Von Jack the Ripper bis Ted Bundy: Die Verbrechen von Serienmördern stoßen ab und faszinieren gleichermaßen. Abnorme Gewaltexzesse führen zur immer wiederkehrenden Frage: Wie sind solche Taten möglich?
Dieses Buch ist ein Versuch, Erklärungsansätze zu liefern. Es behandelt die Typologie, psychologische Verfassung und Sozialisation der Täterpersönlichkeit sowie das Phänomen des Serienmordes in der modernen Gesellschaft.
Aus dem Inhalt:
Erklärungsansätze der Entwicklung zum Serienmörder; Soziologische Erklärungsmodelle für Verbrechen; Kategorisierung von Serienmördern; Rechtliche Qualifizierung von Serienmord; Serienmord und Gesellschaft; Täterprofilforschung: Zur Generierung von Täterprofilen
Inhalt
Christof Niemann (2002): Sozisalisation des Serienmörders
Das Phänomen (Serien-)Mord
Definition: Serienmörder
Berüchtigte Serienmörder
Erklärungsmodelle
Abschließende Betrachtung
Literaturverzeichnis
Sten Cudrig (2006): Zur Generierung von Täterprofilen
Einleitung
Zum Begriff des Profilings
Historische Betrachtung des Profilings
Ausgewählte Verfahren des Profilings
Täterprofilforschung der Canter-Gruppe
Beurteilung und Ausblick des Profilings
Literaturverzeichnis
Marcus Gießmann (2008): Zu Phänomenologie, rechtlicher Qualifizierung, Erklärungsansätzen und gesellschaftlichen Interdependenzen des Serienmordes
Abstract
Kategorisierung von Serienmord und Serienmördern
Vorgehen des Serienmörders
Bedeutung der Semiotik des Serienmordes für den Serienmörder
Opfer
Rechtliche Qualifizierung von Serienmord
Zahlen und Statistik
Erklärungsansätze der Entwicklung zum Serienmörder
Gesellschaft und Serienmord/ -mörder
Die Rolle von Krankheit im Serienmord
Therapie für Serientäter
Reflexion
Literaturverzeichnis
Einzelpublikationen
Christof Niemann (2002): Sozisalisation des Serienmörders
„[...] immerfort sind Menschen damit beschäftigt
der Pein einen Sinn zu geben.
Aber der Überbau an Bedeutungen kaschiert
nur das Sinnlose.“
Wolfgang Sofsky
Das Phänomen (Serien-)Mord
Sonntag, 18. August 2002. Auf Pro7 läuft um 23.30 Uhr „Suicide Kings“, danach um 1.25 Uhr „Mörderischer Tausch“, ein Thriller mit Tom Berenger. Am gleichen Abend strahlt Kabel1 „Beim Sterben ist jeder der Erste“ aus, gefolgt von „Infernal Soldiers“ und „Tödliche Ferien“. Bei Vox und RTL2 sieht es nicht anders aus: „Autopsie – Mysteriöse Mordfälle“ und „Normal Life – Tödliche Illusion“ kann man sich dort ansehen. [1] Hinzu kommen noch Filme und Serien, die keinen „mörderischen“ Titel tragen, deren Inhalt jedoch weitestgehend von diesem Thema bestimmt ist.
Mit Gewalt in ihrer vielleicht endgültigsten Form, dem Mord, wird ein ganzes Abendprogramm gefüllt. Nicht nur im Fernsehen. Die Masse an Literatur und Romanen zum Thema „Mord“ steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner statistischen Häufigkeit. Dennoch ist das Interesse ungebrochen. Ein spezielles Interesse, nämlich das an Serienmördern, keimte erneut auf, nachdem Kinofilme wie „Das Schweigen der Lämmer“, „From Hell“ oder „Copykill“ zu Kassenschlagern avancierten. Dabei ist das Phänomen alles andere als neu.
Bereits 1440, so berichtet Wolfgang Sofsky in seinem „Traktat über die Gewalt“, hat ein Ritter von Stand namens Gilles de Rais bestialische Orgien gefeiert, bei denen viele Kinder zu seiner Belustigung grausam sterben mussten. [2] 1435 lebte eine schottische Familie namens Beane, die aus 47 Personen bestand und bis zu 1000 Menschen ermordete und deren Körperteile für den späteren Verzehr räucherte. [3] Das Phänomen Serienmord zieht sich durch die Geschichte bis zum heutigen Tag.
Der Serienmörder ist gleichsam Faktum wie Alptraum, da er die klassischen Vorstellungen von Ursache und Wirkung, von nachvollziehbaren Motiven in Frage stellt. Er ist das Extremste was unsere Gesellschaft zu bieten hat. In Filmen werden in düsterer Atmosphäre die Gewalttaten der Serienmörder erschütternd realistisch nachgestellt, doch die Antwort auf eine uns bewegende Frage bleiben sie meist schuldig: Wie kann es dazu kommen, dass ein Mensch derart extreme Verhaltensweisen zeigt?
Ich stelle in dieser Hausarbeit die wichtigsten sozialisationstheoretischen Ansätze zur Beantwortung dieser Frage dar. Um zu wissen warum ein Serienmörder tut was er tut, muss man verstehen was er ist und wie er dazu wurde. „Wenn ihr den Künstler verstehen wollt, müsst ihr euch sein Werk ansehen!“ [4] Deshalb werde ich wie folgt vorgehen.
Zunächst definiere ich, was man überhaupt unter einem Serienmörder versteht (hierzu gibt es mehrere Ansätze) und umreiße kurz die Biographien einiger berüchtigter Vertreter. Sodann werde ich theoretische Ansätze erläutern, die sich um eine Klärung der oben stehenden Frage bemühen. Dabei unterscheide ich solche Theorien, die einen eher soziologischen und solche, die einen eher psychologischen Hintergrund haben. In der Schlussbetrachtung fasse ich dann all jenes zusammen, was als wichtige Sozialisationsinstanzen für die Ausbildung des Verhaltens eines Serienmörders gelten kann.
Definition: Serienmörder
Der Begriff „Serienmörder“ trat zum ersten Mal durch Bernstorf im Jahre 1950 auf. Der Gerichtsgutachter schrieb in einem Zeitungsartikel über den Wiederholungstäter Rudolf Pleil, der mutmaßlich bis zu neun Frauen ermordet hatte. Es finden sich in der Literatur eine ganze Reihe unterschiedlicher Definitionen, ich möchte an dieser Stelle lediglich die wesentlichen Übereinstimmungen erläutern. [5]
Laut Fink gibt es einige Merkmale, die fast immer bei einem Serienmörder auftreten. [6] Sie stammen aus allen Bevölkerungsschichten, Bourgoin zufolge sind sie zu 83 % von weißer Hautfarbe und zu 89 % männlich. Eine Studie des Düsseldorfer Kriminalbeamten Harbort liefert außerdem folgende Ergebnisse: zum Zeitpunkt ihrer ersten Tat waren die Mörder durchschnittlich 27,6 Jahre alt. Die Streubreite reichte von 14 bis 50 Jahren. Außerdem lagen die einzelnen Tatorte in 67,9 % der Fälle nicht weiter als 30km voneinander entfernt. In 80 % der untersuchten Fälle bestand keine Täter-Opfer-Beziehung.
Der typische Serienmörder ist eher unauffällig und gerät nicht völlig außer Kontrolle. Er ist nicht schizophren, der Kontakt zur Wirklichkeit ist vorhanden. Er möchte sich durch den Mythos des Noch-nie-Dagewesenen Geltung und Ansehen verschaffen. Das Hauptproblem des Mörders scheint seine Unfähigkeit zu sein, Gefühle zu haben. Durch die schrecklichen Taten versucht er diesen Mangel zu beseitigen, auch deswegen wird er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig. Die Verbrechen erfolgen solange, bis der Mörder festgenommen wird, stirbt oder sich selbst tötet. [7]
Die Morde sind von absoluter Sinnlosigkeit, von Willkür und brutalstem Sadismus geprägt. Die Täter benutzen selten Schusswaffen, da ihnen dieses Tötungsmittel zu unpersönlich ist. Sofsky formuliert es wie folgt: „Wo es irgend geht, verrichtet der Mörder Handarbeit auf kurze Distanz. Er will den Tod arbeiten, will den Körper bluten und der Todesangst ins Auge sehen.“ [8] Der Auftakt der Bluttaten erfolgt meist noch planlos und aus dem Affekt. Aber dann sehen sich die Täter in ihrer Mordgier gefangen, soviel sie auch quälen und töten, sie kommen nie zum erhofften Genuss.
Bei der Frage, inwieweit sexuelle Beweggründe eine Rolle spielen, widerspricht sich Fink. In dem Kapitel über Lustmörder sagt er, dass Serienmörder auch sexuell und triebhaft handeln. Später stellt er jedoch heraus, dass sexuelle Elemente keine Bedeutung erfahren. [9] Der Einzelfall ist hierbei genau zu analysieren. Mit weitaus größerer Sicherheit lassen sich politische und finanzielle Gründe für die Taten ausschließen.
Gemein ist Serienmördern außerdem, dass ihre Taten zeit- und ortsunabhängig sind. Zwar finden die einzelnen Morde sehr häufig in einem relativ kleinen Umkreis statt. Dennoch kann sich die Serie über Jahre hinziehen und an den unterschiedlichsten Orten stattfinden. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil Serienmörder zwischen den einzelnen Taten Ruhepausen machen, sog. „Cooling down phasen“. In diesen Phasen phantasieren sie über bereits begangene oder noch geplante Taten und ergötzen sich nicht selten an mitgenommenen Andenken ihrer Opfer. Die einzelnen Morde werden meist stark ritualisiert, was sich z. B. in dem so genannten „Overkill“, also dem „Übertöten“, zeigen kann. Hier übersteigt die gebrauchte Gewalt bei weitem das Maß, das zur eigentlichen Tötung erforderlich gewesen wäre. Die Abfolge der zugefügten Verletzungen bleibt bei jeder Tat gleich, der ganze Vorgang wird zum Ritual.
