Die Rolle der (Stief)-Mutter und ihre Darstellung in den Novellen Theodor Storms


Dossier / Travail de Séminaire, 2009

45 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Haupttei
1.) Die Novelle als Literaturform
2.) Themen der Novellen Storms
3.) Die Figur der Stiefmutte
3.1) Etymologische Herleitung des Begriffs
3.2) Die Stiefmutter in der antiken Literatu
3.3) Die Stiefmutter im Märchen
3.4) Eigene Gedanken zum Thema Stiefmutte
4.) Die einzelnen Novellen
4.1) Viola tricolo
4.2) Immensee
4.3) Pole Poppenspäle
4.4) Aquis submersus
4.5.) Der Schimmelreite
4.5.1.) Überleitung
4.5.2) Das Männliche und das Weibliche im Schimmelreiter
4.5.3.) Das behinderte Kind
4.5.4.) Die beiden Frauengestalten Trien` Jans und Elke

III Schluss

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Theodor Storm gilt als einer der bedeutendsten Autoren des bürgerlichen Realismus in Deutschland. Diese Epoche umfasst die Zeit von 1850-1890, die Jahre nach der 1849 endgültig gescheiterten Revolution. Nach dem politischen Scheitern musste das Bürgertum versuchen, ein neues Selbstbewusstsein zu erlangen. Dies erfolgte kompensatorisch auf ökonomischem Gebiet im Zuge der industriellen Revolution. Das Ziel hieß nun Reichtum, nicht mehr Freiheit. Der bürgerliche Mensch, egoistisch getrieben von seiner Geldgier, entfremdet sich von sich selbst. Dieser Geldgier und dem Kampf um Ansehen fallen auch die Familien zum Opfer, da dem Streben nach materieller Sicherheit auch die Liebe untergeordnet wird. Umkehr scheint nur dann möglich, wenn der Mensch sich auf den eigentlichen Sinn des Lebens zurückbesinnt, welchen nur Liebe und Verständnis erschließen können.

Die Literatur des Bürgerlichen Realismus ist konstruierte Realität, Literatur aus Sicht des Bürgertums. Die zentrale Thematik des Bürgerlichen Realismus ist die Beziehung zwischen einem objektivem Ganzen, dem Gesellschaftlichen, und dem subjektiv Individuellen.[1] Grundthema des Stormschen novellistischen Werks ist die stete Gefährdung des Individuellen, aber auch des Humanitären innerhalb einer sozialen Gemeinschaft.[2] Weil die Gegenwart so entwertet ist, wendet sich Storm gern den Chroniknovellen zu, in denen er eine rückwärtsgewandte Utopie als Mahnmal für seine Generation entwirft.[3][4] Rosegger rezensiert die stormschen Novellen folgendermaßen: „Die deutsche Familie und das Seelenleben der Familienmitglieder sind Storms Schauplatz. Aber es weht in diesem Genrebildchen ein wehmütiger Hauch, ein Heimweh nach vergangenen Tagen und Zuständen; hier merkt man das nicht mehr junge Alter des Verfassers, der lieber in die Vergangenheit als in die Zukunft blickt.“ Storm nannte diese Rezension allerdings albern.[5]

Storms verleiht seinem ablehnenden Verhältnis zum Adel in seinen Novellen und Briefen Ausdruck. Vor allem in den Chroniknovellen taucht der Adel im Junkertum als Gegner der Humanität auf. In einem Brief bezeichnet er den Adel zusammen mit der Kirche als das Gift in den Adern der Nation.[6] Er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Ablösung des Adels durch ein liberales Bürgertum notwendig sei.[7]

In seinen zahlreichen Novellen behandelt er die Stellung der Familie in der Gesellschaft der Zeit als zentrales Thema.

In dieser Arbeit sollen nun besonders die Frauen hauptsächlich als Muttergestalten und ihre Bedeutung in den Novellen Storms untersucht werden. In einer patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft scheint die Gestalt der Mutter zunächst unwichtig. Dass dem nicht so ist, soll diese Arbeit zeigen. Dazu müssen natürlich auch die anderen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, wie z. B. das Eltern- Kind- Verhältnis genauer betrachtet werden.

Auch muss man sehen, wo und wieweit Storm die Frauengestalten seiner Novellen mehr als unpersönlich, von den historischen Ereignissen geprägt darstellt oder individuell psychologische Frauenpersönlichkeiten beschreibt, die vielleicht auch biographisch geprägt sind.

