Das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im Hören

Eine Gegenüberstellung von Förder- und integrativer Beschulung


Masterarbeit, 2012

170 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 EINLEITUNG.

2 THEORETISCHER TEIL
2.1 Das Selbstkonzept im Kontext der Persönlichkeit
2.1.1 Die Strukturierung des Selbstkonzepts
2.1.2 Theoretische Ansätze
2.1.3 Entwicklungspsychologische Aspekte
2.1.4 Das Selbstkonzept im Kontext der Adoleszenz
2.2 Das menschliche Ohr und dessen Beeinträchtigungen
2.2.1 Anatomie und Physiologie des menschlichen Hörorgans
2.2.2 Das Sujet der Hörbeeinträchtigung
2.2.3 Begriffliche Abgrenzungen
2.2.4 Einteilung von Hörbeeinträchtigungen
2.2.5 Auswirkungen von Hörbeeinträchtigungen
2.2.6 Fördermöglichkeiten auf der medizinisch-technischen Ebene
2.2.7 Kommunikation mit dem Kind mit Hörbeeinträchtigung
2.3 Beschulungsformen von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Hören
2.3.1 Etymologischer Hintergrund der Begrifflichkeiten Integration und Separation
2.3.2 Sonderpädagogische Sichtweise auf den Integrationsbegriff
Hörgeschädigtenpädagogisches Verständnis der (schulischen) Integration von Personen mit Hörbeeinträchtigung
2.3.3 Die schulische Integration von Menschen mit Hörbeeinträchtigung in ihrer historischen Entwicklung
2.3.4 Von der Integration zur Inklusion
2.3.4.1 Die Sichtweise des inklusiven Konzeptes
2.3.4.2 Abgrenzung zum Konzept der Integration
2.3.4.3 Ziele der Inklusion
2.3.5 Modelle der schulischen Integration von Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung in Deutschland
2.3.5.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen
2.3.5.2 Mobiler Sonderpädagogischer Dienst
2.3.6 Förderzentrum - begriffliche Bestimmung und Aufgabenbeschreibung
2.3.7 Voraussetzungen für die schulische Integration von Personen mit Hörbeeinträchtigung
2.3.7.1 Räumliche, organisatorische und technische Aspekte
2.3.7.2 Didaktisch-methodische Aspekte
2.3.7.3 Personale Aspekte
2.3.8 Vor- und Nachteile der schulischen Integration von Personen mit Hörbeeinträchtigung
2.3.8.1 Vorteile einer integrativen Beschulung
2.3.8.2 Risiken einer integrativen Beschulung
2.3.8.3 Vorteile einer segregativen Beschulung
2.3.8.4 Nachteile einer segregativen Beschulung
2.4 Stand der gegenwärtigen Forschung
2.5 Forschungsanliegen und Thesen der vorliegenden Studie
Forschungsthesen

3 EMPIRISCHER TEIL
3.1 Ansätze der quantitativen Sozialforschung
3.2 Anforderungen an Studien der quantitativen Sozialforschung
3.3 Grundkonzeption der empirischen Studie
3.3.1 Überblick über die gewählte Methodologie
3.3.2 Beschreibung der Datenerhebungsinstrumente
3.3.3 Beschreibung der Stichprobe
3.3.4 Durchführung der empirischen Studie
3.3.5 Methode der Datenauswertung

4 ERGEBNISSE
4.1 Deskriptive Ergebnisse
4.2 Zusammenfassende Betrachtung

5 DISKUSSION
5.1 Diskursive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der empirischen
5.1.1 Diskursive Auseinandersetzung mit den Thesen
5.1.2 Diskursive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der hörbeeinträchti-gungsspezifischen Items
5.1.3 Diskursive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des modifizierten. . Selbstkonzept-Inventars
5.2 Methodenkritische Betrachtung

6 FAZIT
Empfehlungen

7 LITERATUR

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis Seite

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Abbildungsverzeichnis Seite

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Tabellenverzeichnis Seite

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Tabellenverzeichnis Seite

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1 EINLEITUNG

Am 13. Dezember 2006 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York das Internationale Übereinkommen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Inzwischen unterzeichneten 125 Staaten diesen Völkerrechtsvertrag und verpflichteten sich damit, den Inhalt des Übereinkommens durch die Ratifikation in nationales Recht zu übertragen. Es ist das bisher umfassendste Dokument über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zielt auf grundsätzliche gesellschaftliche Teilhabe und Selbstverantwortung in allen Lebensbereichen. In Artikel 24 der Konvention verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“ (deutsche Übersetzung) zu gewährleisten (im englischen Original: „… an inclusive educational system at all levels …“). Unter den Behindertenverbänden, in politischen Parteien und unter Vertretern der Bildungspolitik wird derzeit viel darüber diskutiert, inwieweit die Forderungen der UN-Behindertenrechts-konvention in Deutschland in die Praxis umgesetzt werden können. Viele Betroffene und Eltern sowie Angehörige von Menschen mit Behinderungen melden sich zu Wort und fordern vor allem Verbesserungen im Schulsystem, in der Ausbildung und im Studium (mittendrin 2010, S. 2). In zunehmendem Maße werden auch Kinder und Jugendliche mit Hörbeeinträchtigung integrativ beschult. Eine verbesserte Hörgerätetechnik und moderne Kommunikationsanlagen sowie die Möglichkeit, auf implantierbare Systeme mit hoher Leistungsfähigkeit zurückzugreifen, haben in den letzten Jahren eine steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Hörbeeinträchtigung in der Regelschule nach sich gezogen (Blochius 2011a, S. 94). Es ergeben sich daraus für alle Beteiligten – Eltern, Lehrer, Mitschüler[1] und die Betroffenen selbst – spezifische Erfordernisse, um ein Gelingen erreichen zu können.

Nach wie vor befindet sich jedoch ein hoher Anteil an der Förderschule. Beiden Schulformen liegen verschiedene Ziele und Strukturen zugrunde, aus denen sich ein Unterschied in der Lehr- und Lernmethodik sowie letztlich nicht selten auch in der Umgehensweise mit der jeweiligen Schülerschaft ergibt.

Im Rahmen der vorliegenden Masterarbeit werden eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen der jeweiligen Beschulungssituationen – Förderschule versus Regelschule – vor dem Hintergrund psychologischer, medizinischer, therapeutischer, pädagogischer und technischer Aspekte von Hörbeeinträchtigungen sowie ein Transfer auf das Selbstkonzept der Schülerschaft und der Einschätzung desselben durch die Eltern geleistet, um Aussagen hinsichtlich der Auswirkungen schulischer Rahmungen auf das psychosoziale Empfinden der Klientel treffen zu können.

Darüber hinaus ergibt sich eine persönliche Motivation für die Thematik der Arbeit durch die Betroffenheit einer der Verfasserinnen, die selbst von Geburt an hochgradig schwerhörig ist und ausschließlich Regelschulen besuchte. In der Adoleszenz wurde die Hörbeeinträchtigung in immer stärkerem Maße zu einem Leidensfaktor – in der Hinsicht, dass sie die Unterrichtssituation zwar bewältigen konnte und in ihrer Freizeit in verschiedenen Bereichen aktiv war, sich jedoch nicht gänzlich ihrem Umfeld zugehörig fühlte und nicht adäquat mit ihrer Hörbeeinträchtigung umzugehen wusste. Kontakt zu anderen Betroffenen bestand während der Schulzeit nicht. Dies kam erst im Kontext des Studiums und dem Engagement in einer Gruppe, die sich dem Ziel verschrieben hat, Menschen mit Beeinträchtigungen im Verstehen zu unterstützen, zustande. In dem Zusammenhang erfolgte erstmalig eine Auseinandersetzung mit der eigenen Hörbeeinträchtigung. Durch zahlreiche Kontakte, nicht zuletzt auch im Rahmen der ehrenamtlich arbeitenden Gruppe, wurde ihr bewusst, dass insbesondere integrativ beschulte Kinder und Jugendliche gravierende Probleme im Umgang mit ihrer Hörproblematik haben, nicht offen mit ihren kommunikativen Bedürfnissen umgehen und ihre Beeinträchtigung zu verstecken versuchen.

Ein solches Verhalten beinhaltet die Gefahr einer Außenseiterposition und geht zulasten des Selbstwerts sowie der Sichtweise einer Person von sich selber, auch mit dem Begriff „Selbstkonzept“ beschrieben (Möller & Trautwein 2009, S. 180).

Die so beschriebenen Erfahrungen bilden die Ausgangslage der vorliegenden Arbeit. Für beide Verfasserinnen stellt die Förderbeschulung mit dem Schwerpunkt des Hörens ein weitgehend unbekanntes Feld dar, das Interesse an einer Erforschung mit Blick auf die Befindlichkeiten und das Selbstkonzept der dortigen Schülerschaft und einer Gegenüberstellung der selbst erlebten sowie durch Gespräche erfahrenen Situation von integrativ beschulten Jugendlichen mit einer Hörbeeinträchtigung weckt. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht ein Nachdenken über das Für und Wider der verschiedenen Beschulungsformen, auch und insbesondere im Kontext der aktuellen Inklusionsdebatte sowie, daraus folgend, über mögliche Verbesserungen des schulischen Bedingungsfelds für die Zielgruppe.

Für Jugendliche mit einer Hörbeeinträchtigung erwächst aus der beginnenden Adoleszenzphase eine zweifache Erschwernis, die zum einen den Wunsch nach Zugehörigkeit, andererseits die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und der hier eine zentrale Rolle einnehmenden Hörbeeinträchtigung samt ihrer Begleitumstände betrifft. Dieser Spannungsbogen lässt sich nur mithilfe eines hohen Maßes an eigenen Strategien bewältigen, zumal eine Orientierung an den hörenden Mitschülern nur begrenzt hilfreich sein kann.

Gerade die Unsichtbarkeit der Hörbeeinträchtigung und die Schwierigkeit von Menschen ohne Hörbeeinträchtigung, die Folgen nachzuvollziehen, machen es immer wieder unumgänglich, über die bestehenden Hörprobleme aufzuklären. Auch im Bewusstsein ihres besonderen kommunikativen Verhaltens und der möglichen Abweichungen von allgemeinen Interaktionsnormen in kommunikativen Situationen müssen Jugendliche mit einer Hörbeeinträchtigung sich ihren Gesprächspartnern erklären, ansonsten ist eine erfolgreiche Kommunikation gefährdet. Als Beispiel ist der intensive Blickkontakt zu nennen, mit dem Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung ihren unwissenden Gesprächspartner verunsichern können. Den Blickkontakt benötigen sie aber, um absehen zu können.