Serienmorde sind extrem selten, sie machten 1993 in den USA nur etwa 1-2 % aller Tötungsdelikte aus.
Berüchtigte Serienmörder
Wie eingangs erwähnt üben Serienmörder auf viele Menschen eine zugleich abstoßende wie anziehende Wirkung aus. Deswegen finden sich nicht nur in der Literatur, sondern auch im Internet umfangreiche Hintergrundinformationen zu fast allen Tätern. Die berühmtesten stelle ich nun kurz vor (die Sozialisation der Täter wird im vierten Kapitel differenziert herausgearbeitet):
Jack the Ripper: [10]
Er kam aus dem bleichen Nebel, tötete schnell und brutal und verschwand ohne ein Spur zu hinterlassen. Bei jeder Tat wurde er grausamer, sein sechstes und letztes Opfer wurde fast gänzlich vernichtet. Dann verschwand er grundlos, einfach so und tauchte nie wieder auf. Das seine Taten nie aufgeklärt wurden, ließ Jack the Ripper zum Mythos werden.
Im Londoner East End, Whitechapel, ereigneten sich zwischen dem sechsten August und dem neunten September 1888 die rätselhaften Morde. Jedesmal passierte es nachts, dass ein unbekannter Täter Prostituierte in eine Falle lockte um sie dann auf brutalste Art und Weise zu töten. Dabei ging er mit solcher Präzision vor, dass er weitreichende chirurgische Fähigkeiten und medizinische Kenntnisse gehabt haben muss. Die Organe, die er seinen Opfern entnahm, wurden nicht verletzt und meist in unmittelbarer Nähe niedergelegt.
Eine Vielzahl von mitunter abstrusen Theorien rankt sich um diese Mordfälle. Die Spekulationen darüber, wer Jack the Ripper wirklich war, werden wohl nie verklingen.
Ted Bundy: [11]
1974 startete Ted Bundy eine unfassbare Mordserie. Bis er im Februar 1978 endgültig verhaftet werden konnte, tötete er in Seattle, Utah (Salt Lake City), Oregon, Washington, Colorado und Tallahassee/ Florida mindestens 35 junge Frauen (bei seiner Festnahme gestand er ungefähr 60 Morde). Immer waren seine Opfer schlanke, weiße Mädchen, die dunkle, lange, in der Mitte gescheitelte Haare trugen. Sie waren immer allein wenn Bundy sie in den frühen Abendstunden überwältigte.
Ted Bundy erregte nicht nur durch die schiere Menge an Morden aufsehen. In ihm schienen sich große Gegensätze zu vereinen. Auf der einen Seite war er ein redegewandter, gebildeter (er studierte zeitweilig Rechtswissenschaften, später Psychologie) und ausgesprochen gutaussehender Mann. Auf der anderen Seite war er brutal, sadistisch und pervers. Zweimal konnte er aus dem Polizeigewahrsam fliehen, bis er schließlich am 24. Januar 1989 auf dem elektrischen Stuhl in Florida hingerichtet wurde.
David Berkowitz: [12]
Der „Son of Sam” tötete in der Zeit vom 29. Juli 1976 bis zum 31. Juli 1977 sechs Menschen und verletzte weitere sechs schwer. Ungewöhnlich bei diesen Mordfällen war, dass Berkowitz sie mit einer Schusswaffe beging und seine Opfer immer zu zweit waren. Zuvor hatte er in der Gegend von Brooklyn und Queens 1488 Feuer gelegt, die er peinlich genau in einem Tagebuch festhielt.
Berkowitz meldete sich regelmäßig zu Wort. Die Polizei erhielt mehrere Briefe mit krakeliger Schrift, die er teilweise mit „Mr. Monster“ unterschrieb. Sein Nachbar Sam Carr erhielt zwei Briefe, in denen er aufgefordert wurde seinen schwarzen Labrador „Harvey“ zum schweigen zu bringen. Berkowitz fühlte sich durch das Bellen gestört und als der Hund einige Tage später noch immer keine Ruhe gab, versuchte er das Tier zu erschießen. Als er schließlich festgenommen wurde, behauptete er, ein Dämon sei in den Hund gefahren und habe ihm seine Taten befohlen (deshalb hatte er sich auch „Son of Sam“ genannt). Realistischer ist wohl (wie er auch später zugab), dass er durch seine bizarre Phantasie und durch seine frustrierenden Erlebnisse mit Frauen [13] ein Ventil für die angestaute Wut brauchte.
Jeffrey Dahmer: [14]
Der vermutlich extremste und abscheulichste Serienmörder unserer Zeit war der aus Milwaukee stammende Jeffrey Dahmer. Über einen Zeitraum von 13 Jahren, beginnend im Juni 1978, tötete er 17 Menschen. Er war nekrophil und ein Kannibale. Seine Opfer sprach er vor Schwulenclubs und Saunen an. Gegen Geld sollten sie bei ihm zu Hause für Photos posieren oder einfach Videos mit ihm gucken. Nachdem Dahmer sie dann mit Schlafmittel betäubt hatte, erdrosselte er sie, verging sich an ihnen und zerstückelte sie dann. Anschließend experimentierte er mit verschiedenen Chemikalien an den Überresten, um sie unkenntlich zu machen (sein Vater war Chemiker). Nicht selten behielt er sich Körperteile als Souvenir, woraus er später einen Schrein bauen wollte. Jeden einzelnen Schritt seiner Verbrechen fotografierte er, um sich später daran zu ergötzen.
Zwischen Dahmers ersten und zweiten Mord lagen nicht nur neun Jahre, sondern auch weitere Auffälligkeiten. Er war Alkoholiker und wurde 1981 mit Trunkenheit am Steuer erwischt. Fünf Jahre später masturbierte er vor zwei Jungen, zuvor hatte er sich an öffentlichen Plätzen seiner Hose entledigt. Am 30. Januar 1989 wurde er wegen sexueller Belästigung eines Jungen für schuldig befunden. Doch durch eine fulminante Rede gelang es ihm, den Richter von seinem guten Willen zu überzeugen und eine Bewährungsstrafe zu erwirken. Nach 10 Monaten wurde er freigelassen. Von Juni 1990 bis Juli 1991 beging er dann weitere 12 Morde, bis er schließlich gefasst wurde. Am 28. November 1994 wurde er von einem Mithäftling bei Reinigungsarbeiten getötet.
Diese Beispiele vermitteln ein Bild davon, wie vielfältig die krankhaften Erscheinungsformen eines Serienmörders sein können. Wie diese zu erklären sind, wird Bestandteil des folgenden Kapitels sein.
Erklärungsmodelle
Die Frage nach dem „Warum“ drängt sich unweigerlich jedem auf, der sich eingehender mit Serienmördern beschäftigt. Diese zu beantworten gestaltet sich insofern schwierig, als das die Gründe für ein solch extremes Verhalten bei jedem Einzelfall variieren. Dennoch ist man sich über gewisse Gemeinsamkeiten einig. Da man Serienmörder recht gut charakterisieren kann, ist es auch wahrscheinlich, dass sie Ähnlichkeiten in ihrer Entwicklung aufweisen. Ich werde zunächst erläutern, wie sich soziologisch betrachtet Verbrechen im Allgemeinen erklärt. Im Anschluss gehe ich auf die psychologischen und sozialisationstheoretischen Ansätze ein, die speziell beim Serienmörder Anwendung finden.
Soziologische Erklärungsmodelle für Verbrechen
Die folgenden Theorien wollen meist Kriminalität allgemein oder Gewalt begründen. Die hier genannten Erklärungen für Kriminalität sind jedoch auch zur Erklärung von Gewalt plausibel.
Frühe Erklärungsversuche
„Die Gesellschaft birgt in sich die Keime aller Verbrechen, die begangen werden sollen, zugleich mit den zu ihrer Vollführung notwendigen Gelegenheiten.“ [15] Dieses Zitat von Quételet löste im 18. Jh. umfangreiche Kontroversen über Gesetzmäßigkeit und Willensfreiheit aus.
Bis zu diesem Zeitpunkt ließ man gesellschaftliche Faktoren als Determinanten des Verbrechens weitgehend außer acht. Doch nicht zuletzt die Aufklärung führte zu neuen Sichtweisen auf die Kriminalität. Man begann mit der Problematisierung der bis dahin als gesichert betrachteten „Täterpersönlichkeit“, bei der davon ausgegangen wurde, dass ein Mensch böswillig Straftaten begeht. Der Grund für diese Böswilligkeit sollte in der persönlichen (genetische) Veranlagung des Täters liegen. [16] Gegenstand war daraufhin jedoch nicht mehr bloßes Bestrafen, sondern das Verhüten von Verbrechen durch gesellschaftspolitische Maßnahmen. [17]
Später prägte Emile Durkheim die These, dass Verbrechen aus verschiedenen Gründen (z. B. zur Normerhaltung) sogar nützlich und notwendig sei. [18] Nach Dieter Meurer, der von Durkheim her agiert, ist Kriminalität ein Merkmal, welches sich immer in sozialen Systemen im Normalzustand finden lässt.
Verbrecher: geboren oder geformt?