Nur in einer Novelle Storms, Viola tricolor (1873/4), ist der Mutterthematik, spezieller der Stiefmutterthematik, allein schon durch den Titel Rechnung getragen. Deshalb soll ein besonderer Schwerpunkt dieser Arbeit auf dieser Novelle liegen.

Nach einem kurzen Überblick zur Stormschen Novellistik folgen kurze, allgemeine Beobachtungen zu den einzelnen Novellen. Nach einem Exkurs zur Herkunft des Begriffs Stiefmutter und ihrer Funktion sowohl in der Antike als auch im Märchen folgen im Weiteren die Analysen einzelner Novellen. Jeder Novellentyp Storms wird vertreten sein. Durch die Auswahl der Novellen soll sich zeigen, welche Muttertypen es gibt und ob diese eine Entwicklung oder Wandlung erfahren.

In Viola tricolor wird die Stiefmutterthematik auf eigene Weise behandelt wird. Diese ist eine der wenigen Novellen Storms, die keinen Rahmen haben, doch ist diese Novelle trotzdem vom Motiv der Erinnerung bestimmt. Sie gehört zusammen mit Aquis submersus (1876/7) und dem Schimmelreiter (1888) zu Storms später Novellistik. Bei beiden letzteren Novellen handelt es sich um historisierende Chroniknovellen. Dazu kommen noch ferner die Erinnerungsnovelle Immensee aus Storms Frühwerk (1850) und die Gesellschaftsnovelle Pole Poppenspäler (1874), in welcher das Verhältnis von Kunst und bürgerlichem Leben thematisiert ist.

II. Hauptteil

1.) Die Novelle als Literaturform

Die Novelle ist neben dem Roman die dominierende Literaturform des Realismus, welcher sich in der novellistischen Form am prägnantesten verwirklicht hat.[8] Dadurch, dass die Novelle schon die Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen thematisiert, ist sie als Form wie geschaffen für die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft.[9]

Wiederum aus dem Briefwechsel Storms mit Heyse erfährt man Storms Auffassung über die Novelle. Storm stimmt mit Heyses Novellentheorie weitgehend überein. Wie Heyse verlangt auch Storm 1881 „einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt,[10] von welchem aus das Ganze sich organisiert.“[11] Heyse formuliert dies folgendermaßen, dass `ihm ein novellistisches Motiv, ein Problem ´entgegen springen` müsse`[12] Die Hauptsache sei das Ereignis und nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung wie im Roman.[13][14] Dieses Ereignis müsse aber unbedingt als Symbol für das Ganze gesehen werden.[15]

Dem Heyseschen Falken, welcher als Bild des Individuellen, Einmaligen das Spezifische ist, „das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet“[16], misst Storm keine solche Wichtigkeit bei, wenngleich er ihn auch respektiert.

Ein weiteres Kriterium nach Heyse muss sein, dass sich die Handlung der Novelle in wenigen Worten quasi als kurze Inhaltsangabe zusammenfassen lasse.[17] Auch dieses befürwortet Storm und rät es an.

In einem weiteren Brief stellt Storm seine Leistung auf dem Gebiet der Novelle heraus.[18] Die moderne Novelle habe ihre moderne Ausprägung durch ihn erhalten.[19]

In diesem Zusammenhang ist Storms Ausspruch von der Novelle als „Schwester des Dramas“ bekannt.[20] Somit sei die Novelle nicht mehr nur „die kurz gehaltene Darstellung einer unerhörten Begebenheit und ihrem überraschenden Wendepunkt“, sondern eben dieselbe und deshalb „die strengste Form der Prosadichtung“. Storm stellt im Weiteren noch die Gemeinsamkeiten von Novelle und Drama heraus. Beiden gemeinsam seien die „tiefsten Probleme des Menschenlebens“, ein im Mittelpunkt stehender Konflikt und die tragische Schuld des Helden.[21] Die realistische Novelle stellt eine reale oder jedenfalls mögliche Begebenheit dar,[22] welche, sich verselbständigend, Opfer mit sich fortreißt. Diesen gehört die ganze Sympathie der realistischen Novelle, mögen diese auch zuvor als Täter diese Verwicklungen mit herauf beschworen haben.[23] Doch der Bürgerliche Realismus ließ auch das subjektive Erleben dieser objektiven Realität zu.[24] Becker spricht gar von einer Akzentverschiebung, weil nicht mehr das Ereignis an sich im Mittelpunkt der Novelle steht, sondern dessen Auswirkung auf die Charaktere.[25] Der realistische Novellist beschreibt aus einer Distanz heraus die herrschenden Verhältnisse, die er zwar nicht ändern, aber jedoch durchschauen kann. So bewahrt er einen Rest von Souveränität.[26] Storm bedient sich je nach Intention verschiedener Novellentypen.