Dies setzt die Auseinandersetzung mit der eigenen Hörbeeinträchtigung voraus, um die eigenen Bedürfnisse angemessen artikulieren zu können. Eng damit verbunden ist die Notwendigkeit eines positiven Selbstbildes beziehungsweise Selbstkonzepts, um verschiedenen Widernissen entgegentreten und sich stets auf’s Neue für die eigenen Belange einsetzen zu können.

Mit der vorliegenden Arbeit wird die Absicht verfolgt, herauszufinden, ob und in welchem Ausmaß die so skizzierten unterschiedlichen kommunikativen Bedingungslagen von integrativ beschulten Jugendlichen mit Hörbeeinträchtigung in der Gegenüberstellung zu Förderschülern das jeweilige Selbstkonzept beeinflussen und das Denken sowie Handeln prägen.

Der theoretische Teil der vorliegenden Arbeit wird inhaltlich zunächst wesentliche Aspekte des Selbstkonzepts im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung darlegen. Da für die Beantwortung der Fragestellungen die Thematik der Hörbeeinträchtigung eine zentrale Rolle spielt und es wesentlich auch um die Art der Beschulung geht, werden im Anschluss auch für diese Bereiche die theoretischen Grundlagen erläutert. Im Hinblick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand soll am Ende des zweiten Kapitels das Forschungsanliegen der empirischen Studie dargelegt werden. Gegenstand des anschließenden dritten Kapitels ist die Explikation der empirischen Studie. Neben der Beschreibung der gewählten Methodologie werden unter anderem das Datenerhebungsinstrument, die Stichprobe und die Durchführung der empirischen Studie beschrieben. Das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit ist der Darstellung der Ergebnisse gewidmet. Im darauffolgenden fünften Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Studie interpretiert und einer diskursiven Auseinandersetzung unterzogen. Die Ausarbeitung wird mit einem Fazit und einem Ausblick beschlossen.

2 THEORETISCHER TEIL

Das folgende Kapitel beschäftigt sich zunächst mit dem Selbstkonzept als pädagogisch-psychologisches Konstrukt. Nach einer einleitenden Begriffsklärung werden Fragen der Organisation und Strukturierung des Selbstkonzepts geklärt. Im Anschluss sollen exemplarisch ausgewählte theoretische Ansätze zur Fundierung des Selbstkonzepts herangezogen werden. Da Jugendliche die Zielgruppe der vorliegenden Studie bilden, werden zunächst entwicklungspsychologische Aspekte thematisiert, um anschließend das Selbstkonzept im Kontext der Adoleszenz erläutern zu können.

In einem zweiten Abschnitt befasst sich das Kapitel mit Beeinträchtigungen im Bereich des Hörens. Es werden die anatomischen Strukturen des Ohres, seine Funktionen sowie die Vorgänge, die sich in unserem Ohr beim Empfang von Schallwellen abspielen, erläutert, um eine Basis an spezifischem, für den weiteren Verlauf der Arbeit relevantem Wissen zu schaffen.

Ein dritter theoretischer Baustein der nachstehenden Studie widmet sich der Frage nach der Beschulungsform für Kinder und Jugendliche mit Hörbeeinträchtigung. Im Rahmen dieses Abschnitts werden die Förder- und Regelbeschulung einander gegenübergestellt. Darüber hinaus findet im Zuge der Gegenüberstellung unter anderem eine Auseinandersetzung mit den in der Literatur aufgeführten Vor- und Nachteilen beider Beschulungsformen statt.

Abschließend wird das Konstrukt des Selbstkonzepts mit der Personengruppe der Jugendlichen mit Hörbeeinträchtigung und ihrer Beschulungsform in Verbindung gebracht und der gegenwärtige Forschungsstand dargelegt. In Bezug auf die literaturbasierten Erkenntnisse sollen abschließend das Forschungsanliegen und die Thesen der nachfolgenden Studie erläutert werden.

2.1 Das Selbstkonzept im Kontext der Persönlichkeit

Im Rahmen einer Begriffsklärung des Terminus „Selbstkonzept“ ist eine Auseinandersetzung mit verwandten, oft synonym verwendeten Begriffen wie „Selbst“, „Selbstwert“ und „Identität“ unumgänglich (Greve 2000, S. 16; Moschner & Dickhäuser 2010, S. 760). Harter (1999, S. 3) berichtet auch im englischen Sprachraum von einer Begriffspluralität und der Schwierigkeit einer präzisen Abgrenzung der Termini.

Im Allgemeinen wird unter „Selbstkonzept“ die Gesamtheit der Einstellungen zur eigenen Person verstanden (Mummendey 2006, S. 38). Dieses systematisch angelegte, mentale Modell umfasst personenbezogene Vorstellungen, Einschätzungen und Bewertungen (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 760), die mittels Zuschreibungen von Persönlichkeitseigenschaften kognitiv verankert werden (Mummendey 1990, S. 93). Neubauer (1976, S. 36) führt aus, dass die von einer Person gespeicherten Persönlichkeitseigenschaften aus vielfältigen Erfahrungsbereichen resultieren, welche sich zusätzlich zu Vergangenem und Gegenwärtigem auch auf zukünftige Vorstellungen beziehen können (Mummendey 1990, S. 80). Das Selbstkonzept ist das Resultat von Interaktionen, die eine Person mit ihrer sozialen Umwelt führt, woraufhin Krampen & Greve (2008, S. 653) den Terminus als selbst- und umweltbezogene Kognition unter dem Konstrukt der Persönlichkeitsmerkmale systematisieren. Zur Verdeutlichung des Begriffsverständnisses soll nachstehend ein schulbezogenes Beispiel angeführt werden.

Ein Schüler der ersten Klassenstufe erhält von seiner Lehrkraft im Unterrichtsfach Sport positive Leistungsrückmeldungen und wird für den anstehenden Waldlauf als jüngster Schüler in die Schulauswahl aufgenommen. Aufgrund der vergangenen und gegenwärtigen positiven Leistungsrückmeldungen aus der sozialen Umwelt bezüglich seiner sportlichen Fähigkeiten verankerte sich im Selbstkonzept des Schülers die Einstellung, im sportlichen Bereich bessere Leistungen abrufen zu können als seine Altersgruppe. Folglich wird der beispielhaft beschriebene Schüler unter Rückgriff auf sein Selbstkonzept eine gute mentale Stärkung für den anstehenden Waldlauf vorweisen können. Sein leistungsbezogenes Selbstkonzept im sportlichen Bereich wird durch den Wettbewerb mit einer sozialen Vergleichsgruppe entweder eine Bestätigung oder eine Revision erfahren.

Während der Begriff „Selbstkonzept“ als die deskriptiven Einstellungen einer Person von sich selbst definiert wird, umfasst der Terminus „Selbstwertgefühl“ evaluierte, oft auch als affektive oder emotionale Komponente bezeichnete Aspekte der Einstellungen (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 760; Mummendey 1990, S. 80). Flammer und Alaska (2002, S. 143) sowie Schütz (2000, S. 4) weisen darauf hin, dass das Selbstkonzept einer Person nur schwer vom Selbstwertgefühl getrennt werden kann, da die vorgenommenen Selbstbeschreibungen oft evaluierte Komponenten enthalten. Der Literatur sind bezüglich einer begrifflichen Abgrenzung von „Selbstkonzept“ und „Selbstwertgefühl“ unterschiedliche Auffassungen zu entnehmen. Baumeister (1999, S. 341) fasst das Selbstwertgefühl als Bestandteil des Selbstkonzepts auf. Für Remschmidt (1992, S. 117) ist dagegen das Selbstkonzept aufgrund seiner kognitiven Komponente für das Selbstwertgefühl als affektivem beziehungsweise emotionalem Bestandteil grundlegend. Das Selbstwertgefühl kann als Resultat der Bewertungen der im Selbstkonzept verankerten Eigenschaften sowie der Bewertung der gesamten Person aufgefasst werden (Mummendey 1990, S. 80), „wobei anzunehmen ist, dass bestimmten Merkmalen, Eigenschaften und Fähigkeiten individuell eine höhere Bedeutsamkeit zugeschrieben wird als anderen“ (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 760).

Übertragen auf das bereits angeführte Beispiel bedeutet das, dass sich der Schüler mit einem positiven leistungsbezogenen Selbstkonzept im sportlichen Bereich aufgrund seiner Erfolge als außergewöhnlich sportlich einschätzt und bewertet. Er verleiht seinem fähigkeitsbezogenen Selbstwertgefühl im Unterrichtsfach Sport eventuell eine höhere Bedeutung als beispielsweise seinen sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten.

Im Zuge einer begrifflichen Klärung des Terminus „Selbstkonzept“ sowie dessen Abgrenzung zum Selbstwertgefühl spielen Einstellungen einer Person eine wichtige Rolle. Nachfolgend soll mit Mummendey (1990, S. 80) der Arbeit ein kognitiver Einstellungsbegriff zugrunde gelegt werden. Der Autor versteht unter Einstellungen eine Gerichtet- heit auf bestimmte Objekte, die mithilfe einer Vielzahl von Kognitionen erfasst und bewertet werden.

Ferner ist eine begriffliche Klärung des Terminus „Selbst“ in Abgrenzung vom Selbstkonzept angezeigt. Krampen und Greve (2008, S. 665f.) verstehen unter dem „Selbst“ ein dynamisches System, „das sowohl die auf die eigene Person bezogenen Selbstbeschreibungen und –bewertungen (struktureller, inhaltlicher Aspekt) als auch die auf diese Inhalte bezogenen Prozesse (funktionaler Aspekt) umfasst“. Aufgrund der inhaltlichen Nähe zum Selbstkonzept führt Mummendey (1990, S. 76f.) aus, dass das „Selbst“ nur als Begriff von sich selbst existiert und für den wissenschaftlichen Gebrauch durch den Terminus „Selbstkonzept“ ersetzt werden sollte.