Die Ansichten, ob Verbrecher geboren oder geformt werden, stehen heute weiter zur Diskussion. Zum Beispiel sind für John Douglas (der seit Jahren Profile von Serienverbrechern für das FBI erstellt) Erklärungsmodelle, die auf biologische „Unausgewogenheiten“ basieren, Moden die mit „schöner Regelmäßigkeit kommen und gehen“. [19] Und auch Kaiser beobachtet ein nachlassendes Interesse an der „Täterpersönlichkeit“. [20] Tatsächlich scheinen die Täter hinsichtlich ihrer biologischen Ausstattung zu unterschiedlich zu sein, als dass sich eindeutige Gemeinsamkeiten bestimmen ließen. Auch die Theorie des „Mörderchromosoms“ in den sechziger Jahren, bei der ein zusätzliches Y-Chromosom beim Mann für gesteigerte Mordlust verantwortlich sein sollte, wurde von der Psychologie widerlegt. Ähnlich verhält es sich mit der Verhaltenstheorie von Lorenz, bei der jedem Menschen das „so genannte Böse“ angeboren ist. [21] Bestätigt ist lediglich, dass ein Großteil der Serienmörder eine Schädigung des zentralen Nervensystems aufweisen, z. B. in Form von organischen Hirnschädigungen, Kopfverletzungen, Tumoren oder etwa Epilepsien. Diese Leiden können allerdings auch auf soziale Deprivation oder exzessiven Drogen-/ Alkoholkonsum zurückführbar sein und sind also nicht zwangsläufig angeboren. [22] Kriminelle Energien müssen sich demnach in erheblichem Maße gesellschaftlich begründen lassen.
Neuere Theorien
Aus soziologischer Sicht weist die Verteilung der Kriminalität in der Gesellschaft systematische Aspekte auf. [23] Nicht zuletzt deswegen wird das Verbrechen als ein ausschließlich soziales Phänomen betrachtet. Nicht der Mensch als biologisches oder psychisches Individuum findet vorrangig Beachtung, sondern seine Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Diese Beziehungen formen ihn positiv wie negativ. Die Entwicklung kriminellen Verhaltens funktioniert deshalb nach denselben Lernprozessen, wie jene des rechtskonformen Verhaltens. [24] Diese Annahmen sind Prämissen jeglicher soziologischer Analyse von Kriminalität.
Nach der Anomietheorie wird Normlosigkeit als Produkt des Widerspruchs zwischen dem kulturellen Anspruch eine „offene“ Gesellschaft zu sein und der sozialen Struktur derselben erklärt. [25] Diese Struktur organisiert die legitimen Möglichkeiten zur Realisierung kultureller Zielsetzungen. Die Diskrepanz zwischen den kulturell regulierten Zielen und den Möglichkeiten zur Realisierung derselben führt zu einem Spannungsverhältnis, dass der Einzelne durch individuelle Anpassung auflösen muss. Gelingt dies nicht, werden zur Erreichung der Ziele u.U. illegitime Maßnahmen gewählt.
Nach der Theorie der differentiellen Assoziation von Sutherland ist man nicht ein Krimineller, sondern man wird zu ihm. Ob jemand dazu wird oder nicht, hängt von seiner (zum Teil selbstgewählten) Teilnahme an abweichenden oder normkonformen Lernmilieus ab. Kriminalität muss demnach gelernt werden, wie jeder ehrenwerte Beruf auch.
Die Kontrolltheorie, die Hirschi am verbindlichsten formuliert hat, benennt jene Elemente, durch die das Mitglied der Gesellschaft an letztere und deren Institutionen gebunden ist. Es sind dies: Beziehungen zu anderen Personen und Institutionen, instrumentelle Interessen, faktische Teilnahme an den Institutionen der Gesellschaft und gemeinsam geteilte Wert- und Normvorstellungen. Liegen diese Bindungen nicht oder nur unzureichend vor, so begünstigt dies kriminelles Verhalten.
Entstehung von Gewalt nach Sofsky
„Die Gewalt ist das Schicksal der Gattung [Mensch, Anm. d.A.].“ meint Sofsky. [26] Für ihn ist die von der Gesellschaft geschaffene Kultur die vergebliche Anstrengung den Tod zu überdauern. [27] Die Einschätzung, die Kultur sei jene Leistung mit der sich der Mensch vor der Natur, vor Hunger und Elend schützt, ist für Sofsky nicht die ganze Wahrheit. Denn die Kultur schlägt auch zurück. Sie entlastet nämlich nur auf Kosten der Freiheit. Sie verlangt Anpassung und Unterwerfung von jedem Einzelnen. Diese Unterwerfung, gepaart mit einem missionarischen Sendungsbedürfnis, bedingt Gewalt und rechtfertigt sie. [28] Schließlich ist nicht jeder bereit, sich den Regeln der Kultur zu beugen. Somit geht der Kampf gegen die Sterblichkeit, welcher das eigentliche Ziel des Menschen ist, nicht ohne Gewalt ab. In welcher Gestalt diese dann auftritt, ist von der Kultur abhängig. Die gewalttätigen Anlagen des Menschen sind von ihr formbar. Der Drang überleben zu wollen bedingt demnach Gewalt, die Gesellschaft bestimmt deren Ausgestaltung.
Beim Mord empfindet der Mörder, so Sofsky, besonders stark den Enthusiasmus des Überlebens. [29] Zunächst ist der Täter entsetzt, doch wenig später löst sich dies in Befriedigung auf. Dann bemerkt er nämlich, dass er selbst nicht der Tote ist. Er wird von starkem Selbstbewusstsein ergriffen, denn er allein – so sein Gefühl – bestimmt den Tod. [30]
Auch wenn die beschriebenen Theorien nicht speziell und bei weitem nicht umfassend das Verhalten eines (Serien-)Mörders beschreiben können, so liefern sie uns doch einige wertvolle Anhaltspunkte. Ist es nicht ein kulturelles Ziel Anerkennung von seinen Mitmenschen zu erlangen? Und blieb gerade dies nicht vielen Tätern verwehrt? Sahen sie sich etwa nicht oftmals mit erheblichen sozialen Missständen konfrontiert, die ihnen das „passende“ Lernmilieu boten? Die gesellschaftlichen Institutionen scheinen bei diesen Menschen jedenfalls versagt zu haben. Lacassagne sagte: „Die Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen.“ [31] Die alleinige Schuld trifft sie vielleicht nicht, aber zumindest von einer Mitschuld ist auszugehen.
Psychologische Erklärungsmodelle
Angesichts vieler Überschneidungen und Ähnlichkeiten fällt es schwer die psychologischen Erklärungen für Kriminalität und insb. für extreme Gewalt isoliert von anderen Disziplinen (z. B. der Soziologie) zu betrachten. Im Folgenden geht es um jene Ansätze, die als vorrangig psychologisch erachtet werden.
Definitionen: Aggression, Gewalt
Ohne Aggression gäbe es keine Beleidigung, keine Körperverletzung und erst recht keinen Serienmord. Nach der neuesten psychologischen Definition ist Aggression ein „Verhalten, das aus den unterschiedlichsten Gründen darauf abzielt, einen anderen körperlich, verbal, materiell oder psychologisch zu schädigen“. [32] Der Angegriffene versucht dieses absichtliche und unangemessene Verhalten natürlich zu verhindern. Des Weiteren kann sich Aggression auch gegen Sachen (Vandalismus), gegen Institutionen und gegen den Aggressor selbst richten (Selbstverstümmelung, Suizid). Aggression kann jedoch auch mit einer positiven Konnotation stehen, nämlich dann, wenn sie nicht destruktiv sondern im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung ein Zeichen für Vitalität und Eigenständigkeit ist.
Die Wurzeln der Aggression liegen im instinktiven Selbsterhaltungstrieb des Menschen und in der Reaktion auf Frustration. Des Weiteren ist sie eine mögliche Folge zur Bewältigung von Angst. Wie mit dem Aggressionstrieb umgegangen wird, hängt Bandura entsprechend von der Art und Weise ab, wie der Mensch lernt unangenehme Emotionen zu verarbeiten.
Gewalt ist „die offene, manifeste, nackte, meist physische Ausdrucksform von Aggression“ und „gehört zum Einprägsamsten, was Menschen erfahren. Sie reagieren mit Schrecken und Schock, wenn sie sich einer Gewalteinwirkung ausgesetzt sehen“. [33] Gewalt hat unzählige Ausdrucksformen, sie kann legal oder illegal, aktiv oder passiv sein. Aktive Gewalt zeigt sich durch gewalttätige Handlungsweisen (z. B. Körperverletzung, Verleumdung, Ausbeutung), passive durch einfache Unterlassung (z. B. Vernachlässigung, Nichtbeachtung). Gewalt stellt einen Teilbereich der Aggression dar.
FBI-Studie
Im Jahre 1980 führte das FBI eine Studie an 36 Serienmördern durch, um die Ursachen ihrer Gewalttaten zu ermitteln. [34] Beim Ergebnis ist übereinstimmend bei allen Tätern von „zerrütteten Familienverhältnissen“ die Rede. Die Befragten empfanden ihre Erziehung als „ungerecht, feindselig und kalt“, ihr Verhältnis zu ihren Eltern beschrieben sie als „kühl, distanziert, lieblos und vernachlässigt, ohne emotionale Wärme und Körperkontakt“. Die Väter verließen in vielen Fällen die Familie, bevor das Kind das 12. Lebensjahr erreicht hatte. In sehr vielen Fällen gab es weitere familiäre Probleme, wie z. B. Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychiatrische und sexuelle Probleme, sowie chronisches Lügen, Brandstiftung, Bettnässen, Tagträume und zwanghafte Masturbation bei den Kindern. Die beiden letztgenannten Faktoren kommen in der Untersuchung bei fast allen Serienmördern vor. Zusammen mit der Isolation ergibt dies einen Sinn, da die Phantasie (in Form von Tagträumen) beim Täter von großer Bedeutung ist. Wenn die Befragten als Kinder sexuell missbraucht wurden, so zeigten sie später als Täter wesentlich häufiger Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. Grausamkeiten gegen Tiere oder Selbstverstümmelungen.
Auch Douglas sieht in der „klassisch“ traumatisierend verlaufenden Kindheit, die er als eine „kaputte Familie ohne Vater“ definiert, eine Ursache für extreme Gewalt. [35] Ergänzend ist für ihn eine dominante, übermäßig fürsorgliche Mutter ein weiteres Element der „kaputten Familie“.
