Integratives Lehren und Lernen

Entwicklung und Begründung eines integrativen Unterrichtskonzepts unter besonderer Berücksichtigung der Grundschule


Doktorarbeit / Dissertation, 2013

251 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Möglichkeiten menschlicher Grundbeziehungen zur Welt –
Formulierung eines integrativen Konzepts
1.1 Eine integrative Weltbeziehung –
Versuch einer begrifflichen Annäherung
1.2 Die integrative Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit –
Formulierung konkreter Merkmale einer dynamischen Beziehung
1.2.1 Einleitung und Problemstellung
1.2.2 Die Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner
1.2.3 Die subjektive Perspektive (Mensch)
1.2.4 Die objektive Seite (Lebenswirklichkeit)
1.2.5 Merkmale integrativer Entwicklung – Zusammenfassung und Ausblick

2. Merkmale integrativer Entwicklung der Lebenswirklichkeit
2.1 Einleitung und Fragestellung
2.2 Der Bereich der engeren persönlichen Umgebung
2.3 Der Bereich der öffentlichen Erziehung
2.3.1 Die Reformdebatte der Schulstrukturen im Grundschulbereich
2.3.2 Die inhaltliche Reformdebatte
2.3.3 Die methodische Debatte
2.3.4 Die Rahmenbedingungen
2.4 Der Bereich Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Natur
2.5 Der Bereich der Weltanschauungen, Kultur, Ideologien, religiösen und
philosophischen Prägung
2.6 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

3. Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung
3.1. Einleitung und Fragestellung
3.2 Persönlichkeitstheorien in der wissenschaftlichen Forschung
3.2.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
3.2.2 Psychodynamische Theorien
3.2.3 Humanistische Theorien
3.2.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
3.2.5 Theorien des Selbst
3.3 Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung
3.4 Ein integratives Bewusstseinskonzept

4. Merkmale integrativer Bildung
4.1 Einleitung und Fragestellung
4.2 Thesen zur Entwicklung eines integrativen Bildungsbegriffs
4.3 Die Entwicklung des Bildungsbegriffs aus integrativer Perspektive
4.3.1 Bildung – eine begriffliche Annäherung
4.3.2 Historische Ansätze in der Bildungstheorie
4.3.3 Bildungstheoretische Ansätze der Gegenwart unter
integrativer Perspektive
4.4 Merkmale integrativer Bildung
4.5 Integrative Schlüsselbeziehungen

5. Integratives Lernen in der Grundschule
5.1 Einleitung und Fragestellung
5.2 Integrative Entwicklung
5.3 Merkmale integrativen Lernens
5.3.1 Allgemeine Begrifflichkeit
5.3.2 Lernkonzeptionen unter integrativer Perspektive
5.3.2.1 Psychologische Lerntheorien
5.3.2.2 Subjektbezogene Ansätze
5.3.2.3 Pädagogische Lerntheorien
5.3.2.4 Lernbedingungen
5.4 Grundsätze integrativen Lernens
5.41 Merkmale integrativen Lernens

6. Merkmale einer integrativen Didaktik
6.1 Einleitung und Fragestellung
6.2 Didaktische Grundpositionen unter integrativer Perspektive
6.2.1 Bioenergetische Didaktik
6.2.2 Spiel- und Arbeitsdidaktik
6.2.3 Kommunikative Didaktik
6.2.4 Dramaturgische Didaktik
6.2.5 Lerneffizienzdidaktik
6.2.6 Phantasie- und Kreativitätsdidaktik
6.2.7 Meditative und integrative Didaktik
6.2.8 Mediendidaktik
6.2.9 Sinnesdidaktik
6.3 Merkmale einer integrativen Didaktik

7. Skizze eines integrativen Lehrplans
7.1 Einleitung und Fragestellung
7.2 Lehrplantheorien
7.2.1 Lehrplantheorien der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
7.2.2 Die Curriculumtheorie Robinsohns
7.2.3 Neuere Forschungen im Bereich der Lehrplantheorie
7.2.4 Merkmale eines integrativen Lehrplans
7.2.5 Skizze eines integrativen Lehrplans

8. Integrative Unterrichtspraxis in der Grundschule
8.1 Einleitung und Fragestellung
8.2 Integrativer Lehrplan und Möglichkeiten seiner
unterrichtlichen Umsetzung
8.3 Unterrichtsbeispiele zum integrativen Lehrplan
8.3.1 Schlüsselbereich Natur
8.3.1.1 Gärtnern in der Schule
8.3.1.2 Kinder helfen Schmetterlingen
8.3.1.3 Klassenfahrten mit Naturerlebnissen
8.3.2 Schlüsselbereich Gesellschaft
8.3.2.1 Eine Klassenfahrt mit Behinderten
8.3.2.2 Feuerwehr- und Sanitätsdienst in der Schule
8.3.2.3 Theateraufführungen im Seniorenheim
8.3.3 Schlüsselbereich Kultur und Bildung
8.3.3.1 Biografien von vorbildlichen Persönlichkeiten
8.3.3.2 Fremde Länder in unserer Klasse
8.3.3.3 Integratives Lesen lernen
8.3.4 Schlüsselbereich Technik/Wissenschaft
8.3.4.1 Wir reparieren, löten, schmieden, leimen, sägen, nageln,
schrauben für andere Menschen
8.3.5 Schlüsselbereich Politik
8.3.5.1 Kinderparlamente
8.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung der Unterrichtbeispiele

9. Integrativer Unterricht in der Sekundarstufe – Anmerkungen

10. Schlussbetrachtung und Ausblick

11. Literaturliste

Einleitung

In dieser Arbeit soll versucht werden, ein pädagogisches integratives Unterrichtskonzept mit dem Schwerpunkt Grundschule zu entwickeln. Im Mittelpunkt steht der Begriff integrativ. Damit ist gemeint, dass bei der Konstruktion eines Unterrichtskonzepts möglichst alle relevanten wissenschaftlichen Perspektiven berücksichtigt und zu einem Gesamtkonzept verdichtet werden sollen. Die Formulierung des integrativen Konzepts erfolgt in mehreren Schritten. Die einzelnen Schritte werden nach und nach aus dem ersten Schritt entwickelt. Dieser enthält die wichtigsten Grundannahmen und stellt damit den zentralen Bezugspunkt für die Entwicklung des Konzepts dar. Die Erörterungslinie ist dabei so konzipiert, dass sie vom Abstrakten zum Konkreten verläuft.

Im ersten Schritt werden Merkmale einer integrativen Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit entwickelt. Eine integrative Beziehung liegt nach obiger Definition nur dann vor, wenn alle zentralen Möglichkeiten menschlicher Weltbeziehungen diskutiert und zu einer Synthese geführt werden. Die Analyse erfolgt auf der Basis bedeutender wissenschaftlicher Ansätze zu diesem Thema. Eine vollständige Darlegung der umfangreichen Debatte war im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Ich gehe von der Annahme aus, dass der zentrale Ausgangspunkt für die Entwicklung einer pädagogischen Konzeption in der Erörterung der Beziehung von Mensch und Lebenswirklichkeit liegen muss, um zu einem Verständnis von Lehren und Lernen zu gelangen, das einseitige Positionen vermeidet und eine umfassende, tragfähige und der jeweiligen historischen Situation angemessene Grundlage für die Konstruktion eines Unterrichtskonzepts bietet. Unter Beziehung wird hier in Anlehnung an den neuhumanistischen Ansatz Humboldts (Humboldt 1903) und an die Position von Chien (Chien 1982) der wechselseitige Einfluss beider Seiten verstanden. Beide Autoren halten die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit im obigen Sinne für konstitutiv im Hinblick auf die Tragfähigkeit pädagogischer Konzepte. Diese Grundannahme ist dann im weiteren Verlauf der Arbeit der Bezugspunkt für alle weiteren Schritte bis hin zum Lehrplan und zu den konkreten Unterrichtsprojekten.

Im zweiten Schritt wird mit Hilfe der aus Bronfenbrenners „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ (Bronfenbrenner 1993) entnommenen vier zentralen Bereiche (Schlüsselbereiche) eine Analyse der aktuellen „Lebenswirklichkeit“ vorgenommen. Die Einschränkung auf diese vier Bereiche erfolgte in Anlehnung an Bronfenbrenner, um einen für die Zielsetzung und den Rahmen der Arbeit praktikablen Begriff zu entwickeln. Die Analyse bietet einerseits einen definitorischen Rahmen für den Begriff der „Lebenswirklichkeit“. Andererseits sollen aus dieser Analyse integrative Merkmale (Schlüsselmerkmale) entwickelt werden, die die Erwartungen und Anforderungen beschreiben, die an Erziehung und Bildung aus integrativer Sicht gestellt werden müssen.

Im dritten Schritt soll auf der Basis von zentralen psychologischen Persönlichkeitstheorien unter der oben formulierten integrativen Perspektive geklärt werden, welche Merkmale aus der Sicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Persönlichkeitstheorien die menschliche Persönlichkeit konstituieren. Diese unterschiedlichen Positionen dienen dann als Basis für die Formulierung eines integrativen Persönlichkeitsbegriffs. Damit soll geklärt werden, von welchem Grundverständnis menschlicher Persönlichkeit Lehren und Lernen auszugehen hat, um eine realistische Basis für spätere pädagogische Erörterungen zu schaffen.

Nach diesen grundlegenden Begriffsbestimmungen geht es im vierten Schritt nunmehr darum, mit Hilfe zentraler Bildungstheorien zu erörtern, welche Merkmale eine integrative Bildungskonzeption aufweisen muss. Aus der sehr umfänglichen Bildungsdebatte können nur die wichtigsten Grundpositionen in die Diskussion einfließen. Aus der Analyse der in Betracht gezogenen Theorien ergibt sich dann die Frage, welche inhaltlichen Grundpositionen ein derartiger Ansatz enthalten muss, um integratives Lehren und Lernen zu ermöglichen.

Im darauf folgenden Kapitel geht es auf der Basis der Diskussion von Lerntheorien um die Frage, was integratives Lernen ist. Dabei sollen zentrale Lerntheorien vor dem Hintergrund integrativer Bildung analysiert und zu Merkmalen eines integrativen Lernbegriffs verdichtet werden. Eine vollständige Abbildung der sehr umfangreichen Debatte zum Thema Lernen wird im Rahmen dieser Arbeit nicht angestrebt.

Sodann stellt sich die Frage, wie durch didaktische Methoden das integrative Lernen gefördert werden kann. Vor dem Hintergrund wichtiger didaktischer Grundpositionen beabsichtige ich, Merkmale integrativen Lehrens zu entwickeln. Hier können ebenfalls nur einige Grundlinien der Debatte vorgestellt werden.

