Ja, Nein, Vielleicht? - Homosexualität und Coming Out in der deutschen Jugendliteratur


Livre Spécialisé, 2013

289 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Sabine Lommatzsch: Lesbisches „coming-out” in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Konzepte und Darstellungsformen
0. Einleitung
1. Erläuterung der Begriffe Lesbe, lesbisch und „coming-out”
1.1. Lesbe, lesbisch
1.2. „coming-out”
2. Textuntersuchungen: Lesbisches „coming-out“ als Haupthandlung
2.1. Lesbisches „coming-out” von Jugendlichen
2.1.1. Pit Umber: Eine Liebe in Ostpreußen
2.1.2. Angelika Mechtel: Liebe Pia – liebe Tochter – Anne Köpfer: Errol Flynn hat nie geweint
2.1.3. Susanne Fülscher: Vielleicht wird es ein schöner Sommer
2.1.4. Meredith Sommer: Mal langsam, Baby!
2.1.5. Fazit: Lesbisches „coming-out” von Jugendlichen
2.2. Lesbisches „coming-out” von unverheirateten Frauen
2.2.1. Heidi Hassenmüller: Warten auf Michelle
2.2.2. Martina Müller: Tauwetter in St. Louis
2.2.3. Petra Urban: Die Maulwürfin
2.2.4. Fazit: Lesbisches „coming-out” von unverheirateten Frauen
2.3. Lesbisches „coming-out” von verheirateten Frauen und Müttern
2.3.1. Manuela Kuck: Lindas Entscheidung
2.3.2. Elke Vesper: Von wegen easy
2.3.3. Fazit: Lesbisches „coming-out” von verheirateten Frauen und Müttern
2.4. Fazit und Auswertung der Untersuchungsergebnisse für Texte mit lesbischem „coming-out” als Haupthandlung
3. Textuntersuchungen: Lesbisches „coming-out” als Nebenhandlung
3.1. Lesbisches „coming-out” von unverheirateten Frauen
3.1.1. Gabriele Gelien: Eine Lesbe macht noch keinen Sommer
3.1.2. Lisa Pei: Die letzte Stunde
3.1.3. Karin Rick: Der Rückfall
3.1.4. Fazit: Lesbisches „coming-out” von unverheirateten Frauen
3.2. Lesbisches „coming-out” von verheirateten Frauen und Müttern
3.2.1. Manuela Kuck: Neue Zeiten für Linda
3.2.2. Nicole Müller: Denn das ist das Schreckliche an der Liebe
3.2.3. Fazit: Lesbisches „coming-out” von verheirateten Frauen und Müttern
3.4. Fazit und Auswertung der Untersuchungsergebnisse für Texte mit lesbischem „coming-out” als Nebenhandlung
4. Abschluss und Ausblick
5. Literaturverzeichnis

Kathrin Kadasch: Gleichgeschlechtliche Lebensweisen aufgezeigt am Beispiel von Jugendliteratur
Motivation
Aufbau der Arbeit
1. Wie Normalität hergestellt wird
1.1. Normalität als Konstruktion von Macht bezogen auf die Kategorien Geschlecht – Sexualität – Lebensform
1.1.1. Zuweisungen von Geschlechterrollen
1.2. Normalbiographie
1.2.1. Wahl der Lebensformen
2. Gesellschaftliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen
2.1. Lesbische Mütter- schwule Väter und deren Kinder
2.2. Exemplarische Darstellung wie gleichgeschlechtliche Lebensweisen in der Schule thematisiert werden – Aufklärungsprojekt Lambda
3. Weibliche Pubertät und Adoleszenz
3.1. Die Loslösung vom Elternhaus
3.1.1. Geschlechtsidentität und weibliche Rollenmuster
3.1.2. Der fremde Blick
3.1.3. Die Freudsche Theorie und männliche Anerkennung durch „organischen Mangel“
3.2. Mädchenfreundschaften
3.3. Sexuelle Entwicklung und der weibliche Körper
3.4. Gleichgeschlechtliche Liebe in der Pubertät
4. Diskursanalyse
4.1. Analyse von Literatur nach der Diskurstheorie von Siegfried Jäger
4.2. Diskursanalyse und künstlerischer Text (Weertje Willms)
5. Gleichgeschlechtliche Lebensweisen – Beispiele aus der Jugendliteratur
5.1. Vorstellung der drei Werke
I. Cornelia Funke: Die wilden Hühner und die Liebe (2003)
II. Mirjam Müntefering: Verknallt in Camilla (2004)
III. Kristina Dunker: Der Himmel ist achteckig (1999)
5.2. Reihenfolge der Analyse: Fragestellungen
5.2.1. Normalität – Normalbiographie/Familie
5.2.2. Gesellschaftliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen
5.2.3. Zuweisung von Geschlechterrollen
5.2.4. Pubertät
6. Ausblick
Literaturverzeichnis

Sabine Lommatzsch: Lesbisches „coming-out” in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Konzepte und Darstellungsformen

0. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit untersuche ich lesbisches „coming-out” in fiktionalen Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten. Ziel meiner Arbeit ist es, anhand exemplarischer Textuntersuchungen zu beschreiben, mit welchen inhaltlichen Konzepten und narrativen Darstellungsformen lesbisches „coming-out” literarisch umgesetzt wird, und zu hinterfragen, ob zwischen den Konzepten und Darstellungsformen aller Texte des Textkorpus ein schematischer Zusammenhang besteht. Des Weiteren werde ich untersuchen, ob in den Texten ähnliche oder gleiche Handlungsmuster und Geschehensverläufe, gemeinsame Zeit-, Raum- und Figurenkonstellationen, eventuell stereotype Figurencharakterisierungen und andere gemeinsame Details auftreten. Ein weiteres Ziel ist es, mit der vorliegenden Arbeit einen Überblick über die zeitgenössischen Veröffentlichungen mit lesbischer „coming-out”-Thematik zu bieten.

Im literaturwissenschaftlichen Kontext knüpft diese Untersuchung an mehrere Magistra-Arbeiten mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten im Bereich lesbischer Thematik[1] sowie an die Dissertationen von Madeleine Marti und Birgit Waberski an,[2] die mit ihren Untersuchungen einen umfangreichen Überblick über die letzten fünf Jahrzehnte lesbischer Geschichte und deutschsprachiger Literatur mit lesbischer Thematik bieten.

Im Folgenden werde ich zum besseren Verständnis nicht nur die Vorgehensweise und den Aufbau meiner Arbeit vorstellen, sondern zuvor auch einige allgemeine Beobachtungen zur Situation lesbischer Frauen in der heutigen Gesellschaft und zum Bereich lesbischer Thematik in der Gegenwartsliteratur vorausschicken.

Lesbische Frauen sind in unserer Gesellschaft gegen Ende der neunziger Jahre sichtbarer als noch vor zwanzig bis dreißig Jahren. Dies zeigt sich unter anderem in der gewachsenen Medienpräsenz. Lesbische Frauenfiguren treten beispielsweise in Kino- und Fernsehfilmen sowie in Fernsehserien auf, und prominente Frauen erzählen in Talk-Shows ganz offen, dass sie lesbisch leben.

Auch in der deutschsprachigen Literatur spiegelt sich die sichtbarer gewordene Präsenz lesbischer Frauen wider. Die Zahl der literarischen, fiktionalen Texte, in denen lesbische Existenz thematisiert wird, ist in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts mit ca. einhundert Veröffentlichungen gegenüber den Jahrzehnten davor stark angestiegen.[3] Außerdem lässt sich für die achtziger Jahre eine formale Ausweitung der Texte auf alle Genres feststellen.[4] Für die neunziger Jahre werden sich sowohl die Zahl der Veröffentlichungen[5] als auch das alle Genres umfassende Spektrum halten. Die inhaltliche Bandbreite der Veröffentlichungen reicht von Texten, in denen lesbische Lebensweise als äußerst problematisch dargestellt wird, bis hin zu Texten, die Lesbischsein als eine Selbstverständlichkeit beschreiben.

Die westliche Gesellschaft allerdings, in der lesbische Frauen ein wenig an Sichtbarkeit gewinnen und auch immer mehr Texte mit lesbischer Thematik veröffentlicht werden, sieht lesbische Liebe nach wie vor nicht als eine Selbstverständlichkeit an. Auch in den neunziger Jahren ist diese Gesellschaft immer noch heterosexuell geprägt und heterosexuell normiert. Heterosexuelle Strukturen und Vorstellungen werden als selbstverständlich gesehen und durch Erziehung und Sozialisation weitergegeben. Für eine lesbische Frau bedeutet dies, dass sie von der Umwelt von vornherein und solange als hetero-
sexuell (an-)gesehen wird, bis sie selbst deutlich macht, dass sie lesbisch ist. Weil innerhalb einer heterozentristischen [6] Gesellschaft Heterosexualität jedoch nicht nur von vornherein als das Selbstverständliche, als „Normalität”, gesetzt wird, sondern gleichzeitig alle anderen sexuellen Lebensweisen als „Abweichungen” definiert werden, widersetzt sich eine lesbische Frau außerdem immer gesellschaftlichen Normvorstellungen und den darin festgelegten Geschlechtsrollenforderungen. Lesbischsein bedeutet daher für eine lesbische Frau nicht nur, sich mit ihrer eigenen sexuellen Identität auseinanderzusetzen, sondern auch, sich immer wieder mit einer heterosexuell normierten Gesellschaft auseinandersetzen zu müssen. Dazu gehört auch, dass jede lesbische Frau wiederholt in eine Situation gerät, in der sie entscheiden muss, ob sie sich explizit als Lesbe zu erkennen gibt oder nicht. Also sind in der Entwicklung jeder lesbischen Frau nicht nur die eigene Ahnung und das Bewusstwerden vom eigenen Lesbischsein von zentraler Bedeutung, sondern auch immer wieder die alltägliche Frage nach dem Verstecken oder Öffentlichmachen der lesbischen Identität.

Auch in den Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in denen lesbische Lebensweisen thematisiert sind, wird, unabhängig vom Grad der Problemhaftigkeit oder der Selbstverständlichkeit des Lesbischseins in der Darstellung, häufig beschrieben, wie sich eine Frau allmählich bewusst wird, dass sie lesbisch ist und ob sie dies für sich selbst akzeptiert oder nicht, wie sie ihr Lesbischsein lebt, versteckt oder offen, und welchen Situationen sie gegenübersteht, wenn ihr Lesbischsein für andere sichtbar wird. Die literarische Darstellung dieser zentralen Aspekte vom lesbischen „coming-out” ist Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.