Das FBI fasst in der sog. „Mörderischen Triade“ die drei wichtigsten Warnsignale für künftiges psychologisch auffälliges Verhalten zusammen. Zu dieser Triade gehören Brandstiftungen im Alter von ca. fünf Jahren, lang anhaltendes Bettnässen im Alter über 12 Jahren und Tierquälerei. Natürlich wird nicht jeder, auf den diese Eigenschaften zutreffen zum Serienmörder. Allerdings lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass Personen, bei denen alle genannten Merkmale in geballter Weise auftreten, weiterhin abweichendes Verhalten zeigen werden.
Psychoanalytische Erklärung
Auch für die Psychoanalyse sind defizitäre Familienverhältnisse für die Bildung „kriminogener“ Persönlichkeitsstrukturen verantwortlich. [36] Abrahamsen sieht den „Aggressionsschub“, der letztlich zum Mord führen kann, aus „inneren Konflikten“ entspringen. [37] Diese Konflikte resultieren aus dem Widerspruch zwischen dem Sexual- und Selbsterhaltungstrieb und der äußeren Umgebung sowie aus traumatischen Erlebnissen in der Kindheit. Um diese Erlebnisse spannen sich dann Ängste, Frustrationen und Depressionen, die schließlich zu unbewussten Verdrängungen führen. Diese können dann einen Mord durch unbewusste Motivation hervorrufen. [38] Die Psychoanalyse geht von fiktiven Persönlichkeitsstrukturen wie Es, Ich und Überich aus. [39] Sie unterscheidet zwischen Kriminalität infolge neurotischer Persönlichkeitsstruktur und infolge Verwahrlosungsstruktur. Bei ersterer wird angenommen, dass z. B. eine allzu autoritäre Erziehung der Eltern ein besonders starkes Überich hervorgebracht hat, welches dann in Konflikt gerät mit den Triebansprüchen des Es. Dieser Konflikt wird nach außen getragen und äußert sich in symbolhaften Straftaten.
Die durch Verwahrlosung bedingte Kriminalität wird ursächlich einem zu schwach ausgeprägten Überich zugeschrieben. Wenn die Eltern sich nicht oder nicht genug um ihre Kinder kümmern, verhindert dies eine angemessene Gewissensbildung. Liebesentzug stellt bei Normübertretungen keine Bestrafung mehr dar, weil Zuwendung vom Kind nie erfahren wurde. Es wird außerdem angenommen, dass Kinder „latente dissoziale Impulse der Eltern ausagieren, die sie durch inkonsistente Erziehung, unbewusste Ermutigung, Beispielverhalten etc. erfahren haben“. [40]
Psychoanalytische Erklärungen sind aus vielen Gründen äußerst umstritten. Ihre Persönlichkeitsstrukturen sind fiktiv und begrifflich schwammig, ihre Aussagen sind bisweilen tautologisch und oftmals werden Fälle retrospektiv so „hingebogen“, dass die vorangegangenen Annahmen stimmen. Trotz der berechtigten Kritik hat man nicht zuletzt wegen der Psychoanalyse familiäre Deprivation als Ursache von Kriminalität und Gewalt entdeckt.
Der Kreislauf der Gewalt
In einer qualitativen Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen versuchte Böttger 1998 Zusammenhänge zwischen der Biographie eines Menschen und der späteren Auftretenswahrscheinlichkeit von Gewalt zu ermitteln. In dieser Untersuchung fand sich in den allermeisten Fällen der „Kreislauf der Gewalt“ bestätigt. [41] Dieser Kreislauf besagt, dass eine fortwährende Reproduktion von Gewalt eintritt, wenn Eltern ihre Kinder misshandeln. Die Kinder werden die erlittenen Bestrafungen als legitime Erziehungsmaßnahmen ansehen und später bei ihren eigenen Kindern ebenfalls einsetzen. Es ist zwar nicht zwangsläufig, das Geschlagene weiter schlagen und an der Seele getötete weiter töten. Aber solche Kinder werden sehr viel eher ihren Hass in destruktivem Handeln entladen. [42] Wie in vielen anderen Untersuchungen wurde auch in dieser ein maßgeblicher Einfluss der Erziehung auf die Gewaltentwicklung festgestellt. [43] Besonders problematisch scheinen stark autoritäre oder vernachlässigende Erziehungsstile zu sein.
Ein besonderes Augenmerk ist auf die sehr wichtige Mutter-Kind-Beziehung zu richten. Aufgrund einer Untersuchung, in der Kinder mit einer „fremden Situation“ [44] konfrontiert wurden, klassifizierte Paulus diese Beziehung in vier Typen: [45]
- A-Kinder, Kinder mit sicherer Bindung, sie waren unbekümmert, vermissten lediglich ihre Mutter und empfingen diese überschwänglich, sobald sie wieder auftauchte
- B-Kinder, Unsicher-vermeidende Kinder, sie ignorierten die Mutter teilweise bei ihrer Rückkehr, blieben bei Umarmungen verspannt und behandelten fremde Personen gleich
- C-Kinder, Unsicher-ambivalente Kinder, sie waren wütend über das Alleinsein, suchten bei der Rückkehr der Mutter Kontakt, fühlten sich aber auch abgestoßen
- D-Kinder, Desorganisiert -desorientierte Kinder, sie erstarrten bei einer fremden Person, entfernten sich dann und schienen sehr nervös, sie suchten keine Zuflucht bei der Mutter
Der Typ D fand sich in über 80% aller Fälle bei Kindern die misshandelt wurden und/oder ohne Vater aufgewachsen waren. Diese Kinder „entwickeln keine Strategie, sich vor Bedrohungen zu schützen, insbesondere dann, wenn die Bedrohung von der Bezugsperson, von der Mutter, ausgeht, was in vielen Kindheitserlebnissen von Serienmörder geschildert wird.“ [46] Wenn also das Kind „schutzlos“ ist, führt dies zu wütender Verzweiflung und Feindschaft, mit der es sich zu sichern versucht. Die späteren Opfer stellen für den Mörder keine „Personen“ dar, sie sind lediglich Symbol für „die Frau“.
Tatsächlich lässt sich diese Argumentation anhand vieler Biographien von Serienmördern belegen. David Berkowitz z. B., der bei Adoptiveltern aufgewachsen war, konnte nicht ertragen wie ihn seine Mutter und andere Frauen in seinem Leben behandelt hatten. [47] Seine Mutter wollte ihn nicht bei sich aufnehmen und Frauen standen ihm immer abgeneigt gegenüber. Jürgen Bartsch, der zwischen 1962 und 1966 Kinder mordete, wurde durch eine auf penible Sauberkeit bedachte Mutter erzogen. Mit barbarischen Erziehungsmaßnahmen (unter anderem warf sie ein Messer nach ihm) wollte sie das Kleinkind zur Reinlichkeit erziehen.[48] Robert Hansen, ein erfahrener Jäger und Serienmörder, hatte furchtbare Hautprobleme und stotterte, weshalb er sein ganzes Leben von Frauen zurückgewiesen worden war. [49] Und auch Charlie Manson, der eine Art Sekte gründete und seine weiblichen Mitglieder zum morden anstiftete, hatte man seine ganze Kindheit lang die Seele aus dem Leib geprügelt. [50]
Im „Handbook of Criminology“ beschreibt Jackson Faktoren, die für eine adäquate Sozialisation notwendig sind. [51] Unter anderem ist die Rede von „clear definition of the appropriate norms“ und „solidarity between the person being socialized and the socializing agent“. Bei den genannten Beispielen und bei Serienmördern allgemein scheinen diese Bedingungen nicht erfüllt gewesen zu sein.
Gemein ist also fast allen Serienmördern, dass sie schon als Kind ihre/die Umwelt als bedrohlich und feindlich wahrgenommen haben. Als Schutz vor dieser Bedrohung entstand aggressives Verhalten, welches wiederum von der Umwelt mit Ablehnung und Abweisung bedacht wurde. Auf fatale Weise wurden sie so in ihrer Haltung bestärkt und steigerten ihre Aggression noch weiter. Der erwachsene Serienmörder fühlt sich ebenfalls ständig bedroht und ergreift deswegen Gegenmaßnahmen. [52] Oftmals sind diese Gefühle des Bedrohtseins von massiven Realitätseinbußen und von Paranoia begleitet.
Die Phantasie
„Der wahrscheinlich entscheidendste Einzelfaktor in der Entwicklung eines Serienvergewaltigers oder -mörders ist die Phantasie.“ [53] Wie kommt Douglas zu dieser Behauptung? Wie bereits festgestellt wurde, empfinden Serienmörder ihre vermeintlich feindliche Umwelt als Bedrohung. Ständig leben sie in Angst davor ohnmächtig und hilflos zu sein. Gerade aus diesem Gefühl heraus bildet sich der intensive Wunsch stark und überlegen zu sein und absolute Kontrolle über andere zu erlangen. [54] Auch Douglas fand als die drei gängigsten Motive von Serienmördern Dominanz, Manipulation und Kontrolle. [55] Die Phantasie dient ihnen zunächst als Zuflucht vor der unerträglichen Realität. Um Macht zu bekommen, so stellen sie sich vor, bedarf es der Aggressivität, mit der sie dann über Situationen und Menschen usw. dominieren. Diese Phantasien werden mit der Zeit immer extremer und immer perfekter. Bis ins kleinste Detail stellt sich der spätere Mörder jede Einzelheit exakt vor. Und irgendwann wird er sie in die Tat umsetzen, nämlich dann, wenn die Hemmschwelle überschritten wird und die Aggressionshemmung wirkungslos bleibt. „Bei den meisten Sexualmördern gibt es mehrere Schritte auf dem Weg von der Phantasie zu Realität, oft begleitet von Pornographie, morbiden Experimenten mit Tieren und Grausamkeiten gegenüber Gleichaltrigen.“ [56]
Das endgültige Ausbrechen der Phantasie wird meistens durch einen „Auslöser“ verursacht. Dieser ist bildlich gesprochen nur der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Denn bis zu diesem Zeitpunkt gab es schon so viele Demütigungen und Misshandlungen im Leben des Mörders, dass der Auslöser letztlich nur den Punkt markiert, an dem er sich von dem Versuch „normal“ zu sein verabschiedet. Auslöser sind z. B. die Kündigung des Arbeitsplatzes oder noch häufiger der Verlust von Frau oder Freundin, wobei auch der antizipierte Verlust, d. h. die Angst davor, ausreichen kann. [57]
Bei dem überwiegenden Teil der vom FBI untersuchten Serienmörder ließ sich das Vorhandensein von Tagträumen und Phantasien mit extrem gewalttätigen Inhalten bestätigen. Nicht sexuelle Vorstellungen sondern die von Brutalität und Herrschaft verschaffte ihnen Befriedigung.