Auf der Basis der vorausgegangenen Ausführungen soll dann die Skizze eines integrativen Lehrplans entworfen und begründet werden, in der die Ergebnisse der vorangegangenen Erörterungen gebündelt und strukturiert werden. Die Entwicklung eines detaillierten Lehrplans war im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten.

Schließlich werden unterrichtspraktische Beispiele aus dem Grundschulbereich vor dem Hintergrund des integrativen Unterrichtskonzepts analysiert und hinterfragt. Ebenso sollen Rückfragen aus der Praxis an die Theorie erfolgen und damit eine Dynamisierung des Konzepts ermöglicht werden. Die Unterrichtsbeispiele entstammen nicht einer systematischen Sichtung vorhandener Projekte. Dies war im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.

Abschließend wird es eine knappe Erörterung der Möglichkeiten des integrativen Unterrichtskonzeptes in der Sekundarstufe geben.

In der Schlussbetrachtung sollen die Ergebnisse noch einmal kurz zusammengefasst und ein kurzer Ausblick auf weitere Aspekte integrativen Lehrens und Lernens gegeben werden.

1. Möglichkeiten menschlicher Grundbeziehungen zur Welt – Formulierung eines integrativen Konzepts

1.1 Eine integrative Weltbeziehung – Versuch einer begrifflichen Annäherung

Es ist ein zentrales Anliegen der Erziehungswissenschaft, das Denken und Tun des Menschen in seiner Welt intensiv zu beobachten, kritisch zu bedenken und Chancen möglicher und wünschenswerter Veränderungen zu prüfen und zu formulieren.

Diese umfassende Aufgabe kann m.E. nur erfüllt werden, wenn pädagogische Konzepte vor dem Hintergrund grundsätzlicher Erwägungen hinsichtlich der Möglichkeiten des Menschen, mit der Lebenswirklichkeit Beziehungen aufzunehmen, entwickelt werden. Unter Lebenswirklichkeit soll hier sowohl die natürliche als auch die soziale, kulturelle und technische Umwelt verstanden werden, mit der der Mensch während seines gesamten Lebens in Beziehung treten muss.

Befragt man nun die einschlägige wissenschaftliche Diskussion nach den grundsätzlichen Möglichkeiten menschlicher Beziehungen zur Lebenswirklichkeit im obigen Sinn, so ergibt sich folgendes Bild:

Nach Auffassung der in dieser Frage relevanten Autoren gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Paradigmen für den Menschen, mit der Lebenswirklichkeit in Beziehung zu treten. Das eine Paradigma wird mit den Begriffen „ kooperativ, erhaltend, aufnehmend, verständnisorientiert, ichfrei“ umschrieben(vergl. Gebser 1986, S.685 ff.; Habermas 1995, S.32). Es basiert auf der Grundannahme, dass der Mensch seiner Lebenswirklichkeit als gleichberechtigter Partner gegenübertritt. Die Basis dieser partnerschaftlichen Beziehung sind Offenheit, Rücksichtnahme und Respekt.

Habermas spricht in diesem Zusammenhang von“ kommunikativer Rationalität“ (Habermas ebenda, S.33), Gebser von „integralem Bewusstsein“ (Gebser ebenda, S. 379ff.), Richter nennt es „Solidarität“(Richter 1998, S.11), Weizäcker benutzt dafür den Begriff „Vernunft“ (Weizäcker 1977, S.138), in der chinesischen Philosophie spricht man von „Yin“(Watts 1978, S.51/52), Buber nennt es „Ich-Du-Beziehung“, (Buber 1984) bei Capra ist schließlich vom „integrierenden Prinzip“ (Capra 1983) die Rede.

Das andere Paradigma wird mit den Worten „fordernd, expandierend, ichbezogen“ gekennzeichnet (vergl. Capra ebenda, S.35 und 42). Folgt der Mensch diesem Prinzip, so besteht sein Ziel in erster Linie darin, sich seiner Lebenswirklichkeit zu bemächtigen, sie zu beherrschen und für eigennützige Ziele zu benutzen.

Habermas spricht in diesem Zusammenhang von „erfolgsorientiertem Handeln“ (Habermas, ebenda, S. 32), Richter erkennt darin einen „Rivalitätsbegriff“ (Richter ebenda, S.11), Weizäcker postuliert die „Machtförmigkeit des Verstandes“ (Weizäcker ebenda, S.100), der Taoismus nennt das Prinzip „Yang“ (Watts, ebenda), Buber bezeichnet es als „Ich-Es-Beziehung“ (Buber, ebenda), Capra bringt es auf den Begriff „Selbstbehauptung“ (Capra ebenda, S.42).

An dieser Stelle ergibt sich nun die Frage, welchem Paradigma der Mensch folgen soll. Capra entwickelt dazu folgernde These: „Was gut ist, ist nicht Yin oder Yan, sondern das dynamische Gleichgewicht zwischen beiden. Ungleichgewicht ist schlecht und schädlich“ (Capra ebenda, S.33). Die Begründung für diese These bleibt Capra an dieser Stelle schuldig. Das wird in einem anderen Zusammenhang noch zu erörtern sein. Festzuhalten bleibt, dass auch andere Autoren dem Postulat von Capra prinzipiell zustimmen. Gebser fordert in diesem Zusammenhang die Integration beider Paradigmen. Er nennt das Ergebnis „integrales Bewusstsein“ (Gebser ebenda, S. 379). Auch Habermas schließt sich diesem Ansatz an und fordert die Integration von „kommunikativer und kognitiv-instrumenteller Rationalität“ (Habermas ebenda, S. 33). Richter schließlich postuliert „symmetrisches Geben und Nehmen“(Richter ebenda, S.246).

Diese Thesen sollen im Folgenden hinterfragt werden. Dabei geht es darum, zu erörtern, ob und in welcher Weise sie zu begründen sind.

Die These von Richter ist Ausgangspunkt einiger Überlegungen hinsichtlich der Folgen eines Ungleichgewichts der beiden Pole menschlichen Denkens und Handelns, weil sie am konkretesten formuliert ist. Ein Ungleichgewicht könnte dadurch entstehen, dass man beide Pole als gegensätzlich auffasst. In einem solchen Ansatz wären sie unvereinbare Alternativen, zwischen denen man sich zu entscheiden hätte. Entschiede man sich für das „Geben“, so fände menschliches Leben darin seine Erfüllung, zu teilen, Opfer zu bringen, Rücksicht zu nehmen, sich zurückzunehmen. Ohne eine derartige Beziehung zur Welt pauschal kritisieren zu wollen bzw. deren Qualitäten zu leugnen, so muss an dieser Stelle doch angemerkt werden, dass ein solches Weltkonzept in seiner Einseitigkeit problematisch sein kann, weil damit ein Verzicht auf jegliche Form der Gestaltung verbunden sein könnte. Die Gefahr passiver, fatalistischer Weltkonzepte wäre sehr groß. Individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen wären kaum möglich. Stagnation wäre die Folge. Beispiele für die Folgen einer in dieser Weise einseitigen Weltbeziehung können in steinzeitlichen Kulturen betrachtet werden (Mead 1953).

Entschiede man sich für die entgegengesetzte Position des „Nehmens“, so bestände das zentrale Konzept menschlicher Weltbeziehung darin, den egoistischen Impulsen stärkere Beachtung zu schenken, den eigenen Interessen immer Vorrang zu geben, Rücksichtnahme zu vernachlässigen und die Mitwelt unter dem Leitmotiv der Konkurrenz zu betrachten. Die Gefahren eines in dieser Richtung einseitigen Konzepts der Weltbeziehung liegen nahe. Expansive Impulse würden die Oberhand gewinnen und die Folgen wären Gewalt und Ausbeutung gegen Mitmensch und Natur.

Dies wird in Kapitel 2 noch näher zu betrachten sein. An dieser Stelle bleibt lediglich Folgendes festzuhalten: Sowohl die Dominanz des „gebenden“ als auch die Betonung des „nehmenden“ Prinzips in der Beziehung des Menschen zur Welt kann schwerwiegende gesellschaftliche und individuelle Entwicklungsstörungen verursachen. Insofern wäre Capras These zuzustimmen, wenn er sagt:

„ Sowohl Yin als auch Yang, die integrierenden und die selbstbehauptenden Tendenzen sind für harmonische gesellschaftliche und ökologische Beziehungen notwendig“ (Capra ebenda, S.42) (vergl. auch Gebser ebenda, S.86 u. Drewermann, 1981, S.117)

Nach dem bisher Ausgeführten komme ich hinsichtlich der gegensätzlichen Weltbeziehungskonzepte zu folgenden Schlussfolgerungen:

Alle für diese grundlegende Erörterung relevanten Autoren, mit Ausnahme von Buber, postulieren die Ausgewogenheit der beiden Beziehungskonzepte. Nach Bubers Auffassung ist der Mensch von seinem Wesen her auf das „Du“, den Mitmenschen, die Natur und die geistigen Wesenheiten ausgerichtet (Faber 1967, S.53). Demnach wäre der Mensch stärker dem ‚gebenden‘ als dem ‚nehmenden‘ Prinzip verpflichtet. Dieser Ansatz wird noch einmal im Zusammenhang mit der Untersuchung der gesellschaftlichen Entwicklung in Kapitel 2 näher erörtert werden.

Ich schließe mich an dieser Stelle der folgenden Position an:

Für eine harmonische individuelle und gesellschaftliche Entwicklung bedarf es der Ausgewogenheit des ‚gebenden‘ und des ‚nehmenden‘ Weltprinzips. Dieses nenne ich zukünftig integrativ.

Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Prinzips der Weltbeziehung gilt es nunmehr Leitfragen für die nachfolgenden Kapitel zu entwickeln:

1. Welche Merkmale hat eine integrative Entwicklung der menschlichen Beziehung zur Mitwelt? Dies soll Im Folgenden vor dem Hintergrund einer Bezugstheorie genauer untersucht und konkretisiert werden. Dabei sollen die oben erörterten Thesen weiter differenziert und die Begrifflichkeit konkretisiert werden. Als Grundlage dieser Erörterung dient hierbei die Theorie der „Ökologischen Entwicklung“ von Bronfenbrenner (siehe Kapitel 1.2).
2. Welche Merkmale hat eine integrative gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklung (Bezugsraum: europäisch geprägter Kulturraum)? Auf der Basis der Merkmale integrativer Entwicklung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit werden dann die zentralen gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen und ihre historischen Ursachen in Bezug auf eine integrative Perspektive in der gebotenen Kürze analysiert und im Anschluss daran konkrete Merkmale integrativer Entwicklung formuliert ( siehe Kapitel 2).
3. Welche Merkmale hat eine integrative Persönlichkeitsentwicklung? Vor dem Hintergrund psychologischer Persönlichkeitstheorien soll versucht werden, einen integrativen Begriff von individueller menschlicher Persönlichkeit zu formulieren (Kapitel 3).
4. Welche Merkmale hat eine integrative Bildungskonzeption? Auf der Basis einer weiteren Bezugstheorie sollen wissenschaftliche Bildungskonzeptionen im Hinblick auf integrative Aspekte untersucht werden. Als Grundlage dieser Erörterung dient an dieser Stelle das Bewusstseinskonzept von Jean Gebser (siehe Kapitel 4).
5. Welche Merkmale hat integratives Lernen? Vor dem Hintergrund der außerschulischen Voraussetzungen und der schulischen Bedingungen sollen in diesem Abschnitt inhaltliche Anforderungen an ein integratives Lernen mit Hilfe zentraler Lerntheorien formuliert werden( siehe Kapitel 5).
6. Welche Merkmale hat eine integrative Didaktik? Hier sollen die zentralen didaktischen Ansätze vor dem Hintergrund einer integrativen Perspektive analysiert und sodann zu einer integrativen Didaktik verdichtet werden (siehe Kapitel 6).
7. Welche Ziele, Inhalte und Methoden sollte ein integrativer Lehrplan haben? Auf der Basis der vorhergehenden Kapitel soll eine Lehrplanskizze für den integrativen Unterricht vor allem an der Grundschule entworfen werden (Kapitel 7).
8. Der oben entworfene Lehrplan soll dann auf der Basis von Unterrichtsbeispielen konkretisiert und hinterfragt werden( Kapitel 8).
9. In einem kurzen Ausblick sollen thesenartig die spezifischen Bedingungen integrativen Lehrens und Lernens in der Sekundarstufe reflektiert werden( Kapitel 9).
10. Am Ende sollen hier neben einer Zusammenfassung der Ergebnisse Möglichkeiten und Grenzen einer praktischen Umsetzung bedacht , offene Fragen formuliert und ein kurzer Ausblick auf weitere Perspektiven integrativer Unterrichtsforschung skizziert werden(Kapitel 10).

1.2 Die integrative Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit –
Formulierung konkreter Merkmale einer dynamischen Entwicklung

1.2.1 Einleitung und Problemstellung

Im folgenden Kapitel soll nunmehr auf dem Hintergrund des integrativen Beziehungsbegriffs versucht werden, Faktoren dynamischer Entwicklung zu bestimmen und sie zu Merkmalen integrativer Entwicklung der Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit weiterzuentwickeln. Dazu ist es notwendig, die Begriffe „Mensch“ und „Lebenswirklichkeit“ näher zu bestimmen und auf dieser Basis eine dynamische Perspektive zu entwickeln. Dieses Vorgehen erscheint mir notwendig, da zur Gewinnung einer pädagogischen Perspektive ein dynamischer Ansatz notwendig ist, denn Bildung und Erziehung zielen auf Veränderung ab. Zur Gewinnung eines dynamischen Ansatzes soll im folgenden Kapitel eine Leittheorie als Folie dienen. Hierzu verwende ich Bronfenbrenners „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ (Bronfenbrenner 1993). Im ersten Schritt sollen die zentralen Thesen Bronfenbrenners referiert werden, um aus ihnen heraus die konkretisierte Begrifflichkeit zu entwickeln.

Auf der Basis der erweiterten Begrifflichkeit soll sodann der integrative Beziehungsbegriff auf der Folie der Leittheorie in dynamisierter Form neu formuliert werden.

1.2.2 Die „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ nach Bronfenbrenner

Ich beginne meine Erörterungen mit einer zentralen These Bronfenbrenners, die auf die Förderung der menschlichen Entwicklung abzielt und damit eine wichtige Grundlage für das oben formulierte Anliegen dieses Kapitels liefert.

„ Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche“ (Bronfenbrenner ebenda, S.37).

Aus dieser Definition ergeben sich drei dynamische Faktoren : der aktive Mensch, die sich verändernde Umwelt und der Prozess der gegenseitigen Anpassung.

Dieser komplexe dynamische Entwicklungsprozess bezeichnet zunächst die formale Komponente eines integrativen Ansatzes. Die inhaltliche Seite liefert uns einen weiteren integrativen Aspekt. Wenn Mensch und Umwelt sich in einem gegenseitigen korrespondierenden Anpassungsprozess befinden, sind sie als prinzipiell gleichrangig zu betrachten.

Was bedeutet das nun konkret für einen komplexen dynamisch-integrativen Prozess?

- Aus der prinzipiellen Gleichrangigkeit von Mensch und Mitwelt ergibt sich zwangsläufig eine integrative Perspektive. Der Mensch kann zwar seine Umwelt gestalten und sie seinen Bedürfnissen und Interessen gemäß nutzen. Er muss dabei jedoch gleichzeitig die ihn umgebende Lebenswelt achten und schützen. Bronfenbrenner nennt das „ökologische Entwicklung“ (Bronfenbrenner ebenda, S.37). Rifkin spricht von „empathischer Zivilisation“ (Rifkin 2010, S.315ff.), Capra bezeichnet diesen Ansatz als „Lebensnetz“(Capra ebenda, S.96) und Buber postuliert das „dialogische Prinzip“ (Buber 1964, S.54; vergl. auch Faber ebenda).

- Aus dem zweifach dynamischen Prozess ergibt sich für die integrative Entwicklung nachfolgende These: Der Mensch muss einerseits in der Welt aktiv handeln und andererseits Zurückhaltung üben.

Um die obigen Thesen zu konkretisieren, werde ich nunmehr drei zentrale Bausteine des Ansatzes von Bronfenbrenner in Kürze referieren. Im Anschluss daran werde ich versuchen, Merkmale eines integrativen Entwicklungsprozesses zu formulieren.

1.2.3 Die subjektive Perspektive (Mensch)

Das erste Postulat des „gleichrangigen Entwicklungsprozesses“ führt bei Bronfenbrenner zu der Konsequenz, dass er sowohl die subjektiven (Mensch) als auch die objektiven Strukturen (Lebenswirklichkeit) mit gleicher Intensität und Differenziertheit analysiert. Die These der korrespondierenden Entwicklung führt in der Umsetzung dazu, dass die subjektiven Strukturen als konstitutive Elemente der objektiven Strukturen und umgekehrt die objektiven als konstitutiv für die subjektiven betrachtet werden. Diese Subjekt und Objekt integrierenden Prozesse nennt Bronfenbrenner „molare Tätigkeiten“. Darunter versteht er eine über eine gewisse Zeit fortgesetzte Tätigkeit, die für die sich entwickelnde Person einerseits und die Mitwelt andererseits eine Bedeutung hat (Bronfenbrenner ebenda, S.65). Dabei betrachtet er hier zunächst die subjektive Seite (Mensch) und die ihm möglichen Beziehungen zur Welt. Diese Tätigkeiten konkretisiert er in folgenden Bereichen:

-Bereich der Nichtbeteiligung. Dieser Bereich umfasst „Tätigkeiten“ wie Schlafen, Ruhen, Warten (Bronfenbrenner ebenda, S.65). Denkbar wären in diesem Zusammenhang auch Schweigen und Tagträumen.
-Bereich der Widmung von Aufmerksamkeit ohne aktive Beteiligung. Zu diesem Bereich nennt Bronfenbrenner keine Beispiele. Diesem Bereich der stillen geduldigen Aufmerksamkeit kommt jedoch in einer integrativen Perspektive große Bedeutung zu. Hier bleibt Bronfenbrenner unkonkret und nicht überzeugend, denn der von ihm selbst geforderte ausgewogene Entwicklungsprozess ist auch auf die passive Seite der Entwicklungsmöglichkeiten angewiesen. Denkbar wären in diesem Zusammenhang Formen der konzentrierten Beobachtung wie Meditation und Kontemplation. Hierzu wird an anderer Stelle noch ausführlicher Stellung bezogen.
-Bereich der aktiven Beteiligung. Diesem Bereich widmet Bronfenbrenner besondere Aufmerksamkeit. Die von ihm in diesem Zusammenhang dargestellten Beispiele sind sehr konkret und ausführlich formuliert. Sie illustrieren und belegen, was Bronfenbrenner unter „ökologischer Entwicklung“ aus der subjektiven Perspektive versteht. „Eine Arbeit getan zu haben, auf die ein anderer angewiesen war (…), ein Baby betreut oder auch nur im Arm gehalten zu haben (…), sich (…) um einen Menschen gekümmert zu haben, der alt, krank oder einsam war (…), jemandem der wirklich Hilfe brauchte, Trost gebracht oder geholfen zu haben,…Fertigkeiten (…) gelernt zu haben, die man braucht, um anderen Menschen zu helfen und sich um sie zu kümmern“ (Bronfenbrenner ebenda, S. 68). An dieser Stelle greift Bronfenbrenners Konzeption zu kurz. Hier geht es zu sehr um die individuelle Perspektive. Es fehlen gesellschaftliche und politische Dimensionen, wie sie bei Konzeptionen nachhaltiger Entwicklung im Focus stehen (vergl. hierzu Hauenschild/Bollscho, 2009 und Kaufmann-Hayoz et al. 2002).Betrachtet man das Element der „molaren Tätigkeiten“ vor dem Hintergrund integrativer Entwicklung der Beziehungen von Mensch und Lebenswirklichkeit, so lässt sich Folgendes festhalten:
-Integrative Entwicklung benötigt viel Zeit, damit ein korrespondierender Prozess stattfinden kann, der durch Ruhe und Intensität geprägt ist.
-Integrative Entwicklung muss als Prozess des Handelns im Interesse der Mitwelt angelegt sein. Hier müssen gesellschaftliche und politische Dimensionen mit bedacht werden. Das aktive Einwirken des Menschen auf seine Umwelt muss durch ein passives Element der Zurückhaltung und der Rücksichtnahme begleitet werden. Dieser Prozess muss einheitlich sein.

Das zweite zentrale Element der „ökologischen Entwicklung“ nennt Bronfenbrenner

das „dyadische Prinzip“. Darunter versteht Bronfenbrenner eine wechselseitige und

in Bezug auf die Kräfteverhältnisse ausgewogene und emotional positiv besetzte

Entwicklung (Bronfenbrenner ebenda S. 72 f.).

