Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Opfer Täter Beziehung, die am Beispiel des Werkes "La muerte y la doncella" veranschaulicht wird. "La muerte y la doncella" behandelt die Zeit nach der Diktatur Pinochets in Chile.
Das Opfer als Täter. Wechselbeziehungen zwischen Opfern und Tätern in
La muerte y la doncella.
Im Folgenden sollen die Opfer-Täter-Beziehungen des, 1991 von Ariel Dorfman verfassten Dramas La muerte y la doncella anhand der ersten Szene des dritten Aktes analysiert werden. Diese Szene eignet sich insofern, als dass in ihr diverse Beziehungen zum Ausdruck kommen. Besondere Bedeutung kommt in diesem Fall den Hauptfiguren Paulina und Dr. Miranda zu, doch auch die Rolle Gerardos unterzieht sich in dieser Szene einem Wandel.
Durch die eingangs eingesetzte Analepse, in der Paulina ihre Erfahrungen aus dem Jahr 1975 berichtet (vgl. Dorfman 1991: 67), wird ihre Rolle als Opfer deutlich. Äußerungen wie „[…] en aquella oscuridad, cuando hace tres días que no comes, cuando tienes el cuerpo hecho tira, cuando …“(ebd.: 69) lassen die Folter, die sie ertragen musste erahnen. Deutlicher wird diese allerdings noch durch das Geständnis des Dr. Miranda. Während seiner Tätigkeit stellte er sich unter anderen Fragen wie „¿Cuánto aguantará ésta? ¿Aguantará más que la otra? ¿Cymo tendrá el sexo? […] ¿Es capaz de tener un orgasmo en estas condiciones?“(ebd.: 71). Weiterhin sagt er, er habe versucht die Leiden zu lindern, um welche Leiden es sich in diesem Fall handelt, wird aber weder von ihm noch von Paulina explizit erwähnt.
Paulina wird in diesem Fall also als Opfer der Misshandlungen gesehen, die 1975, also etwa 15 Jahre zuvor stattgefunden haben. Zum einen liegt dieser lange Erhalt der Opferrolle daran, dass die Diktatur in Chile erst 1990 endete und zum anderen daran, das in Chile nach der Diktatur nur Fälle mit Todesfolge verfolgt wurden (vgl. Schlickers 2004: 60). Zudem veröffentlichte die Comisión Chilena, der Gerardo im vorliegenden Drama angehört, weder die Namen der Schuldigen noch wurden diese verurteilt (vgl. ebd.: 61). Diese Fakten verhinderten, dass Paulina sich angemessen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen konnte und erklären ihre andauernde Opferrolle.
Angenommen, dass es sich in diesem Fall um ein authentisches Geständnis han- delt1, tritt in dieser Szene die Beziehung zwischen Paulina als Opfer und Dr. Miranda als Täter zu Tage. Zudem wird sie von Dr. Miranda auch explizit als Opfer bezeich- net: „Tiene más que todas las víctimas de este país van a tener“(ebd.: 79).
Während seines Geständnisses versucht er sich jedoch auch selbst als Opfer des Staates darzustellen (vgl. Maree 1995: 63). So sagt er, er nahm die Stelle aus huma- nitären Gründen an (vgl. Dorfman 1991: 70), weiter heißt es „[…] ellos me quieren matar a mí y a los míos, ellos quieren instalar una dictadura totalitaria […] me hicieron llegar a unas sesiones […]“ (ebd.: 70). Ellos wird von Cathy Maree als der Staat interpretiert (vgl. Maree 1995: 63), was angesichts der Äußerung „[…] ellos quieren instalar una dictadura totalitaria […]“(Dorfman 1991: 70) sehr wahrscheinlich ist. Staat meint in diesem Zusammenhang also die totalitäre Regierung und die An- hänger dieser. Dr. Miranda stellt sich hier also als Opfer des Staates dar, das zu- nächst nur aus Nächstenliebe handelte und erst später, durch Einwirken des Staates Gefallen an dem was er tat fand. Die Einwirkung des Staates wird in diesem Fall von Fanta verkörpert, der Dr. Miranda drängt die Frauen zu vergewaltigen (vgl. ebd.: 72) und ihm versichert „[…] a todas estas putas les gusta […]“(ebd.: 72).