Lerntheorien
Wichtige Ansätze zur Erklärung von Kriminalität bilden die Lerntheorien. [58] Die im Sinne Skinners orientierten Ansätze der operanten Konditionierung gehen davon aus, dass antisoziales Verhalten durch Verstärkung und das Ausbleiben von aversive Konsequenzen (Bestrafung usw.) verstärkt wird. Für seltenes und vor allem für erstmaliges antisoziales Verhalten sind diese Ansätze allerdings unzureichend. Die Einbeziehung von kognitiven Faktoren war daher nötig und erfolgte vor allem durch Bandura. „Neben der Erfahrung direkter Bekräftigungen spontaner Aggressionen gilt vor allem das Beobachtungslernen als Prinzip der Verhaltensübernahme.“ [59] Hierbei sind die Familien, die Peer-Gruppen und die Massenmedien (s.u.) entscheidende Sozialisationsinstanzen, deren Einfluss von verschiedenen Eigenschaften des Betrachtenden abhängt (Aufmerksamkeit, Behalten des Beobachteten, motorische Fähigkeiten zur Nachahmung und Motivation). Die Wurzel aggressiven Verhaltens liegt entweder in Beobachtungen der Umwelt oder in der „aversiven Behandlung“ begründet. Letztere orientiert sich im Wesentlichen an der Frustrations-Aggressions-Hypothese ausschließlich der triebdynamischen Annahmen. Bandura betont außerdem die Eigensteuerung bei der Festigung des aggressiven Verhaltens. [60] Es handelt sich hierbei um die Reflexionsfähigkeit des Gewalttäters, die zwar vorhanden aber gestört ist. Er versucht seine Taten (vor sich selbst) zu rechtfertigen, die Folgen herunterzuspielen und das Opfer zu dehumanisieren. Im letzten Punkt widerspricht Sofsky. Für ihn ist es „ein weitverbreiteter Irrglaube, menschliche Gräueltaten bedürften der sozialen Entfernung und der Dehumanisierung des anderen.“ [61] Dass Taten leichter fallen, wenn das Gegenüber als minderwertig betrachtet wird, erscheint jedoch glaubhaft zu sein.
Theorie nach Piaget und Kohlberg
Die Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Kohlberg (auf Piaget aufbauend) ist zur Erklärung von Kriminalität heftig umstritten. [62] Zum einen lassen es diverse Längsschnittuntersuchungen fraglich erscheinen, ob die als universell gültig postulierte Entwicklungssequenz tatsächlich zutrifft. Zum anderen ist es häufig schwierig, Personen einem bestimmten moralischen Niveau zuzuordnen. Es wurde zwar ein Zusammenhang zwischen niedriger moralischer Stufe und Auftretenswahrscheinlichkeit von Kriminalität festgestellt, die Korrelation war hierbei jedoch eher schwach.
Gewalt in den Medien
Natürlich spielt in vielen Biographien von Serienmördern die Gewalt in den Medien wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch gaben einige - nachdem sie festgenommen worden waren - an, sie hätten ihre Ideen und Phantasien von den Geschichten anderer Serienmörder abgeguckt. Erst kürzlich mordete in England ein Serientäter genau nach dem Muster des „Jack the Ripper“. Und das in den Medien sehr häufig Gewalt als angemessenes Mittel zur Problemlösung gezeigt wird, steht wohl außer Frage.
Es gibt zwei veraltete Hypothesen zur Wechselbeziehung zwischen medialem Gewaltkonsum und der Bereitschaft sie anzuwenden. Die erste geht von einem monokausalen Zusammenhang aus, d. h. Konsum von Gewalt führt direkt zur Umsetzung. Die zweite besagt, dass der Konsum im Gegenteil eine Abschwächung der Gewaltbereitschaft zufolge hätte, weil sich der Beobachter „abreagieren“ könnte. [63] Beide Hypothesen wurden widerlegt und als stark simplifizierend abgelehnt.
Die beiden Hypothesen sind auch deswegen falsch, weil sie einige sehr wichtige Faktoren nicht beachten. Eine mittelbare Wirkung der Massenmedien kann als gesichert betrachtet werden, denn sie zwingen zwar nicht zur Nachahmung, beeinflussen und nivellieren aber doch wesentlich die Normen und Wertvorstellungen des Heranwachsenden. [64] Wie stark die Medien ihre Wirkung entfalten hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit andere Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, Kirche usw. ausfallen. Die Medien können den Zuschauer also durchaus erst auf die Idee bringen, dass Gewalt eine Lösung sei und vor allem auch, in welchen verschiedenen Formen sie sich anwenden lässt. Das eigentliche Potential liegt jedoch im Konsumenten selbst begründet. Oder eben nicht. Entscheidend ist nämlich auch, wer eigentlich der Konsument ist. [65] Was bei sensiblen Personen vielleicht erschreckend und abstoßend wirkt, kann bei anderen Ermutigung auslösen. Bei manchen wirkt Gewalt in den Medien inspirierend, als Katalysator, bei andern eher abschreckend. Das eine Wirkung eintritt klingt plausibel, wie genau diese aussieht ist jedoch sehr stark vom Einzelfall abhängig.
Abschließende Betrachtung
Dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn zu geben fällt trotz dieser Fülle an Erklärungsmodellen sehr schwer. Serienmörder sind das extremste, was unsere Gesellschaft hervorgebracht hat und auch wohl weiterhin hervorbringen wird. Eingangs stellte ich die Frage, wie es zu einem solchen Phänomen kommen kann. Die Antwort zeichnet sich im Laufe der Arbeit immer deutlicher ab: Das totale Versagen sämtlicher Sozialisationsinstanzen, von der Familie bis zur Kirche, von der Peer-Gruppe bis zum Staat ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung extremer Gewalt. Ein Serienmörder entsteht nicht aus heiterem Himmel.
Auf dem Weg nach unten begegnen dem späteren Täter eine ganze Reihe von Demütigungen, Misshandlungen und Peinigungen. Zusammengefasst kann man die folgenden Elemente dazu zählen. [66]
Der spätere Serienmörder hat kein stabiles familiäres Umfeld. Er erfährt nicht genügend Zuwendung und kann wichtige Werte und Normen nicht verinnerlichen, da seine Eltern sich bei deren Vermittlung selbst widersprechen oder sie gar nicht vornehmen. Durch das willkürliche Verhalten der Eltern fehlt es ihm an klaren Regeln. Die Eltern verhalten sich missbrauchend, zurückweisend und achtlos. Zu dieser allgemeinen Unsicherheit und Lieblosigkeit kommen dann traumatische Erlebnisse im frühen Kindesalter hinzu. Oft bestimmen körperlicher oder sexueller Missbrauch die Gedankenmuster des Mörders, der auf diese Traumata fixiert ist und sich schutzlos und hilflos fühlt. Hieraus entsteht der starke Wunsch nach Dominanz und Kontrolle, der sich zunächst in stark aggressiven Phantasien äußert. Der Mörder ist durch die frühen Enttäuschungen nicht mehr zu gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen in der Lage. Er isoliert sich, fühlt sich von seiner Umwelt bedroht und hat ständig den Eindruck sich wehren zu müssen. Dieses „sich wehren müssen“ äußert sich in Handlungen, die der Mörder gegen andere richtet. Zunächst quält er Tiere oder andere Kinder, um ein Gefühl des Beherrschens zu erlangen. Die Gewalttätigkeiten zeigen dabei deutlich einen Trend zur Steigerung, zu extremerer Brutalität. Er beginnt seine Taten vor sich selbst zu rechtfertigen und verbessert seine Fehler. Seine Phantasien werden immer detaillierter, immer perfekter, wodurch auch die Umsetzung immer besser wird. Durch einen Auslöser (z. B. den Verlust der Freundin) gerät der Mörder endgültig ins emotionale Ungleichgewicht und lässt seinem Hass freien Lauf. Allerdings nicht sofort, sondern erst, wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt. Wenn er seinen ersten, „zufälligen“ Mord begangen hat, wird er nicht mehr aufhören. Er wird solange töten, bis er sich selbst umbringt, gefasst oder erschossen wird.
Die soeben dargestellte, „idealtypische“ Sequenz von Ereignissen lässt sich mit leichten Variationen bei fast allen Serienmördern feststellen. Sie stellt außerdem ein Konglomerat unterschiedlicher Theorien dar, die in ergänzender Weise auf das Phänomen Serienmörder angewandt wurden. Wenngleich sie auch plausibel klingt, so muss doch auf den stark deterministischen Charakter aufmerksam gemacht werden. Letztlich hat jeder Serienmörder irgendwann selbst die Entscheidung getroffen zu morden. Und dies bei klarem Verstand, denn Geisteskrankheiten, Wahrnehmungsstörungen, Schizophrenie usw. wurden bei den untersuchten Mördern nur in ganz seltenen Fällen festgestellt. Bei der Bestrafung ergeben sich deshalb auch schwerwiegende Probleme: Wie soll man mit solchen Menschen umgehen? Ist Bestrafung oder Therapie angebracht? Und sind solche Menschen überhaupt noch therapierbar?