Seine Kritik am Besitzbürgertum verpackt er in der Gesellschafsnovelle. Diesem wirft er vor, sich für die nicht erlangte Macht wirtschaftlich schadlos zu halten. Es verspiele somit die erlangte Sittlichkeit dem Adel gegenüber.[27] Für die Auseinandersetzung mit dem Adel und dem Klerus wählt er die historisierende Chroniknovelle.[28]

2.) Themen der Novellen Storms

Storms Novellen sind einerseits große Liebesgeschichten, andererseits sind in ihnen auch Generationenkonflikte thematisiert, denen die Liebenden sowohl in als auch außerhalb der Familie ausgesetzt sind. Die Liebenden gehören immer dem zweiten Glied der Generationenkette an. Teilweise sind sie selbst wiederum Eltern wie in Viola tricolor, Aquis submersus und im Schimmelreiter. Die Novellen zeigen unterschiedliche Familiensituationen. Auffällig ist, dass selten beide Elternteile in diesen Novellen am Leben sind. In Immensee ist nur von der Mutter Elisabeths die Rede, bei Pole Poppenspäler leben beide, in Viola tricolor lebt der Vater Rudolf, der sich eine neue Frau Ines nimmt. In Aquis submersus ist Katharinas Vater unlängst verstorben, von einer Mutter ist keine Rede, und schließlich erfährt man im Schimmelreiter auch nur von den beiden Vätern Tede Haien und seinem Namensvetter Tede Volkerts. An keiner Stelle in dieser Novelle sind die Mütter präsent. Man weiß nicht, wo sie sind oder wie lange sie schon tot sind etc. Das könnte bedeuten, dass sie keine Bedeutung für ihre Familien haben oder sie nie hatten. In Aquis submersus und in Viola tricolor sind jedoch die toten Elternteile -Vater Gerhardus und Nesis Mutter- immer in der Erinnerung für ihre Kinder bzw. für den Witwer Rudolf noch stets von Bedeutung. Ferner gibt es aber unverheiratete Frauen im Alter der Großelterngeneration, die die frei gewordene Mutterstelle quasi einnehmen, ohne in Beziehung zum Vater der Kinder zu treten.

Nur in Viola tricolor wird dem Kind eine neue „Mutter" als zweite Ehefrau des Vaters vorgesetzt, in den anderen Novellen bleiben die übrigen Gatten nach dem Tode ihres Partners allein. Für den Anfang genügt es zunächst festzuhalten, wie marode und zerstörbar die Familie an sich in dieser Zeit ist. Sie ist in den häufigsten Fällen kein Ort mehr, wo man Sicherheit, Anerkennung und Zusammengehörigkeitsgefühl erfahren kann. Jeder ist auf sich allein gestellt und muss somit, vom Schicksal verwaist und gebeutelt, einen einsamen Existenzkampf führen.

3.) Die Figur der Stiefmutter

3.1) Etymologische Herleitung des Begriffs

Der Begriff selbst enthält keine Wertung, sondern bezieht sich lediglich auf die Tatsache, dass anstelle der leiblichen Mutter, die meist verstorben ist, eine neue Frau die Mutterrolle übernehmen soll. Die rekonstruierte germanische Wurzel *steupa- bedeutet nämlich abgestutzt, abgenutzt, beraubt. Auch das lateinische Wort für Stiefmutter, noverca trägt dieser Tatsache Rechnung, da es das Adjektiv novus enthält: Die ihrer leiblichen Mutter beraubten armen Kinder bekommen eine neue Mutter. Schon früh verkörpert die Stiefmutter literarisch den Typ der bösen, ungerechten Frau.[29]

3.2) Die Stiefmutter in der antiken Literatur

Sieht man in die lateinische Literatur, fällt auf, dass schon dort die Figur der Stiefmutter eine weiträumige Bedeutung einnimmt. So liefert die Volltextdatenbank Latina Teubneriana über 140 Treffer.