Zwischen dem Selbstkonzept eines Menschen und seiner Persönlichkeit existiert ein Abhängigkeitsverhältnis, da die Beschreibung selbstbezogener Einstellungen zur Konstruktion des Selbstkonzepts ausschließlich unter Rückgriff auf Persönlichkeitsmerkmale erfolgen kann (Mummendey 1990, S. 80). Die Persönlichkeit wiederum konstituiert sich aus einem multifaktoriellen und multidimensionalen System von Selbstkonzepten. So stellt sich für Bergler (1975, S. 27) die Persönlichkeit als ein integriertes System von Selbstkonzepten dar. Im Allgemeinen ist unter Persönlichkeit, einer viel zitierten Minimaldefinition von Herrmann (1991, S. 25) folgend, ein einzigartiges, relativ stabiles und den Zeitverlauf überdauerndes Verhaltenskorrelat zu verstehen.

Eine letzte begriffliche Abgrenzung ist zwischen den Termini „Selbstkonzept“ und „Identität“ vorzunehmen. Von der Tatsache absehend, dass es sich bei diesen Termini um zwei verschiedene Konzepte handelt, ist eine begriffliche Abgrenzung schwierig, da das Selbstkonzept und die Identität eines Menschen im Zusammenhang stehen (Baumeister 1999, S. 341; Flammer & Alasker 2002, S. 157; Mummendey 1990, S. 81). Im Vergleich zum Selbstkonzept stellt die Identität jedoch ein umfassenderes, zeitstabileres und grundlegenderes Konstrukt dar, da es sich auf den Kern des Selbstsystems bezieht (Flammer & Alasker 2002, S. 157). Mietzel (2002, S. 389f.) führt aus, dass die Identität mehr als ein Selbstkonzept ist, da in ihr Erfahrungen, fortlaufende Veränderungen und stetige Anforderungen seitens der Gesellschaft integriert werden müssen. Die personelle Identität setzt sich aus wichtigen Selbstdefinitionen zusammen, durch welche die Person Kontinuität und Kongruenz über Zeit und Situation hinweg empfinden kann (Flammer & Alasker 2002, S. 157). Rossmann (1996, S. 147) konkretisiert den Aspekt von Kongruenz und benennt die Übereinstimmung des Selbstbildes mit der Fremdwahrnehmung durch Bezugspersonen als weiteren Aspekt des persönlichen Erlebens von Identität. Erst gegen Ende der Adoleszenz, im Zuge der Ausbildung des Selbstkonzepts, verfügen einer Annahme von Mietzel (2002, S. 389) zufolge Jugendliche über gute Voraussetzung für eine Identitätsfindung. Dieser Annahme folgend, ist das Selbstkonzept ein Wegbereiter für die sich im Jugendalter bildende personelle Identität.

Zusammenfassend soll eine Arbeitsdefinition des Begriffs „Selbstkonzept“ von Flammer und Alasker (2002, S. 148) aufgeführt werden, die der nachstehenden Arbeit zugrunde gelegt werden soll.

„Das Selbstkonzept ist eine Organisation von hauptsächlich evaluierten Vorstellungen und Überzeugungen, die eine Person von sich selbst hat. Diese Überzeugungen berühren sowohl individuelle Charakteristika (z. B. psychische Merkmale, Dispositionen) und Handlungen als auch Gefühle und Gedanken und werden in hohem Maß aufgrund von Interaktionen mit anderen Menschen in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext gebildet. […]“.

Aufbauend auf die vorgenommenen Begriffsklärungen und –abgrenzungen soll nachfolgend Fragen die Organisation des Selbstkonzepts geklärt werden.

2.1.1 Die Strukturierung des Selbstkonzepts

Während Joseph (1979) im Rahmen seines eigens konstruierten Testverfahrens noch von einem globalen, eindimensionalen Selbstkonzept ausging, ist gegenwärtig die sogenannte Multidimensionalitätsannahme, das heißt, die Vorstellung, dass das Selbstkonzept in Teilbereichen strukturiert ist, Konsens in der Selbstkonzeptforschung (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 760). Als Teilbereiche des Selbstkonzepts können beispielhaft das akademische und das körperliche Selbstkonzept aufgeführt werden. Fleming und Courtney (1984, S. 418f.) weisen darauf hin, dass die im Selbstkonzept identifizierten Teilbereiche selbst auch mehrdimensional sind und sich in weitere Kategorien ausdifferenzieren. So kann das akademische Selbstkonzept beispielsweise in einen naturwissenschaftlichen, sprachlichen, künstlerisch-musischen sowie in einem geschichtlichen-sozialwissenschaftlichen Teilbereich differenziert werden. Im Rahmen einer weiteren Dimension ließen sich, dem Beispiel folgend, die einzelnen Unterrichtsfächer den genannten Teilbereichen zuordnen (Hellmich 2011, S. 24).

Bezüglich der Strukturierung des multidimensionalen Selbstkonzepts existieren unterschiedliche Annahmen, welche Moschner und Dickhäuser (2010, S. 760) in einer Zusammenschau darlegen. Die Strukturvorstellungen im Hinblick auf das Selbstkonzept reichen von einem nebeneinander bestehenden System von Selbst-Schemata (Markus 1977, S. 64) über eine hierarchische Organisation (Shavelson, Hubner & Stanton 1976, S. 412ff.) bis hin zu einer netzwerkartigen Strukturierung des Selbstkonzepts (Hannover 1997, S. 22ff.). Das im Kontext der pädagogisch-psychologischen Forschung am häufigsten verwendete Strukturmodell ist die hierarchische Organisation des Selbstkonzepts nach Shavelson et al. (1976) (Hellmich & Günther 2011, S. 23; Moschner & Dickhäuser 2010, S. 761f.). Der Aufbau des hierarchisch strukturierten Selbstkonzeptmodells ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Das hierarchisch strukturierte Selbstkonzept nach Shavelson et al. (1976, S. 143)

Wie dem Strukturmodell von Shavelson et al. (1976) zu entnehmen ist, nimmt das globale beziehungsweise generelle Selbstkonzept eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit den hierarchisch organisierten Bereichen des Selbstkonzepts ein. Das Selbstkonzept konstituiert sich aus konkreten alltagsbezogenen Erlebnissen und Ereignissen, die personenbezogen bewertet werden. Quellen für solche Selbstbewertungen stellen soziale Rückmeldungen und Vergleichsprozesse sowie die Beobachtung des eigenen Verhaltens, Erlebens und des physiologischen Zustandes dar (Schütz 2000a, S. 191f.). Die eigens vorgenommenen personenbezogenen Bewertungen werden in übergeordnete Kategorien systematisiert, die ihrerseits wiederum zu unspezifischeren Bereichen zusammengefasst werden. Die so gebildeten Teilbereiche des Selbstkonzepts tragen schließlich zum Aufbau des globalen beziehungsweise generellen Selbstkonzepts bei.

Übertragen auf das in Kapitel 2.1 angeführte Beispiel vom sportbegabten Schüler besagt das Selbstkonzeptmodell von Shavelson et al. (1976), dass der Schüler im schulischen Kontext beispielsweise bei einem von seiner Sportlehrerin organisiertem Sprint positive Leistungsrückmeldungen erhalten hat (konkretes alltagsbezogenes Ereignis). Häufen sich diese leistungsbezogenen Rückmeldungen im sportlichen Bereich zum Beispiel seitens der Sportlehrkraft, der Gleichaltrigengruppe oder der Familie, entwickelt sich bei dem Schüler der Eindruck, im Sprint bessere Leistungen abrufen zu können als seine Gleichaltrigengruppe (personenbezogene Bewertung der konkreten Ereignisse). Die eigens vorgenommene Bewertung (gut im Sprinten) wird als Kategorie in das Selbstkonzept integriert und in übergeordnete Kategorien gruppiert (gut in Leichtathletik, gut in Sport). Schließlich münden die konkreten alltagsbezogenen Ereignisse und die in der Folge gebildeten übergeordneten Kategorien in das akademische und körperliche Selbstkonzept, die als Teilbereiche das globale beziehungsweise generelle Selbstkonzept konstituieren. Dieses an die Spitze der hierarchisch organisierten Strukturvorstellung gesetzte Selbstkonzept enthält im Falle des besagten Schülers die Vorstellung von einem sportlichen Fähigkeitskonzept sowie guter körperlicher Fitness.

Flammer und Alasker (2002, S. 148) üben Kritik an dem hierarchisch strukturierten Modell von Shavelson et al. (1976). Ihrer Ansicht nach ist die strenge und unidirektionale Hierarchie des Selbstkonzepts (von konkreten Ereignissen über übergeordnete Kategorien bis hin zum globalen beziehungsweise generellen Selbstkonzept) problematisch. Die Autoren gehen davon aus, dass die hierarchische Organisation auch unterlaufen werden könnte, indem das globale beziehungsweise generelle Selbstkonzept Einfluss auf die ihm untergeordneten Teilbereiche ausüben könnte. Darüber hinaus gebe es studienbasierte Hinweise, dass die Teilbereiche des Selbstkonzepts in verschiedenen Lebensphasen einen unterschiedlich starken Einfluss auf das übergeordnete Selbstkonzept ausüben, so Flammer und Alasker (2002, S. 148).

Greve (2000) schlägt ein dreidimensionales Würfelmodell zur Ordnung der Inhalte des Selbst beziehungsweise des Selbstkonzepts vor. Der Autor argumentiert, dass der Mensch über ein komplexes System von selbstbezogenen Inhalten verfügt (beispielsweise Aktuelles und Vergangenes, Zentrales und Peripheres), das sich nicht nur im Laufe des Lebens modifizieren, sondern auch von Situation zu Situation variieren kann (Greve 2000, S. 18). Der besseren Übersicht halber ordnet Greve (2000) das selbstbezogene Wissen einer Person in einer zeitlichen Dimension an, anhand eines realen und möglichen Selbst sowie mittels einer deskriptiven versus evaluativen Ebene. Bezüglich der zeitlichen Dimension führt der Autor aus, dass sich selbstbezogenes Wissen neben aktuellen Informationen auch auf die Biografie sowie die zukünftigen Vorstellungen einer Person von sich selbst beziehen kann (ebd., S. 18). Die zweite Dimension unterscheidet das reale von dem möglichen Selbst. „In Bezug auf jede Facette des Selbst gibt es denkbare Alternativen, nicht nur in der Prospektive, sondern auch in Bezug auf die Vergangenheit: es hätte ganz anders kommen können“ (Greve 2000, S. 18f.). Schließlich unterscheidet der Autor hinsichtlich der Inhalte des Selbstkonzepts eine deskriptive, sprich eine beschreibende, und eine evaluative Ebene. Im Rahmen der evaluativen Ebene werden die Inhalte zur eigenen Person, auch im Hinblick auf die temporale sowie modale Perspektive, gesammelt und bewertet (ebd., S. 19).