Nicht nur diese Frage ist sehr umstritten. Es lässt sich vermuten, dass die Gesellschaft familiäre Missstände nicht gänzlich beseitigen kann. Deprivation und Gewalt in der Erziehung reproduziert sich. Deshalb werden wir uns darauf einstellen müssen, dass Serienmörder – seien sie auch ein seltenes Phänomen – wieder und wieder töten werden.
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Sten Cudrig (2006): Zur Generierung von Täterprofilen
Einleitung
In dieser Arbeit soll versucht werden, einen Überblick über die Genese von Täterprofilen zu geben. Da es sich bei diesem Thema um ein sehr komplexes handelt, in das diverse Ansätze und Strategien einfließen, erhebt diese Arbeit auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern kann nur eine skizzenhafte Darstellung geben, in welcher aber dennoch die wesentlichen Punkte zur Erstellung von Täterprofile aufgezeigt sein wollen.
Täterprofile, soviel sei an dieser Stelle schon einmal angemerkt, bilden einen immanent wichtigen Bestandteil kriminalistischer Arbeit. Dabei bedient sich die Täterprofilerstellung diverser Theorien und Strategien aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie beispielsweise der Kriminologie, Kriminalistik, Geographie, Statistik, aber auch Ansätze aus der Psychologie, der Psychiatrie und der Soziologie erfahren nicht geringe Beachtung. Somit bildet die Genese von Täter- profilen ihrem Wesen nach eine eklektizistische Disziplin.
Um eine stringente Analyse der Täterprofilerstellung vornehmen zu können, erscheint es zunächst geboten, im ersten Teil dieser Arbeit den Gehalt sowie etwaige Irrtümer beim Verständnis des so genannten „Profilings“ aufzuzeigen. Daran anschließend soll ein kurzer historischer Abriss über die verschiedenen Entwicklungen zum Profiling gegeben werden. Schließlich sollen anhand von einigen ausgewählten Strategien zum Profiling, die Vorgehensweise der kriminalistischen Arbeit aufgezeigt und die Bedeutung einzelner Wissenschaftler, wie beispielsweise David Canter, genauer betrachtet werden. Eine kurze Bewertung einzelner Verfahren sowie ein Ausblick zum Profiling sollen letztlich diese Arbeit abrunden.
Doch zunächst zu der Frage, was Profiling eigentlich heißen möchte, im Gegensatz zu dem in der Öffentlichkeit allgemein gezeichneten Bild.
Zum Begriff des Profilings
Die Begriffe Profiler und Profiling leiten sich von dem französischen Wort „Profil“ ab, was soviel wie Umriss oder Seitenansicht bedeutet. Der heute in der Öffentlichkeit allgemein gebrauchte Begriff des „Offender Profiling“ oder einfach nur „Profiling“ bezeichnet dabei den im anglo-amerikanischen Raum verwendeten Terminus zur Beschreibung der Täterprofilerstellung. (Hoffmann und Musolff 2000: 18) In Deutschland, speziell beim Bundeskriminalamt (BKA), spricht man dagegen von der so genannten „Operativen Fallanalyse“. (Musolff 2001: 3) Im weiteren Verlauf dieser Arbeit sollen also sowohl Profiling, als auch Fallanalyse als unterschiedliche Bezeichnungen des jeweiligen Sprachraums, doch dem Gehalt nach als Synonym gelten.
Die folgende Abbildung zeigt drei Grundpfeiler, die jeder praktischen Täterprofilerstellung und Fallanalyse zu Grunde liegen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Drei Grundpfeiler der praktischen Fallanalyse und Täterprofilerstellung
(Quelle: Hoffmann und Musolff 2000: Fallanalyse und Täterprofil; S.22)
Das Hintergrundwissen ist als grundlegender Bestandteil jeder kriminalistischen Praxis zu begreifen und kann sich auf den allgemeinen kulturellen Kontext eines Verbrechens beziehen, aber auch auf spezifisches Wissen über das Wesen eines Delikts sowie biographische und psychologische Hintergründe von Tätern und Opfern. (Hoffmann und Musolff 2000: 22)
Theoretische Modelle sind vom Hintergrundwissen kaum trennbar zu betrachten. Dabei werden Informationen geordnet, Verbindungen zu diversen Phänomenen hergestellt und Erfahrungen interpretiert. „Bei der Durchführung von Fallanalysen wird vielfach auf wissenschaftliche Modelle Bezug genommen, um Verbindungen zwischen Tatverhalten und der Identität eines unbekannten Verbrechers herzustellen, etwa auf Persönlichkeitsmodelle aus der Psychoanalyse oder Wahrnehmungstheorien aus der kognitiven Psychologie.“ (ebd.: 23)
Analyseverfahren sind schließlich wohl das Herzstück der institutionalisierten Fallanalyse, denn sie machen solche Verfahren zu einem objektiven Werkzeug und damit auch prinzipiell vermit- telbar. Dabei werden Strategien angeboten, mit denen ein Fall rekonstruiert und analysiert wer- den kann, so dass aus ihm polizeitaktisch relevante Informationen über den unbekannten Täter abgeleitet werden können. (ebd.)
In der Öffentlichkeit ist ein eher verzerrtes Bild des Profilings existent. Nicht zuletzt tragen hier- für zahlreiche angloamerikanische populärkulturelle Fiktionen Rechnung, wie beispielsweise der bekannte Thriller „Das Schweigen der Lämmer“, die britische Krimiserie „Für alle Fälle Fitz“ oder auch einige autobiographische Publikationen einzelner Profiler, die ein überzeichne- tes Bild ihrer Arbeit beschreiben. (ebd.: 1; vgl. auch Reichertz 2001: 38f.) „Ganz im Gegensatz zu seinem legendären Image in den Medien ist das Profiling jedoch weder als eine mystische Geheimwissenschaft zu begreifen, noch handelt es sich um eine psychologische Wunderwaffe (und will dies auch gar nicht sein), die den verblüfften Ermittlern den Mörder quasi auf dem goldenen Tablett serviert.“ (Hoffmann und Musolff 2000: 27) Vielmehr lässt sich festhalten, dass hinter allen Profiling-Verfahren die Idee steht, „das Verhalten von Tätern und den psycho- sozialen Kontext von Straftaten als Informationsquelle zur Unterstützung der Verbrechensaufklärung zu nutzen.“ (Musolff 2001: 3) Die Täterprofilerstellung, das bekannteste fallanalytische Verfahren, ist dabei eine Methode, „bei der … ein unbekannter (!) Täter hinsichtlich seiner Per- sönlichkeits- und Verhaltensmerkmale so beschrieben wird, dass er von anderen Personen signi- fikant zu unterscheiden ist.“ (Dern 2000: 538) Dabei „versucht man mit einem Täterprofil Aussagen zu machen etwa über Anzahl der Täter, Geschlecht, Alter, Familienstand, Lebensraum/ Wohnort, Ausbildung, Beruf, Mobilität, mentaler Typus, Umgang mit Autoritäten, Vorstrafen, Gewohnheiten/Freizeitaktivitäten, Erscheinungsbild und prä- und postdeliktisches Verhalten.“ (Musolff 2001: 5)
Schon bei dieser kurzen Beschreibung, was eigentlich eine Täterprofilerstellung heißen möchte, wird ersichtlich, wie vielschichtig sich die Erstellung eines Täterprofils eines unbekannten Täters gestaltet – rein aus der Spurenlage. So ist es auch nicht verwunderlich wenn der prominente Profiler Paul Britton bei der Beschreibung seiner Arbeit zu folgendem Ergebnis kommt: „Es ist wie bei der Besichtigung eines altägyptischen Grabraumes: Man sieht, dass die Wände voller Hieroglyphen sind. Wenn man die Sprache, die Syntax und die Grammatik kennt, vermag man die Botschaft zu lesen und mehr über die Menschen zu erfahren, die das Grab erbaut haben. Doch wer die Schrift nicht zu Lesen vermag, für den sind die Reliefs einfach bloß schöne Bilder an der Wand und ohne jede Bedeutung; oder, schlimmer noch, er wird sie falsch deuten und zu völlig unsinnigen Schlüssen kommen.“ (Britton 1998: 127)
Außerdem, so kann man in einem ersten Resümee festhalten, ersetzen fallanalytische Verfahren keineswegs die normale Ermittlungsarbeit. „Sie haben allein ergänzende und unterstützende Funktion, wobei die meisten Fallanalytiker ihre Arbeit als Dienstleistung für die ermittelnden Beamten sehen, die diesen neue Ideen und eine erweiterte Perspektive auf den Fall liefern soll. Täterprofile selbst lösen also niemals einen Fall, dies geschieht alleine durch die Polizeibeam- ten vor Ort.“ (Hoffmann und Musolff 2000: 20) Die aus der Arbeit des Profilers resultierenden Ergebnisse stellen also immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen dar. Der Ermittlungsbeamte vor Ort hat dann zu entscheiden, in welchem Umfang das Gutachten umzusetzen ist.
Allerdings stößt der Aussagegehalt von Täterprofilen schnell an seine Grenzen, nämlich genau dann, „wenn dem Täter wenig individueller Handlungsspielraum gegeben war oder wenn bei einer konkreten Einzeltat kaum spezifisches Tatverhalten zur Anwendung kam.“ (Fink 2001: 257) Je charakteristischer sich also die Spurenlage darstellt und umso spezieller die Struktur eines Verbrechens ist, desto aussagekräftiger ist demnach ein Täterprofil. (ebd.)