Die Wechselseitigkeit impliziert, dass jeder „seine Tätigkeit auf die des anderen

abstimmen“ muss (Bronfenbrenner ebenda, S.72). Für eine integrative Entwicklung reicht dies jedoch nicht aus. Eine integrative Entwicklung geht nicht von einem

wechselseitigen Prinzip, sondern von einem einheitlichen Vorgang aus. Das

bedeutet, dass der Andere von vorherein mit einbezogen werden muss. Auch das Postulat der ausgewogenen Kräfteverhältnisse ist keine unbedingte Voraussetzung für eine integrative Entwicklung, denn ein Kind oder ein behinderter Mensch verfügt nicht über die Kräfte, die das „dyadische Prinzip“ fordert. Auch eine emotional positiv besetzte Entwicklung ist für eine integrative Entwicklung nicht erforderlich. Gerade

ambivalente Gefühle entsprechen einem integrativen Ansatz mehr als einseitig

positive.

„Die Notwendigkeit solcher Abstimmung fördert beim kleinen Kind nicht nur den

Erwerb interaktiver Fertigkeiten, sie regt auch die Bildung einer Vorstellung von

wechselseitiger Abhängigkeit an (…)“ (Bronfenbrenner ebenda S.72). Auch hier gehen die Thesen Bronfenbrenners nicht weit genug. Abhängigkeit und ihr Gegenteil, die machtvolle Begegnung von Mensch und Welt, werden in einem integrativen Ansatz zu einer innigen Verbundenheit.

Fassen wir das Ausgeführte vor dem Hintergrund der integrativen Entwicklung

zusammen, so lässt sich Folgendes feststellen:

-Integrative Entwicklung ist ein einheitlicher Prozess, bei dem subjektive und objektive Interessen verschmelzen. Die von Bronfenbrenner postulierte Erfahrung von Macht und Abhängigkeit wird zu einer einheitlichen Ebene der Verbundenheit.
-Integrative Entwicklung umfasst alle rationalen und affektiven Bewusstseinsebenen, positive wie negative. Ein Entwicklungsschritt darf auch von Frustration, Trauer und Schmerz begleitet werden (vergl. Hierzu auch Maslow, 2008, S.199). Dies wird in Kapitel 3 noch näher zu erörtern sein.

1.2.4 Die objektive Seite (Lebenswirklichkeit)

Über die bereits erwähnten Konzepte der „molaren Tätigkeit“ und der „dyadischen

Weltbeziehung“ hinaus formuliert Bronfenbrenner in seiner „ökologischen“ Entwicklungskonzeption eine dritte Dimension. Sie bezieht sich vor allem auf die objektive Seite der integrativen Entwicklung. Ich bezeichne sie im Unterschied zu anderen Autoren nicht als Lebenswelt (vergl. hierzu Chien 1982, S.54), sondern bewusst als Lebenswirklichkeit, weil, wie oben bereits ausgeführt, nicht nur der Mensch auf seine Umgebung einwirkt, sondern die Umgebung auch auf ihn. Deshalb wird in dieser Arbeit der Begriff „Lebenswirklichkeit“ verwendet. Hier geht es nun vor allem um die Strukturen der Lebenswirklichkeit, die, wie schon erwähnt, vor dem Hintergrund der Wechselwirkung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit zu sehen sind. Das Modell der Lebenswirklichkeit, so wie Bronfenbrenner sie sieht, besteht danach aus einer „ineinander geschachtelten Anordnung konzentrischer, jeweils von der

nächsten umschlossener Strukturen (…). Diese Strukturen werden als Mikro-, Me so-, Exo- und Makrosysteme bezeichnet (…).“ (Bronfenbrenner ebenda, S.38).

Das Mikrosystem bezeichnet dabei den primären Bereich der Lebenswirklichkeit

eines Menschen, in dem ein „Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten und zwischenmenschlichen Beziehungen“ von der „in Entwicklung begriffenen Person erlebt“ wird

(Bronfenbrenner ebenda, S.38). Vereinfacht formuliert handelt es sich hierbei um den unmittelbaren und alltäglichen Lebensbereich jedes Menschen. In diesem Bereich besteht aufgrund der unmittelbaren Nähe die Möglichkeit der direkten wechselseitigen Wirkung zwischen dem Menschen und seiner Lebenswirklichkeit. Dabei besteht eine ambivalente Beziehung. Einerseits bezeichnet dieser Bereich den Schutzraum der Intimsphäre, in dem ein Mensch sich sicher und geborgen fühlen kann. Andererseits ist durch die Nähe zu anderen Menschen der Einfluss (positiv und negativ) und die unmittelbare Abhängigkeit besonders stark spürbar. Die Dynamik dieser Ebene ist gering. Hier herrscht ein eher passives Beziehungsmuster.

Das Mesosystem umfasst nach Bronfenbrenner „die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis)“ (Bronfenbrenner ebenda, S. 41).

Entwicklungsfördernd im Sinne Bronfenbrenners sind sie nur dann, wenn „ die Prozesse des Austausches zwischen den Lebensbereichen in beiden Richtungen verlaufen, gegenseitiges Vertrauen und Zielübereinstimmung erhalten und fördern und Kräfteverhältnisse zugunsten der personellen Verbindungen, die das Geschehen im Sinne der sich entwickelnden Person beeinflussen“ (Bronfenbrenner ebenda, S.209). Das bedeutet: Vielfältige wechselseitige Beziehungen zur Nachbarschaft, auch zu anderen Kulturen, Kontakte zu Einrichtungen des Stadtteils (Kirche, Krankenhaus, Altenpflegeheim u.a.m.) sind in diesem Sinne als förderlich für die Entwicklung einer Person zu bezeichnen. Je intensiver der Kontakt, der offene Austausch und die persönlichen Beziehungen, desto besser ist das für die Entwicklung.

Befassen wir uns nun mit einem weiteren Bereich dessen, was wir Lebenswirklichkeit

genannt haben, nämlich dem Außenbereich, dem Exosystem, wie Bronfenbrenner ihn bezeichnet. Das Exosystem ist nach Bronfenbrenner „ein Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht“ (Bronfenbrenner ebenda, S. 209). Beispielhaft für diesen Bereich nennt Bronfenbrenner unter anderem Familienverhältnisse (Kinderzahl, alleinerziehende Elternschaft, Wohnverhältnisse, Medienkonsum) (Bronfenbrenner, ebenda, S. 226).

Ergänzend dazu müssen hier auch die natürlichen Lebensbedingungen mit betrachtet werden. Entwicklungsfördernd sind nach Bronfenbrenner nur diejenigen Strukturen, in denen den „Beteiligten direkte und indirekte Verbindungen zu Lebensbereichen der Macht offenstehen, die es ihnen erlauben, Unterstützungen und Entscheidungsfindungen den Bedürfnissen der sich entwickelnden Person und den Bestrebungen ihrer Vertreter entsprechend zu beeinflussen“ (Bronfenbrenner ebenda, S. 240).

Vor dem Hintergrund einer integrativen Perspektive bedeutet das, dass die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse so strukturiert sein müssen, dass die Bürger in wichtigen Fragen in Bezug auf die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und natürlichen Bedingungen der Lebenswirklichkeit auf Entscheidungen Einfluss nehmen können. Dies wird in Kapitel 2 noch näher zu erörtern sein.

Kommen wir nunmehr zum letzten großen Bereich der Lebenswirklichkeit, dem Makrosystem , wie Bronfenbrenner es nennt, das „die Subkultur oder ganze Kultur (…) einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ umfasst (Bronfenbrenner ebenda, S. 42). Damit sind zentrale und prägende Weltanschauungen, Ideologien und religiöse Prägungen gemeint (siehe Kapitel 2).

Für die integrative Perspektive bedeutet dies: Kulturelle Prägungen dürfen nicht zu einem Ausschluss anderer kultureller Konzepte führen. Ein integrativer Ansatz befördert wechselseitige Offenheit und die Bereitschaft zur Entwicklung einer neuen Kultur auf der Basis von Geben und Nehmen.

1.2.5 Merkmale integrativer Entwicklung –
Zusammenfassung und Ausblick

-Da Mensch und Lebenswirklichkeit prinzipiell gleichrangig sind, müssen alle Handlungen des Menschen die Folgen seines Handelns mit einbeziehen (Merkmal: Gleichrangigkeit, Verantwortung). Andernfalls kann es zu schwerwiegenden Störungen der Beziehungen zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit kommen (Beispiel: Naturzerstörung).
-Das Dasein des Menschen in der Welt ist möglich in Form der Nichtbeteiligung, der Aufmerksamkeit ohne aktive Beteiligung und durch aktive Beteiligung (Merkmal: Aktivität).
-Die Beziehung von Mensch und Lebenswirklichkeit ist ein Dialog, der die Interessen beider Seiten gleichermaßen berücksichtigt (Merkmal: Ausgewogenheit).
-Die Lebenswirklichkeit ist nach Bronfenbrenner in vier in enger Beziehung stehende Bereiche aufgeteilt.

Mikrosystem : Bereich der engeren persönlichen Umgebung (Eltern, Geschwister, Ehepartner)(Merkmal : Geborgenheit, Zugehörigkeit, Verbundenheit)

Mesosystem : Bereich der Nachbarschaft, Schule, Arbeitsplatz (Merkmal: Austausch, Offenheit, Vertrauen)

Exosystem : Bereich der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen kulturellen und natürlichen Lebensbedingungen (Merkmal: Transparenz ,Einfluss auf Entscheidungen)

Makrosystem : Bereich der Weltanschauungen, Ideologien, religiösen und philosophischen Prägungen (Merkmal: Offenheit, Bereitschaft zum Geben und Nehmen).

Im Kapitel 2 werden nun zunächst die vier Bereiche der Lebenswirklichkeit (objektive Seite) unter der Fragestellung untersucht, wie eine integrative Entwicklung aussehen könnte. Dabei werden die gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse vor dem Hintergrund ihrer ideologischen, religiösen und philosophischen Ursachen analysiert. Sodann wird auf dem Fundament des integrativen Paradigmas nach Merkmalen einer integrativen Perspektive gefragt.

In Kapitel 3 wird es sodann um die subjektive Seite gehen. Dabei sollen auf der Basis wissenschaftlicher Persönlichkeitstheorien Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung formuliert werden.