Das negative Bild der saeva noverca in der römischen Literatur geht hauptsächlich auf die Darstellung von Stiefmüttern in der römischen Deklamation , controversia, zurück. Dort finden sich Stiefmütter, die namenlos einen bestimmten Typ repräsentieren, ihre individuelle Persönlichkeit ist irrelevant. Die noverca der Deklamation ähnelt in vielerlei Hinsicht der Stiefmutter der griechischen Mythen. Sie hat drei typische Merkmale:

1.) Sie steht anonym für eine bestimmte Klasse und hat keine individuelle Persönlichkeit
2.) Sie wird mit Gift in Verbindung gebracht
3.) Als ihre Motivation sowohl in den Mythen als auch in der Deklamation muss man die Sicherung der Erbfolge sehen, vorausgesetzt, das Stiefkind ist männlich. Es gibt drei Variationen zu diesem letzten Punkt: a) eine Stiefmutter lässt ihr Stiefkind eher enterben als dass sie es umbringt. b) Sie will das Erbe nicht für ihr Kind, sondern für sich allein. c) Das Stiefkind ist weiblich.

Ihre stiefmütterlichen Taten ( novercalia facta) in den Deklamationen sind folgende: 1.) Sie hasst ihre Stiefkinder. 2.) Sie stellt ihnen Fallen. 3.) Sie möchte ihre Stiefkinder vergiften. 4.) Sie will ihren Ehemann gegen seine Kinder aufbringen. Diese Böswilligkeit wird besonders dann ausgelöst, wenn die Stiefmutter eigene Kinder hat, deren Erbansprüche durch die Stiefkinder gefährdet werden könnten.[30]

Dieses stereotype Bild der Stiefmutter als Mörderin aus den Deklamationen hat Eingang in die lateinische Dichtung gefunden.

Nach Watson gibt es neben der mörderischen Stiefmutter , die die Erbschaft für ihren eigenen Sohn will, noch zwei weitere literarische Stereotypen: die Stiefmutter, die ihre Stieftochter verfolgt , und die amouröse Stiefmutter .

Der zweite Typ findet sich wieder in der griechischen Literatur und im Märchen. Die Mythen und Märchen zeigen die Stiefmutter als eine negative Mutterfigur, als Projektion aller schlechten Eigenschaften, die eine Frau aufweisen kann.[31] Sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Literatur wird die Stiefmutter als saeva noverca porträtiert. Jedoch konzentriert sich ihre Darstellung nur in der lateinischen Literatur als noverca venefica, die das Stiefkind vergiftet, um ihr eigenes als Erbe einzusetzen. Des Weiteren wird sie infolge des Einflusses aus den Deklamationen namlos stereotypisiert. In beiden Literaturen bündelt der Stereotyp der Stiefmutter die Ängste vor einer Wiederheirat.[32]

3.3) Die Stiefmutter im Märchen

Im Märchen ist die Stiefmutter immer böse, und das Stiefkind hilfloses Opfer. Die moralische Unschuld des Stiefkindes ist durch seine Schönheit unterstrichen, die Bosheit der Stiefmutter durch deren Hässlichkeit. Hat die Stiefmutter selbst eine oder mehrere Töchter, sind diese gleichsam hässlich, um sich von der Heldin abzuheben. Die eigenen Töchter werden bevorzugt, die Stieftochter mit unliebsamen und unlösbaren Arbeiten belastet. Auch im Märchen trachtet die Stiefmutter dem Stiefkind nach dem Leben. Geht es nicht an den Aufgaben zugrunde, wird ein Mordplan gefasst. Bei der Ausführung kommt oftmals die eigene Tochter statt der Stieftochter zu Tode. Oft ist die Stiefmutter eine Hexe, die versucht, ihre Stiefkinder durch Hexerei und Gift zu töten, da es natürlicher ist, die eigenen Kinder mehr zu lieben als die Stiefkinder. Die hauptsächlich treibende Kraft der Stiefmutter ist Eifersucht. Sie neidet ihrer Stieftochter ihre Schönheit und dass diese als Braut ausgewählt wird, während ihre eigenen Töchter mental und physisch hässlich sind. Auch der Typ der amourösen Stiefmutter ist üblich. Ein wichtiger Unterschied zu den Mythen ist der, dass die Stiefmütter in den Märchen ihre Stiefkinder nicht des Erbes wegen umbringen. Konflikte zwischen Halbgeschwistern des Erbes wegen spielen im Märchen keine Rolle.[33]

Zwei weitere Charakterisierungspunkte sind die, dass die Stiefmutter im Märchen immer anonym ist, weil die Geschichte aus Sicht des Helden oder der Heldin erzählt wird. Zweitens erreicht die Stiefmutter nie ihr Ziel. Sie selbst wird am Ende oft grausam exekutiert.

