacht habe: „Dazusitzen, eine Hiobsbotschaft um die andere entgegennehmen zu müssen und nicht helfen können ist wohl das Schlimmste, was einem Politiker zustossen kann.“[86] Aber nirgends hat man den Eindruck, dass er aus seiner Lethargie erwachen würde und etwas gegen dieses Schicksal zu unternehmen bereit ist. Allenfalls plant er noch die Verlegung der Residenz oder schwelgt in totaler Verkennung der Lage in Plänen über eine neue Invalidenversicherung oder soziale Reformen. Dabei scheitert er schon an den einfachsten organisatorischen Aufgaben, etwa der Beschaffung eines Fluchtfahrzeugs. Sein Aktionismus ist blind, meist nur verbal und angetrieben von eigener Feigheit und eigenem Sicherheitsbedürfnis.

Der Kriegsminister Mares ist wie Tullius Rotundus fast immer außer sich. Er ist keineswegs mutig und überlegt, im Gegenteil, er ist ängstlich und feige. Seine Aktionen, Rom zu retten, sind geradezu lächerlich, und die totale Mobilmachung plant er just in dem Moment, wo selbst die letzten fünfzig Mann der kaiserlichen Leibwache geflüchtet sind. Im zweiten Akt schläft er sogar in voller Rüstung ein und bemerkt nicht einmal, dass sein Schild mit feindlichen Parolen verschmiert wird. Er verkennt die Wirklichkeit ebenfalls und redet sich ein: „Die strategische Lage wird stündlich günstiger. Sie verbessert sich von Niederlage zu Niederlage.“[87]

Auch Zeno gehört zu jenen bis ins Groteske verzerrten Figuren. Er ist stets dem Kollaps nahe, feige, überängstlich und immer auf der Flucht. Dabei wird er ständig von seinen Kämmerern genötigt, die zahlreichen Verse zu rezitieren, die das Zeremoniell für einen asylsuchenden ost-römischen Kaiser vorschreibt. Dennoch schafft er nicht einmal das ohne die Hilfe seiner Diener. Er fordert Romulus eindringlich zum Krieg gegen die Germanen auf, will aber sofort das nächste Schiff nach Alexandrien nehmen, als er von ihrer Ankunft hört, um dort seinen „unbeugsamen Kampf gegen die Germanen“[88] fortzusetzen.

Der Reiterpräfekt Spurius Titus Mamma ist zwei Tage und zwei Nächte durchgaloppiert, um Kaiser Romulus schlimme Nachrichten aus Pavia zu überbringen. Er ist dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch nahe. Er taumelt mit seinem: „Ich bin müde. Ich bin müde. Ich bin todmüde“[89] durch die nächsten Szenen, bis er sich endlich ermattet dem Schlaf hingibt. Romulus ironisiert den Eifer dieses „Sportlers“,[90] wie er ihn nennt, und will ihn für seine Leistung sogar zum Ritter schlagen. Für die schlimme Nachricht hingegen interessiert er sich wenig. Als der Eilbote Spurius Titus Mamma endlich ausgeschlafen hat und mit gezücktem Schwert hereinstürzt, um Romulus zu töten, muss er hören, dass es keinen Kaiser mehr gibt und das Reich aufgehört hat zu existieren. Mit dem Aufschrei: „Dann hat der letzte kaiserliche Offizier den Untergang seines Vaterlandes verschlafen!“[91] bricht er erschüttert zusammen.

Cäsar Rupf verkörpert ganz und gar den modernen Geschäftsmann, der mit seiner unglaublichen Energie einen lebhaften Gegensatz zur ansonsten alles beherrschenden Lethargie der Szene bildet. Sentimentalitäten kennt er nicht. Er denkt und handelt „eiskalt“[92] und nüchtern. Er ist der Ansicht, alles sei käuflich, auch die Liebe. Die Ehe mit Rea ist seine Bedingung dafür, dass er die zehn Millionen an Odoaker zahlt, damit dieser das Reich räumt, und „noch einige Milliönchen“[93] ins Imperium steckt. Falls Romulus nicht einverstanden sein sollte, will er Odoakers Tochter heiraten. Er kennt keine Skrupel, und ideelle Beweggründe sind ihm völlig fremd. Wichtig ist ihm nur, dass das Geschäft rentiert und er einen Erben für seine Firma bekommt.