Das dieser Arbeit zugrunde liegende Textkorpus setzt sich aus vierunddreißig fiktionalen Prosatexten[7] verschiedener Autorinnen aus der BRD, Österreich und der Schweiz zusammen. Dreizehn Texte sind kürzere Erzähltexte, und einundzwanzig sind Romane, darunter acht Kriminalromane, drei Jugendromane für Mädchen sowie ein zeithistorischer Roman. Alle Texte haben neben den Merkmalen fiktional, deutschsprachig und zeitgenössisch ein inhaltliches Merkmal gemeinsam: lesbisches „coming-out”. Was unter lesbischem „coming-out” verstanden wird und welche Merkmale für lesbisches „coming-out” kennzeichnend sind, ist also nicht nur innerhalb der Untersuchung, sondern bereits in deren Vorfeld, bei der Auswahl der einzelnen Texte, von Bedeutung. Daher werde ich in einem ersten Kapitel die Begriffe Lesbe, lesbisch und „coming-out” in ihrem konkret-lebensweltlichen Rahmen erläutern und Charakteristika lesbischen „coming-outs” aufführen.[8]

Das zweite und dritte Kapitel bilden mit den exemplarischen inhaltlichen und formalen Textuntersuchungen den Hauptteil dieser Arbeit. Aus dem Textkorpus der von mir untersuchten vierunddreißig Texte habe ich fünfzehn Texte ausgewählt, die in Bezug auf die innerhalb dieser Arbeit untersuchten Aspekte repräsentativ für weitere Texte des Textkorpus stehen. Die exemplarischen Untersuchungen dieser fünfzehn Texte werde ich im zweiten und dritten Kapitel ausführlich darstellen.[9]

Unter dem inhaltlichen Untersuchungsaspekt werde ich die dargestellten Lebenswelten einzelner Texte beschreiben: wie eine lesbische Frau charakterisiert wird, die sich „outet”, und was ihr Umfeld und die Personen kennzeichnet, vor denen sie sich „outet”. Figurencharakterisierungen und -konstellationen sowie Zeit- und Raumkonstellationen einzelner Texte werden also untersucht, um aufzuzeigen, wie und in welchem Rahmen sich darin lesbisches „coming-out” vollzieht.

Der formale Untersuchungsaspekt bezieht sich auf die Frage, mit welchen erzählerischen Mitteln lesbisches „coming-out” dargestellt wird. Hier werden also die narrativen Darstellungsformen einzelner Texte wie z. B. Erzählinstanzen, Perspektiven, Erzähl- und Zeitebenen aufgeführt. Unter den formalen Aspekt fällt des Weiteren die Betrachtung des Sprachgebrauchs in den Texten.

Über die Betrachtung der einzelnen Texte hinaus werde ich, wie bereits erwähnt, eventuelle Ähnlichkeiten und Entsprechungen, wie etwa gemeinsame Handlungsmuster und wiederkehrende Figuren- und Raumkonstellationen, zwischen den einzelnen Texten herausarbeiten.

In die Untersuchung werden des weiteren eventuell bestehende wechselseitige Beziehungen zwischen dem Konzept einer dargestellten Lebenswelt und den dafür gewählten narrativen Darstellungsformen einzelner Texte miteinbezogen und in Hinblick auf eine eventuell mögliche Schematisierung für das gesamte Textkorpus betrachtet.

Im zweiten Kapitel erfolgt zunächst die Untersuchung von Texten, in denen lesbisches „coming-out” und mindestens eine lesbische Protagonistin als Haupthandlung und zentrales Thema bzw. zentrale Figur im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Daran schließt sich im dritten Kapitel die Untersuchung von Texten an, in denen mindestens eine lesbische Protagonistin entweder als Haupt- oder als Nebenfigur auftritt und lesbisches „coming-out” einen für das Gesamtgeschehen des Textes eher untergeordneten Rang einnimmt, also etwa in einer Episode geschildert oder an mehreren Textstellen als Nebenhandlung thematisiert wird.

Mit dieser formalen Einteilung aller Texte in die zwei Kategorien Haupt- und Nebenhandlung werde ich der unterschiedlichen thematischen Gewichtung, die sich auf die Ausführlichkeit der Darstellung von lesbischem „coming-out” in den einzelnen Texten auswirkt, gerecht. Zudem kann ich somit bereits erste formale Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten der Texte erfassen und deutlich machen.

Im Verlauf der Untersuchungen hat sich des Weiteren gezeigt, dass insbesondere die Figurenmerkmale Alter und Familienstand der lesbischen Protagonistinnen zum Zeitpunkt ihres „coming-outs” von vornherein ausschlaggebend sind für die Textgestaltung. Innerhalb des zweiten und dritten Kapitels erfolgt daher eine weitere Kategorisierung der Texte nach diesen inhaltlichen Kriterien.[10]

Diese Art der Einteilung aller Texte des Textkorpus in die zwei formalen und darin wiederum in die verschiedenen inhaltlichen Kategorien ermöglicht es, die jeweiligen Texte einer Kategorie untereinander zu vergleichen und damit bei gleicher thematischer Gewichtung von lesbischem „coming-out” sowie bei gleicher oder ähnlicher Figurencharakterisierung weitere wesentliche Übereinstimmungen und Unterschiede der Texte deutlich hervorzuheben. Die Ergebnisse dieses Untersuchungsschrittes werden von mir jeweils in kurzen Faziten innerhalb der inhaltlichen Kategorien der zwei Untersuchungskapitel zusammengefasst.

Am Ende des zweiten und dritten Kapitels nehme ich diese Untersuchungsergebnisse jeweils in auswertenden Fazits wieder auf, um dort mögliche wesentliche inhaltliche und formale Übereinstimmungen und Unterschiede aller Texte einer formalen Kategorie aufzuzeigen. Das auswertende Fazit des dritten Kapitels umfasst darüber hinaus einen Vergleich der Ergebnisse beider Untersuchungskapitel.

Abschließend werde ich in einem vierten Kapitel offene, weiterführende Fragen ansprechen, die sich mir im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen gestellt haben.

1. Erläuterung der Begriffe Lesbe, lesbisch und „coming-out”

1.1. Lesbe, lesbisch

Der Begriff Lesbe und das dazugehörige Adjektiv lesbisch leiten sich von dem Namen der griechischen Insel Lesbos ab, auf der um 600 v. Chr. die Dichterin Sappho in ihren Gedichten gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen beschreibt.

Im 20. Jahrhundert ist der Begriff Lesbe ursprünglich negativ konnotiert und wird erst mit der Neuen Frauenbewegung in den siebziger Jahren von homosexuellen Frauen, die sich selbst Lesben nennen, positiv umgewertet.[11] Für den Untersuchungsbereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist der Begriff Lesbe als Selbstbezeichnung homosexueller Frauen also vorwiegend mit positiver Konnotation verbunden und weit verbreitet.[12] Daneben wird der Begriff Lesbe als Fremdbezeichnung allerdings auch immer noch im abwertenden Sinn verwendet, weshalb er trotz der positiven Umdeutung als mögliche Selbstbezeichnung von manchen lesbischen Frauen in individueller Entscheidung weiterhin abgelehnt wird.

So individuell diese Entscheidung ist, so verschieden sind auch die Auffassungen, welche und was für eine Frau Lesbe oder lesbisch ist. Es gibt keine allgemeingültige Definition des Begriffes Lesbe.

Wenn ich sage, ich bin lesbisch, so produziert dieses „Coming-out” nur eine neue, andere Form des „Closet”, des Schweigens. [...] [V]orher wußtest du nicht, ob ich lesbisch „bin”, jetzt weißt du nicht, was es heißt, dass ich es bin. (Butler 1996, 18)

Dieses Zitat von Judith Butler verdeutlicht das Problem: Welche Frau sich selbst als Lesbe oder lesbisch bezeichnet oder von anderen bezeichnet wird und was dann wiederum im einzelnen darunter verstanden wird, hängt von zu unterschiedlichen – zeitgeschichtlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, individuellen – Kriterien ab, als dass eine einheitliche Definition gefunden werden könnte, in der sich alle lesbischen Frauen wiederfinden.

Lesbe ist also als

ein[] Begriff aufzufassen, bei dem es keine einzige universelle Eigenschaft oder Verhaltensweise gibt, über die sich alle Lesben als solche definieren ließen. (Palzkill 1994, 234; Hervorhebung im Original)

Reale lesbische Existenz lässt sich nicht in Muster oder Definitionen drücken, ohne dass sie dabei Aspekte ihrer Vielgestaltigkeit verliert. Lesbischsein ist außerdem immer nur ein Aspekt der Identität, ein Charakteristikum unter vielen. Grundsätzlich halte ich es daher für richtig, den Begriff Lesbe als Identitätskategorie so offen wie möglich zu halten. Das bedeutet,

„Lesbe” als ein dynamisches, unabgeschlossenes sozio-diskursives Konstrukt zu konzipieren, das es ermöglicht, eine Differenz einzufordern und zu verhandeln, ohne damit rigide Grenzziehungen und normative Subjektpositionen zu befestigen. (Engel 1996, 80)

Auch innerhalb der vorliegenden Arbeit wird das Konstrukt Lesbe so offen wie möglich gehalten, gleichzeitig jedoch so geschlossen wie für ein Mindestmaß an terminologischer Klarheit und Übereinstimmung nötig. Die von mir vorgenommenen Eingrenzungen verstehen sich also nur innerhalb dieses Untersuchungsrahmens. Über diesen Rahmen hinaus darf die Vielgestaltigkeit

realer lesbischer Existenz nicht übersehen werden, sie ist aber in ihren Einzelzügen für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung. Hier ist nur das relevant, was in den einzelnen Texten des Textkorpus auftritt.

Die Kriterien, die ich innerhalb dieser Arbeit für den Begriff oder das Konstrukt Lesbe zugrunde gelegt habe, sind folgende: Der Begriff Lesbe bezeichnet eine Frau, die ihre Liebe, Zuneigung und gelebte Sexualität auf das gleiche Geschlecht richtet und somit eine umfassende Beziehung nicht mit einem Mann, sondern mit einer Frau wünscht oder lebt. Als wesentliches Merkmal einer als Lesbe oder lesbisch zu bezeichnenden Frau muss also eine wie auch immer im einzelnen gestaltete soziale, emotionale und erotische Neigung dieser Frau zu Frauen gegeben sein, die eine lesbische Beziehung mit einer anderen Frau prinzipiell ermöglicht.

Inwieweit eine lesbische Frau mit ihrem Lesbischsein einen politischen Standpunkt verbindet oder bewusst eine alternative Lebensform darstellen möchte, ist für die Definition innerhalb dieser Untersuchung nicht relevant.

Außerdem ist es als Kriterium einer als lesbisch zu definierenden Frau weder notwendig, dass diese sich selbst explizit als Lesbe bezeichnet oder von anderen als Lesbe bezeichnet wird, noch, dass sie ausschließlich, konsequent und konstant eine lesbische Beziehung führt. Innerhalb der vorliegenden Arbeit wird eine Frau in dem Moment, in dem sie eine lesbische Beziehung führt, auch dann als Lesbe definiert, wenn sie vor oder nach dieser lesbischen Beziehung auch heterosexuelle Beziehungen geführt hat oder führt, also über den gesamten Zeitraum betrachtet bisexuell lebt.

Wird eine lesbische Beziehung geführt, so ist diese wiederum unabhängig vom Stellenwert, den gelebte Sexualität in dieser Beziehung einnimmt:

Der Begriff „lesbisch” bezeichnet eine Beziehung, in der das stärkste Gefühl und die tiefste Zuneigung einer Frau einer Frau gelten. Ob die Sexualität einen größeren oder kleineren Platz einnimmt oder aber auch gänzlich fehlt: Zwei Frauen wünschen sich, die meiste Zeit miteinander zu verbringen und die meisten Aspekte des Lebens miteinander zu teilen. (Faderman 1990, 16)

Eine Frau wird also als lesbisch bezeichnet, wenn sie

über freundschaftliche, vertraute, emotionale Beziehungen hinaus auch körperliche, zärtliche Kontakte mit einer Frau pflegt oder zumindest das Bedürfnis danach verspürt. (Sasse 1995, 19)

Ebenso gilt innerhalb dieser Untersuchung, dass auch eine lesbische Frau, die ihr Lesbischsein in der Öffentlichkeit nicht offen lebt, sondern teilweise, überwiegend oder ganz versteckt, als Lesbe definiert wird.