Die Frage nach der Stabilität der inhaltlichen Ausformung des Selbstkonzepts über die Lebensspanne hinweg wird kontrovers diskutiert. Während für Krampen und Greve (2008, S. 652) die Annahme relativer kurz- und mittelfristiger Stabilität und Kontinuität bei langfristiger Variabilität gilt, geht Mummendey (1990, S. 77) im Falle des Selbstkonzepts von mehr oder weniger überdauernden Merkmalen im Sinne von Eigenschaften aus, die einer Person zugeschrieben werden. Aus der Forschung lassen sich Verteidigungsstrategien identifizieren, die eine Person bei einer potenziellen Bedrohung ihres Selbstkonzepts anwendet. Eine Systematisierung solcher Verteidigungsstrategien führt Greve (2000, S. 22) auf. Er unterscheidet:

- die Wahrnehmungsvermeidung (zum Beispiel Leugnung)
- die Umdeutung und kognitive „Neutralisierung“ (zum Beispiel nach Ausreden suchen)
- die „Immunisierung“ (zum Beispiel nach selbstwertdienlichen Vergleichen suchen).

Im Hinblick auf die Existenz solcher Verteidigungsstrategien muss es sich bei dem Selbstkonzept um ein relativ zeitstabiles Persönlichkeitsmerkmal handeln. Für Moschner und Dickhäuser (2010, S. 761) ist die Frage nach der Stabilität versus Variabilität des Selbstkonzepts jedoch nicht endgültig zu beantworten. Das Autorenpaar nimmt an, dass globale Bereiche des Selbstkonzepts sowie Bereiche mit hoher subjektiver Bedeutsamkeit stabiler sind als bereichsspezifische Facetten.

Die interpersonelle Variabilität des Selbstkonzepts scheint demgegenüber außer Frage zu stehen. So berichtet Baake (2005, S. 210) für die Phase der Adoleszenz von einer Variation des Selbstkonzepts beispielsweise nach dem Geschlecht, der sozialen Lage und der Gruppenzugehörigkeit einer Person.

Exkurs: Die Strukturierung des Selbstkonzepts im Rahmen des Selbstkonzept- Inventars von Georgi und Beckmann (2004)

Im Folgenden soll die Strukturvorstellung des Selbstkonzepts der Autoren des Selbstkonzept-Inventars dargestellt werden, da dieses der vorliegenden Studie zugrunde gelegt wurde.

Bei dem Selbstkonzept-Inventar handelt es sich um ein von Georgi und Beckmann im Jahre 2004 entwickeltes standardisiertes Testverfahren zur Erfassung des Selbstkonzepts im Erwachsenenalter. Es fokussiert die Aspekte der Persönlichkeit, die sich vornehmlich durch die Interaktion der Person mit ihrer sozialen Umwelt herausbilden (von Georgi & Beckmann 2004, S. 7). Die Autoren halten Fragebögen zur Erfassung des Selbstkonzepts in der Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie des Idealbildes, das eine Person von sich hat, bereit. Das Selbstkonzept einer Person setzt sich dabei aus folgenden fünf Subskalen zusammen: „Ich-Stärke versus Unsicherheit“, „Attraktivität versus Marginalität“, „Vertrauen versus Zurückhaltung“, „Ordnungsliebe versus Sorglosigkeit“, „Durchsetzung versus Kooperation“. Den Studien zur Validierung des Selbstkonzept-Inventars folgend, besitzen die Subskalen eine hohe zeitliche und situationale Stabilität bei gleichzeitiger Reaktivität gegenüber sozioökonomischen und psychologischen Lebens- und Arbeitsbedingungen (ebd.). Diesem Grundverständnis zufolge ist eine Variation des Selbstkonzepts beispielsweise mit einem veränderten sozioökonomischen Status einer Person oder dem Übergang von der Kindheit in die Entwicklungsphase der Adoleszenz möglich. Die nachstehenden Ausführungen zum theoretischen Grundkonzept des standardisierten Testverfahrens basieren auf dem Manual des Selbstkonzept-Inventars (von Georgi & Beckmann 2004, S. 11f.).

Die Autoren fassen das Selbstkonzept als „übergeordnete Strukturierung für die Entwicklung der Einschätzung der eigenen Selbst-Effizienz in unterschiedlichen Situationen“ auf (ebd., S. 11). Der Terminus „Wahrnehmung einer Selbst-Effizienz“ wird dabei dem eines generellen Selbstkonzepts vorgezogen, wobei die Begriffe in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Ein Schüler, der beispielsweise im Vergleich zu seiner Gleichaltrigengruppe bessere sportliche Leistungen erzielen kann, wird wahrscheinlich eine positive Selbst-Effizienz in Situationen erleben und entwickeln können, in denen seine sportlichen Fähigkeiten und seine physische Konstitution gefragt sind. Diese aus der sozialen Umwelt resultierende positive Selbst-Effizienz bezüglich sportlicher Leistungen modifiziert das Selbstkonzept des Schülers, der fortan eine sportbegabte Selbstbeschreibung hat. Die fünf oben genannten Subskalen des Selbstkonzept-Inventars besitzen ein hohes Abstraktionsniveau, welches nach Ansicht von Georgi und Beckmann (2004, S. 11) „die Entwicklung der ‘Wahrnehmung der Selbst-Effizienz’ in spezifischen Situationen zu einem bedeutenden Anteil mit beeinflusst“. Die Abbildung 2 veranschaulicht die Strukturvorstellungen des Selbstkonzepts im Rahmen des Selbstkonzept-Inventars von Georgi und Beckmann (2004).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Darstellung des Selbstkonzepts im Selbstkonzept-Inventar nach von Georgi und Beckmann (2004, S. 11)

Die schematische Darstellung des Selbstkonzepts im Selbstkonzept-Inventar verdeutlicht die Bedeutung der Interaktion der Person mit ihrer sozialen Umwelt und den in ihr lebenden Mitmenschen für die Entwicklung sowie Modifizierung des Selbstkonzepts. Das personale Selbst, verstanden als psychologische, affektiv-emotionale Ebene, und das soziale Selbst, welches Aspekte der sozialen Interaktion und Wahrnehmung umfasst, gehen auf Georg H. Meads (1934) Unterscheidung zwischen dem I und ME zurück. Beide Faktoren stehen in wechselseitigem Beziehungsverhältnis zum Selbstkonzept. Der Abbildung 2 sind weitere Variablen zu entnehmen, die direkt oder indirekt das Selbstkonzept und die situationsabhängige Wahrnehmung einer Selbst-Effizienz beeinflussen. Diese sind auf Seiten der Situations- beziehungsweise Umweltebene sozioökonomische Faktoren (wie beispielsweise Einkommen oder Milieuzugehörigkeit) sowie seitens der personellen Ebene genetische Prädispositionen (wie zum Beispiel das Temperament oder die intellektuelle Leistungsfähigkeit). Die Autoren des Selbstkonzept-Inventars positionieren ihre theoretischen Annahmen zwischen „der Existenz genetisch bedingter, biologischer Persönlichkeitsprädispositionen und der Hypothese der Bildung des Selbst durch die soziale (inkl. frühkindliche) Interaktion“ (von Georgi & Beckmann 2004, S. 12).

Nachdem im Rahmen des vorangegangenen Abschnitts Fragen der Organisation und Strukturierung des Selbstkonzepts geklärt werden konnten, soll das Selbstkonzept in einem folgenden Abschnitt eine theoretische Fundierung erfahren.

2.1.2 Theoretische Ansätze

Eine Zusammenschau über Forschungstraditionen zur Persönlichkeitsentwicklung ist Krampen und Greve (2008, S. 656) zu entnehmen. Die Autoren führen Theorien der Identitäts- und Selbstkonzeptentwicklung auf Eric H. Eriksons (1956/ 1966) Konzept der Entwicklungskrisen und Robert J. Havighursts (1948) Konzept der Entwicklungsaufgaben zurück. Ersteres basiert auf Sigmund Freuds (1930) Psychoanalyse, und Letzteres weist nach Ansicht von Krampen und Greve (2008, S. 656) eine lerntheoretische Fundierung auf. Nachstehend soll der Fokus auf eine überblicksartige Darstellung zu den theoretischen Ansätzen des Selbstkonzepts gerichtet werden, sodass aus Kapazitätsgründen auf eine explizite Erläuterung der einzelnen Forschungstraditionen der Identitäts- und Selbstkonzeptentwicklung verzichtet werden muss.

Theorien der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung können Krampen und Greve (2008, S. 669) zufolge mit dem lernpsychologisch ausgerichteten S-O-R-C-Modell umschrieben werden. Das S-O-R-C-Modell ist definiert durch die Abfolge nachstehender Sequenzen:

- „Konfrontation mit einer Entwicklungsaufgabe/ einem kritischen Ereignis (S),
- aufgaben-/ ereignisbezogene Kognition und Emotion (O),
- Bewältigungsversuche/ -handeln (R),
- Konsequenzen für Befinden, Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung (C)“ (Krampen & Greve 2008, S. 669).