Im „Besuch der alten Dame“ fällt vor allem die Charakterkomik „des wichtigtuerischen Bürgermeisters, des kultursnobistischen Lehrers und des mammonfreudigen Pfarrers“[94] auf. Auch Hugo Nyffenschwander, der Kunstmaler aus dem „Meteor“, und seine Frau Auguste sind mit wenigen Strichen komisch überzeichnet. Als Hausherren – immerhin bewohnen sie das Atelier, das Schwitter sich für sein Sterben ausgesucht hat – machen sie keine Anstalten, den unliebsamen Ankömmling vor die Türe zu setzen. Im Gegenteil. Ohne den geringsten Widerstand tun sie alles, was Schwitter von ihnen verlangt, und wiederholen permanent ihr unterwürfiges: „Selbstverständlich, Herr Schwitter.“[95] Erst nachdem Schwitter mit Auguste geschlafen und damit erst noch Nyffenschwanders Kunsttheorie unterhöhlt hat, wird dieser rasend und will mit dem Ofenhaken auf den Nobelpreisträger losgehen. Er übergibt ihn allerdings sogleich kampflos dem eintretenden Muheim und wird von diesem die Treppe hinuntergestürzt.

Die Komik derart eindimensionaler Figuren ist dem Zuschauer unmittelbar eingängig. Dennoch erschöpft sich ihre Funktion nicht allein darin. Ihre einfache Konzeption erlaubt es den Hauptpersonen, sich gezielt zu profilieren. Zwar herrscht auch bei den Hauptpersonen kein Mangel an komischen Attributen, doch sind diese meistens mit tragischen – mitunter gar grotesken – Komponenten angereichert.

So sagt Dürrenmatt in der „Anmerkung I zu ‘Romulus der Große’“ über seinen Romulus: „Man sehe genau hin, was für einen Menschen ich gezeichnet habe, witzig, human, gewiss, doch im letzten ein Mensch, der mit äußerster Härte und Rücksichtslosigkeit vorgeht und nicht davor zurückschreckt, auch von andern Absolutheit zu verlangen, ein gefährlicher Bursche, der sich auf den Tod hin angelegt hat; das ist das Schreckliche dieses kaiserlichen Hühnerzüchters, dieses als Narr verkleideten Weltenrichters, dessen Tragik genau in der Komödie seines Endes, in der Pensionierung liegt, der dann aber – und nur dies macht ihn gross – die Einsicht und die Weisheit hat, auch sie zu akzeptieren.“[96]

[...]


[1] Dürrenmatt, Friedrich. Komödien II, S. 48.

[2] Dürrenmatt, Friedrich. Komödien I, S. 116.

[3] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 59 f.

[4] Daselbst, S. 60.

[5] Daselbst, S. 59.

[6] Daselbst, S. 60.

[7] Daselbst, S. 60.

[8] Goertz, Heinrich. Friedrich Dürrenmatt, S. 15.

[9] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 63.

[10] Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 56.

[11] Daselbst, S. 189.

[12] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 124.

[13] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 31.

[14] Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 134.

[15] Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 63.

[16] Daselbst, S. 44.

[17] Daselbst, S. 44.

[18] Daselbst, S. 44.

[19] Daselbst, S. 45.

[20] Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 142.

[21] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 48.

[22] Daselbst, S. 59.

[23] Daselbst, S. 60 f..

[24] Daselbst, S. 62.

[25] Schmidt, Karl (Hrsg.). Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame, S. 26.

[26] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 62.

[27] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 25.

[28] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 63.

[29] Schmidt, Karl (Hrsg.). Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame, S. 25.

[30] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 23.

[31] Daselbst, S. 61.

[32] Daselbst, S. 64.

[33] Daselbst, S. 137 f.

[34] Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 91.

[35] Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 133.

[36] Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 91.

[37] Daselbst, S. 91.

[38] Daselbst, S. 92.

[39] Daviau, Donald G. The Role of „Zufall“ in the Writings of Friedrich Dürrenmatt, S. 287. (Es ist Dürrenmatts Absicht, die Reaktion des Individuums auf Umstände, die sich seiner Kontrolle entziehen, zu zeigen.) (Uebers. d. Verf.).

[40] Profitlich, Ulrich. Der Zufall in den Komödien und Detektivromanen Friedrich Dürrenmatts, S. 266.