1.2. „coming-out”

Der Begriff „coming-out” leitet sich von dem englischen Verbgefüge to come out ab, das ins Deutsche mit herauskommen oder sichtbar/bekannt/veröffentlicht werden übersetzt werden kann. Im Zusammenhang mit Lesbischsein[13] bedeutet der Begriff „die Selbstentdeckung und Bejahung des eigenen Lesbischseins zunächst vor sich selbst und dann auch vor der Öffentlichkeit.” (Reinberg/Roßbach 1995, 40)

In der deutschen Sprache wird der Begriff „coming-out” mit dieser Bedeutung seit Anfang der achtziger Jahre gebraucht.[14]

Ein „coming-out” verläuft in verschiedenen Phasen, die in der Forschung unterschiedlich bezeichnet und charakterisiert werden. Für die vorliegende Arbeit ist lediglich die Einteilung in inneres und äußeres „coming-out” von Belang.

Als inneres „coming-out” wird die individuell verschieden lange Entwicklung vom Erkennen der eigenen lesbischen Gefühle bis zum Akzeptieren und Benennen des Lesbischsein vor der eigenen Person bezeichnet.[15]

Äußeres „coming-out” wird der Zeitpunkt genannt, an dem eine lesbische Frau ihr Lesbischsein lebt und öffentlich bekennt und sichtbar macht. Das Sichtbarmachen des eigenen Lesbischseins in der Öffentlichkeit wird auch mit dem reflexiven Verb „sich outen” bezeichnet. Ein äußeres „coming-out” bedeutet also immer ein Handeln einer Person.

Grundsätzlich können zwei Kategorien für äußeres „coming-out” erstellt werden: äußeres „coming-out” durch a) sprachliches Handeln und b) nichtsprachliches Handeln. Äußeres „coming-out” als sprachliches Handeln umfasst alle mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, in denen eine lesbische Frau ihr Lesbischsein direkt anspricht, umschreibt oder indirekt darauf verweist, indem sie z. B. Bezug nimmt auf lesbisch konnotierte Traditionen. Äußeres „coming-out” als nichtsprachliches Handeln ist gekennzeichnet durch gestisch-mimische Zeichen, häufig durch die Körpersprache zweier lesbischer Frauen untereinander, etwa durch Zuwerfen verliebter Blicke, Austauschen von Zärtlichkeit oder Küssen, überhaupt durch einen sehr engen, vertrauten, zärtlichen Umgang miteinander, der Außenstehende auf eine Liebesbeziehung schließen lässt.[16]

Beim äußeren „coming-out” kann des Weiteren näher unterschieden werden zwischen primärem und sekundärem „coming-out”. Primäre äußere „coming-outs” sind die ersten äußeren „coming-outs” einer lesbischen Frau überhaupt, die zumeist noch während des inneren „coming-outs” oder als Abschluss dieser Phase stattfinden. Sekundäre äußere „coming-outs” dagegen sind „coming-outs” einer lesbischen Frau, die schon über einen längeren Zeitraum offen lesbisch lebt und sich in ihrem Alltag bereits ein oder mehrere Male in verschiedenen Situationen als Lesbe sichtbar gemacht und somit „geoutet” hat.

Beim äußeren „coming-out” ist jedoch nicht nur der Aspekt des Sichtbarmachens, sondern auch der des Sichtbarwerdens von Interesse. Für eine eindeutige Begriffsklärung innerhalb der vorliegenden Arbeit ist hierzu folgendes hinzuzufügen:

Auch ein Sichtbarwerden des Lesbischseins, das von einer lesbischen Frau nicht gewollt oder beabsichtigt ist, sondern unwissentlich, versehentlich oder unfreiwillig geschehen ist, ist ein äußeres „coming-out”, solange das Handeln, das das Lesbischsein sichtbar macht, von dieser lesbischen Frau selbst ausgeht.[17]

Weiterhin gilt, dass eine lesbische Frau nach einem äußeren „coming-out” vor anderen Personen grundsätzlich von diesen als Lesbe erkannt werden kann, weil ihr Lesbischsein sichtbar geworden ist. Unerheblich ist hierbei, ob die anderen Personen das in einem äußeren „coming-out” sichtbar gemachte Lesbischsein tatsächlich wahrnehmen und in der Frau nun eine lesbische Frau erkennen oder nicht.

Gelingt es einer Frau, ihr Lesbischsein nach einer Phase des inneren „coming-outs” zu akzeptieren und zu benennen sowie mit einem äußeren „coming-out” vor anderen sichtbar zu machen, bezeichne ich dies innerhalb der vorliegenden Arbeit als gelungene, lesbische Identitätsfindung und somit als gelungenes „coming-out”.

Das folgende Schema fasst die Bedeutungsmöglichkeiten vom lesbischen „coming-out” zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: lesbisches „coming-out”

2. Textuntersuchungen: Lesbisches „coming-out“ als Haupthandlung

Lesbisches „coming-out” steht in fünfzehn Texten des dieser Arbeit zugrunde liegenden Textkorpus im Mittelpunkt des Geschehens. Anhand des Alters und des Familienstandes der lesbischen Hauptfigur(en) dieser fünfzehn Texte, von denen ich für die folgenden exemplarischen Untersuchungen zehn Texte – vier Erzählungen und sechs Romane – ausgewählt habe, ergibt sich eine Einteilung der Texte in die Kategorien: 1.) „coming-out” von Jugendlichen, 2.) „coming-out” von unverheirateten Frauen und 3.) „coming-out” von verheirateten Frauen und Müttern.

2.1. Lesbisches „coming-out” von Jugendlichen

In fünf Romanen und zwei Erzählungen des Textkorpus steht lesbisches „coming-out” von Jugendlichen bzw. jungen Frauen im Alter von vierzehn bis zweiundzwanzig Jahren als zentrales Thema im Mittelpunkt des Geschehens. Ein Roman spielt in den vierziger, beide Erzählungen spielen in den fünfziger Jahren. Die übrigen vier Romane, von denen ich zwei exemplarisch behandeln werde, beschreiben lesbisches „coming-out” in den neunziger Jahren. Da sich die Texte durch den zeitlichen Kontext und die damit verbundene gesellschaftliche Situation, innerhalb derer sich die „coming-outs” vollziehen, inhaltlich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, werde ich in den nachfolgenden Untersuchungen zunächst den Text mit „coming-out” in den vierziger Jahren behandeln und daran die Texte mit „coming-out” in den fünfziger und neunziger Jahren anschließen.

2.1.1. Pit Umber: Eine Liebe in Ostpreußen

Der zeithistorische Roman „Eine Liebe in Ostpreußen” von Pit Umber, der im Präteritum und in auktorialer Erzählsituation unter Einhaltung der Chronologie der Ereignisse erzählt wird, spielt von Juni 1944 bis einschließlich Januar 1945 in Ostpreußen.[18] Die Hauptfiguren des Textes, die auch die Blickwinkel liefern, aus denen erzählt wird, sind Antonia und Edith, wobei ein perspektivisches Übergewicht auf Antonias Seite besteht. Die Ende 1922 geborene Antonia Treskow, auch kurz Toni genannt, ist Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers. Sie führt nach dem Tod ihres Vaters gegen den Willen ihrer Mutter das Gut Treskow weiter.

Gleich zu Beginn des Romans wird erzählt, dass Antonia sich nach einer zufälligen Begegnung in Edith Romeike verliebt, die drei Jahre jünger ist als Antonia und mit ihrem Vater, einem SS-Ortsgruppenleiter, in Schloßwalde, einem Nachbarort von Gut Treskow, lebt (19-23).[19] Antonias Gefühle werden von Edith erwidert, und beide bilden nach kurzer Zeit ein lesbisches Paar. Beide jungen Frauen machen in dieser lesbischen Beziehung ihre ersten Erfahrungen mit Liebe und Sexualität.

Der Roman ist in einer ländlichen Gegend angesiedelt, in der die Gesellschaft als eine streng heterosexuell normierte beschrieben wird. Dies zeigt sich gleich zu Beginn des Romans unter anderem darin, dass Antonia auf Wunsch ihrer Mutter verheiratet werden soll (10, 29 u.ö.). Lesbische Frauen treten hier nicht auf, so dass die zwei jungen Frauen mit ihren lesbischen Gefühlen isoliert sind.

Die Isolation der lesbischen Frauen in einer ausschließlich heterosexuell geprägten Umgebung allein hebt die „coming-out”-Handlung nicht von denen anderer Texte ab. Was die „coming-out”-Handlung jedoch grundsätzlich von allen anderen Texten des Textkorpus unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie in einer Zeit angesiedelt ist, in der Homosexualität bei Strafe verboten ist, einer Zeit also, in der lesbische Frauen sich unsichtbar machen müssen.[20] Einem „coming-out” stehen hier also nicht nur die Probleme und Widerstände entgegen, die die lesbischen Frauen selbst mit ihrem Lesbischsein haben und die von ihrem familiären Umfeld auf sie einwirken, sondern es tritt eine berechtigte Angst vor existentieller Bedrohung seitens der Gesellschaft hinzu, die in diesem Maße in keinem der anderen Texte gegeben ist.

Außerdem kommt hinzu, dass hier eine Art Standesdünkel und zudem entgegengesetzte parteipolitische Einstellungen der Väter gegen eine Verbindung der beiden jungen Mädchen sprechen, was ebenfalls in keinem der anderen Texte des Textkorpus auftritt.[21]

Dennoch beschreibt auch dieser Roman lesbisches „coming-out”, weil die beiden Hauptfiguren trotz aller Schwierigkeiten zu ihrer Liebe stehen, ihr Lesbischsein leben und dieses auf Dauer vor ihrem näheren Umfeld nicht verbergen können. Wie sich ihr „coming-out” im Einzelnen vollzieht, wird im Folgenden dargestellt.

Wie die meisten lesbischen Protagonistinnen in den anderen Texten auch sind Antonia und Edith durch ihre lesbischen Gefühle zunächst stark verunsichert. Jede behält ihre Gefühle für sich, so dass beide anfangs gar nicht wissen, dass die andere auch verliebt ist (93). Noch bevor beide sich über ihre Gefühle zueinander und über deren Bedeutung im Klaren sind, werden diese nach außen sichtbar.

Besonders deutlich treten für die LeserInnen die Gefühle von Antonia und Edith füreinander in Zusammenhang mit einer Episode hervor, die in Königsberg spielt. Bereits im Vorfeld dieser Episode riskiert Edith einen Streit mit ihrem Vater, weil sie von ihm verlangt, dass Antonia sie zu einer offiziellen Feier nach Königsberg begleiten darf. An der Art, wie Edith sich bei ihrem Vater für Antonia einsetzt, wird deutlich, dass Edith sehr viel an ihrer neuen Freundin liegt (64/65). Antonia fährt daraufhin tatsächlich mit Edith und deren Vater nach Königsberg (67). Nach Abschluss der Feierlichkeiten bleibt Edith gegen den Willen ihres Vaters mit Antonia in Königsberg, weil diese ihr die Stadt zeigen möchte, in der sie einige Zeit in einem Internat gelebt und ihr Abitur gemacht hat (69). Beide verbringen einen sorglosen Tag in Königsberg und verpassen schließlich den letzten Zug zurück nach Schloßwalde, so dass sie die Nacht in Königsberg verbringen müssen. Sie finden Unterschlupf bei Antonias ehemaliger Deutschlehrerin, Karin Morin, die mit ihrer Freundin Theodora Krause in einer gemeinsamen Wohnung lebt (71-74).