Die Stiefmutter in den Märchen ähnelt stark der Stiefmutter der Mythen. Doch gibt es auch Unterschiede. Im Märchen ist die Stiefmutter eher eine Hexe und anonym. Drittens endet das Märchen immer gut. Viertens begeht die Stiefmutter in den Mythen oft Selbstmord, während sie im Märchen normalerweise exekutiert wird. In den Mythen findet sich der Typ der hässlichen Stiefmutter, die ihre junge und attraktive Stieftochter beneidet, seltener.

3.4) Eigene Gedanken zum Thema Stiefmutter

Nach meiner Meinung lässt sich aus all den angeführten Beispielen zur Figur der Stiefmutter ableiten, wieso es nahelag, den eigentlich neutralen Begriff Stiefmutter negativ zu konnotieren: Durch die bloße Existenz des Stiefkindes wird die Stiefmutter ständig daran erinnert, dass der Partner ein Vorleben mit einer anderen Frau gehabt hat. Das Stiefkind wäre somit ein Relikt einer vergangenen, anderen glücklichen ehelichen Gemeinschaft. Das allein müsste noch kein Grund sein, um böse zu werden. Bosheit entsteht jedoch oft durch Machtlosigkeit, und deshalb wird die Boshaftigkeit der Stiefmutter immer dann auf den Plan gerufen, wenn sie durch das Stiefkind als Vertreter der Vergangenheit ihr aktuelles bzw. zukünftiges Glück gefährdet sieht, vor allem um so mehr, wenn sie ein eigenes Kind in die Ehe gebracht oder eines mit ihrigem jetzigen Mann hat. Unbewusst steht die Stiefmutter deshalb immer in Konkurrenz mit der ersten Frau ihres Ehemanns, und sie will nicht, dass sie selbst und ihre eigenen Kinder unter dieser Konkurrenz leiden. So ist es zu verstehen, dass sie, wenn die eigenen Kinder schlechter geraten sind als die Stiefkinder, in ihnen ihre eigene Unzulänglichkeit im Vergleich zu deren Mutter erkennt. Ihr bleiben nur noch zwei Möglichkeiten offen: Erstens den Vater der Stiefkinder gegen diese einzunehmen, um zu verhindern, dass er ihre eigenen Kinder deswegen mehr herabsetzt bzw. beim Erbe benachteiligt werden, wie in der lateinischen Literatur aufgezeigt wird. Zweitens, wie im Märchen, diese Unzulänglichkeit ihrer eigenen Kinder mit der Vernichtung des Stiefkindes zu rächen. Ganz wichtig ist also festzuhalten, dass die Stiefmutter eigentlich die Machtlose ist, die neu in eine Familie kommt, die sie nicht begründet hat, die eine eigene, ihr fremde Vergangenheit besitzt. Interessanter jedoch ist die Tatsache, dass eher die Auswirkungen ihrer Machtlosigkeit, nämlich ihre durch Bosheit motivierten Aktionen, in den frühen Literaturen geschildert werden als die Machtlosigkeit selbst.[34] Vielleicht brauchte die Literatur, wie Watson schreibt, einfach einen festen negativen Stereotyp als Gegenpol zum Guten und fand in der widernatürlichen Mutterschaft, also in der Tatsache, dass eine Frau Mutter sein kann, ohne das Kind zu gebären, einen willkommenen Aufhänger für eine negative Frauenfigur.

4.) Die einzelnen Novellen

4.1) Viola tricolor

Diese Novelle wurde von Storm am 17. Oktober 1873 fertig gestellt und im März 1874 in „Westermanns Monatsheften“ abgedruckt. In ihr wird die Stiefmutterproblematik thematisiert, die auf Storms eigener Erfahrung einer zweiten Ehe basieren.