[41] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 199.

[42] Dürrenmatt, Friedrich. Das Versprechen, S. 18 f..

[43] Daselbst, S. 145.

[44] Neumann, Gerhard; Schröder, Jürgen; Karnick, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss, S. 29.

[45] Daselbst, S. 33 f.

[46] Bolliger, Luis; Buchmüller Ernst (Hrsg.). play Dürrenmatt, S. 245.

[47] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 62.

[48] Daselbst, S. 62 f.

[49] Daselbst, S. 62.

[50] Schulte, Vera. Das Gesicht einer gesichtslosen Welt, S. 4

[51] Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 93.

[52] Daselbst, S. 92.

[53] Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 24 f.

[54] Hoffmann, Werner. La tragicomedia de Dürrenmatt, S. 97 ff. (Dürrenmatt schliesst in die Welt seiner Komödien das Groteske mit ein und mischt das Düstere mit dem Komischen, so die Grenzen zwischen den dramatischen Gattungen verwischend. ... Das komische Element seiner Tragikomödien hat nicht nur eine humoristische, sondern auch eine satirische Nuance, und das tragische Element widerspiegelt das heldenmässige, jedoch vergebliche Bemühen, in dieser ungestalteten Welt, deren groteskes Erscheinungsbild die Tragikomödie enthüllt, Ordnung zu schaffen.) (Uebers. d. Verf.).

[55] Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 127 f.

[56] Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 11.

[57] Daselbst, S. 11.

[58] Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 11.

[59] Daselbst, S. 15.

[60] Daselbst, S. 126.

[61] Braak, Ivo. Poetik in Stichworten, S. 279.

[62] Daselbst, S. 279 f.

[63] Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 276.

[64] Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 355.

[65] Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 228.

[66] Schulte, Vera. Das Gesicht einer gesichtslosen Welt, S. 65.

[67] Bienek, Horst. Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 109.

[68] Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 134.

[69] Allemann, Beda. Die Struktur der Komödie bei Frisch und Dürrenmatt, S. 216 f.

[70] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 74.

[71] Daselbst, S. 13.

[72] Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 141.

[73] Daselbst, S. 34.

[74] Fickert, Kurt J. Wit and Wisdom in Dürrenmatt’s Names, S. 386. (Ill – französisch ‘er’ – hat im Stück die Funktion des Jedermann.) (Uebers. d. Verf.)

[75] Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 143.

[76] Daselbst, S. 141.

[77] Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 41.

[78] Daselbst, S. 58.

[79] Daselbst, S. 25 f.

[80] Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 32.

[81] Dürrenmatt, Friedrich. Der Meteor. Dichterdämmerung, S. 112.

[82] Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 12.

[83] Dürrenmatt, Friedrich. Der Meteor. Dichterdämmerung, S. 109.

[84] Fickert, Kurt J. Wit and Wisdom in Dürrenmatt’s Names, S. 388. (Mittels seiner Erfindungsgabe hat er die Namen seiner dramatis personae derart in das Stück integriert, dass sie zu einem Teil des weitreichenden Humors werden, der seine ‘Tragikomödie’ belebt.) (Uebers. d. Verf.).

[85] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 19.

[86] Daselbst, S. 60.

[87] Daselbst, S. 51.

[88] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 36.

[89] Daselbst, S. 48.

[90] Daselbst, S. 87.

[91] Daselbst, S. 115.

[92] Daselbst, S. 40.

[93] Daselbst, S. 43.

[94] Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 383.

[95] Dürrenmatt, Friedrich. Der Meteor. Dichterdämmerung, S. 13.

[96] Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Große, S. 120.

Fin de l'extrait de 149 pages

Résumé des informations

Titre
Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke. Erläuterungen zu "Die Physiker" und "Der Besuch der alten Dame"
Auteurs
Année
2013
Pages
149
N° de catalogue
V262268
ISBN (ebook)
9783656503088
ISBN (Livre)
9783956870873
Taille d'un fichier
765 KB
Langue
allemand
Mots clés
friedrich, dürrenmatts, theaterstücke, erläuterungen, physiker, besuch, dame
Citation du texte
Eveline Zubriggen (Auteur)Catrin Altzschner (Auteur)Thomas Schiller (Auteur), 2013, Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke. Erläuterungen zu "Die Physiker" und "Der Besuch der alten Dame", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262268

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