Im Text findet hier neben der Raumerweiterung eine erst im Nachhinein als äußerst wichtig zu beurteilende Figurenerweiterung statt, denn die beiden älteren Frauen sind, wie sich an späterer Stelle (196/197) herausstellt, lesbische Frauen, die das Vertrauen von Edith und Antonia gewinnen und gute Freundinnen der beiden werden. Zunächst bleibt es jedoch bei Andeutungen auf das Lesbischsein der zwei älteren Frauen.

Während die Betten für die Gäste hergerichtet werden, wird von Theodora, genannt Theo, eine Schellackplatte von Claire Waldoff aufgelegt (75). Dies ist insofern interessant, als die Sängerin und Kabarettistin Waldoff damals bekanntermaßen lesbisch gewesen ist, lesbische Liebe in einigen ihrer Chansons besungen hat und zudem bereits Mitte der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten zur „unerwünschten Person” erklärt worden ist.[22] In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Antonia zu ihrem Abitur von ihrer Deutschlehrerin das Buch „Anja. Die Geschichte einer unglücklichen Liebe” von Anna Elisabet Weirauch geschenkt bekommen hat (57). Wie von Waldoff, so ist ebenfalls von Weirauch auch damals schon bekannt, dass sie sich in ihrem Werk unter anderem offen mit lesbischer Thematik auseinandersetzt.[23]

Die Erwähnung gerade dieser Frauen ist auffällig[24] und kann von LeserInnen mit entsprechendem Hintergrundwissen als intertextuelles Signal zwar nicht als ein sicheres Zeichen, aber doch als eine Andeutung auf die lesbische Identität der Lehrerin und ihrer Freundin gelesen werden. Die Figuren selbst geben sich innerhalb dieser Episode vor Antonia und Edith nicht als Lesben zu erkennen. Im Text wird lediglich die vertrauliche und liebevolle Umgangsweise der beiden Frauen miteinander beschrieben (71, 73), und es wird deutlich, dass sowohl Edith als auch Antonia zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, ob die Frauen ein Paar sind:

[Edith:] „Die beiden haben ein gemeinsames Schlafzimmer. [...] Meinst du, die sind nicht, ich meine ja nur so, normal?”

Antonia schlug kurz die Augen auf.

„Was ist schon normal? Und jetzt schlafe endlich!” (76)

Den darauffolgenden Tag kehren Antonia und Edith nach Schloßwalde bzw. Gut Treskow zurück. Dort angekommen, spricht Antonia mit der Haushälterin Marie über ihr Fernbleiben über Nacht und erklärt ihr ihre Gefühle:

„[...] Fühle mich, na, ich weiß nicht. Irgendwie wie ein Schmetterling im Sommerwind! Habe lauter verrückte Ideen im Kopf.” [...]

„Nu’, Se wer’n doch nich’ verliebt sein? In Ihr’m Alter sin’ de Jefühle manchmal übermächtich.” (79)

Während also für die LeserInnen schon vor der Rückkehr aus Königsberg die Liebe der jungen Frauen zueinander zu erkennen ist, wird für die Textfiguren erst nach der Rückkehr aus Königsberg deutlich, dass diese überhaupt verliebt sind.

Durch ein Gespräch zwischen Antonia und ihrer Mutter wird ersichtlich, dass die Mutter selbstverständlich annimmt, dass ihre Tochter in einen Mann und nicht in eine Frau verliebt ist. Antonia versucht vergeblich, ihrer Mutter zu erklären, dass sie nicht nach Königsberg gefahren ist, um mit ihrer ehemaligen Lehrerin über intime Angelegenheiten oder ihre Hochzeit zu sprechen, wovon die Mutter sich jedoch nicht abbringen lässt (79/80). Aus dem Gespräch wird auch sichtbar, dass sich Antonia in der Situation überfordert und einsam fühlt, einerseits einen Mann heiraten zu sollen, den sie nicht liebt, und andererseits in eine Frau verliebt zu sein (92). Hier wird ihre Isolation als lesbische Frau in einem heterosexuell bestimmten Umfeld deutlich, in dem Liebe unter Frauen nicht vorkommt.

Da Antonia sich weigert, den für sie auserwählten Mann zu heiraten, kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrer Mutter, in deren Verlauf Antonia von ihrer Mutter aus dem Haus gewiesen wird. In dieser angespannten Situation will sich Antonia vor ihrer Mutter „outen”. Doch da diese sie nicht zu Wort kommen lässt, bleibt das äußere „coming-out” unausgesprochen:

„Noch etwas! Ich bin auch tatsächlich verliebt, nur nicht in ...” „Raus! Fort mit dir!” (96)

Antonia bezieht daraufhin das Gärtnerhaus des Gutes, wohin ihr Edith nach einem Zerwürfnis mit ihrem Vater folgt, so dass jetzt also beide für eine Zeit zusammen auf dem Gut leben. Inzwischen haben sich Antonia und Edith auch in einem gegenseitigen, primären äußeren „coming-out” ihre Liebe gestanden. Dennoch sind sie mit ihren lesbischen Gefühlen weiterhin isoliert und können auch von ihrem engeren Umfeld keine Unterstützung erwarten, so dass zunächst die Unsicherheit im Umgang mit dem eigenen Lesbischsein bleibt. Hinzu kommt, dass die Parteipropaganda der NSDAP in Bezug auf ihre Mutterideologie bei Edith Spuren hinterlassen hat (115). Festzustellen ist aber, dass die jungen Frauen zumindest untereinander offen über ihre Gefühle sprechen, wenngleich sie ihr Lesbischsein mit dem sächlichen Personalpronomen „es” und dem Indefinitpronomen „etwas” umschreiben. Eine Szene, in der Antonia und Edith über ihre Liebe reden, verdeutlicht dies:

[Edith:] „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was wir hier machen.”

Antonia atmete tief durch [...]. „Weiß es auch nicht. Aber ich fühle, dass ich mehr von dir will.” [...]

„Ja, das will ich doch auch, aber ich habe keine Ahnung, wie das werden soll. Es ist doch nicht normal, was wir hier tun. Es ist doch irgendwie entartet. Frauen sollen so etwas nicht miteinander machen.” [...]

„Glaube, dass wir das einzig Richtige tun, wenn wir uns lieben. Natürlich weiß ich auch nicht, wie das funktionieren soll. Aber ich will nur dich!”

„Toni, für so etwas sind Frauen schon ins Lager gekommen. Es ist Wehrkraftzersetzung, wenn wir uns nicht unserem biologischen Schicksal fügen!”

[...] „Ja und? Ich liebe dich nun mal. Und ich weiß, dass ich lieber ins Gefängnis gehe, als mich von irgendeinem Mann schwängern zu lassen. Von mir bekommt der Führer kein Kind!” (114/115)

Antonia und Edith versuchen, ihre Liebe auch weiterhin vor den Personen in ihrem Umfeld zu verstecken, wie folgende Szenen verdeutlichen:

Marie verschwand in der Speisekammer [...]. Antonia nutzte den unbeobachteten Augenblick und drückte Edith einen [...] Kuss auf die Wange. (163)

Edith [...] rückte möglichst unauffällig etwas näher an Antonia heran. (166)

Edith drehte sich immer wieder um. Als sie endlich außer Sichtweite waren, nahm sie die Hand der Geliebten. (170)

Doch zumindest der Haushälterin Marie bleibt die Liebe zwischen den beiden nicht verborgen, und sie spricht zunächst Edith darauf an:

„Is’ schon so’n richtiger Kerl, unsere Antonia. [...] Fräulein Edith, Se sin’ de Richtige, um dem Hitzkopp ze zähm’!”

[Edith] blieb fast das Herz stehen, und sie griff sich an den Hals.

„Wie meinst du das?”

„Das wissen Sie besser, als ich es tu’. [...]” (169)

Auch ein Gespräch zwischen Antonia und ihrer Mutter wird erzählt:

[Antonias Mutter:] „[...] Sünde haftet an dir, und du solltest Buße tun [...].”

„Welche Sünde denn?”

Ihre Mutter bekreuzigte sich [...]. „Das weißt du sehr gut!” (175)

Wenig später unterhalten sich die Haushälterin und Antonias Mutter über Antonia:

„Eine junge Frau, und noch dazu meine Tochter, sollte mehr weibliche Attribute an den Tag legen. [...] Ein Mann muss ins Haus!” [...]

„Un’ wenn de junge Frau jar kein’ Mann will?” [...]

„[...] Wenn sie nicht bald heiratet [...], dann kriegt sie keinen Mann mehr ab! Und ohne Mann keine Kinder! Der Herrgott hat die Frau geschaffen, dass sie an der Seite des Mannes stehe. [...] Marie, was meinst du eigentlich damit, dass Antonia keinen Mann will?” [...]

„De Natur is’ manchmal anders, als wir uns se denken.”

Antonias Mutter zuckte zusammen und bekreuzigte sich. „O mein Gott!”

„Ja, der hat uns alle geschaffen, so wie wir sin’.”

„Ein jeder hat seinen Platz, aber nicht wider die Natur!” (191)

Und schließlich spricht Marie auch mit Antonia:

„[W]enn Se den Weech jehen wollen, denn missen Se wirklich damit le’m, dass ihre Frau Mutter da anders drieber denken tut.”

„Und was denkst du?”

„Fräuleinche’, was ich denk’, is’ meine Sach’ [...].”

„Du haßt mich also nicht?”

„Wie sollt’ ich? [...]” (209)

Bei diesen Gesprächen sind verschiedene Punkte bemerkenswert. Zunächst ist auffällig, dass Antonia und Edith durch ihr Verhalten längst nicht von allen Personen als lesbisches Paar erkannt werden. Die Mutter ahnt wohl etwas, was sie nicht wahrhaben möchte, und nimmt erst durch das Gespräch mit Marie, die die Beziehung als lesbische Liebesbeziehung erkennt und die jungen Frauen Antonias Mutter gegenüber indirekt „outet”, den Aspekt der lesbischen Liebe wirklich zur Kenntnis. Es wird also nicht direkt, sondern nur indirekt über das bestehende Liebesverhältnis gesprochen. Dabei wird deutlich, dass die Mutter ihr streng heterosexuelles Weltbild offensichtlich aus religiösen Motiven heraus legitimiert und als einzig gültige Norm setzt, während Marie, die als Vertrauensperson eine zentrale Rolle einnimmt, in dem Verhalten der Mädchen zwar auch eine Normabweichung sieht, dieser aber relativ positiv gegenübersteht, weil sie sie als naturgegeben ansieht.

Außerdem wird hier nicht nur erneut das heterosexuell bestimmte Umfeld sichtbar, sondern auch, dass die jungen Frauen auch als Frauenpaar der bestehenden heterosexuellen Mann-Frau-Einteilung unterworfen werden. Antonia wird zwar nicht als Mann dargestellt, aber von ihr wird das Bild einer burschikosen Frau mit zu wenig „weiblichen Attributen” gezeichnet, die männlich definiertes Verhalten zeigt und daher als „richtiger Kerl” (169) und „Herr über Treskow” (395) die Rolle des Mannes in der Beziehung zugewiesen bekommt, während Edith, so Marie in einem Gespräch mit Antonia, „de Frau an die Seite vom Herrn über Treskow” (395) ist. Zu diesem Bild passt auch, dass Antonia von Edith mit der geschlechtsambivalenten Koseform „Toni”[25] angeredet wird.