Im Zuge der Entwicklung wird der Mensch mit altersbezogenen, normativen Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel der Berufsfindung in der mittleren und späten Adoleszenz, sowie mit kritischen Lebensereignissen, wie beispielsweise der Diagnose einer Hörbeeinträchtigung, konfrontiert. Nach einer kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit einer solchen Entwicklungsaufgabe beziehungsweise einem kritischen Lebensereignis erfolgt eine Reaktion im Sinne eines Bewältigungsversuchs. Das Bewältigungshandeln hat wiederum Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden sowie die Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung einer Person. Eine erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgabe beziehungsweise des kritischen Lebensereignisses bringt positive Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung der entsprechenden Person mit sich, woraufhin diese für die Bewältigung nachfolgender Aufgaben und Ereignisse mental gestärkt ist. Im Falle einer misslungenen Bewältigung könnten beispielsweise Vermeidungsverhalten, sprich das Aufschieben und Ignorieren einer Entwicklungsaufgabe beziehungsweise eines kritischen Lebensereignisses, oder eine internalisierende Attribuierung („Ich bin nicht zur Bewältigung solcher Situationen in der Lage“), die in eine selbsterfüllende Prophezeiung münden können, die Folge sein.

Die theoretischen Annahmen über das Selbstkonzepts differenzierten sich in den 1980er Jahren aus. Zu der damals dominierenden motivationstheoretischen Perspektive stießen kognitionspsychologische und sozial-kognitive Ansätze, die den Aufbau und die Konstanz des Selbstkonzepts zu erklären versuchten (Filipp 2000, S. 7; Stahlberg, Petersen & Dauenheimer 1996, S. 126ff.).

Der motivationstheoretischen Perspektive zufolge wirdder Mensch bei der Suche, Aufnahme und Verarbeitung selbstbezogener Informationen sowie bei der Beurteilung anderer Personen von bestimmten Motiven geleitet (Petersen, Stahlberg & Dauenheimer 2000, S. 239f.; Stahlberg et al. 1996, S. 127). Dabei stehen sich nach Ansicht der Autorenteams um Petersen und Stahlberg in motivationstheoretisch angelegten Forschungsarbeiten vor allem das menschliche Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und das Konsistenzstreben gegenüber.

Die Theorie der Selbstwerterhöhung beziehungsweise die Selbstwerttheorie geht davon aus, dass der Mensch bestrebt ist, mittels eintreffender Informationen aus der sozialen Umwelt sein Selbstwertgefühl zu schützen oder zu erhöhen. Folglich werden Menschen „auf solche Informationen affektiv und positiv reagieren, die selbstwertschmeichelnde Komponenten enthalten“ (Petersen et al. 2000, S. 240; Stahlberg et al. 1996, S. 127) und somit dem menschlichen Bedürfnis nach Bestätigung seiner Selbst und Wertschätzung nachkommen. Der Selbstwerttheorie zufolge werden Menschen bezüglich kritischer Anmerkungen zu ihrer Persönlichkeit zum Schutz ihres Selbst eine externale Kausalattribution vornehmen und die Ursache für die Kritik beispielsweise in der aktuellen Tagesform suchen.

Im Gegensatz zur Selbstwerttheorie vertreten konsistenztheoretische Ansätze die Annahme, dass Menschen eine widerspruchsfreie Konsistenz ihrer internen Prozesse sowie eine Übereinstimmung dieser mit dem nach außen sichtbaren Verhalten anstreben beziehungsweise aufrechtzuerhalten versuchen (Mummendey 2006, S. 135f.). So nehmen Menschen bevorzugt solche Herausforderungen an, die ihrer internen Konsistenz entsprechen, um eine Bestätigung ihres Selbstkonzepts zu erfahren. Schüler, die kontinuierlich positive Leistungsrückmeldungen im Fach Mathematik erfahren haben, werden beispielsweise den Mathematikhausaufgaben den Vorzug vor den Hausaufgaben im Unterrichtsfach Deutsch geben.

Kognitionspsychologische und sozial-kognitive Ansätze der Erforschung des Selbstkonzepts basieren auf dem Modell der Informationsverarbeitung. Der Perspektive der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung zufolge wird der Mensch im Umgang mit selbstkonzeptrelevantem Wissen von übergeordneten kognitiven Strukturen, den sogenannten Selbstschemata, geleitet (Petersen et al. 2000, S. 242; Stahlberg et al. 1996, S. 127). Selbstschemata sind nach Markus (1977, S. 64) definiert durch kognitive Generalisierungen über das Selbst, die die Verarbeitung selbstbezogener Informationen im Kontext sozialer Verfahrungen ordnen. Das Wissen, das eine Person über sich selbst im Laufe des Lebens erlangt, wird demnach in zueinander in Beziehung stehenden Selbstschemata kognitiv organisiert, dort kann es, entsprechend den situationalen Voraussetzungen, wieder abgerufen werden. Die Selbstschemata wirken moderierend sowie konstruierend auf das Selbstkonzept ein.

Seit den 1990er Jahren wurde in der Sozialpsychologie die Perspektive der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung schrittweise durch einen vielschichtigeren Ansatz abgelöst, der neben Prozessen der Informationsverarbeitung Motive, Emotionen und kognitive Dynamiken einbezieht (Stahlberg et al. 1996, S. 127). Der sogenannte integrative Selbstschemaansatz geht davon aus, dass selbstkonzeptrelevante Informationen sowohl aus kognitiven Wissensstrukturen als auch aus selbstbezogenen Motiven stammen können (Petersen et al. 2000, S. 243; Stahlberg et al. 1996, S. 127). Damit vereint der integrative Selbstschemaansatz die ehemals konkurrierende motivationstheoretische Perspektive und Ansätze der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung. Petersen et al. (2000, S. 251) räumen jedoch ein, dass der integrative Selbstschemaansatz nicht in befriedigender Weise zur Vorhersage aller affektiven und kognitiven Reaktionen auf selbstkonzeptrelevante Rückmeldungen in der Lage ist und es einer weiteren theoretischen Fundierung des Selbstkonzepts in Form von Modellen bedarf.

Da im Zuge der Forschungstraditionen zum Selbstkonzept bereits entwicklungspsychologische Aspekte angesprochen wurden, sollen diese in einem weiteren Abschnitt des Kapitels vertieft und die Entwicklung des Selbstkonzepts vom Säuglingsalter bis zur Adoleszenz dargestellt werden.

2.1.3 Entwicklungspsychologische Aspekte

Wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, verfolgt die Entwicklungspsychologie gegenwärtig einen ganzheitlichen Ansatz, indem sie kognitive, emotionale und motivationale Aspekte gleichermaßen berücksichtigt und die menschliche Entwicklung im Kontext der sozialen Wirklichkeit betrachtet (Baake 2005, S. 192f.). So fasst auch Remschmidt (1992, S. 117) die Entstehung des Selbstkonzepts als Ergebnis einer Interaktion biologischer, psychologischer und psychosozialer Einflüsse im Verlauf der Sozialisation auf. Bei der Entwicklung des Selbstkonzepts spielt die soziale Bezugsgruppe eine große Rolle, da der Mensch durch seine intellektuelle Ausstattung in der Lage ist, sich als Objekt wahrzunehmen und anhand eines Bezugssystems eine Bewertung seiner eigenen Person vorzunehmen (Neubauer 1976, S. 39f.). Im Kleinkindalter und in der Kindheit steht das Selbstkonzept unter dem Einfluss primärer Sozialisationserfahrungen in der Familie, mit zunehmendem Lebensalter steigt die Bedeutung außerfamiliärer Einflüsse, etwa in Gestalt der Mitschüler (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 761; Remschmidt 1992, S. 117). In der Adoleszenz gewinnt die Bezugsgruppe der Gleichaltrigen eine ähnlich hohe Bedeutung für die Entwicklung des Selbstkonzeptes wie die familialen Einflüsse (Moschner & Dickhäuser 2010, S. 761). Das Autorenteam führt weiter aus, dass die im Laufe der Sozialisation durch direkte und indirekte Rückmeldungen von Bezugspersonen sowie durch die Beobachtung eigenen Verhaltens erzielten sozialen Erfahrungen eine wichtige Quelle des selbstbezogenen Wissens darstellen.

Der Beginn der Entwicklung des Selbstkonzepts ist nach Filipp (1980, S. 108) definiert durch die Wahrnehmung des Individuums als ein von seiner sozialen Umwelt abgehobenes Wesen. Diese kognitive Differenzierung zwischen dem „Ich“ und dem „Nicht-Ich“ findet Mummendey (2006, S. 94) zufolge bereits in den ersten Lebensmonaten im Zuge der Entwicklung des Körperschemas statt. Eine Zusammenschau verschiedener Studien zur Entwicklung des Selbstkonzepts in den ersten beiden Lebensjahren ist Filipp (1980) zu entnehmen. Das auf ihren Recherchen basierende Phasenmodell (ebd., S. 110f.) soll im Folgenden näher erläutert werden.

Nachdem der Säugling im Rahmen einer ersten Entwicklungsphase die bereits angeführte Differenzierung zwischen „Ich“ und „Anderen“ vornehmen kann, wird diese Unterscheidung in einer darauffolgenden Phase gefestigt. In der bis zum achten Lebensmonat fortbestehenden zweiten Entwicklungsphase findet zudem der Aufbau von Selbst- und Personenpermanenz statt, was bedeutet, dass der Säugling neben sich als Subjekt auch beispielsweise seine Mutter von anderen Personen unterscheiden kann. Im Alter von acht bis zwölf Lebensmonaten ist der Säugling schließlich in der Lage, erste Kategorisierungen in seiner sozialen Umwelt vorzunehmen. So unterscheidet er im Zuge dieser dritten Entwicklungsphase Personen nach Alter und Geschlecht. Der Säugling betrachtet dabei Bilder gleichaltriger und gleichgeschlechtlicher Personen länger als Personen und Objekte, die diesen Kriterien nicht entsprechen. Darüber hinaus ist eine intensive Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes feststellbar. Neben einer erhöhten Fixationsdauer sind rasche Blickbewegungen zwischen dem Spiegelbild und dem eigenen Körper des Säuglings beobachtbar. Im Verlauf des zweiten Lebensjahres entwickelt sich bei dem Kleinkind ein korrektes Lageschema, sodass der eigene Körper präzise im Raum lokalisiert werden kann. Gegen Ende dieser vierten Entwicklungsphase wird das visuelle Selbsterkennen häufiger, indem das Kleinkind zum Beispiel Zeigebewegungen nicht mehr auf sein Spiegelbild, sondern auf den eigenen Körper richtet. Ferner nutzen nahezu alle Kleinkinder am Ende des zweiten Lebensjahres das Personalpronomen „Ich“ oder ihren Eigennamen (Filipp 1980, S. 111).