2. Merkmale integrativer Entwicklung der Lebenswirklichkeit

2.1 Einleitung und Fragestellung

Nachfolgendes Kapitel soll die in Kapitel 1.2 herausgearbeiteten Merkmale integrativer Entwicklung der vier Bereiche der Lebenswirklichkeit weiter konkretisieren, um Möglichkeiten und Grenzen einer pädagogisch-unterrichtlichen Perspektive auszuloten und Kriterien für die inhaltliche Konzipierung eines integrativen Lehrplans unter besonderer Berücksichtigung des Primarbereichs zu entwickeln. Hier geht es also um die weitere Konkretisierung des Begriffs der Lebenswirklichkeit vor dem Hintergrund des integrativen Ansatzes. Dies soll im Folgenden abschnittsweise für alle vier Bereiche geschehen, die in Kapitel 1.2 mit Hilfe von Bronfenbrenner herausgearbeitet worden sind. Dabei kann es in diesem Rahmen nicht darum gehen, eine umfassende und vollständige Analyse der Lebenswirklichkeit zu erarbeiten. Es soll an dieser Stelle lediglich geklärt werden, welche zentralen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Diskussion erörtert werden. Sodann wird der Versuch gemacht, mit Hilfe der oben gewonnenen Merkmale integrativer Entwicklung, pädagogische Konsequenzen im bereits erwähnten Sinne zu ziehen. Diese Merkmale werden die zentrale Orientierung für den zu entwickelnden Lehrplan sein und die Richtung des schulpädagogischen Konzepts angeben.

2.2 Der Bereich der engeren persönlichen Umgebung

Dieser Bereich umfasst in erster Linie die engere familiäre Situation. Sie soll, ohne den Anspruch auf eine vollständige und umfassende Erörterung zu erheben, mit dem Ziel betrachtet werden, zentrale und hinreichend gesicherte Erkenntnisse mit den integrativen Kriterien Geborgenheit, Verbundenheit und Zugehörigkeit zu konfrontieren.

Analysiert man die wissenschaftliche Debatte in Bezug auf die Situation der Kinder in den Familien, so ergibt sich folgendes Bild:

„Das ist sie, die westliche Gesellschaft: an der Oberfläche bunt und glänzend, darunter aber morsch und zerbrechlich. Auch in den kleinsten Einheiten, den Familien, zeigt sich das “ (Miegel 2010, S.137). Dieses Urteil wird von vielen in der Sache kompetenten Autoren geteilt (vergl. auch Schmidt-Denter/Beelmann 2010; Plewnia 2001; Scheerer 2010). Mögliche Gründe für diese Ansicht sind schnell genannt:

-Jede zweite Partnerschaft scheitert (Miegel ebenda, S.137), (vergl. Schmidt-Denter/Beelmann; Plewnia ebenda). Das bedeutet aber auch, dass jede zweite Partnerschaft hält.
-20% der Familien sind laut Armutsbericht des BMAS und Bericht des BMFSFJ zum Thema Alleinerziehende unvollständig, das heißt, ein Elternteil lebt nicht mit der Familie zusammen (vergl. Miegel ebenda, S.137). Andererseits sind demnach 80% vollständig.
-Immer mehr Eltern wollen Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Immer früher werden Kinder in Betreuungsinstitutionen abgegeben (Vergl. Scheerer, ebenda, Miegel ebenda, S.139). Dazu ist anzumerken, dass sich nicht jede Betreuung zum Nachteil des Kindes auswirken muss, zum anderen gilt das oben Gesagte nicht für alle Familien
-20% der Kinder sind nach von Miegel zitierten Untersuchungen psychisch auffällig (Miegel ebenda, S.145). Geht man von diesem Prozentsatz aus, so ist das sicherlich alarmierend. Zu beachten ist jedoch, dass die Ursachen vielfältig und individuell unterschiedlich ausgeprägt sind. Zum anderen bedeutet die obige Zahl, dass 80% nicht psychisch auffällig sind, zumindest in keiner der einschlägigen Statistiken auftauchen.
-Es findet kein ausreichender Spracherwerb statt. Jedes 4. Kind in der Grundschule kann nicht ausreichend lesen. Zwei Drittel der türkischstämmigen Migrantenkinder können nach der Grundschule nicht angemessen lesen (Miegel, ebenda, S. 132; Boston Consulting Group, Standortfaktor Bildungsintegration, 2009, S. 29, in: Miegel ebenda S. 132; Elger/ Kneip/ Theile 2009 in: Miegel ebenda, S. 132). 37 % der Kinder bekommen niemals etwas vorgelesen(Deutsche Bahn/Zeit/Stiftung 2008, S.11).
-Hektik, Unruhe und Vernachlässigung der kindlichen Bedürfnisse infolge der Doppelbelastung der Mütter stellen ein weiteres Problem dar. Hierin sehen viele Pädagogen und andere Experten Gefahren für die kindliche Entwicklung wie Konzentrationsschwächen, ADHS-Syndrom, emotionale und soziale Störungen u.a.m. (vergl. Deutsches Kinderhilfswerk 2006, S. 6; Winterhoff 2009, S.107 ff.; Hölling u.a. 2007, S. 784-793 zit. nach Miegel 2010). Andere Fachleute bestreiten den ursächlichen Zusammenhang mit den genannten Störungen und sehen in der frühkindlichen Kinderkrippenerziehung eine Alternative für den familiären Elementarprozess(vergl. Freiberg 1988; Schubert 1996, S.83).
-Viele einschlägige Autoren unterstellen eine tiefgreifende Verunsicherung in der Gesellschaft, was Erziehungsleitbilder und -methoden betrifft (vergl. Rogge 2010; ders.2004). Eine Fülle von Erziehungsratgebern ist die Folge dieser verbreiteten These. Das Wort von der Krise in der Erziehung macht die Runde (Arendt 2000; Bönsch 2006).
-In der pädagogischen Literatur sind die Meinungen in Bezug auf zu hohen Leistungsdruck sehr gespalten. Während die eine Seite die zu hohen Erwartungen der Eltern in Bezug auf schulische Leistungen kritisiert, halten viele Autoren in der aktuellen Debatte hohe Leistungserwartungen für nicht kontraproduktiv im Hinblick auf die kindliche Entwicklung, wobei sich der Begriff Leistung in der Regel auf kognitive Fähigkeiten bezieht. Integrativ: Einseitigkeit schadet (vergl. Struck 2000, S.14; Hurrelmann 2003).
-Miegel beklagt das Schwinden der Kreativität infolge mangelnder Erfahrungen im Singen und Musizieren (Miegel ebenda, S.147). Diese Feststellung mag für viele Kinder zutreffen. Allerdings gibt es auch eine große Anzahl von Eltern, die ihren Kindern privaten Musikunterricht angedeihen lassen (vergl. Mehlig 1996).
-Eine Freizeit der Kinder, die zunehmend von strukturierten Kursangeboten besetzt wird, wird von einigen Autoren kritisch gesehen (vergl.Rolff /Zimmermann 1997). Das Ergebnis gemäß dieser Ansicht: Trennung vom Alltagsgeschehen und von der sozialen und natürlichen Umwelt. Die Gegenposition sieht darin einen Gewinn für die betroffenen Kinder. Sie halten dies für eine sinnvolle Ergänzung der schulischen Angebote( vergl. Mehlig ebenda; Ahlemann 2011).
-Das zunehmende Ausmaß der Nutzung elektronischer Medien durch Kinder wird von vielen Autoren sehr kritisch gesehen (Postman 1997, Mander 1979, Hentig v. 2002; Rolff 2008; Müllert 1982). Die von den Autoren genannten Folgen wie Verlust von Wechselseitigkeit und unmittelbarer Weltbeziehung, Computersucht, Schwinden von langfristigen Beziehungen ergeben ein sehr problematisches Szenario. Deshalb warnen viele Medienwissenschaftler vor einer zu frühen und zu intensiven Nutzung. Andere Fachleute sehen in den neuen Medien neue Lernchancen und eine Erweiterung der Kontaktmöglichkeiten. Sie fordern die Förderung der Medienkompetenz von der ersten Klasse der Grundschule an (vergl. Schorb 2009; Hugger 2010; Krauthausen 2012).

Vor dem Hintergrund der integrativen Merkmale ergibt sich daraus folgendes Bild:

Merkmal Geborgenheit

Die Situation in einigen Familien ist durch Indizien gekennzeichnet, die auf erhebliche Defizite in diesem Basismerkmal integrativer Entwicklung schließen lassen. Hektik und Unruhe infolge der Doppelbelastung der Mütter in vollständigen Familien und in Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil gleichermaßen führen zu einem akuten Mangel an Zeit füreinander. Das führt zu einer andauernden Situation des Alleinseins, des nebeneinanderher Lebens und der Verkümmerung der sozialen und emotionalen Beziehungen in der Familie. Kinder, die einer solchen Situation über längere Zeit ausgesetzt sind, erleiden Störungen im emotionalen und sozialen Bereich. Sie kommen dann oft mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen in Kindergärten und Schulen (Winterhoff ebenda, S.81ff.; Schubert 1996; Ettrich 2007). Sie können sich kaum auf strukturierte Lernsituationen konzentrieren, haben ein geringes Selbstbewusstsein, eine ebenso geringe Ausdauer und eine kaum ausgeprägte Fähigkeit, Frustrationen zu bewältigen und sich in einer größeren Lerngruppe zu orientieren (Schubert 1996; Ettrich 2007). Andererseits gibt es einen erheblichen Teil an Familien, in denen die Eltern oder zumindest ein Elternteil Zeit für ihre Kinder haben, wo man mit den Kindern, spricht, spielt, singt, vorliest, lacht und weint, kurz, wo Kinder ein gelungenes Maß an Geborgenheit erfahren und zu stabilen, emotional, sozial und kognitiv gut entwickelten Menschen heranwachsen (Engfer 1991; Motschmann 1986). Die einseitige Fixierung auf negative Entwicklungen in der Gesellschaft führt zu Kurzschlüssen und Einseitigkeiten in den bildungspolitischen und schulpädagogischen Schlussfolgerungen. Das kann zu untauglichen und realitätsfernen Konzepten beitragen. Dies wird in den Kapitel 4,5 und 6 noch ausführlicher zu erörtern sein.

Eine integrative Pädagogik jedenfalls muss unbedingt bestrebt sein, diese Einseitigkeiten zu vermeiden und zu Konzepten zu gelangen, die sowohl die defizitäre wie gelungene Entwicklung in Bezug auf Geborgenheit verbinden und dafür sorgen, dass Kinder mit Defiziten von stabilen Kindern profitieren können und dass stabile Kinder lernen, abzugeben, zu helfen, Rücksicht zu nehmen.