Auch bei dem älteren lesbischen Paar aus Königsberg fällt diese konventionelle Mann-Frau-Einteilung ins Auge. Hier hat Karin die Rolle der Frau inne, und Theodora, die mit einer eindeutig männlichen Kurzform ihres Namens, Theo, gerufen wird, erhält den männlichen Part einer „Frau in Hosen” (426). Da im gesamten Roman zudem nur diese beiden lesbischen Paare auftreten, wird hier – anders als in allen übrigen Texten des Textkorpus – eine Unterteilung lesbischer Frauen in entweder feminine oder maskuline Charaktere vorgenommen und gleichzeitig die Vorstellung erweckt, dass sich grundsätzlich immer eine feminine und eine maskuline Frau zu einem lesbischen Paar zusammenschließen.

Als Antonia und Edith in ihrer näheren Umgebung ihre Liebe nicht mehr verheimlichen können, sucht Edith schließlich Rat bei Antonias Lehrerin, Karin Morin, und fährt nach einem Telefonat mit der Lehrerin nach Königsberg (187). Aus dem dort stattfindenden vertraulichen Gespräch zwischen Karin, ihrer Freundin Theo und Edith ist zu entnehmen, dass Edith sich bereits vor ihrer Fahrt „geoutet” hat:

„Du hattest am Telefon erwähnt, dass du in die kleine Treskow verliebt bist.” Edith stieg die Schamröte ins Gesicht [...]. „Ich meine, das ist doch entartet, gegen die Natur! [...] Ich schäme mich dafür!” (194)

Im Laufe des Gesprächs „outen” sich auch Karin und Theo vor Edith als lesbische Frauen. Sie überreichen Edith das Buch „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes” von Magnus Hirschfeld[26] als Geschenk, dem eine Karte mit folgendem Wortlaut beigefügt ist:

„Liebe Edith! Du bist, auch wenn es dir so vorkommt, nicht alleine auf dieser Welt. Wir werden als das geboren, was wir sind, und niemand, auch nicht wir selbst, können dies ändern! Verzweifle nicht! Karin & Theo.” (196)

Anschließend sprechen sie offen mit Edith über ihre Situation als lesbische Frauen:

„Nun wollen wir mal Tacheles reden! Wir wissen nur zu gut, wie es dir geht. Wir waren, wenn auch schon vor langer Zeit, in derselben Lage. Und auch wir haben Freundinnen gefunden, die uns geholfen und gezeigt haben, daß wir nicht alleine auf dieser Welt sind.”

„Aber es ist doch wider die Natur! Mann und Frau...” [...]

„Kind, wir wissen, daß wir auf einem schmalen Grat wandern. Wenn unsereins entdeckt und denunziert wird, dann kommen wir womöglich wegen Wehrkraftzersetzung ins Gefängnis, weil wir nicht unseren Teil zum Wohle des deutschen Volkes leisten, nämlich Kinder zu produzieren. Aber niemand kann sagen, es wäre wider die Natur! Wir wurden geboren als das, was wir sind. Mutter Natur hat uns das Leben gegeben!” (197)

Hier wird die Tatsache, dass die Handlung in einer Zeit spielt, in der Lesbischsein unter Strafe gestellt ist, und lesbische Frauen somit in der besonderen Situation leben, sich verstecken zu müssen, besonders deutlich. Das mag auch den umschreibenden Sprachgebrauch erklären, mit dem die Frauen über ihr Lesbischsein reden. Auffällig ist außerdem, dass erneut die Natur als Begründung für lesbische Identität herangezogen wird, wodurch hier fast wörtlich wiederholt wird, was zuvor Marie gesagt hat, und wohinter sich letztlich die von dem Sexualwissenschaftler Hirschfeld vertretene These verbirgt, dass Homosexualität ein angeborenes und damit unveränderliches Merkmal sei. Durch diesen Bezug wird hier also nicht nur auf die lesbische Identität der Protagonistinnen verwiesen, sondern gleichzeitig der konkret-lebensweltliche, wissenschaftliche Diskurs dieser Zeit über Homosexualität in die dargestellte Welt des Textes integriert – ein Verfahren, das im Vergleich mit den übrigen Texten des Textkorpus einzigartig ist.

Das primäre äußere „coming-out” von Edith, durch das zugleich auch Antonia „geoutet” wird, findet also außerhalb des gewohnten Umfeldes vor Personen statt, die Edith erst einmal zuvor getroffen hat. Außerdem sind die Frauen selbst lesbisch, und Edith findet daher bei ihnen vollstes Verständnis und Unterstützung.

Wieder zurück auf dem Gut, berichtet Edith Antonia, dass Karin und Theo ein lesbisches Paar sind, und zeigt Antonia das Buch von Hirschfeld:

„[...] Karin und Theo sind wie wir!”

„Wie wir?”

„Sie sind ein Paar, wie wir beide.”

„Das bildest du dir ein! Nur weil sie in einem Zimmer schlafen, sind sie doch ...”

Edith [...] legte ihr das aufgeschlagene Buch hin. [...] Antonia besah sich die Überschrift des Kapitels.

„Tribadie? Was ist denn das?”

„Das, was wir tun.”

„Du meinst, dieses Buch handelt von der Liebe zwischen Frauen? [...] Um Gottes willen! Was hast du Frau Morin denn über uns gesagt? [...]”

„Ich musste nicht viel erklären, damit sie mich verstand.”

„Edith, was wir tun, ist Privatsache. Damit kannst du doch nicht zu meiner Lehrerin laufen und ihr alles brühwarm erzählen! Heutzutage kann man gegenüber Fremden nicht vorsichtig genug sein.”

„Versteh doch, die beiden sind wunderbare Freundinnen! Sie sind zusammen, so wie wir. [...]” (221/222)

Antonias Reaktion zeigt, dass sie nicht glauben mag, dass ihre Lehrerin und deren Freundin ein lesbisches Paar sind, und dass sie entsetzt darüber ist, dass Edith vor „Fremden” überhaupt von ihrem eigenen Liebesverhältnis gesprochen hat. Doch nur kurze Zeit später „outet” sich Antonia selbst vor Verwandten, die sie über einen langen Zeitraum nicht gesehen hat und die ihr daher, obwohl sie miteinander verwandt sind, ähnlich fremd sind wie ihre Lehrerin. Weiterhin bleibt dabei die Begrifflichkeit, mit der über lesbische Liebe gesprochen wird, umschreibend, und es wird nicht etwa der von Hirschfeld benutzte Begriff der Tribadie aufgegriffen.

Antonias äußeres „coming-out” vor ihren Verwandten erfolgt also wie Ediths „coming-out” ebenfalls in fremder Umgebung, nachdem im Text eine weitere Raumveränderung erfolgt ist: Antonia fährt für ein paar Wochen nach Stolp, „die größte Stadt Ostpommerns” (314), um dort eine todkranke Tante, eine Schwester ihres Vaters, zu pflegen. In den wenigen Wochen, die Antonia in Stolp bleibt, ergeben sich drei „coming-out”-Gespräche.

Antonia versteht sich sehr gut mit ihrer Tante, fasst Vertrauen zu ihr und „outet” sich schließlich in einem Gespräch, das das letzte vor dem Tod der Tante sein wird:

„Auch wenn du jetzt noch schlecht über das Kinderkriegen denkst, wirst du irgendwann einen Ehemann haben. [...]” [...]

„Bin schon jetzt nicht mehr alleine.”

„Wer ist es?”

„Sie heißt Edith und ist der wundervollste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.” [...]

„Edith, ein schöner Name! Wie sieht sie aus?” (359/360)

Bereits vor diesem „coming-out”-Gespräch hat sich Antonia vor ihrem Onkel Johannes „geoutet”, mit dem sie die wenigen Tage, die er ebenfalls bei der Kranken zu Besuch ist, ständig im Streit liegt:

„Also, welche Laster hast du?” [...]

„Glaube nicht, dass dich das wirklich interessiert.” [...]

„Aber natürlich tut es das!”

„Na gut, wie du möchtest. Frauen.”

Er verschluckte sich beinahe. „Ich glaube, ich habe etwas an den Ohren. Hast du Frauen gesagt? [...] Das kann dich um Kopf und Kragen bringen!”

„Weiß ich.”

„Erzählst du das überall herum?”

„Meinst du ehrlich, ich bin so bescheuert?” (331)

Infolge von Antonias „coming-out” erzählt ihr Johannes, dass auch sein Bruder Karl homosexuell ist und nur aufgrund besonderer Beziehungen einer Gefangenschaft im Konzentrationslager entgangen ist, aber dennoch mit Versetzung in eine „Bewährungsabteilung” bestraft worden ist (331/332). Mit diesem Onkel Karl unterhält sich Antonia nach der Beerdigung ihrer Tante. Sie spricht ihn direkt auf seine Beziehungen zu Männern an und „outet” sich dann selbst:

„Wird erzählt, du hättest es mit Männern. Ist das wahr?” [...]

„Ja, es ist etwas daran.”

„Wie ist es in so einem Lager?” [...]

„Das geht niemanden etwas an.”

„Ach so. Und warum?”

„Weil normale Menschen davon nichts wissen sollen.”

„Und was ist normal?” [...]

„Antonia, was willst du?”

„Nur wissen, wo ich vielleicht auch einmal hinkomme.”

„Du?”

„Du hast es mit Männern, ich mit Frauen. Reicht das?” [...]

„Behalte so etwas um Gottes willen für dich! [...]

Wenn du eine Neigung zu Frauen hast, laß es bloß niemand wissen.

Die größte Liebe ist dieses Grauen nicht wert!” (366/367)

In allen drei Gesprächen spricht Antonia sehr direkt und offen, fast aggressiv von ihrer Liebe zu Frauen.[27] Sie scheint nicht zu befürchten, dass ihre Verwandten sie denunzieren, obwohl sie sich darüber zumindest bei ihrem Onkel Johannes nicht sicher sein kann. Die Reaktionen auf ihr äußeres „coming-out” fallen sehr unterschiedlich aus. Antonias Tante fragt wie selbstverständlich nur nach der geliebten Person selbst und verliert über die Tatsache, dass sich hier zwei Frauen lieben, kein Wort (360). Karl spricht aus eigener Erfahrung mit Verständnis, warnt Antonia daher aber auch eindringlich davor, ihre Liebe öffentlich zu machen. Nur Johannes reagiert sehr gereizt und mit Unverständnis. Wie bei Antonias Mutter zeigt sich auch bei ihm, dass er ausschließlich heterosexuelle Beziehungen billigt, wenngleich er zwischen schwulen Männern und lesbischen Frauen einen Unterschied macht:

„[...] Liebe gibt es nur zwischen Mann und Frau! [...] Alles andere ist nur asoziale Befriedigung von Lust! [...] Bei Frauen ist das etwas anderes. Die Männer sind im Feld, und die armen Dinger sind einsam. Wenn die endlich wieder einen Mann bekommen, dann...” (332)

Antonias Onkel Johannes würde jedoch trotz allem Unverständnis weder seinen Bruder noch seine Nichte denunzieren, so dass Antonias äußeres „coming-out” vor ihren Verwandten in Stolp letztlich ohne Folgen bleibt.