Knapp ein Jahr nach Constanzes Tod an Kindsbettfieber im Jahre 1865 heiratet er seine ehemalige Geliebte, die nun 38-jährige Dorothea Jensen. Diese war jedoch einer großen Belastung ausgesetzt. Zum einen musste sie sich um einen großen Hausstand mit sieben Stiefkindern kümmern. Zum andern kam die seelische Belastung hinzu, denn Storm blieb der Toten weiterhin innig verbunden, sodass er einen fast krankhaften Kult um seine verstorbene Gattin betrieb wie der Witwer Rudolf in dieser Novelle. Auch Dorothea forderte er auf, die Tote zu ehren. Dorothea lief Gefahr, gemütskrank zu werden, weil sie befürchtete, mit allen an sie herangetragenen Forderungen nicht fertig zu werden. Problematisch ist für Dorothea auch die Anredeform, welche ebenfalls in Viola tricolor Eingang gefunden hat. Storm, der in Dorothea nur eine Lückenbüßerin sah, verbot den Kindern, sie mit „Mutter“ anzureden, weil das wie eine Beraubung der Toten klänge.[35] So gibt auch Rudolf seiner Gattin Ines zu verstehen, dass sie von Nesi diese Anrede nie verlangen dürfe. Storms Kinder sollten Dorothea stattdessen „Tante Do“ nennen. Durch Geburt eines Kindes wurden dann die seelischen Konflikte zwischen den Gatten gelöst.[36] Storm, der nach Constanzes Tod in tiefe Sinnlosigkeit gefallen war, schrieb erst dann Viola tricolor, als er mit Dorothea eine zweite Unsterblichkeit für möglich hielt.[37]

Das Besondere an dieser Handhabung der Stiefmutterthematik ist, dass, anders als in anderen Darstellungen, aus Sicht der Stiefmutter erzählt wird, nicht aus Sicht der Stieftochter. Somit ist für mich auch klar, dass sich der Titel der Novelle nur auf die Stiefmutter Ines beziehen kann, und nicht auf ihre Stieftochter Nesi, wie Stein behauptet. Jackson belegt, dass Storm selbst Doris „Stiefmütterchen“ genannt habe.[38]

Im Folgenden werde ich mich zuerst mit Steins tiefenpsychologischem Deutungsansatz in seinem Aufsatz[39] auseinandersetzen, in dem Folgerungen gezogen werden, die sich bestimmt nicht mit Storms Intention decken.

Als Hauptthese wird vertreten, dass Nesi nach dem Tod ihrer Mutter selbst die Mutterrolle, auch in Bezug auf das geborene Baby, an sich gerissen habe und nicht bereit sei, sie nun an Ines abzutreten. Deshalb könne sie Ines auch nicht Mutter nennen.[40] Weil Nesi jedoch nicht die leibliche Mutter des Kindes sei, könne man sie schlecht als Mutter bezeichnen. Deshalb sei sie lediglich ein „Mütterchen“, worauf schon das Diminuitiv des Titels hinweise.[41] Malte Stein stützt seine Interpretation hauptsächlich auf Eric Downings tiefenpsychologische, „bahnbrechende“[42] Interpretation.[43] Stein sieht bei Ines eine Sexualhemmung, d.h., sie wolle Mutter werden ohne Geschlechtsverkehr. Das wiederum verbinde sie wieder mit Nesi, die eine Mutterschaft lediglich auf „Nähren und Fürsorge“[44] reduziere und nicht durch die Gebärfähigkeit begründet sieht.[45] Auch andere Gemeinsamkeiten von Stiefmutter und Stieftochter wie ihr ähnliches Äußeres, ihre Affinität zur Jungfrau Maria und die bis auf einen Buchstaben identischen Namen führt Stein als Beweis dieser These an. Deswegen wolle Ines auch unbedingt von Nesi ´Mutter` genannt werden, weil sie somit an ein Kind komme, ohne es austragen zu müssen. Alles, was in der Novelle genannt wird, sieht Stein als Beleg für seine Sexualtheorie. Nehmen wir die von ihm angeführte Textstelle (S.116): Rudolf erklärt seiner Frau, dass sie möglichst bald ein eigenes Kind bekommen müsse, um sich den Namen „Mutter“ zu verdienen.[46] Aus Ines `ablehnender Handbewegung schließt Stein auf ihren Unwillen einer genuinen Mutterschaft.

[...]


[1] Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848-1900, Tübingen und Basel 2003, S. 132.

[2] ebenda, S. 286.

[3] Winfried Freund: Theodor Storm, Stuttgart 1987, S.7-11.