Einen aktuellen Ansatz in dieser Richtung bietet die Inklusionspädagogik, die das ausdrückliche Ziel formuliert, Kinder mit körperlichen, psychischen und geistigen Beeinträchtigungen gemeinsam mit gesunden Kindern zu unterrichten (Schwohl 2010; Thoma 2009; Domisch 2012). Doch diese Betrachtungsweise kann nur der erste Schritt zu einer integrativen Pädagogik sein. Dazu müssen unsere Ausführungen im Folgenden noch weiter differenziert werden. Das Raster der bisherigen Erörterungen ist noch zu grob. Wenden wir uns deshalb dem nächsten Merkmal zu.

Merkmal Verbundenheit

Integrative Pädagogik darf nicht ausschließlich, wie oben bereits erwähnt, von Defiziten ausgehen, wie das Münzinger und Klafki mit ihren Schlüsselproblemen tun (vergl. hierzu Münzinger 1995; Klafki 2007), sondern muss auch das Gelungene mit in die Betrachtung einbeziehen. Das habe ich versucht oben deutlich zu machen. Betrachtet man unter dieser Perspektive die aktuelle Debatte, so muss man feststellen, dass grundsätzlich alle Kinder Stärken und Schwächen haben, auch diejenigen, die vor dem Hintergrund des Merkmals Geborgenheit bessere Entwicklungsbedingungen haben. Am Beispiel des Merkmals Verbundenheit soll das im Folgenden weiter ausgeführt werden. Aufgrund der individuell verschiedenen Bedingungen jedes einzelnen Kindes hinsichtlich Familienkonstellation (siehe oben), Wohnort (naturnah oder nicht), Beruf der Eltern, Erziehungskonzeptionen der Eltern (Leistungserwartungen oder kreative Schwerpunkte), Urlaubsplanung, Konsumveralten, Suchtverhalten haben Kinder sehr individuelle Möglichkeiten sich zu entwickeln und sich mit der natürlichen, sozialen, kreativen Umwelt zu verbinden. Diese unterschiedlichen Verbindungen führen zu sehr individuellen Stärken und Schwächen. Dabei kann nicht von vornherein angenommen werden, dass für die Entwicklung ungünstige Bedingungen in jedem Fall negative Entwicklungen des Kindes zur Folge haben. Darüber hinaus kann man nur im Extremfall davon ausgehen, dass alle Bedingungen, unter denen ein Kind aufwächst, ungünstig sein müssen. Umgekehrt lässt sich auch nicht pauschal behaupten, dass äußerlich günstige Bedingungen immer zu guten Entwicklungsergebnissen führen müssen. Eine solche Sicht würde einerseits genetische Aspekte in unzulässiger Weise negieren. Andererseits bliebe dabei unberücksichtigt, dass eine Betrachtung von äußeren Faktoren wie Stabilität der Familie, ein Wohnort in guter Lage, gebildete Eltern noch nicht prinzipiell günstige Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern produzieren. Wichtig wäre auch die Betrachtung der inneren Faktoren wie Wertschätzung, Geborgenheit, Zusammenhalt. Andererseits können sich Faktoren wandeln. Die Stabilität muss nicht dauerhaft sein, ein Wohnort weit außerhalb der Stadt kann Nachteile im Hinblick auf soziale Kontakte vor allem bei älteren Kindern mit sich bringen. Weiterhin bedeuten negative Erlebnisse, Krisen ja katastrophale Ereignisse wie Trennung der Eltern nicht automatisch eine Bedingung für eine negative Entwicklung eines Kindes. In diesem Zusammenhang sei auf Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Auswirkungen von Frustrationserlebnissen verwiesen (vergl. hierzu Rutishauser 1994). Bedingungen sind nur schlecht, wenn Kinder darunter leiden. Schwierigkeiten oder Widerstände führen aber nicht automatisch zu negativen Entwicklungen, sondern können Kinder auch stark machen (Rutishauser ebenda; Weber 1994). Es muss jedoch gewährleistet sein, dass diese Widerständigkeiten in einer Atmosphäre der Wertschätzung stattfinden. Integrative Pädagogik muss also individualisieren, in dem sie Stärken und Schwächen bei allen Kindern unterstellt. Sie darf jedoch nicht, wie es aktuelle Individualisierungskonzepte (Boyken 2010; Kron & Horacek 2009; Laue 2007; Lischewski & Müller 2006; Götz 2005; Kippele 1998) tun, diese Individualität nur auf kognitive Fähigkeiten beschränken, sondern muss alle Fähigkeiten der Kinder einbeziehen. Zum anderen, und das erscheint mir noch wichtiger, darf integrative Pädagogik die Individualität keinesfalls nur dazu nutzen, die individuellen Fähigkeiten nur zu verstärken und dadurch die Kinder noch weiter voneinander zu entfernen (vergl. auch Kleiter 1999), sondern sie muss dafür sorgen, dass individuelle Fähigkeiten auch zum Nutzen der übrigen Kinder wirksam werden und auf diese Weise die soziale Verbundenheit in der Gruppe stärken(Geben und Nehmen).

Merkmal Zugehörigkeit

Betrachtet man die Situation von Kindern unter diesem Aspekt, so lässt sich zunächst Folgendes feststellen: Die wissenschaftliche Analyse der Situation von Kindern in Deutschland und insgesamt in der westlichen Welt ist in der Regel geprägt von einer negativen Perspektive. Man geht fast immer von Defiziten aus, um sodann auf dieser Basis kompensatorische Konzepte zu entwickeln. Dabei beachtet man einerseits nicht, dass oft nur eine Minderheit von diesen Defiziten betroffen ist, andererseits Defizite nur die eine Seite der Betrachtung beschreiben. So ist beispielsweise in den letzten Jahren die Debatte zur Situation der Behinderten oft unter dem Aspekt der Integration betrachtet worden, weil man den Grad der Zugehörigkeit der Minderheit (behindert) zur Mehrheit (nicht behindert) verbessern wollte (vergl. hierzu Dumke 1993; Lanfranchi 2012; Cowlan 1994). Indem man Behinderte überhaupt als Minderheit betrachtet, vermindert man schon im Ansatz den Grad der Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft. Problematisch erscheint mir auch, von dem Paradigma „Defizit in Bezug auf eine Norm“, auszugehen, da dies eine willkürliche Vorgehensweise impliziert. Unter dem integrativen Merkmal Zugehörigkeit muss jedoch folgendes festgehalten werden.

· Der Ausgangspunkt von einer Perspektive der Defizite und dem Status als Minderheit führt nur zu kompensatorischen Ansätzen, also zu einem Zugehörigkeitsstatus posteriori.

· Betrachtet man Zugehörigkeit als Status, die jedem Menschen zukommt, ganz gleich, welche individuellen Stärken und Schwächen er hat, so gelangt man zu einem integrativen Zugehörigkeitsstatus apriori. Die aktuellen Konzepte der Inklusionsdebatte (vergl. hierzu Schwohl ebenda; Thoma ebenda; Domisch ebenda) gehen in die richtige Richtung, bleiben aber immer noch der Defizitdebatte verhaftet. Integrativ betrachtet müssten pädagogische Debatten zunächst davon ausgehen, was allen Kindern gemeinsam ist, um davon ausgehend pädagogische Konzepte zu entwickeln, die das Gemeinsame betonen. Integrative Bildung und Erziehung ist also nicht kompensatorisch orientiert, sondern egalitär. Sie teilt nicht auf in Minderheit und Mehrheit, sondern gibt jedem Kind einen einheitlichen Zugehörigkeitsstatus. Fazit: Für die in Kapitel 4 zu führende bildungstheoretische Debatte ergeben sich folgende grundlegende paradigmenverändernde Merkmale integrativer Bildungsansätze:

-Integrative Bildung und Erziehung geht von Stärken und Schwächen der Kinder gleichermaßen aus. Diese individuellen Stärken und Schwächen sind nicht nur auf einer rein kognitiven Leistungsebene zu betrachten, sondern müssen alle Bewusstseinsschichten umfassen.
-Individuelle Stärken dürfen nicht nur dem Lernfortschritt des einzelnen Schülers dienen, sondern müssen auch den Mitschülern zu gute kommen. Dieses Geben und Nehmen im Vollzug des Lernvorgangs stärkt die soziale Verbundenheit in der Lerngruppe und das Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen.

2.3 Der Bereich der öffentlichen Erziehung und Bildung

Für diesen Bereich gibt es eine fast unüberschaubare Diskussion der unterschiedlichsten Konzepte, die, ausgehend von einer post Pisa geführten bildungspolitischen Debatte mit teilweise gegenläufigen Tendenzen, zu einem auch von einem Teil der pädagogischen Wissenschaft unterstützten Reformaktionismus mit ungewissem Ausgang geführt hat. An dieser Stelle scheint ein Innehalten und gründliches Besinnen in einem herrschaftsfreien Diskurs nach Habermas (vergl. Habermas 1995) auf pädagogisch Sinnvolles angezeigt. Bevor nun die Hauptstränge der aktuellen Debatte vor dem Hintergrund der integrativen Merkmale Transparenz, Offenheit, Ganzheitlichkeit analysiert werden, möchte ich drei Hauptrichtungen der Debatte in Deutschland kurz skizzieren:

2.3.1 Die Reformdebatte der Schulstrukturen im Grundschulbereich

Die Frage nach der Struktur der staatlichen Bildungseinrichtungen ist nach der ersten großen Bildungsdebatte in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion und anschließend auch der bildungspolitischen Debatten getreten. Ausgehend von der durch den Pädagogen Picht ausgerufenen „Bildungskatastrophe“ (vergl. Picht 1965), die im Zusammenhang mit dem sogenannten „Sputnikschock“ (1. Satellit im Weltraum durch die damalige UdSSR 1957) stand, war diese Debatte vor allem fokussiert auf den Begriff der „Chancengleichheit.“ Dieser kritische Forschungsansatz zielte auf die Analyse der sozio-ökonomischen Bedingungen und deren Folgen für die Chancen, an Bildung zu partizipieren. Die zentrale These dieser Debatte war: Je niedriger der sozio-ökonomische Status eines Kindes, desto geringer sind seine Chancen, zu einem höheren Bildungsabschluss zu gelangen (vergl. hierzu Böhm 2007; Kampshoff 2002; Benner 2011; Reble 2004). Diese Diskussion mündete dann in der Einrichtung von vielen Gesamtschulen, die neben dem traditionellen gegliederten Schulsystem bestanden und denen man vor allem die Realisierung des Ziels „Chancengleichheit“ zuwies. „Chancengleichheit“ wurde somit verkürzt auf das Strukturkonzept ‚gemeinsames Lernen‘. Die zwar postulierte aber nie konkret nachgewiesene Erfolgsbilanz dieser Entwicklung wurde dann durch die erste Pisa-Studie 2000 in Frage gestellt. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass die in der Strukturreform der 1970er Jahre anvisierten Ziele nicht erreicht wurden (vergl. hierzu Baumert 2006; Prenzel 2008). Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig. Manche Kritiker weisen zurecht darauf hin, dass die Gesamtschulen oft in sozialen Brennpunkten eingerichtet wurden und damit das von den Lernbedingungen und von der Schülerpopulation her einem Gymnasium in einem „besseren“ Stadtteil von vorherein unterlegen waren (vergl. hierzu Prenzel ebenda). Nach dem „Pisaschock“, der von vielen Autoren so interpretiert wurde, dass Chancengleichheit nicht erreicht worden war und außerdem der Leistungsstandard in ausgewählten Bereichen im Vergleich mit anderen Ländern niedrig blieb (vergl. Prenzel ebenda). Andere Autoren beurteilten die Pisa-Ergebnisse kritisch und sahen darin eine einseitige Fixierung der Schulpolitik auf diese Ergebnisse und eine Instrumentalisierung der Bildungspolitik als Wirtschafts- und Sozialpolitik (Krautz 2007, S.45 ff.). „Der Befund ist recht eindeutig. Pisa zielt auf rein zweckorientiertes Denken und ökonomische Verwertbarkeit von funktionalem Wissen“ (Krautz ebenda, S. 82; vergl. auch Fuhrmann 2004, S.222).