Ganz anders hingegen verhält es sich bei Antonias Mutter. Nachdem sie während Antonias Abwesenheit vergeblich versucht hat, Edith vom Gut zu vertreiben, denunziert sie Antonia und Edith beim SS-Ortsgruppenleiter Romeike (Ediths Vater) als Paar, das „widernatürliche Unzucht” (385) treibe und „Unsittliche Gelüste! Unchristliche Absichten!” habe (386). Der SS-Ortsgruppenleiter reagiert auf die erhobenen Vorwürfe mit Ungläubigkeit und Unverständnis, weil er in den jungen Frauen nach wie vor „Kinder” (386) sieht und nach seinen Vorstellungen Liebe unter Frauen sowieso nicht vorkommen kann, da Frauen ihr Begehren ausschließlich auf Männer richten. Dennoch folgt er den Ausführungen von Antonias Mutter und macht ihr deutlich, dass, wenn überhaupt, Antonia und nicht Edith als „asoziale[r] Volksschädling[]” (387) „ins Lager” (387) käme.

Antonias Mutter versucht daraufhin, ihrer Tochter mit weiterer Denunzierung zu drohen, was ihr allerdings nicht gelingt. Sie gibt bald darauf den offenen Kampf gegen ihre Tochter auf und duldet fortan die Liebe zwischen den jungen Frauen stillschweigend. Auf dem Gut wird die Beziehung zwischen Antonia und Edith nicht wieder angesprochen. Innerhalb der gewohnten Umgebung, vor den Personen, die alltäglichen Umgang mit Antonia und Edith haben, kommt es also während der ganzen Zeit über zu keinem direkten äußeren „coming-out”.

Bei den äußeren „coming-outs” dominieren somit eindeutig sprachliche „coming-outs” in fremder Umgebung vor Personen, die nicht zum engsten Kreis der lesbischen Frauen zählen und nicht den Alltag mit ihnen teilen. Die Handlungsräume sind also einer strikten Trennung in zwei Bereiche unterworfen: zum einen der kleine Ort Schloßwalde und der Gutshof, die die gewohnte, ländliche, ausschließlich heterosexuell geprägte Umgebung darstellen, innerhalb derer lesbische Liebe tabuisiert wird und beide junge Frauen sich als Lesben isoliert erleben; und zum anderen die Orte Königsberg und Stolp, welche ein städtisch geprägtes Umfeld kennzeichnet, in dem lesbische Liebe nicht vollständig tabuisiert wird, die jungen Frauen auf andere homosexuelle Menschen und zudem auf verständnisvoll reagierende Personen treffen, vor denen sie sich „outen”. Die Grenze zwischen beiden Bereichen wird auch dann nicht aufgehoben, als mit Karin und Theo, die aus Königsberg fliehen und für einige Zeit auf dem Gut leben (424 ff.), zwei Figuren aus dem städtischen in den ländlichen Bereich übertreten. Weiterhin wird dort nicht über lesbische Frauenbeziehungen gesprochen, und die Frauen bleiben aufgrund dieser Tabuisierung und Nichtbeachtung ihrer Liebesbeziehung unbehelligt.

Auch im weiteren Handlungsverlauf tritt das Thema lesbischer Liebe in den Hintergrund des Geschehens. Nachdem der „coming-out”-Handlungsstrang unter anderen bisher immer mit im Mittelpunkt des Romangeschehens gestanden hat, stehen im weiteren Verlauf der Handlung das Kriegsgeschehen und die Flucht vom Gut vor der herannahenden Frontlinie im Mittelpunkt. Antonia und Edith halten diese Zeit über ihr Lesbischsein anscheinend versteckt. Im Text werden zumindest für diesen Handlungszeitraum keine weiteren äußeren „coming-outs” erwähnt.

Gegen Ende des Romans wird erzählt, dass Antonia und Edith, denen die Flucht an die Ostsee gelungen ist, in der Stadt Gotenhafen zusammen einen Platz auf einem Flüchtlingsschiff bekommen. In einer der letzten Szenen des Romans, an Bord des Schiffes, „outen” sich dann beide unbeabsichtigt, weil sie in der extremen Situation, in der sie sich befinden, nicht auf ihre Umgebung achten: kaum auf See drohen dem Schiff feindliche U-Boot-Angriffe, und zur Beruhigung nimmt Antonia „vor aller Augen ihre Liebste in den Arm und küsst[] mehrmals ihr Gesicht.” (637) Einzige Reaktion der Umstehenden auf diese Küsse ist eine Nachfrage eines Wachsoldaten, der vermutet, dass Edith um ihren Verlobten trauert. Nach diesen Küssen werden sie also nicht als Liebespaar und als lesbische Frauen erkannt, sondern wie selbstverständlich als heterosexuelle Frauen angesehen. Erst als sich die beiden anschließend „innig küßten”, wird zumindest dem Wachsoldaten klar, dass die beiden nicht nur Freundinnen, sondern Geliebte sind:

Als er noch einmal zurückblickte, sah er, dass sich die beiden Frauen innig küssten. Er schaute in den Himmel und nickte, als sei er damit einverstanden. (637)

Da auch dieses letzte, unbeabsichtigte äußere „coming-out” ohne Folgen für Antonia und Edith bleibt, kann abschließend festgestellt werden, dass in Umber 1997 eine lesbische „coming-out”- und Liebesgeschichte eines jungen Paares mit einem glücklichen Ausgang erzählt wird. Trotz aller Probleme mit dem inneren „coming-out”, der Schwierigkeiten seitens des engeren Umfeldes und der gewaltigen, staatlichen Unterdrückungsmechanismen durch das nationalsozialistische Regime gelingt es den jungen Frauen, sich als lesbisches Paar zusammenzuschließen, in individueller Selbstbestimmung zu ihrer lesbischen Identität zu finden und dauerhaft zusammen zu leben.[28]

Im Vergleich mit den übrigen Texten fallen hier insbesondere die Erweiterungen des Raum- und Figureninventars auf, die in einem direkten Zusammenhang mit den äußeren „coming-outs” der Hauptfiguren stehen, sowie die intertextuellen Bezüge auf lesbische Tradition, auf lesbisch konnotierte Literatur, und die explizite Erwähnung einer wissenschaftlichen Theorie über Homosexualität.

2.1.2. Angelika Mechtel: Liebe Pia – liebe Tochter – Anne Köpfer: Errol Flynn hat nie geweint

In den Erzählungen „Liebe Pia – liebe Tochter” (Mechtel 1993) und „Errol Flynn hat nie geweint” (Köpfer 1996) werden zwei sehr unterschiedliche „coming-out”-Entwicklungen von jungen Mädchen in der BRD der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre dargestellt.

Beide Texte reichen in der Darstellung der Ereignisse bis in die Anfänge der neunziger Jahre hinein und umfassen also einen Zeitraum von etwas mehr als dreißig Jahren. Auf formaler Ebene unterscheiden sich die Texte voneinander durch die Erzählsituation und die Textform. Köpfer 1996 wird in chronologischer Reihenfolge und in personaler Erzählsituation aus der Perspektive der lesbischen Protagonistin Karin erzählt, während in Mechtel 1993 eine rückblickende, namenlose Ich-Erzählerin von ihrem eigenen „coming-out” berichtet. Letzterer Text ist zudem in Briefform, also autobiographisch verfasst, und in dem Brief beantwortet deren Verfasserin (Ich-Erzählerin) die Frage ihrer sechsundzwanzigjährigen Tochter Pia, „welche Art der Liebe für [sie] die richtige ist” (165).

Wie in Umber 1997 ist auch in diesen Texten die Darstellung von „coming-out” eingebettet in eine Liebesgeschichte der jeweiligen Hauptfiguren, die in einem heterosexuell geprägten Umfeld leben und in der dargestellten lesbischen Beziehung ihre ersten Erfahrungen mit Liebe und Sexualität machen.

In Mechtel 1993 treffen die damals vierzehnjährige Verfasserin des Briefes und die Textfigur Kirsten Ende der fünfziger Jahre in einer nicht näher benannten Stadt in einem Mädchengymnasium aufeinander und sind „wenige Monate” (Mechtel 1993, 165) später ein Liebespaar. Die Verfasserin berichtet ihrer Tochter von ihrer Beziehung zu Kirsten, die „gut dreißig Jahre” (Mechtel 1993, 166) zurückliegt:

[Es gab] nur noch uns beide, unsere Liebesschwüre, Sehnsüchte [...].

Wir waren ein Paar. Süchtig danach, uns zu berühren, uns zu schmecken, zu riechen, zu hören, zu sehen, zu sprechen.

Es gibt Fotos und Briefe aus dieser Zeit. Belegstücke einer besessenen Liebe. (Mechtel 1993, 165/166)

Die Verfasserin erzählt weiter, dass der ältere Bruder der Freundin die lesbische Beziehung bemerkt und beginnt, „Witze über Lesben zu reißen” (Mechtel 1993, 166), und droht, die Freundin seiner Schwester „aus der Wohnung zu werfen” (Mechtel 1993, 166), woraufhin sich allerdings der Vater der Freundin auf die Seite der lesbischen Mädchen stellt. Die Reaktion ihrer eigenen Eltern, denen die Beziehung auch nicht verborgen bleibt, beschreibt die Verfasserin wie folgt:

Andere, wie meine Mutter, verschlossen einfach die Augen. [...] Kein Wort darüber. Mein Vater war ohnehin mit anderen Dingen beschäftigt. (166)

Das unbeabsichtigte äußere „coming-out” beider vollzieht sich demnach durch den überaus engen und zärtlichen Kontakt der Mädchen. Es hat aber keine negativen Auswirkungen auf die lesbische Beziehung. Die jungen Mädchen leben weiterhin in „Unbefangenheit” und „Selbstverständlichkeit” (Mechtel 1993, 169) als lesbisches Paar zusammen, und sie sind durch die Andersartigkeit ihrer lesbischen Liebe in einer heterozentristischen Umgebung nicht verunsichert. Im Gegenteil:

[W]ir beide empfanden das, was mit uns geschah, diese Besessenheit vom Körper und von der Seele der anderen als eine Art Schutz. Wir genossen die körperliche Liebe [...]. Unsere Liebe war mehr als die Lieben, die uns die Erwachsenen vorlebten. Unsere Liebe konnte uns nicht in Schwierigkeiten bringen [...]. (Mechtel 1993, 167)

Ganz anders sehen die Folgen eines äußeren „coming-outs” dagegen für das lesbische Paar in Köpfer 1996 aus. Dort wird erzählt, dass sich Mitte der fünfziger Jahre in Berlin die Lehrlinge Karin und Barbara, damals sechzehn Jahre alt, in ihrer Berufsschule kennenlernen und ineinander verlieben (Köpfer 1996, 110). Sie halten ihre Beziehung geheim: „Händchenhaltend im dunklen Kino sitzend, tauschen Barbara und Karin erste heimliche Zärtlichkeiten, sogar Küsse aus. Mehr nicht.” (Köpfer 1996, 111) Doch nach einem Streit mit Barbara „outet” sich Karin vor einem anderen Mädchen in einem Gespräch, das im Text nicht wiedergegeben wird. Aus dem Kontext ist jedoch zu schließen, dass Karins erstes äußeres „coming-out” ein „outing” von Barbara impliziert. Da das Mädchen, dem sich Karin anvertraut hat, „das Geheimnis nicht für sich behalten” (Köpfer 1996, 111) kann, folgt dem „coming-out” von Karin zudem ein öffentliches „outing” beider jungen Mädchen. Sowohl die Schulleitung als auch Barbaras Eltern erfahren von der lesbischen Beziehung. Barbara gelingt es jedoch, ihre Eltern zu beruhigen und somit drastische Maßnahmen gegen sie und Karin abzuwenden. Karin erfährt allerdings, „dass man alle [...] Mädchen davor gewarnt hat, mit ihr nach Hause zu gehen” (Köpfer 1996, 111), und begeht daher einen Selbstmordversuch, den sie überlebt. Beide Mädchen führen trotz allem ihre Beziehung weiter, von nun an vollkommen versteckt. Sie verdrängen in Bezug auf ihr Lesbischsein „eigene Zweifel, unliebsame Fragen aneinander”, „ob sie selbst, ob ihre Empfindungen [...] normal sind” (Köpfer 1996, 112), indem sie in einer von Karin phantasierten Filmwelt miteinander leben, in der Karin als Pirat und Barbara in der Rolle der Geliebten dieses Piraten auftreten. Nur in diesem „Bewusstsein, die anderen über den wahren Charakter ihres Verhältnisses zu täuschen” (Köpfer 1996, 112), gelingt es beiden, sich „so nahe wie nie zuvor” (Köpfer 1996, 112) zu kommen und auch körperliche Liebe in ihre Beziehung einzuschließen.