[4] Sabina Becker (2003) S. 10-14.

[5] Theodor Storm: Briefe: Herausgegeben von Peter Goldammer, Band 1 und 2, Berlin 1984, Brief 202, S.418f.

[6] ebenda, Brief 114, S.442.

[7] Sabina Becker (2003) S.290f.

[8] Hugo Aust: Literatur des Realismus, Stuttgart 2000, S.87.

[9] Becker (2003) S.271.

[10] siehe auch Storms Brief vom 20.4.1875, S.103.

[11] Winfried Freund: Novelle, 1998, S. 16.

[12] Heyses Brief an Storm vom 11. Dez. 1875.

[13] Wolfgang Rath: Die Novelle. Konzept und Geschichte, Göttingen 2000, S.245f.

[14] Brief 197 vom 26.10.1873

[15] Becker (2003) S.277.

[16] Storms Brief 218, S.428f.; s.a. Brief 292 und Brief 313.

[17] Brief vom 11. Dez 1875.

[18] Brief 274 vom 1. März 1882.

[19] Hugo Aust: Novelle, Stuttgart, Weimar 1999, S.116.

[20] Brief 267 vom 14.8.1881.

[21] Brief 275 vom 12. März 1882; Brief 349 vom 15.5.1888.

[22] Aust (1999) S.87.

[23] Freund (1998), S.160.

[24] Becker (2003) S.131.

[25] ebenda, S.277, 279.

[26] Winfried Freund: Literaturwissen. Theodor Storm, Stuttgart 1999.

[27] Becker (2003) S. 292.

[28] Freund (1999) S.18.

[29] Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2 Bände, Berlin 1993, Band 2, Spalte 1361.

[30] Patricia A. Watson: Ancient Stepmothers. Myth, misogyny and reality, Leiden; New York; Köln 1995, S.92ff.

[31] ebenda, S. 208f.

[32] ebenda, S. 217f.

[33] ebenda, S.258-266.

[34] In Viola tricolor ist dies genau umgekehrt.

[35] Mi-Seon Yi: Männlicher Wunsch und weibliche Wirklichkeit. Die Frauendarstellungen bei Annette von Droste –Hülshoff und Theodor Storm, Düsseldorf 2000, S. 134f.

[36] Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden, herausgegeben von Karl Ernst Lage und Dieter Lohmeier, Band 2: Novellen 1867-1880, Frankfurt am Main 1987. S.831f.

[37] David A. Jackson: Von Müttern, Mamas, Marien und Madonnen. “Viola tricolor“, eine Novelle aus patriarchalischer Zeit, S.151-162. In: Stormlektüren: Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80.Geburtstag, hrsg. von Gerd Eversberg, Würzburg 2000, S.153.

[38] David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie, Berlin 2001, S.182.

[39] Malte Stein: Schattenehe. Verleugnung von Differenz in Theodor Storms „Viola tricolor“, S.109-137. In: narrative strategies and patriarchy /Theodor Storm: Erzählstrategien und Patriarchat, herausgegeben von David A. Jackson und Mark G. Ward, Cardiff 1999.

[40] ebenda, S.114f.

[41] ebenda, S.116.

[42] ebenda, S.113.

[43] Eric Downing: Repetition and Realism. The “Ligeia”- Impulse in Theodor Storm`s Viola tricolor. In: DVjs 65 (1991), S.265-303.

[44] Stein (1999) S.112.

[45] ebenda, S.116f.

[46] vgl. Stein S.115, Anm.14: Für Rudolf sei diejenige Frau die richtige Mutter des Kindes, welche dieses nach seiner Geburt zum ersten Mal gesehen und Mutter genannt habe. Diese Auffassung teile ich nicht.

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Résumé des informations

Titre
Die Rolle der (Stief)-Mutter und ihre Darstellung in den Novellen Theodor Storms
Université
University of Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Cours
Hauptseminar, Novellen des 19. Jahrhunderts
Note
1,3
Auteur
Année
2009
Pages
45
N° de catalogue
V262527
ISBN (ebook)
9783656527633
ISBN (Livre)
9783656529439
Taille d'un fichier
649 KB
Langue
allemand
Mots clés
rolle, stief, darstellung, novellen, theodor, storms
Citation du texte
Heike Dilger (Auteur), 2009, Die Rolle der (Stief)-Mutter und ihre Darstellung in den Novellen Theodor Storms, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262527

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