Die nur auf einen bestimmten Ausschnitt fokussierte Diskussion in der Öffentlichkeit blieb jedoch weiterhin Leitfaden der Bildungspolitik in Deutschland. Diesbezügliche Einwände und Hinweise auf positive Entwicklungen vor allem in der Grundschulpädagogik in den 70er, 80er und 90er Jahren wurden kaum beachtet (z.B. Integration), „Öffnung der höheren Bildungsabschlüsse für größere Bevölkerungskreise“ (Krautz ebenda, S.47). Folgerichtig wurde deshalb nun ein neuer Anlauf gemacht, das alte Ziel, erweitert um das Problem der Migration, zu erreichen und das neue Ziel „Verbesserung des Leistungsstandards“ auf der Basis der Pisa-Ergebnisse zu realisieren. Viele Autoren üben jedoch fundamentale Kritik an den Pisa-Tests. Jochen Krautz kommt bei seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass die Pisa-Tests ausschließlich „auf zweckrationales Denken und ökonomische Verwertbarkeit“(Krautz ebenda, S.82) abzielen. Manfred Fuhrmann meint: „Der Idealtyp des Pisa-Test ist derjenige, der sich später einmal am besten in der Industrie, der Technik und der Wirtschaft auskennen wird. Von allen übrigen Bereichen der Kultur (…) sieht der Test rigoros ab“ (Fuhrmann 2004, S.222, zit. nach Krautz ebenda, S. 82). Joachim Wuttke kritisiert unter anderem, dass die Ergebnisse der Tests infolge grober Mängel bei den Messinstrumenten nicht aussagekräftig seien (Wuttke 2006, S.101-154). Eva Jablonka schließlich bezweifelt gar den Anspruch der Pisa Studie, unser Bildungssystem grundsätzlich in Frage zu stellen(vergl. Jablonka 2006, S. 155-186). Schließlich wurde auch die Strukturdebatte wieder aufgenommen und, beispielsweise in Hamburg, mit dem Konzept der 6-jährigen Primarschule erneut das gemeinsame Lernen als Weg zum Ziel erwählt (vergl. hierzu Vertrag CDU/GAL in Hamburg 2008, S.7 ff.). Es entstand ein heftiger Streit zwischen Befürwortern und Gegnern. Während die Befürworter das Erreichen der gewünschten Ziele postulierten, bezweifelten viele Kritiker die zielführende Wirksamkeit des gemeinsamen Lernens sowohl im Hinblick auf den Schulerfolg als auch auf die soziale Integration (vergl. hierzu Baumert et al. 2002; Heller 2002). Andere wollten sich diesbezüglich vor einer Prüfung durch wissenschaftliche Langzeitstudien nicht festlegen. Nach dem Scheitern dieses Projekts durch den Volksentscheid im Sommer 2010 werden einige Hamburger Grundschulen als Primarschulversuch mit wissenschaftlicher Begleitung geführt (vergl. hierzu: Schule Vizelinstraße in Hamburg 2012). In anderen Bundesländern gibt es vergleichbare Debatten. In Schleswig-Holstein geht es um die Gemeinschaftsschule, in der ähnlich wie im Hamburger Stadtteilkonzept Haupt- und Realschule zusammengefasst werden.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Schulstrukturreformen, soweit sie bisher in die Praxis umgesetzt wurden, den Nachweis für die Wirksamkeit im Hinblick auf die selbst gesetzten Ziele noch keinesfalls erbracht haben. Zu kritisieren wäre im Hinblick auf eine integrative Perspektive, dass die Entwicklung der Reformvorhaben oft unter großem Zeitdruck steht. Ferner werden mehrere Vorhaben gleichzeitig in Angriff genommen, gründliche Diskussion und Erprobung sind daher kaum möglich. Darüber hinaus werden viele Vorhaben von der Politik initiiert, ohne die Betroffenen (Lehrer, Schulleiter, Eltern, Schüler) und deren Fachkompetenz und Interessen rechtzeitig einzubeziehen. Diese „Reformbewegung von oben“ setzt politische Machtinteressen vor pädagogische Argumente und demokratische Ansprüche. Reformvorhaben, die auf diese Weise umgesetzt werden sollen, können auf Dauer nicht gelingen (vergl. Krautz ebenda, S.50; Töller 2011). Sie führen, wie das Hamburger Beispiel deutlich zeigt, zu einem enormen Ressourcenverbrauch bei den Lehrkräften, zu Unmut und Frustration bei den Eltern und zur Vernachlässigung der Kinder, für deren Wohl man dem eigenen Anspruch zufolge streitet, weil die Pädagogen mit Reformdiskussionen so beschäftigt sind, dass weder Zeit noch Kraft für die eigentlichen Aufgaben bleibt (vergl. Krautz ebenda, S.69 ; Töller 2011).

2.3.2 Die inhaltliche Reformdebatte

In der Grundschulpädagogik gab es nach der ersten Pisa-Studie eine Reihe von pädagogisch-inhaltlichen Debatten. Die Diskussionen sind sehr umfangreich und können im Rahmen dieser Arbeit nicht vollständig abgebildet werden(vergl. Spitzer 2009; Baumert et al. 2002). Ich werde mich daher auf zentrale Aspekte beschränken. Eine inhaltliche Debatte dreht sich um das Thema Integration von behinderten Kindern. Diese Diskussion begann schon vor Pisa und hat eine Reihe von praktischen Lösungsansätzen hervorgebracht. Unter anderem gab es in Hamburg beispielsweise die Integrationsklassen in einigen ausgewählten Grundschulen, in denen Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen von drei Pädagogen betreut wurden, einem Grundschulpädagogen, einem Erzieher und einem Sonderschulpädagogen. Ergänzend zu den Integrationsklassen gab es danach noch sogenannte integrative Regelklassen, die leichter behinderte Kinder aufnehmen sollten und personell geringer ausgestattet waren. Ziel dieser Modelle war die Erprobung von Möglichkeiten zur Reduzierung der Aussonderung von behinderten Kindern aus den staatlichen Regelschulen(vergl. hierzu Hinz 1994; Wocken 1988). Inzwischen gibt es in Hamburg ein neues Modell, das Kinder mit Behinderungen generell in Regelklassen aufnehmen will. Dieses sogenannte Inklusionsmodell hat zum Ziel, Kinder mit Behinderungen ohne gesondertes Verfahren in der Regelschule zu beschulen (Schwohl ebenda). In personeller Hinsicht ist die Ausstattung mit zwei Pädagogen vorgesehen, einem Grundschulpädagogen und einem Sonderschulpädagogen, der für einige Stunden in der Woche zur Unterstützung der behinderten Kinder in die jeweilige Klasse kommt. (vergl. hierzu: BSB Hamburg 2013).

Ein weiterer inhaltlicher Diskussionspunkt ist die sogenannte Kompetenzorientierung. Hier werden jedem fachlichen Bereich bestimmte Kompetenzen zugeordnet, das sind beobachtbare Beschreibungen von Fähigkeiten, die ein Schüler in einem bestimmten Zeitraum (Schuljahr) erreichen soll (vergl. Maag Merki 2009, S.507 ff.; Schott 2008). Ein Schüler muss beispielsweise das Einmaleins sicher können oder bestimmte Rechtschreibregeln beherrschen u.v.a.m. Diese Kompetenzen sind überwiegend einseitig kognitiv orientiert, da sie zwecks Beobachtbarkeit (Indikatoren) operationalisiert werden (vergl. Heil 2010). Noch weiter in seiner Kritik an der Kompetenzorientierung geht Krautz. Er sieht im Kompetenzkonzept eine einseitige Ausrichtung von Bildung an ökonomischen Zielen. „Bildung wird damit zur Anpassung. Anpassung an ökonomische Erfordernisse bzw. an das, was die OECD dafür hält. Kompetenzen zielen demnach gerade nicht auf selbständiges Denken, sondern fördern die Unterordnung unter die gegebenen Umstände und die Effektivitätskriterien der Wirtschaft, die daran verdient“(Krautz ebenda, S.130).

2.3.3 Die methodische Debatte

Die Debatte um die richtigen Methoden ist in der Pädagogik immer wieder geführt worden (vergl. hierzu Wiechmann 2011; Meyer 2011; Jansen 2008; Wienerl 2008). Vor allem in den Zeiten der Reformpädagogik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts und in den Jahren nach 1968 bis heute gab es vielfältige methodische Ansätze für den schulischen Unterricht, die diskutiert und in die Praxis umgesetzt wurden. Es gab eine breite Diskussion, die dem Schulpraktiker einen großen Spielraum überließ. Im Hamburger Schulgesetz bis 2009 wurde den Schulpädagogen die methodische Freiheit zugebilligt (vergl. Hamburgisches Schulgesetz vom 6.7.2006, § 88,2, 2012). In den Jahren nach der Jahrtausendwende traten zunehmend individualisierende und schülerorientierte Konzepte in den Vordergrund der Debatte. Diese Debatte wurde vielfach nicht ergebnisoffen, sondern sehr einseitig im Sinne politischer Vorgaben geführt und ergab eine zunehmend einseitige Betonung von Wochenplankonzepten und individualisiertem Unterricht in der Grundschule (vergl. Krautz ebenda, S.56 ff.). Das neue Hamburger Schulgesetz von 2009, geändert 2012, enthält dieses Recht des Lehrers auf Methodenfreiheit nicht mehr (vergl. hierzu Hamburgisches Schulgesetz von 2006/2012, 2013).Überdies zielen diese Ansätze, wie oben bereits erwähnt, vor allem auf kognitive Fähigkeiten(vergl. hierzu Gonschorek/Schneider 2010, S. 60f.).