Fuhrer, Marx, Holländer und Möbes (2000) weisen auf die Gefahr einer groben Vereinfachung der Selbstkonzeptentwicklung anhand von Experimenten zum visuellen Selbsterkennen hin. Das Autorenteam führt aus, dass emotionale Reaktionen auf das eigene Spiegelbild „ein Selbsterkennen zwar anzeigen (können) [Anmerkung der Verfasserinnen dieser Arbeit], doch genauso gut zeigen Kinder dem Spiegelbild gegenüber affektive Reaktionen, ohne dass sie sich selbst erkennen“ (Fuhrer et al. 2000, S. 47).

Die Entwicklung des Selbstbildes von Klein- und Vorschulkindern (von etwa zweieinhalb bis fünf Jahren) ist gekennzeichnet durch die Darstellung des Selbst anhand von Merkmalen, die entweder physischer Natur sind („Ich habe blonde Haare“), Aktivitäten beschreiben („Ich spiele gerne mit Puppen“), soziale Beziehungen umfassen („Ich habe eine Schwester“) oder seltener psychologische Dimensionen ausdrücken („Ich bin ein fröhliches Kind“) (Fuhrer et al. 2000, S. 48; Oerter 2008, S. 230f.). Diese noch unkoordiniert nebeneinander stehenden Dimensionen sind unrealistisch positiv, da Vorschulkinder noch nicht in der Lage sind, einen sozialen Vergleich in ihre Darstellung des Selbst zu integrieren (Deusinger 1986, S. 13; Fuhrer et al. 2000, S. 48f.; Mummendey 2006, S. 97; Oerter 2008, S. 231).

Zwischen dem fünften und achten Lebensjahr werden die Merkmale der kindlichen Selbstbeschreibung zunehmend miteinander verknüpft, indem Kategorien zu Eigenschaften und Emotionen gebildet werden (Fuhrer et al. 2000, S. 49; Oerter 2008, S. 231). Mummendey (2006, S. 98) führt ergänzend aus, dass sich in diesem Lebensalter schrittweise die Fähigkeit zur Empathie und zur Rollenübernahme entwickelt. Dieser Entwicklungsschritt bewirkt, dass Kinder Reaktionen ihrer sozialen Umwelt allmählich antizipieren und Normen von bedeutsamen Bezugspersonen internalisieren lernen (Fuhrer et al. 2000, S. 49; Mummendey 2006, S. 98). „Daraus entwickeln sich persönliche Standards als erste Formen der bewertenden Selbstregulation und damit können Kinder Verhaltensweisen ausführen, die eine positive Selbstbewertung fördern“ (Fuhrer et al. 2000, S. 49). Oerter (2008, S. 232) folgend, verfügen Kinder bereits im ausgehenden Vorschul- und im Grundschulalter über ein differenziertes, relativ stabiles Selbstkonzept. Darüber hinaus sind sie zunehmend zum metakognitiven Denken in der Lage und können sich Gedanken über eigene besondere Kennzeichen machen (Mietzel 2002, S. 295).

Der Entwicklungsschritt bis zum 12. Lebensjahr besteht vor allem darin, die bisher unverbundenen Selbstrepräsentationen zu koordinieren und die Merkmale des Selbst hierarchisch zu ordnen (Fuhrer et al. 2000, S. 49; Oerter 2008, S. 231). Auf dem Weg zur Entwicklungsstufe der Adoleszenz neigen Kinder verstärkt dazu, sich mit Persönlichkeitseigenschaften, die auf Verhaltensweisen und Geschicklichkeiten basieren, zu beschreiben (Mummendey 2006, S. 99; Oerter 2008, S. 231). Einer Annahme von Mummendey (2006, S. 99) zufolge begünstigen die Formulierung dieser inneren Dimensionen und die Fähigkeit, die Merkmale des Selbst in hierarchische Strukturen zu integrieren, die Ausbildung allgemeiner Formen der Selbstbewertung beziehungsweise den Selbstwert. So könnten Kinder im schulischen Kontext mangelhafte Leistungen als „schlecht“ oder „dumm“ kategorisieren und als Persönlichkeitsmerkmal in das Selbstkonzept integrieren (Oerter 2008, S. 231). In diesem Zusammenhang spielt die Gruppe der Gleichaltrigen eine große Rolle, da anhand derer die eigenen Fähigkeiten und Leistungen einem sozialen Vergleich ausgesetzt werden (Fuhrer et al. 2000, S. 49f.; Mummendey 2006, S. 99f.; Oerter 2008, S. 231). „In dieser Zeit entwickeln sich also bevorzugt Selbstkonzepte eigener Fähigkeiten und des interpersonalen Verhaltens durch den Vergleich mit Gleichaltrigen“ (Mummendey 2006, S. 100). Darüber hinaus nimmt in der späten Kindheit die Fähigkeit zu, gegensätzliche oder ambivalente personelle Merkmale situationsspezifisch zu koordinieren (Fuhrer et al. 2000, S. 49; Mummendey 2006, S. 99; Oerter 2008, S. 231). Nach Ansicht von Fuhrer et al. (2000, S. 49) kann das Kind durch diese Fähigkeit sowohl positive als auch negative Selbstbewertungen vornehmen, die als Wegbereiter für eine balancierte Sicht auf die eigene Person fungieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Selbsteinschätzung der Kinder im Übergang von der späten Kindheit in die Entwicklungsphase der Adoleszenz durch eine realistische Selbsteinschätzung und ein differenzierteres, hierarchisch komplexeres Selbstbild charakterisiert ist (Oerter 2008, S. 231).

2.1.4 Das Selbstkonzept im Kontext der Adoleszenz

Die Adoleszenz bedingt zahlreiche körperliche, soziale und kognitive Veränderungen, welche das bisher strukturierte selbstbezogene Wissen infrage stellen (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 75), mit sich. So kann es im Zuge dieser Phase des Umbruchs zu einer kurzzeitigen Destabilisierung des Selbstkonzepts kommen (Krampen & Greve 2008, S. 653). Nach Ansicht von Baake (2005, S. 204) ist die Entwicklung des Selbstkonzepts erst gegen Ende der Adoleszenz soweit abgeschlossen, dass sich das selbstbezogene Wissen als ein verlässlicher Pfeiler der Identitätsentwicklung im Sinne einer zu bewältigenden Entwicklungsaufgabe nach Havighurst (1948) erweist.

Die Frage, in welchem Zeitraum die Entwicklungsphase der Adoleszenz anzusiedeln ist, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. In Anlehnung an Mummendey (2006, S. 100) soll im Rahmen dieser Arbeit zwischen einer frühen (etwa vom 11. bis zum 14. Lebensjahr), einer mittleren (vom 14. bis zum 18. Lebensjahr) und einer späten Adoleszenz (vom 18. bis zum 20. Lebensjahr) differenziert werden.

Der Entwicklungsfortschritt in der Adoleszenz liegt vor allem in der Fähigkeit, selbstbezogenes Wissen in übergeordnete Kategorien zu integrieren und sich systematisch Gedanken über hypothetische und zukünftige Ereignisse zu machen (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 75). Diese Kompetenzen fördern die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Reorganisation des Selbstkonzepts (ebd.). Nach Ansicht der Entwicklungspsychologen sind die Selbstwahrnehmung, das Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl, die eigenen Fähigkeiten sowie das eigene Äußere die beherrschenden Themen in der Adoleszenz (Mummendey 2006, S. 100f.), die maßgeblich zur Veränderung des Selbst im Rahmen dieser Entwicklungsphase beitragen. Pinquart und Silbereisen (2000, S. 76ff.) führen bezüglich des Selbstkonzepts im Kontext der Adoleszenz Veränderungen kognitiver Art auf, die nachfolgend kurz skizziert werden sollen.

Die bereits erwähnte erhöhte Selbstaufmerksamkeit in der Adoleszenz geht mit einer Zunahme der Selbstbeschreibung anhand von psychischen Begriffen einher („Ich bin einfühlsam/ flippig/ klug und so weiter“) während Kinder mehr Selbstbeschreibungen über Situationen, Besitz oder das Verhalten vornehmen (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 77). Eine zweite kognitive Veränderung in der Adoleszenz umfasst die Zunahme der Begründetheit der Selbstbeschreibungen, die meist systematisch und logisch auf der eigenen Urteilsfähigkeit basieren (ebd.). Aufgrund der kognitiven Entwicklung und des Agierens in verschiedenen, sich oftmals widersprechenden sozialen Rollen ist nach Ansicht von Pinquart und Silbereisen (2000, S. 77f.) eine Zunahme der Differenziertheit der Selbstbeschreibungen in der Adoleszenz beobachtbar. Als Beispiel kann die Unterscheidung zwischen dem authentischen und nicht authentischen Selbst angeführt werden. Im Gegensatz zu Kindern können Jugendliche Situationen benennen, in denen sie ihr „wahres“ oder „falsches Selbst“ zeigen (ebd., S. 78). Die Zunahme der Organisiertheit der Selbstbeschreibungen geht mit dem Erkennen von widersprüchlichen Selbstbeschreibungen einher (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 78f.). Erst gegen Ende der Adoleszenz sind Jugendliche in der Lage, die widersprüchlichen Attribute in die ihnen offenbarte hierarchische Struktur des Selbstkonzepts zu integrieren (ebd.). Eine letzte Dimension der Veränderungen des kognitiven Aspekts des Selbstkonzepts beinhaltet die Zunahme der Abstraktheit der Selbstbeschreibungen (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 79). Diese resultieren aus der Fähigkeit zum formal-operatorischen Denken. Der Jugendliche kann zunehmend ihm bislang verborgene und abstrakte innere Merkmale zur Beschreibung seines Selbst nutzen (ebd.).

Neben den erwähnten kognitiven Veränderungen, die das Selbstkonzept der Adoleszenten prägen, berichten Pinquart und Silbereisen (2000, S. 79ff.) von einem Wandel der Selbstachtung in der Phase der frühen Adoleszenz. Die Instabilität der Selbstachtung ist nach Ansicht der Autoren auf die erhöhte Verunsicherung der Jugendlichen nach dem Übertritt in eine neue Entwicklungsphase zurückzuführen, sodass situationsspezifisch die Selbstachtung als die affektive Komponente des Selbst fluktuiert (ebd., S. 79). Studien konnten jedoch bereits in der mittleren Adoleszenz eine relative Stabilität der Selbstachtung der Jugendlichen nachweisen (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 80).