Täterprofile wurden in den Anfängen nur bei Serienmorden und Sexualdelikten angewandt, doch zeigt sich heute ein anderes Bild. In der zweiten Hälftedes 20. Jahrhunderts „ist der Erkenntnis- stand im Bereich psychologischer Täterprofile und fallanalytischer Verfahren national sowie international geradezu explosionsartig angestiegen. Dabei hat sich nicht nur das Repertoire von anwendbaren Methoden, Modellen, Theorien und Techniken rasant entwickelt, sondern die Verfahren wurden mit zunehmenden Erfahrungen auf immer mehr Deliktbereiche ausgedehnt. So beschränken sie sich nicht mehrallein auf Serienmord und -vergewaltigung, sondern finden Anwendung bei Erpressungen, erpresserischen Menschenraub, Sprengstoffanschlägen, Tiermorden und auch bei Brandstiftungen und Wohnungseinbruch.“ (Musolff 2001: 1) Gerade das BKA in Deutschland schlägt hierbei zum Teil völlig neue Wege fallanalytischer Verfahren vor. (Hoffmann 2001: 308ff.)
Wie sich die Methodenvielfalt von den ersten „Gehversuchen“ im Bereich Täterprofilerstellung bis heute entwickelt hat, soll nun Thema des folgenden Kapitels sein. Gerade die Arbeiten der in den USA in den 70er Jahren gegründeten Einrichtung „Behavioural Science Unit (BSU), sollen dabei besonders hervorgehoben werden, da man heute diese als die Geburtsstunde des modernen Profilings versteht.
Historische Betrachtung des Profilings
Es erweist sich als schwierig die Anfänge des Profilings exakt zu datieren. Auf erste Ansätze der Tätertypologisierung, die ein Cesare Lombroso oder Ernst Kretschmer generierten, aber auch auf Ergebnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds, die zum Teil auch heute noch bei fallanalytischen Untersuchungen Beachtung finden, sollen hier vernachlässigt werden, da diese den Rah- men dieser Arbeit sprengen würden. Stattdessen soll, wie auch immer wieder in der einschlägigen Literatur angeführt wird, drei bedeutende historische Ereignisse näher betrachtet werden.
Zum einen ist hier das erste bekannte „Täterprofil“ in der deutschen Kriminalgeschichte zu nennen, das 1930 in einer Sonderausgabe des „Deutschen Kriminalpolizeiblattes“ publiziert wurde. (Musolff 2001: 10) Eine Serie von Sexual- und Kapitaldelikten im Jahre 1929 ließen bis dato alle Bemühungen der Düsseldorfer Mordkommission diese Gewaltserie aufzuklären, erfolglos erscheinen. Auf über 30 Seiten informierte schließlich das Sonderblatt über sämtliche Tatzusam- menhänge, um durch diese breite Veröffentlichung mögliche Hinweise zu erhalten. „So wurden die jeweiligen Vorgehensweisen des Täters sorgfältig beschrieben, umfangreiche Daten der Opfer genannt, Bildmaterial aus der Rechtsmedizin, von den entwendeten Gegenständen, einer Tatwaffe, Schriftstücken und ein Stadtplan mit den eingezeichneten Tatorten abgebildet. Neben diesen objektiven Tatsachen listete die Sondernummer auch Hypothesen und Rückschlüsse der Düsseldorfer Polizei über den Täter (wie etwa Beruf, Tätigkeit, kommunikative Fähigkeiten), seine Entwicklung (beispielsweise Strafregister oder möglicherweise frühe Auffälligkeiten durch das Quälen von Tieren oder Kindern) und seinem Lebensumfeld (wie Herkunft, Aufenthaltsverhältnisse) auf.“ (ebd.: 10f.) Zweifellos erfüllten die Ausführungen damals nicht den Standard heutiger methodischer Ansätze, doch lassen sich einige Gemeinsamkeiten beim Aufbau gegenwärtiger Täterprofile ausmachen. Im Mai 1930 wurde schließlich durch einen Zufall der Serienmörder Peter Kürten überführt. Dabei waren doch zumindest einige Übereinstimmungen in den Charakterisierungen, die gemacht wurden, festzustellen. (ebd.: 11)
Ein zweiter Meilenstein des Profilings geht auf ein außergewöhnliches Täterprofil zurück, das 1943 vom amerikanischen Militärgeheimdienst OSS, dem Vorläufer der CIA, in Auftrag gegeben wurde. Um politischen Entscheidungsträgern in Washington, Anhaltspunkte zur Einschätzung des Verhaltens Adolf Hitlers zu ermöglichen, erstellte der Psychiater Walter C. Langer eine psychologische Analyse Hitlers. Hierzu nutzte Langer diverse Schriften von und über Hitler, außerdem berücksichtigte er Aussagen von Personen, die Hitler persönlich kannten. (ebd.) Außergewöhnlich war dieses Profil deshalb, weil es nicht wie sonst üblich über einen unbekannten Täter erstellt wurde, sondern über eine bekannte Person. Langer beurteilte die Selbsttötung Hitlers von acht möglichen Handlungen bei einer Niederlage als die Wahrscheinlichste. (ebd.)
Doch als die ersten ernstzunehmenden psychologischen Täterprofile im engeren Sinne gelten bis heute die Arbeiten des amerikanischen Psychiaters James Brussel. Der am häufigsten zitierte Fall ist dabei der des geistesgestörten George Metesky. Von 1940 bis Mitte der 50er Jahre wurde New York von zahlreichen Bombenattentaten erschüttert. Brussel erstellte ein Profil, das sich im Nachhinein als außerordentlich treffsicher zeigte. Aufgrund dieses Profils wurde, allerdings nur durch einen Zufall, George Metesky gefasst, der in die Geschichte als der „Mad Bomber“ einging. (ebd.; vgl. auch Innes 2000: 240f.)
Allerdings, so muss man konstatieren, war allen diesen psychologischen Charakterisierungen gemeinsam, „dass die verwendeten Methoden wenig durchschaubar waren, das Vorgehen in der Regel unsystematisch war sowie mit viel implizitem Wissen und kaum empirischen Wissen Profile erstellt wurde.“ (Musolff 2001: 11)
Wie gezeigt wurde, sind also schon Anfang des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Versuche von Psychiatern, Psychologen und Kriminalisten unternommen worden, um durch psychologische Interpretationen der Spuren eines Verbrechens ein Persönlichkeitsprofil des unbekannten Täters zu erstellen, doch gebührt allein FBI-Agenten der Verdienst dies zumindest im Westen auf erstmalig systematische Weise getan zu haben. (Ressler et al. 1988) Allerdings ist dies nur zum Teil richtig. Denn etwa zur gleichen Zeit, als FBI-Agenten in den USA erste systematische Methoden zur Täterprofilerstellung generierten, „gab es in der DDR Bemühungen, mithilfe der Methodik der so genannten Versionsbildung die Aufklärung von Straftaten aus einer Art fallanalytischen Perspektive heraus voranzubringen.“ (Hoffmann 2001: 310) Auf Grundlage der vorhandenen Spurenlage und der Umgebungsfaktoren wurden Versionen, Hypothesen, zur Täterpersönlichkeit generiert, um daraus Ermittlungsstrategien ableiten zu können. So heißt es in einem klassischen Lehrbuch für Kriminalisten in der DDR: „Wesentlich ist, dass mit Hilfe aufgestellter Versionen ungeklärte Fragestellungen gelöst werden … So z. B. geht es bei Straftaten mit unbekanntem Täter bei der Versionsbildung vordergründig darum, weitere Kenntnisse über den Verdächtigen- kreis bzw. den Täter zu erlangen.“ (Strauss und Ackermann 1984: 34) Doch soll auf die methodisch äußerst anspruchsvolle Versionsbildung nicht weiter eingegangen werden und stattdessen auf die Entwicklung in den USA Bezug genommen werden.
Denn als in den USA Ende der 1960er Jahre die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten zurück ging, wurde in den 1970er Jahren von der amerikanischen Bundespolizei FBI die „Behavioural Science Unit“ (BSU) gegründet, um diesem Trend entgegenzuwirken. (Musolff 2001: 12) In den nachfolgenden Jahren wurden von den Mitarbeitern dieser Einrichtung zwei zukunftsweisende empirische Studien an überführten Serientätern durchgeführt, „um psychologische Modelle, Tä- tertypologien und Methoden der Täterprofilerstellung zu entwickeln.“ (ebd.) Eine dieser Studien ist dabei das legendäre Interviewprojekt „Criminal Personality Research Projekt“ (CPRP), das von John Douglas und Robert Ressler an 36 Sexualmördern durchgeführt wurde. „Eines der Ziele dieses Projektes war die zuvor ermittelte Zweiteilung der Serienmörder, einerseits in Täter, die mehr ein planendes Verhalten zeigten („organized offender“) und andererseits in solche, die eher nicht planende, impulsive Verhaltensweisen demonstrierten („disorganized offender“), em- pirisch auszubauen.“ (ebd.) Ein weiteres bekanntes Projekt der BSU wurde an 41 Serienverge- waltigern durchgeführt. Diese Untersuchung baute auf bereits existierende Modelle über die Persönlichkeit und das Verhalten von Vergewaltigern auf und erbrachte eine prototypische vier- stufige Typologisierung. „Unterschieden wurden dabei je zwei Grundtypen von Motivstrukturen, einerseits zwei Klassen von machtmotivierten Vergewaltigern („power rapists“) und andererseits zwei Kategorien von wutmotivierten Vergewaltigern („anger rapists“).“ (ebd.: 13) Bei dieser zweiten Studie wurde nicht von einer reinen Tätertypentypologisierung ausgegangen, sondern von Mischformen der Täter.
Bei der BSU wurden im Verlauf noch weitere Typisierungen von Sexualtätern moduliert, doch bildeten diese beiden Studien das Grundgerüst für weitere Kategoriensysteme. Noch heute, trotz mancher Kritik gerade an der zweipoligen Serienmörder-Typologisierung, wird auch international fortwährend Bezug auf diese Typologien-Systeme zur Analyse von Sexualverbrechen für Profiling-Zwecke genommen. (ebd.)