In dieser Szene nimmt Dr. Miranda aber nicht nur gegenüber dem Staat eine Opferrolle ein, sondern auch gegenüber Paulina. Auch wenn er diese bereits seit der dritten Szene des ersten Aktes einnimmt, soll sie an dieser Stelle anhand der ersten Szene des dritten Aktes genauer betrachtet werden.
Dr. Miranda ist gefesselt (vgl. ebd.: 63). Er befindet sich in einer Situation, in der er sich nicht frei bewegen kann und somit, in diesem Fall Paulina hilflos gegenüber steht. Unter anderem wird dieser Umstand deutlich in dem er um Erlaubnis fragen muss ins Bad zu dürfen, mit dem Anhang, dass sie ihn nun wohl nicht mehr begleiten müsse (vgl. ebd.: 75). Im weiteren Verlauf der Szene, in dem Paulina droht ihn zu töten „No invoque a Dios, Doctor, cuando está tan cerca de comprobar si existe o no […]“(ebd.: 77) wird auch der gefährliche Charakter dieser Situation für ihn deutlich. Paulina befindet sich hier in der Rolle des Täters, der Autorität, die sich laut Medina Bravo manifestiert „[…] cuando el discurso se plantea coercitivo, represivo y plantea una atmysfera hostil hacia su oponente“(Medina Bravo 2001: 167). Wie bereits er- wähnt, sind diese Merkmale des Diskurses in dieser Szene gegeben. Durch die To- desdrohungen Paulinas „[…] no lo voy a matar porque sea culpable […] Lo voy a matar porque no se ha arrepentido un carajo“(ebd.: 79) befindet sich Dr. Miranda in einer feindlichen Atmosphäre, die durch die unterdrückende Art des Diskurses noch verstärkt wird. Diese Art des Diskurses äußert sich zum einen in den Unterbrechun- gen des Doktors durch Paulina „Mi, confesiyn la fabricamos, la inventé ...“(ebd.: 76), „Señora, qué es lo que…“(ebd.: 77). Zum anderen auch durch das Ultimatum das Paulina Dr. Miranda setzt und ihn so drängt zu gestehen „Tiene diez minutos. Uno, dos, tres, cuatro, cinco, seis. ¡Vamos! Siete. £Confiese, Doctor!“(ebd.: 79). In diesem Zusammenspiel von Drohung und Angst wird die Beziehung zwischen Paulina als Täter und Dr. Miranda als Opfer ersichtlich. Der Wandel von Paulina vom Opfer zum Täter wird besonders in der Äußerung Mirandas „Ayer a usted le hicieron cosas ter- ribles y ahora usted me hace cosas terribles a mí […]“(ebd.: 80) deutlich. Nachdem sich Paulina also vom Opfer zum Täter gewandelt hat, stehen sich beide Figuren gleichermaßen einmal als Opfer und einmal als Täter gegenüber. Beachtet werden sollte jedoch, dass Dr. Miranda den Opferstatus Paulinas anerkennt (vgl. ebd.: 78/80), während es bei Paulina keinen Hinweis darauf gibt, dass sie in Dr. Miranda ein Opfer sieht.
Auch Gerardo ändert seine Rolle in dieser Szene. Erscheint er im vorherigen Verlauf des Dramas noch als unparteiischer Richter (vgl. Schlickers 2004: 61) wird er im Ver- lauf dieser Szene zum Täter gegenüber Paulina. Indem er Dr. Miranda zu einem fal- schen Geständnis verhilft „Su marido me indicy lo que tenía que escribir […] todo lo que dije se lo debo a la ayuda de su marido“(Dorfman 1991: 77), entzieht er Paulina jegliche Glaubwürdigkeit (vgl. Maree 1995: 64). Er hintergeht und missbraucht ihr Vertrauen. So lässt sich auch seine Reaktion nach dem Geständnis erklären. „PAULINA. […] Me alegra ver que sigues siendo un hombre de principios […] pensé que yo iba a convencerte de que no lo mataras. GERARDO. No soy como él”(Dorman 1991: 74f).