Während in der frühen Adoleszenz die Selbstbeschreibungen noch unzutreffende Generalisierungen enthalten (Mummendey 2006, S. 102), werden die Merkmale in Bezug auf die eigene Person in der mittleren Adoleszenz aufgrund des zunehmenden Vergleichs mit der sozialen Bezugsgruppe komplexer und differenzierter (Fuhrer et al. 2000, S. 50; Mummendey 2006, S. 102). Es entstehen Konflikte, da die sogenannten multiplen Selbste, die aus der Interaktion mit verschiedenen Bezugspersonen entstehen, von dem Jugendlichen in das Selbstkonzept integriert werden müssen (Fuhrer et al. 2000, S. 50f.). Mummendey (2006, S. 102) berichtet für die Entwicklungsphase der späten Adoleszenz, dass „[…] jetzt die Vergleiche von Selbstkonzepten mit Merkmalen eines ‘idealen Selbst’ wichtiger sein (können) [Anmerkung der Verfasserinnen dieser Arbeit] als die sozialen Vergleiche“. Jugendliche nehmen aufgrund der Fokussierung des idealen Selbst mehr Selbstbeschreibungen vor, die sich auf persönliche und moralische Überzeugungen beziehen (ebd., S. 103).

Flammer und Alasker (2002, S. 149ff.) sowie Pinquart und Silbereisen (2000, S. 82ff.) führen zahlreiche Einflüsse auf, die sich auf das Selbstkonzept der Jugendlichen in der Adoleszenz auswirken können. Unter diesen Variablen sollen exemplarisch die Geschlechterdifferenzen, die Beziehungen zu der Gruppe der Gleichaltrigen, das Selbstkonzept im Kontext der schulischen Leistungen sowie die Zugehörigkeit zu einer Minorität in groben Zügen umrissen werden.

Bezüglich der Geschlechterdifferenz stellen Flammer und Alasker (2002, S. 149) fest, dass viele Mädchen in der Adoleszenz unter dem in der westlichen Welt geltenden Schlankheitsideal leiden, sodass zahlreiche Studien den Jugendlichen männlichen Geschlechts einen höheren Selbstwert attestieren konnten (ebd., S. 150).

Die Integration beziehungsweise Desintegration in die Gruppe der Gleichaltrigen steht im direktem Zusammenhang mit dem Selbstwert der Jugendlichen in der Adoleszenz (Flammer & Alasker 2002, S. 152f.; Pinquart & Silbereisen 2000, S. 85f.). Während Gleichaltrige im Falle einer positiven Integration eine wichtige Quelle der Selbstbewertung sein können, ist der Ausschluss aus der Gruppe der Gleichaltrigen mit einem negativen Selbstwert assoziiert (ebd.). Pinquart und Silbereisen (2000, S. 85) weisen in Bezug auf die Studienlage auf einen sogenannten Teufelskreis hin, wonach Jugendliche mit einem geringen Selbstwert vermehrt von der Gruppe der Gleichaltrigen zurückgewiesen werden, sodass ihnen selbstwerterhöhende Erfahrungen verwehrt bleiben.

Im schulischen Kontext werden Heranwachsende durch Rückmeldungen (zum Beispiel seitens der Lehrkraft), Schulnoten und soziale Vergleiche mit zahlreichen selbstbezogenen Informationen konfrontiert (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 86). Studien konnten einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen den Schulnoten und dem Selbstkonzept zu Tage fördern. Dabei korrelieren gute Schulleistungen mit einem positiv ausgeprägten Selbstkonzept, Letzteres wiederum wird in Verbindung zu guten Schulleistungen gebracht (ebd.). Im Falle mangelhafter Schulleistungen, verstanden als negative Leistungsrückmeldung, wirken diese Zusammenhänge in entgegengesetzter Weise. Flammer und Alasker (2002, S. 151) vermuten anhand der Studienlage, dass Jugendliche mit zunehmendem Alter lernen, ihren Selbstwert gegenüber dem schulischen Leistungsdruck besser abzugrenzen. Ein Schulformwechsel stellt jedoch das bislang erworbene Selbstkonzept der eigenen Leistungsfähigkeit durch einen neuen Bezugsrahmen infrage (Pinquart & Silbereisen 2000, S. 86f.).

Hinsichtlich des Selbstkonzepts und der Zugehörigkeit zu einer Minorität merken Flammer und Alasker (2002, S. 151f.) an, dass das Selbstkonzept auch die Wahrnehmung des sozialen Status und der sozialen Rolle widerspiegelt (wie beispielsweise Jugendlicher mit einer Hörbeeinträchtigung). Bezüglich der Frage, ob eine Integration einer Minorität in die Majorität sinnvoll ist, stützen sich die Autoren auf amerikanische Befunde, wonach Jugendliche, die einer ethnischen Minderheit angehören, Selbstwertprobleme haben, wenn sie in die Gleichaltrigengruppe integriert werden (ebd., S. 152). „Solche Resultate sollen uns jedoch nicht dazu verleiten, den Integrationsgedanken aufzugeben; sie sollten eher ein Ansporn sein, bessere Lösungen der Integration anzustreben als die bisherigen“ (Flammer & Alasker 2002, S. 152).

Liegt eine Beeinträchtigung im Hören vor, prägt diese den Verlauf der Ausbildung des Selbstkonzepts in entscheidender Weise. Im Folgenden sei näher auf die mit einer solchen Beeinträchtigung einhergehenden Aspekte physiologischer, technischer und schulischer Natur eingegangen.

2.2 Das menschliche Ohr und dessen Beeinträchtigungen

2.2.1 Anatomie und Physiologie des menschlichen Hörorgans

Das Ohr ist ein sehr komplexes Organ, das zwei Sinnesorgane umfasst – das Hör- und das Gleichgewichtsorgan. Aus dieser Beschaffenheit resultiert die Bezeichnung als statoakustisches Sinnesorgan (von griechisch statikos = auf das Gleichgewicht bezogen, griechisch akoustikos = das Gehör betreffend) (Leonhardt 2010, S. 41). Es empfängt verschiedene akustische Zeichen in Form von Schall und wandelt diese in elektrische Impulse um, die anschließend vom Gehirn als Geräusche oder Töne interpretiert werden können. In drei aufeinander aufbauenden Stufen vollzieht sich der Hörvorgang:

1) Aufnahme der Schallschwingungen,
2) Verstärkung der Schallschwingungen und
3) Umwandlung der Schwingungen in elektrische Impulse (Ilenborg 2001, S. 63).

Dementsprechend gliedert sich das menschliche Ohr in die Bereiche Außenohr, Mittelohr und Innenohr.

Das äußere Ohr ist der von außen sichtbare Teil, zu dem die in Form eines Schalltrichters angelegten Bestandteile Ohrmuschel und Gehörgang zählen. An den Gehörgang schließt sich das Trommelfell an, das aus einer 9 bis 11 mm breiten Membran besteht und den Übergang zum Mittelohr bildet (Leonhardt 2010, S. 42). Durch die Ohrmuschel aufgenommene und durch den Gehörgang hin zum Trommelfell wandernde Schallwellen versetzen dieses in Schwingung, bevor sie von der Gehörknöchelkette in der Paukenhöhle als Hauptbestandteil des Mittelohrs aufgenommen werden. Die drei miteinander verbundenen, beweglichen Gehörknöchelchen sind mit folgenden Bezeichnungen belegt: Hammer, Amboss, Steigbügel. Bewegungen entstehen, wenn durch den eintretenden Schall der Hammermuskel das Trommelfell nach innen zieht und somit den Steigbügel gegen das umgebende Vorhoffenster drückt. Dies zieht eine erhöhte Empfindlichkeit nach sich, auf die der Steigbügelmuskel mit einem Rückzug des Steigbügels aus dem Vorhoffenster reagiert und damit eine Dämpfung des Schalls erzeugt. Die Spannung des Schallleitungsapparats wird hierdurch reguliert (ebd., S. 43).

Zusätzlich ist von der Paukenhöhle aus eine Verbindung zum Nasen-Rachen-Raum gegeben, auch Eustachische Röhre genannt. Ihre Funktion besteht in der Gewährleistung eines Luftdruckausgleichs zwischen Mittelohr und Rachen (Leonhardt 2010, S. 42).

Das Innenohr besteht aus dem Gleichgewichtsorgan inklusive seines Vorhofs und der drei Bogengänge sowie der Hörschnecke (Cochlea). Beide Sinnesorgane befinden sich im sogenannten häutigen, ein System von Blasen und Kanälen darstellenden Labyrinth, welches mit Endolymphe, einer viskösen Flüssigkeit, gefüllt ist und im sogenannten knöchernen, Perilymphe enthaltenden Labyrinth schwimmt. Letzteres beinhaltet den Vorhof (Vestibulum), die Gehörschnecke (Cortisches Organ), das eigentliche Hörorgan und die knöchernen Bogengänge des Gleichgewichtsorgans. Durch das ovale Fenster schließt es an die Paukenhöhle des Mittelohrs an (ebd., S. 45).

Im häutigen Labyrinth finden sich Sinnesepithel, die beim Eintreffen von Schallwellen auf das Trommelfell in Schwingungen versetzt werden. Von ihnen ausgehend wird die Erregung des Gleichgewichts- und Hörnervs durch den Schneckennerv oder Hörnerv über circa 30.000 Nervenfasern an das Gehirn weitergeleitet. In der neben dem Brocaschen Sprachzentrum, dem akustischen Sprachzentrum und der Gefühlssphäre im Schläfenhirn, lokalisierten Hörrinde schließlich findet die bewusste Verarbeitung der in Form eines neuronalen Codes erkannten akustischen Höreindrücke statt (Leonhardt 2010, S. 48).