Schließlich wurde 1984 durch politische Intervention die Spezialeinheit des FBI verstärkt und das „National Center of the Analysis of Violent Crime“ (NCAVC) in Quantico gegründet. So wurden die Arbeiten der BSU in einem größeren Rahmen fortgesetzt. Neben anspruchsvolleren Forschungsprojekten und umfangreichen Ausbildungsseminaren wurden unzählige Täterprofile erstellt und erstmalig internationale Anfragen sowie Unterstützungsgesuche ausländischer Polizeibehörden bei unlösbaren Mordfällen bearbeitet. (ebd.) Neuere Forschungsansätze innerhalb der NCAVC legen den Focus heute auf Entführungen, dem mysteriösen Verschwinden von Kindern sowie, ausgelöst durch aktuelle Geschehnisse, auf diverse Formen von Gewaltdelikten Jugendlicher, wie etwa Schießereien an amerikanischen Schulen. (ebd.: 14)
Im folgenden Kapitel sollen nun einige ausgewählte Strategien fallanalytischer Verfahren vorgestellt und zum Teil einer kurzen Beurteilung unterzogen werden. Zunächst soll hierbei auf ein vom FBI entwickeltes Ablaufschema für Morde und sexuell motivierte Gewaltdelikte, der „Crime Scene Analysis“, eingegangen werden.
Ausgewählte Verfahren des Profilings
Die Tathergangsanalyse (Crime Scene Analysis)
Die „Crime Scene Analysis“, oder „Tathergangsanalyse“ wie sie in Deutschland genannt wird, die in den 1970er und 1980er Jahren von der BSU entwickelt wurde, bildet das Kernstück psychologisch-kriminalistischer Untersuchungen von Tötungdelikten und sexuell motivierten Gewaltverbrechen und ist damit zugleich als Vorraussetzung für eine Täterprofilerstellung zu be-greifen. (Hoffmann und Musolff 2000: 158) „Ziel ist dabei vor allem, das Verhalten des Täters herauszuarbeiten. Von besonderem Interesse sind Handlungsweisen, die über das unmittelbar für die Tatdurchführung notwendige Verhalten hinausgehen, da diese als potentiell aussagekräftig für die Persönlichkeit des Täters betrachtet werden. Weiteres Augenmerk gilt denjenigen Punkten, an denen der unbekannte Täter eine Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen trifft, da sich auch hier seine Individualität offenbart.“ (ebd.)
Das folgende Schema zeigt den Ablauf einer Tathergangsanalyse. Im weiteren Verlauf soll nun auf die einzelnen Punkte näher eingegangen werden.
Abbildung 2: Ablauf einer Tathergangsanalyse (Crime Scene Analysis)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Hoffmann und Musolff 2000: Fallanalyse und Täterprofil; S.162)
Ein bestimmtes Mindestmaß an Informationen ist unerlässlich um eine seriöse Rekonstruktion des Verbrechens zu ermöglichen. So ist es zunächst notwendig alle tatrelevanten Örtlichkeiten und deren Umgebung umfangreich zu dokumentieren, um in einem späteren Schritt auch die Entscheidungen des Täters nachvollziehen zu können. Immanent wichtig sind Informationen zum Opfer selbst. Beispielsweise forensische Daten, wie der Obduktionsbefund und Laborbe-richte, aber auch detaillierte Angaben zur Biographie des Opfers. Ferner sind visuelle Dokumente äußerst wichtig. So werden stets Fotographien vom Tatort gemacht, aber auch Luftaufnahmen sowie ausführliches Kartenmaterial bleiben nicht unberücksichtigt. (Hoffmann 2001: 119)
Im Entscheidungsprozess werden die Profiling-Eingabedaten zu sinnvollen Mustern strukturiert. So wird zunächst in der Mordklassifikation die Tat dahingehend eingeordnet, ob es sich um einen Einfach-, Doppel-, Dreifach- oder Serienmord oder gar um einen Amoklauf handelt. Bei der Beurteilung des primären Motivs unterscheidet das FBI zwischen Beziehungs-, Bereicherungs- und Sexualdelikten sowie zwischen gruppendynamischen Taten. Die Einschätzung des Opfer- und Täterrisikos schließlich bildet eines der zentralsten Konzepte überhaupt. Hier spielen Faktoren wie Alter, Beruf oder die Lebenssituation des Opfers, aber auch Kontexteinflüsse wie die Tageszeit des Verbrechens oder die Belebtheit des Tatortes mit hinein. Opfer- und Täterrisiko stehen zumeist im komplementären Verhältnis zueinander. (ebd.: 119f.) „Der Beruf einer auf der Straße arbeitenden Prostituierten stellt einen hohen Risikofaktor für das Opfer dar. Für den Täter dagegen macht diese Tatsache die Gefahr, die er beim Erstkontakt eingehen muss, kalkulierbarer. Er weiß, wo er sein Opfer findet und kann es, ohne auffällig zu werden, in seine Kontrolle bringen, …“ (ebd.: 120) Ferner bildet in der Kategorie „Zeitfaktoren“ die Dauer ein wesentliches Kriterium. Also wie lange sich der Täter am Tatort aufhält, etwa indem er sein Opfer missbraucht, es ermordet, den toten Körper manipuliert oder die Leiche verbirgt. „Hier können etwa Kriterien wie die subjektive Tatortberechtigung bedeutsam sein, also das Gefühl des Täters sich am Tatort sicher zu fühlen, was evtl. auf eine räumliche Nähe zu seinem alltäglichen Umfeld hinweist.“ (ebd.: 121) Schließlich beschreiben Ortsfaktoren die Anzahl, die Lage und Charakteristika der in einem Verbrechen auftretenden Tatorte, wie dem des Überfalls, der Tötung oder der Ablage der Leiche. (ebd.)
[...]
[1] vgl. Stern tv-magazin im Stern Nr. 34
[2] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 45f.
[3] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S. 6
[4] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.34
[5] Ein Überblick über die Definitionen verschafft: Fink, P., Immer wieder töten, 2001, S. 55f.
[6] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S. 49f.
[7] vgl. Lane/Gregg, The New Encyclopedia of Serial Killers, 1992, S. 2f. (zit. nach Fink 2001)
[8] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 181
[9] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S. 46 und 50
[10] vgl. Bardsley: Jack the Ripper, 2001
[11] vgl. Bell/Bardsley: Ted Bundy, 2000
[12] vgl. Bardsley: Son of Sam, 1999
[13] Seine einzige Erfahrung machte er als Soldat in Korea mit einer Prostituierten. Dabei infizierte er sich mit einer Geschlechtskrankheit.
[14] vgl. Bardsley: Jeffrey Dahmer, 2001
[15] vgl. Filser, Einführung in die Kriminalsoziologie, 1983, S.65
[16] vgl. Backes, Strafrecht und Gewalt, 1994, S.24
[17] vgl. Filser, Einführung in die Kriminalsoziologie, 1983, S.109
[18] vgl. Kaiser, Kriminologie, 1985, S.21 und Filser, Einführung in die Kriminalsoziologie, 1983, S.106
[19] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.149
[20] vgl. Kaiser, Kriminologie, 1985, S.23
[21] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.181
[22] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.170
[23] vgl. Sack, Soziologische Kriminalitätstheorien, S.272f.
[24] vgl. Kaiser, Kriminologie, 1985, S.22
[25] vgl. Sack, Soziologische Kriminalitätstheorien, S.276ff.
[26] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S.224
[27] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S.212 ff.
[28] Als Beispiel können hier die Kreuzzüge dienen.
[29] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S.58
[30] Ähnlich sieht es auch Abrahamsen. Er versteht den Mord an anderen als Befreiung von der eigenen „Todesfurcht“. (vgl. Abrahamsen, The Murdering Mind, 1973, S.24)
[31] vgl. Filser, Einführung in die Kriminalsoziologie, 1983, S.110
[32] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.120f.
[33] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.118f.
[34] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.124f.
[35] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.210
[36] vgl. Kaiser, Kriminologie, 1985, S.26
[37] vgl. Abrahamsen, The Murdering Mind, 1973, S.16
[38] vgl. Abrahamsen, The Murdering Mind, 1973, S.17
[39] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.255f.
[40] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.256
[41] vgl. Böttger, Gewalt und Biographie, 1998, S.126
[42] vgl. Backes, Strafrecht und Gewalt, 1994, S.27
[43] vgl. Böttger, Gewalt und Biographie, 1998, S.387
[44] In dieser Situation waren die einzelnen Kinder zeitweilig von ihrer Mutter getrennt.
[45] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.130f.
[46] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.132
[47] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.173
[48] vgl. Drost, Der Kindermörder Jürgen Bartsch, 2001, S.94f.
[49] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.285
[50] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.140
[51] vgl. Jackson, The Socialization and Control of Deviant Motivation, 1974, S.87
[52] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.133
[53] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.132
[54] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.135
[55] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.129
[56] vgl. Douglas, Die Seele des Mörders, 1998, S.133
[57] vgl. Backes, Strafrecht und Gewalt, 1994, S.106ff.
[58] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.257f.
[59] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.259
[60] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.260
[61] vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S.181
[62] vgl. Lösel, Psychologische Kriminalitätstheorien, S.262
[63] vgl. Böttger, Gewalt und Biographie, 1998, S.143
[64] vgl. Filser, Einführung in die Kriminalsoziologie, 1983, S.118f.
[65] vgl. Böttger, Gewalt und Biographie, 1998, S.145f.
[66] vgl. Fink, Immer wieder töten, 2001, S.182f.
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- Christof Niemann (Autor:in), Sten Cudrig (Autor:in), Marcus Gießmann (Autor:in), 2013, Serienmörder im Visier. Gewaltverbrecher und ihre Hintergründe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262430