Im Glauben ein falsches Geständnis gehört zu haben, verrät er seine Frau. Es kann an dieser Stelle also behauptet werden, dass er ebenso wie die Folterer die Rechte seiner Frau missachtet hat, wie Dr. Miranda ihr Vertrauen missbraucht hat und sie somit hintergangen hat. Mit dem Satz „No soy como él“(ebd.:75) wird der Leser also indirekt darauf aufmerksam gemacht, dass er sich eben genau wie Dr. Miranda ver- halten hat.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis von Opfer und Täter generell als ein Abhängigkeitsverhältnis zu beschreiben ist. Der Täter braucht das Opfer um sich als der Überlegene zu fühlen, während das Opfer jegliche Kontrolle an den Täter abgibt. Der Täter braucht also ein Objekt, das absolut abhängig von ihm ist (vgl. Schlickers 2004: 58). Diese Abhängigkeit zu schnell eingegangen zu sein, bedauert Paulina als sie von ihrer Entführung spricht „[…] me puse a obedecerlos demasiado pronto. Siempre fui demasiado obediente toda mi vida“(Dorfman 1991: 68). Wie wir im Verlauf dieser Arbeit bereits gesehen haben, befindet sich auch Dr. Miranda in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Paulina, indem er ihr hilflos gegenüber steht während sein Leben von ihr abhängt.
Zwischen Paulina und Gerardo findet sich allerdings kein solches Verhältnis. Paulina ist nicht in einem absoluten Maße von Gerardo abhängig. Somit ist ihre Rolle als Op- fer in Bezug auf Gerardo auch anders zu interpretieren. So erzählt sie ihm nicht die ganze Wahrheit, in dem Bewusstsein, dass er die Informationen an Dr. Miranda wei- tergibt.
„Yo sabía que él iba a hacer eso, para salvarle la vida a usted […] yo sabía que él utilizaría mi confesión para armar la suya. El es así. Siempre piensa que es más inteligente que los demás […]“(ebd.: 77f).
Sie hat in ihrer Rolle als Opfer also auch nicht die gesamte Kontrolle an ihn abgegeben, man könnte sogar sagen, dass er so zu ihrem Opfer geworden ist, da er ohne es zu wissen so gehandelt hat, wie Paulina es geplant hat. Die diversen Opfer-Täter- Beziehungen des Dramas unterscheiden sich also im Grad der Abhängigkeit und Kontrolle, welche die maßgebenden Kriterien für diese Beziehungen sind.
Natürlich gibt es im Drama La muerte y la doncella von Ariel Dorfman noch weitere Opfer-Täter-Beziehungen, wie zum Beispiel die komplexe Beziehung zwischen Dr. Miranda und Gerardo (vgl. Maree 1995: 63). Da die in der ersten Szene des dritten Aktes jedoch nicht relevant erscheinen, sollen diese im Rahmen dieser Arbeit nicht näher betrachtet werden.
Bibliographie
Primärquelle
DORFMAN, Ariel (1991): La muerte y la doncella. Stuttgart: Reclam.
Sekündarquellen
MAREE, Cathy (1995): “¿Verdad y reconciliaciyn? El pasado enfrentado en La muerte y la doncella de Ariel Dorfman y Playland de Athol Fugard.” En: Odber de Baubeta, Patricia (ed.): Actas del XII Congreso Internacional de Hispanistas. 21-23 de agosto de 1995, Birmingham. Birmingham: Dep. Of Hispanic Studies, University of Birmingham, pp.61-68.
MEDINA BRAVO, Marcela (2001): „Discurso, género y poder en ,La Muerte y la Doncella„ de Ariel Dorfman.“ En: Universum: Revista de la Universidad de Talca 16, pp.153-178.
SCHLICKERS, Sabine (2004): „Tortura, amnesia y amnistía: La muerte y la doncella de Ariel Dorfman y de Roman Polanski.” En: Spiller, Roland et. al. (ed.): Memoria duelo y narración: Chile después de Pinochet: Literatura, cine, sociedad. Frankfurt a. M.: Vervuert, pp.55-68.
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1 Dies kann aufgrund der durch Dr. Miranda korrigierten Lügen angenommen werden: „El nombre que le mencioné a mi marido fue el del Chanta, […] para ver sí usted le corregía. Y usted lo corrigiy […]“ (Dorfman 1991: 78).
- Citation du texte
- Janike Kyritz (Auteur), 2013, Das Opfer als Täter. Wechselbeziehungen zwischen Opfern und Tätern in "La muerte y la doncella", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262407