In beiden Texten leben die Jugendlichen somit auch Sexualität einschließende lesbische Beziehungen. Aus unterschiedlichen Gründen enden diese lesbischen Beziehungen aber nach ungefähr drei Jahren. In Mechtel 1993 ist es die Verfasserin, die sich „voller Verachtung für das Modell heterosexueller Beziehungen und das Leben mit Kindern” (Mechtel 1993, 170), für sie selbst völlig überraschend, in einen Mann verliebt, sich daraufhin von Kirsten trennt und drei Jahre später ihre Tochter Pia zur Welt bringt. Auch Kirsten heiratet und wird zweifache Mutter. All dies findet auf recht unproblematische und „undramatische” Weise statt.

In Köpfer 1996 wird dagegen erzählt, dass Barbara aufgrund ihrer christlichen Erziehung und des großen Drucks seitens ihrer Eltern in eine „innere Zerrissenheit” (Köpfer 1996, 112) gerät, aus der sie sich durch ihre Entscheidung für die Ehefrau- und Mutterrolle löst. Sie verliebt sich nicht in einen Mann, sondern „erwählt [...] sich einen Kindesvater” (Köpfer 1996, 112), und trennt sich von Karin. Diese Trennung verläuft bei weitem nicht so problemlos wie die in Mechtel 1993. Karin begeht aus Verzweiflung einen zweiten Selbstmordversuch, den sie wieder überlebt (Köpfer 1996, 113). Wenige Wochen später berichtet Barbaras Mutter Karin von einem Nervenzusammenbruch ihrer Tochter, wofür sie Karin die Schuld anlastet. Außerdem muss Karin von der Mutter den Satz „Solche wie dich haben sie doch früher ins KZ gebracht” (Köpfer 1996, 113) hören, woraufhin sie aus tiefen Schuldgefühlen heraus und im Glauben, „einen grundverdorbenen Charakter” (Köpfer 1996, 113) zu haben, einen dritten Selbstmordversuch unternimmt. Erneut überlebt sie, flüchtet sich wieder in ihre männliche Rolle als Pirat und lebt ihr Lesbischsein weiterhin zunächst nur verdrängt, bis sie 1961 durch den Bau der Berliner Mauer von den „Westberliner Frauenlokale[n]” (Köpfer 1996, 113), in denen sie verkehrt, abgeschnitten wird und gezwungen ist, sich der Realität zu stellen. Es gelingt ihr schließlich, ihr eigenes Lesbischsein zu akzeptieren und zu leben. Sie „wird von Frauen umworben, lernt in der Realität zu leben. Ihrer Realität, ihrem richtigen Leben” (Köpfer 1996, 114). Auch auf einem dreißig Jahre später stattfindenden Klassentreffen verheimlicht sie nicht, „dass sie seit Jahren mit einer Frau zusammenlebt” (Köpfer 1996, 114). Somit endet der äußerst schwierige, von mehreren Selbstmordversuchen gekennzeichnete „coming-out”-Prozeß von Karin mit gelungenem inneren und äußeren „coming-out”, während Barbara ihr Lesbischsein innerhalb ihrer Ehe auch auf Dauer verdrängen kann.

In Mechtel 1993 leben dagegen beide Frauen nach ihrer durchaus glücklichen und erfüllten lesbischen Beziehung als verheiratete Frauen und Mütter in heterosexuellen Beziehungen, wobei offenbleibt, ob die Verfasserin des Briefes, die inzwischen geschieden ist (Mechtel 1993, 171), nach der heterosexuellen Beziehung erneut in einer lesbischen Beziehung lebt. Kirsten hat seit ihrer Eheschließung mit ihrer lesbischen Vergangenheit abgeschlossen, die Verfasserin hingegen wird durch ihre Tochter einige Jahre später wieder mit ihrer lesbischen Jugendliebe konfrontiert. In ihrem Brief kommt zum Ausdruck, dass sie ihre lesbische Beziehung nicht nur als einen „pubertären Ausrutscher” (Mechtel 1993, 171) betrachtet, sondern durchaus als reife, gelebte Liebesbeziehung. Aber nicht nur ihrer eigenen lesbischen Beziehung, sondern lesbischer Lebensweise allgemein begegnet die Verfasserin mit einer sehr offenen, positiven Einstellung, die sie auch ihrer Tochter vermitteln möchte. Sie schreibt ihr: „Ich [...] wollte Dir an meinem Beispiel zeigen, dass Homosexualität immer nur eine Spielart und niemals abartig ist.” (Mechtel 1993, 169)

In diesem Zusammenhang ist auch der offene, sprachliche Umgang in bezug auf Homosexualität und Lesbischsein in Mechtel 1993 hervorzuheben. Außerdem bietet Mechtel 1993 mit allgemeinen, vergleichenden Überlegungen der Verfasserin zur gesellschaftlichen Stellung und Situation lesbischer Frauen in der BRD der fünfziger und neunziger Jahre einen im Textkorpus einzigartigen, wenngleich nur äußerst groben, Abriss lesbischer Geschichte in der BRD nach dem zweiten Weltkrieg. Folgende Textstellen verdeutlichen diese Aspekte:

Dein Problem, liebe Pia, ist, glaube ich, heute gar kein Problem mehr. [...] Du hast heute alle Möglichkeiten.

Anders als ich damals in den fünfziger Jahren. [...] Sexualität an sich war damals tabu, die gleichgeschlechtliche Liebe erst recht.

Homosexualität – und damit waren nur Männer gemeint – war allgemein und grundsätzlich verboten. Und die Lesben? Nun, die fanden schlicht und einfach nicht statt, weder in der öffentlichen Diskussion, noch im Gesetzbuch. [...] Damals [...] gab es keine Frauenbewegung und schon gar keine Lesben- oder Homobewegung. [...] [D]ie bunte Vielfalt weiblicher Lebens- entwürfe, die kannten wir noch nicht. (Mechtel 1993, 165-167)

Manche Fronten existieren nicht mehr. Viele Schranken sind längst niedergerissen. Neugier und Abenteuer sind erlaubt. (Mechtel 1993, 169)

Abschließend lässt sich somit festhalten, dass beide Texte bei ähnlichen Schauplatz- und Figurenkonstellationen sehr konträre Figuren-charakterisierungen und unterschiedliche Entwicklungen von innerem „coming-out” sowie entgegengesetzte Reaktionen auf äußere „coming-outs” darstellen. Damit verbunden beschreiben sie sehr verschiedene Auswirkungen äußeren „coming-outs” auf die lesbischen Protagonistinnen.

2.1.3. Susanne Fülscher: Vielleicht wird es ein schöner Sommer

In dem Roman „Vielleicht wird es ein schöner Sommer” von Susanne Fülscher erzählt die siebzehnjährige Ich-Erzählerin Susa Berger, die gleichzeitig Hauptfigur des Textes ist (Ich-Erzählerin-Hauptfigur), von ihrer ersten lesbischen Liebesbeziehung und von den Ängsten und Schwierigkeiten, die für sie mit dieser Beziehung verbunden sind. Dieser Haupthandlung ist kein weiterer Handlungsstrang beigeordnet. Der Text wird im Präsens, chronologisch und gleichzeitig zur Handlung erzählt. Die jugendliche Ich-Erzählerin steht somit in geringer zeitlicher Distanz zu den von ihr erzählten Ereignissen. Der Roman umfasst einen Handlungszeitraum von einem Schuljahr und spielt in den neunziger Jahren in einem Stadtteil von Hamburg. Das Umfeld wird als ein ausschließlich heterosexuell geprägtes dargestellt, in dem lesbische Liebe nicht ohne Probleme offen gelebt werden kann.

Susa lebt mit ihrer geschiedenen Mutter und ihrem jüngeren Bruder in dem Hamburger Stadtteil Eppendorf. Sie geht in den elften Jahrgang eines Gymnasiums und ist mit Pele aus dem zwölften Jahrgang befreundet, der in sie verliebt ist (173). Susa sind Peles ständige Annäherungsversuche und Bemühungen, mit ihr zu schlafen, lästig. Da Susa nicht in Pele verliebt ist, möchte sie, wenn überhaupt, dann nur deswegen mit Pele schlafen, um „diese verflixte Jungfräulichkeit los[zu]werden” (182) und somit nicht länger den Fragen ihrer MitschülerInnen – „,Hast du schon?’ ,Was? Immer noch nicht?’” (182) – ausgesetzt zu sein. Die an Susa gestellten Erwartungen sind also von heterosexuellen Normen bestimmt, durch die sie sich derart unter Druck gesetzt fühlt, dass sie nicht aus eigenem Wunsch, sondern nur, um der Norm zu entsprechen, mit Pele schlafen würde.

Zu Beginn des neuen Schuljahres, mit dem die Handlung einsetzt, lernt Susa Rosana Smergo kennen, die neu in ihren Jahrgang kommt (195). Durch diese Figurenerweiterung wird die alte Figurenkonstellation nicht nur um eine Person erweitert, sondern auch innerhalb ihres Beziehungsnetzes verändert werden.

Susa freundet sich als einzige aus dem Jahrgang schnell mit Rosana an. Beide verbindet außerhalb der Schule die gemeinsame Liebe zum Ballett, und Rosana wird in die Ballettgruppe aufgenommen, in der Susa schon länger trainiert. Susa und Rosana verbringen viel Zeit miteinander und ihre Freundschaft wird immer intensiver. Dies führt dazu, dass Susas beste Freundin Sabine sich von Susa vernachlässigt fühlt und auf Rosana eifersüchtig wird. Sie entfernt sich daher allmählich von Susa.

Die Freundschaft zwischen Susa und Rosana wird dagegen immer enger. Nach einiger Zeit kommen sich beide auch körperlich näher, wobei hier die als selbstbewußt dargestellte Rosana die aktive Rolle einnimmt und in verschiedenen Situationen den Körperkontakt zu Susa sucht (224, 227, 230). Sie ergreift etwa in einer Disco „wie selbstverständlich [Susas] Hand” (224) oder geht mit ihr „beschwingt, Arm in Arm, die Straße entlang” (231). Aus ihren Gesprächen geht hervor, dass Susa Rosanas Annäherungen nicht als lästig oder unangenehm empfindet und dass sich beide zusammen „einfach wohl” (231) fühlen.