2.2.2 Das Sujet der Hörbeeinträchtigung

Im Alltag finden immer wieder Begegnungen mit Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung statt, vornehmlich mit solchen älterer Jahrgänge, deren Hörvermögen im Alter stetig sinkt. Zieht man statistische Daten hinzu, wird offenbar, dass der Anteil der Altersschwerhörigen der größte innerhalb der Gruppe der von einer Hörbeeinträchtigung betroffenen Personen ist:

14 Millionen Menschen sind in dieser Kategorie erfasst[2]. Insgesamt sind von einer Hörschädigung etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland betroffen (Renzelberg 2001, S. 129). Der Anteil derjenigen, die von Geburt an hörgeschädigt sind beziehungsweise vor Abschluss des Spracherwerbs eine Funktionseinbuße des Gehörs erlitten haben, ist mit 500.000 deutlich geringer. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Hörschädigung wird mit etwa 20.000 bis 35.000 angeben (ebd., S. 120).

Der Fokus der vorliegenden Arbeit gilt der Gruppe der Schüler mit einer Hörbeeinträchtigung. Um diese Gruppe und ihre besondere Situation näher kennenzulernen und den Blick für die Bedingungen zu schärfen, die das Selbstkonzept ebenjener Personen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten beeinflussen, soll im Folgenden nach der vorangegangen Erläuterung von Aufbau und funktionaler Beschaffenheit des Ohrs eine eingehendere Beschäftigung mit Beeinträchtigungen des Ohrs und dessen Funktionen stattfinden. Hierzu erfolgt zunächst eine begriffliche Bestimmung. Es schließen sich einige grundlegende Aspekte zu Arten und Graden der Schwerhörigkeit, der Ätiologie und den technischen Hilfsmitteln an, um eine Basis für weitere Überlegungen in Bezug auf die zuvor dargestellte Selbstkonzeptthematik zu schaffen.

2.2.3 Begriffliche Abgrenzungen

Verschiedene Disziplinen verwenden verschiedene Begrifflichkeiten, um das Phänomen einer Beeinträchtigung des Hörvermögens zu beschreiben. Diese seien im Weiteren nach einer Darlegung eines wesentlichen Klassifikationsinstruments – der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) – näher erläutert.

Exkurs: Die ICF als Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge-sundheit

2001 als Nachfolgerin der „Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Funktionseinschränkungen und Behinderungen“ (ICIDH) (1980) von der World Health Organisation (WHO) verabschiedet, ermöglicht die ICF durch eine Zusammenführung der medizinischen und sozialen Erklärungsmodelle von Behinderung einen mehrperspektivischen Zugang zu diesem Sujet im Sinne eines interaktiven Prozesses (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI] 2005, S. 21).

Die Grundannahme der medizinischen Herangehensweise besteht darin, dass eine Abweichung von bestimmten gesundheitlichen Normvorstellungen vorliegt. Die Behinderung stellt ein Problem dar, dessen Lösung bei der betroffenen Person ansetzt (ebd., S. 24). Medizinische Versorgung ist demnach vonnöten, um Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Normalität weitestgehend wieder herzustellen.

Das soziale Modell sieht

„Behinderung nicht als eine einer Person innewohnenden Eigenschaft, sondern als Produkt des sozialen Kontextes und Umfelds dieser Person, einschließlich der physischen Strukturen dieses Umfelds (Gebäudekonstruktionen, Beförderungssysteme, usw.) sowie der sozialen Konstrukte und Überzeugungen, die zur Diskriminierung behinderter Menschen führen“ (Europäische Kommission 2002, S. 21).

Folglich gilt nicht die betroffene Person als Ausgangspunkt des Nachdenkens über Behinderung und Hilfsmaßnahmen, sondern vielmehr die Gesellschaft, das Verhalten der Umwelt (DIMDI 2005, S. 25).

Mit der ICF wurde eine durch die ICIDH bereits eingeleitete Wende in der Sichtweise von Behinderung als nicht mehr ausschließlich schädigungsorientiert fortgeführt und ein biopsychosozialer Ansatz geschaffen (DIMDI 2005, S. 24), in den biologische, psychologische, soziale und kulturelle Aspekte einbezogen werden. An die Stelle der ursprünglich gegebenen Klassifikation von Krankheitsfolgen trat eine Klassifikation von Komponenten der Gesundheit (ebd., S. 10) und damit eine noch stärkere Distanzierung von einem defizitorientierten Verständnis von Behinderung. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass diese Klassifikation nur auf Menschen mit Behinderungen anzuwenden sei, kann die ICF auf alle Menschen bezogen werden (DIMDI 2005, S. 8).

Als eine aus der Ausgestaltung der ICF erwachsende Konsequenz ist die Tatsache zu sehen, dass die reine Funktionsfähigkeit und die Beschreibung des Gesundheitszustandes eines Menschen um die Betrachtung der jeweiligen Kontextfaktoren seiner Lebenswirklichkeit und seines individuellen Lebenshintergrunds ergänzt werden (ebd., S. 21). Einen Teil dieser Lebenswelt bildet etwa das schulische Bedingungsfeld, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine maßgebliche Rolle spielt und mit Blick auf eine Wechselwirkung mit den besonderen Bedürfnislagen der Zielgruppe der Schüler mit einer Hörbeeinträchtigung analysiert werden soll.

Geltungs- und Anwendungsbereich der ICF

Die in Bezug auf die Erfassung der Situation relevanten Informationen umfassen innerhalb der ICF folgende Bereiche: Es werden die Funktionsfähigkeit und die Behinderung einer Person ebenso erhoben wie die Kontextfaktoren. Jeder dieser beiden Teile setzt sich aus zwei Komponenten zusammen (DIMDI 2005, S. 9).

Der erste Teil, der die Funktionsfähigkeit und Behinderung fokussiert, beinhaltet einerseits die Komponente des Körpers, konkret die Körperfunktionen (Wahrnehmung, Sprache) und die Körperstrukturen (Organe, Gliedmaßen), sowie andererseits die Komponente der Aktivität (Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung) und Partizipation (Teilhabe, das Einbezogensein in Lebenssituationen) (DIMDI 2005, S. 9).

Bei der ersten Komponente handelt es sich um individuelle, mittels einer Standardnorm zu erhebende körperliche Voraussetzungen, wohingegen zur näheren Bestimmung von Aktivität und Partizipation die Beurteilungsmerkmale Leistung als Maß des Agierens einer Person in ihrer Umwelt und Leistungsfähigkeit als Fähigkeit eines Menschen zur Ausführung von Handlungen herangezogen werden (ebd., S. 145ff.). Die verschiedenen hierfür als Grundlage dienenden Domänen der Aktivität und der Partizipation sind in einer einzigen, alle Lebensbereiche umfassenden Liste enthalten. Insgesamt sind es neun:

„Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktion und Beziehung, bedeutende Lebensbereiche, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben“ (DIMDI 2005, S. 16).

Im zweiten Teil der ICF werden die Kontextfaktoren thematisiert, wobei zwischen umwelt- und personenbezogenen Faktoren unterschieden wird. Unter die erstere Kategorie fallen die materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Umweltgegebenheiten, die einen positiven oder negativen Einfluss auf die Situation einer Person ausüben können, indem sie sich fördernd oder hemmend auf die Leistung und Leistungsfähigkeit eines Menschen und somit auf seine Funktionsfähigkeit auswirken. Hieraus lassen sich Maßnahmen zur Verbesserung der Leistung und zur Erhöhung der Aktivitäten und Partizipation einer Person ableiten (DIMDI 2005, S. 19f.).

Die personenbezogenen Faktoren sind in der ICF aufgrund ihrer vom soziokulturellen Bedingungsgefüge abhängigen Unterschiede nicht klassifiziert worden (ebd., S. 9). Zu ihnen zählen unter anderem Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sozialer Hintergrund, Ausbildung, Erziehung, Erfahrungen und Bewältigungsstile, also nicht primäre, aber für Interventionen maßgebliche Teile des Gesundheitsproblems eines Menschen (DIMDI 2005, S. 20).

Aus der folgenden Grafik wird das Zusammenspiel der einzelnen, das Entstehen einer Behinderung beeinflussenden Komponenten ersichtlich:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Wechselwirkung zwischen den Komponenten der ICF (DIMDI 2005, S. 23)

Die ICF und die ihr zugrunde liegenden Begrifflichkeiten

Wie aus der vorangegangenen Beschreibung der ICF und ihrer Ebenen ersichtlich geworden, wird die funktionale Gesundheit einer Person unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren beurteilt. Im Folgenden soll näher auf die in dem Zusammenhang verwendeten und für die vorliegende Arbeit relevanten Begrifflichkeiten eingegangen werden.

Behinderung wird im Rahmen der ICF als Oberbegriff für Schädigungen (Funktionsstörungen, Strukturschäden et cetera), Aktivitätseinschränkungen und Beeinträchtigungen der Partizipation verwendet. Der Begriff bezeichnet „die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren)“ (DIMDI 2005, S. 271).

Der Begriff der Funktionsfähigkeit wird in dem Zusammenhang als Oberbegriff für Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation verwendet. Er bezeichnet die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren).

Der Begriff der Schädigung beinhaltet eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur im Sinne einer wesentlichen Abweichung von der Populationsnorm (ebd., S. 272). Die entsprechende Festlegung erfolgt durch hinreichend qualifiziertes Fachpersonal, das auch geringfügige Veränderungen und zeitliche Schwankungen mit berücksichtigt.

[...]


[1] Aus Gründen der Leserfreundlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit stets die männliche Form verwendet, selbstverständlich ist damit zugleich die weibliche Form gemeint.

[2] Da wenige Schwerhörige offen zu ihrer Beeinträchtigung stehen und einen Behindertenausweis beantragen, sind Statistiken zur Anzahl Betroffener nicht sehr zuverlässig und die Dunkelziffer weitaus höher.

Ende der Leseprobe aus 170 Seiten

Details

Titel
Das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im Hören
Untertitel
Eine Gegenüberstellung von Förder- und integrativer Beschulung
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
170
Katalognummer
V263248
ISBN (eBook)
9783656520429
ISBN (Buch)
9783656527954
Dateigröße
1799 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
selbstkonzept, schülerinnen, schülern, beeinträchtigungen, hören, eine, gegenüberstellung, förder-, beschulung
Arbeit zitieren
Eva Schürmann-Lanwer (Autor:in), 2012, Das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im Hören, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263248

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