Eine weitere Szene unterstreicht den Eindruck, dass Rosana sehr selbstbewußt ist und sich offenbar nicht von der Meinung oder dem Verhalten anderer beeinflussen läßt. Sie und Susa sind auf einer Party, und Tobias, ein Junge aus dem zwölften Jahrgang, der in Rosana verliebt ist, „verschlingt Rosana mit den Augen” (238). Seiner Aufforderung, mit ihm zu tanzen, entgegnet Rosana jedoch: „,Nein danke, ich esse gerade [...]. Und außerdem tanze ich gleich mit meiner Freundin.’” (239) Als anschließend Rosana und Susa zusammen tanzen, „gaffen” und „starren” (239) die anderen Gäste sie an. Dies stört die beiden allerdings nicht. Nach dem Tanz setzen sie sich eng nebeneinander auf ein Sofa, wobei Susa ihren Kopf an Rosanas Schulter lehnt. Offensichtlich provoziert diese vertrauliche Haltung Tobias:

„Na, ihr beiden Süßen, ihr seid ja ein hübsches Paar.” Tobias Stimme klingt schrill. [...]

Ich richte mich abrupt auf, aber Rosana zieht mich zurück. „Wir sind ein hübsches Paar [...]”, kontert sie. „Und? Was geht es dich an?” (241)

Im weiteren Verlauf der Party fordert Rosana Susa noch einmal zum Tanzen auf, und während sie tanzen, küsst Rosana Susa auf den Mund. Dies kommt einem äußeren „coming-out” gleich, doch es werden keine auffälligen Reaktionen der anderen darauf geschildert. Susas eigene Reaktion auf den Kuss ist geteilt:

[...]


[1] Zum Forschungsstand vgl. Marti 1992, 11-19 und 201/202.

[2] Marti 1992; Waberski 1997.

[3] In den fünfziger und sechziger Jahren sind es jeweils nur fünf und in den siebziger Jahren fünfzehn Veröffentlichungen. Vgl. Marti 1992, 203 und 382.

[4] Vgl. Marti 1992, 205.

[5] Bis Mitte 1998 sind – nach eigener Zählung der fiktionalen Texte ohne Neuauflagen, Comic-Strips, Liedertexte und Filme bzw. Drehbücher – bereits etwa neunzig Titel mit lesbischer Thematik veröffentlicht.

[6] Die „selbstverständlich gehandhabten Vorstellungen um Heterosexualität herum werden [...] als Heterozentrismus bezeichnet” (Gissrau 1997, 36).

[7] Vielfach finden sich Darstellungen über lesbisches „coming-out” in nicht-fiktionalen Texten dokumentarischer und (auto-)biographischer Form wie z. B. in schriftlich aufgezeichneten Interviews oder Erfahrungsberichten lesbischer Frauen. Untersucht werden hier jedoch ausschließlich fiktionale Texte. Da ich die fiktionalen Texte sowohl nach inhaltlichen als auch nach formalen Gesichtspunkten betrachte, ist eine weitere Einschränkung der Texte nach Gattungen nicht sinnvoll. Unter den Texten befinden sich allerdings weder Dramen noch Gedichte, da nach meinem Kenntnisstand keine Dramen oder Gedichte mit lesbischem „coming-out” existieren. Außerdem wird aufgrund der Fülle des bereits vorhandenen Textmaterials innerhalb dieser Arbeit auf die Untersuchung von Comic-Strips, Liedertexten und Filmen bzw. Drehbüchern verzichtet.

[8] Die Begriffserläuterungen verstehen sich nur im Rahmen dieser Arbeit und sollen Unklarheiten und Mißverständnisse in bezug auf den Untersuchungsgegenstand von vornherein ausschließen und eine einheitliche Terminologie innerhalb dieser Arbeit ermöglichen. Es geht in dieser Untersuchung nicht um medizinische oder psychologische Erklärungsversuche zur Entstehung weiblicher Homosexualität oder darum, was weibliche Homosexualität ist, sondern einzig um die literarische Darstellung von lesbischem „coming-out” in den Texten.

[9] Auf die übrigen Texte des Textkorpus, die ich nicht für die exemplarisch vorgeführten Untersuchungen ausgewählt habe, verweise ich innerhalb der Untersuchungskapitel an entsprechenden Stellen in einzelnen Anmerkungen. Bei der Auswertung der Untersuchungen werden nicht nur die Ergebnisse der exemplarischen Textuntersuchungen berücksichtigt, sondern auch die Untersuchungsergebnisse der in Anmerkungen erwähnten Texte miteinbezogen.

[10] Die Zuordnung in die verschiedenen Kategorien – und damit auch ein Überblick über die formale und inhaltliche Gewichtung – aller vierunddreißig Texte des dieser Arbeit zugrunde liegenden Textkorpus ist dem Literaturverzeichnis dieser Arbeit zu entnehmen.

[11] Vgl. Marti 1992, 21. Reinberg/Roßbach schreiben in ihrer Untersuchung von 1985: „So stellt das Wort ,Lesbe’ für viele ältere und/oder nicht der Lesbenbewegung angehörende Frauen an sich schon eine Diskriminierung dar, während es für uns als organisierte Lesben unsere übliche Bezeichnung ist.” (Reinberg/Roßbach 1995, 31).

[12] Dies rechtfertigt auch den Sprachgebrauch Lesbe, lesbisch in der vorliegenden Arbeit.

[13] Diese Einschränkung erfolgt, da es in dieser Arbeit einzig um lesbisches „coming-out” geht. Der Begriff „coming-out” wird im Zusammenhang mit Homosexualität auch auf schwule Männer angewandt. Er bezeichnet darüber hinaus allgemein ein bewußtes, öffentliches Bekenntnis einer Person zu einer Sache, ist also nicht auf den Aspekt der Homosexualität beschränkt.

[14] Übernommen wird der Begriff „coming-out” aus den USA, wo er bereits gegen Ende der sechziger Jahre von der US-amerikanischen Homosexuellenbewegung („Gay Liberation Front”) verwendet wird. Ursprünglich bezeichnet der Begriff eine in den USA übliche Feier, die „coming-out-party”, für ungefähr vierzehnjährige Mädchen ausgerichtet, um deren Übertritt ins heiratsfähige Alter, in das Leben als Frau, öffentlich bekannt zu machen („Debütantinnenball”). Vgl. Grossmann 1981, 8.

[15] Dieser Prozess kann ein bis fünf Jahre, aber auch ein Leben lang dauern. Vgl. z. B. Reinberg/Roßbach 1995, 43/44.; Vgl. Reinberg/Roßbach 1995, 43-44.

[16] Dabei sind die Rückschlüsse, die aus diesen gestisch-mimischen Zeichen gezogen werden können, natürlich immer situationsabhängig und nicht immer eindeutig festzulegen.

[17] Ein äußeres „coming-out” ist dadurch grundsätzlich vom „outing” zu unterscheiden, bei dem das äußere „coming-out” nicht von der betreffenden Frau selbst gewählt und gestaltet wird, sondern eine andere Person das Lesbischsein – meist gegen den Willen der lesbischen Frau – öffentlich macht. Ein „outing” kann aufgrund des passiven Charakters nicht als eigenes äußeres „coming-out” gewertet werden. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass einem unfreiwilligen „outing” ein eigenes, aktives äußeres „coming-out” folgt.

[18] Die drei Kapitel des Romans sind mit dem jeweiligen Handlungszeitraum überschrieben: „25. Juni bis 21. Juli 1944”, „1. August bis 27. September 1944” und „28. September 1944 bis 30. Januar 1945” (Umber 1997, 7, 153 und 369).

[19] Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Seitenzahl des jeweils interpretierten Textes an (hier also: Umber 1997, S. 19-23). Werden in einem Kapitel mehrere Texte interpretiert, werden Autorin und Erscheinungsjahr des Textes hinzugefügt.

[20] Zur Zeit des Nationalsozialismus gelten Homosexuelle als „Staatsfeinde” und jede homosexuelle Handlung als „Rasseverrat”. Seit 1935 wird durch Verschärfung des § 175 jede homosexuelle Handlung von Männern unter Strafverfolgung gestellt, während lesbische Frauen zunächst von strafrechtlicher Verfolgung verschont bleiben. Später müssen jedoch auch lesbische Frauen mit Festnahme und Einweisung in Arbeitslager rechnen. Vgl. Bleibtreu-Ehrenberg 1981, 393; Schoppmann 1985, 30-32; Kuckuc 1975, 60, 127/128.

[21] Nur sehr geringe Ähnlichkeit besteht in diesem Punkt mit Hassenmüller 1996. Dort werden die Vorbehalte und das Unbehagen geschildert, die der niederländische Vater mit der deutschen Freundin seiner Tochter hat (weil er selbst als Sohn einer Deutschen in den besetzten Niederlanden unter den Ressentiments der niederländischen NachbarInnen gelitten hat). Vgl. Hassenmüller 1996, 180.

[22] Vgl. Fessel/Schock 1997, 309.

[23] Anna Elisabet Weirauch, 1887-1970, ist bekannt durch ihre Roman-Trilogie „Der Skorpion”, in der sie „als eine der wenigen Autorinnen der 20er Jahre [...] offen das Thema lesbischer Liebe” behandelt (Fessel/Schock 1997, 314).

[24] Sie ist in zweifacher Hinsicht auffällig: zum einen in der Häufung innerhalb dieses Textes und zum anderen im Vergleich mit den übrigen Texten des Textkorpus, weil die Bezugnahme zu bekannten, lesbischen Frauen bzw. auf Werke mit lesbischer Thematik insgesamt äußerst selten angewandt wird. Vgl. Pei 1995, 186, darin eine Anspielung auf das offen lesbisch lebende Paar Cornelia Scheel und Hella von Sinnen; Spinner 1997, 265, darin die namentliche Erwähnung der offen lesbisch lebenden Schriftstellerin Christa Reinig.

[25] „Toni” kann sowohl auf den weiblichen Namen „Antonia” als auch auf den männlichen Namen „Anton” zurückgeführt werden.

[26] Magnus Hirschfeld, 1868-1935, deutscher Sexualwissenschaftler, der als Mitbegründer der deutschen Schwulenbewegung gilt. Vgl. Fessel/Schock 1997, 148-150.

[27] Antonia hat die Angewohnheit, in unvollständigen Sätzen zu sprechen. Ihr Reden in abgehackten Sätzen hängt hier also nicht mit der „coming-out”-Situation zusammen.

[28] Dass neben der gelungenen Flucht auch die übrigen Handlungsstränge, die ich hier nicht weiter ausgeführt habe, zu einem glücklichen oder zumindest klärenden Ausgang führen, trägt darüber hinaus wesentlich zu einem insgesamt abgerundeten und positiven Eindruck bei, den Umber 1997 bei den LeserInnen hinterläßt.

Fin de l'extrait de 289 pages

Résumé des informations

Titre
Ja, Nein, Vielleicht? - Homosexualität und Coming Out in der deutschen Jugendliteratur
Auteurs
Année
2013
Pages
289
N° de catalogue
V262333
ISBN (ebook)
9783656509103
ISBN (Livre)
9783956870767
Taille d'un fichier
1822 KB
Langue
allemand
Mots clés
nein, vielleicht, homosexualität, coming, jugendliteratur
Citation du texte
Sabine Lommatzsch (Auteur)Kathrin Kadasch (Auteur), 2013, Ja, Nein, Vielleicht? - Homosexualität und Coming Out in der deutschen Jugendliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262333

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