2.3.4 Die Rahmenbedingungen

Die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen waren in den letzten Jahren gekennzeichnet durch immer neue Reformvorhaben, die ohne ausreichende Diskussion mit den Beteiligten umgesetzt wurden. In Hamburg beispielsweise wurden unter jeweils großem Aufwand innerhalb kurzer Zeit drei verschiedene Schulentwicklungsverfahren eingeführt (Hanauer 2009, S.30). So waren die Schulen zunächst aufgefordert, ein sogenanntes Schulprogramm zu entwickeln, das Schwerpunkte schulischer Arbeit vor dem Hintergrund der spezifischen pädagogischen Situation benannte und konkretisierte. Kurze Zeit später wurde ein weiteres Verfahren eingeführt und schließlich ein drittes Konzept, das unter der Bezeichnung Zielleistungsvereinbarung einen konkreten pädagogischen Schwerpunkt formulierte. Am Ende aller drei Verfahren musste das jeweilige Konzept von der Schulbehörde genehmigt werden. Des Weiteren wurde eine sogenannte Schulinspektion zur Bewertung der pädagogischen Arbeit der Schulen gegründet und in die Schulen geschickt (Hamburger Schulgesetz vom 6.7. 2006, § 88,3, 2012). In Hamburg wurde außerdem das Lehrerarbeitszeitmodell eingeführt, das die Lehrerarbeitszeit nach dem Vorbild von Wirtschaftsbetrieben in faktorisierte Einheiten zerlegte (Matzke 2003, S.6 f.). Mit diesem Modell war nach Ansicht von Kritikern nicht nur die nicht offen kommunizierte Absicht verbunden, die Lehrerarbeitszeit zu verlängern, sondern es enthielt überdies den ebenfalls nicht explizit dargelegten Plan, Lehrer verstärkt zu außerunterrichtlichen Tätigkeiten wie Fachkonferenzen, Programmdiskussionen, vermehrten Dokumentationen der Unterrichtsinhalte, Eltern- und Schülerberatungen, Schuleingangstests für 4-Jährige und dergleichen mehr heranzuziehen (vergl. Odenwald 2005). Ferner wurde das Beurteilungswesen neu gestaltet, indem Lehrer in einem aufwendigen und sich über ein Schuljahr hinziehenden Verfahren beurteilt werden. Ein weiterer Schritt war sodann die Vereinheitlichung des Materials und der Unterrichtsinhalte. Die obige Analyse ist in erster Linie auf die Hamburger Entwicklung bezogen. Sie kann jedoch durchaus als exemplarisch im Hinblick auf die Durchführung schulpolitischer Reformvorhaben in anderen Bundesländern betrachtet werden.

Analysiert man nun die hier dargelegten Fakten unter den Merkmalen einer integrativen Perspektive, so lassen sich daraus folgende Erkenntnisse gewinnen:

Merkmal Austausch

Eine integrative Entwicklung in der Schulpädagogik kann nur gelingen, wenn alle am Schulleben Beteiligten gleichermaßen und gleichberechtigt an der Gestaltung mitwirken können. Betrachten wir unter diesem Merkmal die oben beschriebenen Fakten, so lässt sich Folgendes feststellen:

-Pädagogische Reformvorhaben im schulischen Bereich wurden in Deutschland bisher häufig von den politischen Entscheidungsträgern initiiert und ohne maßgebliche Mitwirkung der unmittelbar Betroffenen mittels administrativer Verordnung durchgesetzt. Ein „herrschaftsfreier Diskurs“ fand nicht statt (vergl. Habermas 1995).
-Ebenso wenig fand ein fachlicher Austausch zwischen Wissenschaft, Schulpraxis und Politik statt. Ein besonders eklatantes Beispiel war die gescheiterte Einführung der 6-jährigen Grundschule in Hamburg (siehe oben). Hier konnte erst die Forderung einer Initiative bewirken, dass eine wissenschaftliche Erprobung in Erwägung gezogen wurde (Edler 2010, S.22 ff.).
-Auch hinsichtlich der Schulentwicklungsverfahren in Hamburg gab es kaum Austausch zwischen Schulen auf der einen und Politik und Schulbehörde auf der anderen Seite. Infolgedessen fehlte es an Akzeptanz, Effektivität und Qualität. Die individualisierende Methode, die augenblicklich im Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion und im Fokus der Schulpraxis steht, verkennt, dass Lernprozesse vor allem kommunikative Prozesse sind. Der gedankliche Austausch, die gegenseitige Bestätigung oder Korrektur, die Freude am gemeinsam gefundenen Ergebnis sind nur einige Elemente eines Lernens, das im kontinuierlichen kommunikativen Austauschprozess auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Die Individualisierung findet dann auch genau dort statt, wo die unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler beginnen. Aus diesem Grunde sind auch die Beiträge und Leistungen unterschiedlich. Entscheidend für ein integratives Lernkonzept ist jedoch, dass die unterschiedlichen Ergebnisse als Teil des gemeinsamen Lernprozesses gesehen werden. Man gibt sein Ergebnis an die Lerngruppe (abgebendes Lernen) und nicht wie beim oben skizzierten Konzept des individualisierten Lernens als ein Ergebnis, das man nur für sich und für den eigenen Nutzen (Lernfortschritt) haben will. Im Gegenzug bekommt man dann die Lernergebnisse der anderen. Dieses auf Austausch (Geben und Nehmen) gerichtete Lernen ist von der fachlichen und der sozialen Qualität ertragreicher als ein nur auf einseitig individuelles Lernen ausgerichteter Unterricht.

Merkmal Offenheit

-Die Reformdebatten der letzten Jahre und Jahrzehnte waren fast immer gekennzeichnet von Konzepten, die fertig konzipiert waren, bevor sie umgesetzt wurden. Das gilt für die Strukturreformen genauso wie für die inhaltlichen und methodischen Reformvorhaben. Fertige Konzepte aber ersticken die Motivation und die Kreativität der Beteiligten (vergl. hierzu Kogge 2011). Offene Konzepte dagegen sind Herausforderungen an alle am Schulprozess Beteiligten und können somit qualitativ bessere Ergebnisse generieren. Solche Prozesse benötigen allerdings Zeit, die politische Entscheidungsträger nicht haben oder sich nicht nehmen wollen. Deshalb ist eine integrative Schulentwicklung nur in größerer Unabhängigkeit von der Politik denkbar.
-Die Einführung eines faktorisierten Lehrerarbeitszeitmodells in Hamburg ist der Versuch, die Arbeit der Lehrer mit denen der Verwaltungskräfte in Behörden oder Wirtschaftsbetrieben gleichzusetzen. Dieses aus der Wirtschaft stammende Modell erkennt einer bestimmten Arbeit ein zeitliches Volumen zu und ordnet dies einem mathematischen Faktor zu. Braucht der Lehrer weniger Zeit als bemessen, ist er im Vorteil, braucht er mehr, leistet er unbezahlte Arbeit. Dieses Verfahren ist für eine so kreative Arbeit wie die des Lehrers kontraproduktiv. Sie benachteiligt die engagierten Lehrer und führt zu Demotivation und damit zum Qualitätsverlust (Kogge ebenda). Integrative Pädagogik ist jedoch auf eine hohe Motivation und Kreativität der Schulpädagogen angewiesen, um anspruchsvolle und nachhaltige Unterrichtskonzepte zu entwickeln und zu gestalten.
-Die Vereinheitlichung der Inhalte, Methoden und des Materials, die nach Pisa erfolgte, steht in einem eklatanten Widerspruch zu dem in der aktuellen Reformdebatte propagierten Konzept der Individualisierung, denn Individualisierung bedeutet das Gegenteil von Vereinheitlichung. Betrachtet man jedoch genauer, was unter Individualisierung in diesem Zusammenhang verstanden wird, so kommt man zu dem Schluss, dass hier nur die Auswahl des Schülers unter vorher festgelegten Aufgabenstellungen gemeint ist (vergl. Paradies 2010, S.8ff.). Individualisierung im integrativen Sinne meint jedoch etwas völlig anderes. Individualisierung aus dieser Perspektive betrachtet bedeutet das Offensein für das, was jedes Kind mitbringt an Interessen, Fähigkeiten und Erfahrungen. Jede inhaltliche und methodische Vereinheitlichung und Normierung des Unterrichtsprozesses würde dies jedoch konterkarieren. Offenheit im integrativen Sinne heißt aber auch, dass schulischer Unterricht sich vor allem an inhaltlichen und pädagogischen Erkenntnissen, Erfahrungen und Zielen orientieren muss. Unter dem an dieser Stelle diskutierten Aspekt der Individualisierung bedeutet das aber auch, dass hier das Individuum Lehrer mit all seinen spezifischen Erfahrungen, Interessen und Fähigkeiten berücksichtigt werden muss. Individualisierung muss also von zwei Seiten her gedacht werden. Und ein weiterer Aspekt muss mit bedacht werden: Alles eben Gesagte muss auch vor dem Hintergrund der Offenheit in zeitlicher Hinsicht bedacht werden.
-Inhalte, Methoden, Erfahrungen, Interessen, Fähigkeiten der Personen und pädagogische Erkenntnisse und Ziele stehen unter dem Vorzeichen der Veränderung. Diese Veränderungen in der Gesellschaft, der Politik, Wissenschaft, Umwelt und in Schule und Familie müssen ständig einbezogen werden. Andererseits muss alles noch einmal reflektiert werden unter entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, die uns sagen, von welchen entwicklungsbedingten Voraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen auszugehen ist. Dieser komplexe Reflexionsprozess ist für ein integratives Konzept unabdingbar.

Merkmal Vertrauen

-Betrachtet man die Reformdiskussionen der letzten zehn Jahre, so fällt auf, dass immer wieder auf die Defizite von Schulen und Lehrkräften hingewiesen wurde. Vor allem nach der ersten Pisa Studie wurden insbesondere seitens der Bildungspolitik und der Bildungsbürokratie zum wiederholten Male die angeblichen Mängel hinsichtlich der unterrichtlichen Arbeit an den Schulen als Hauptursache für das unterdurchschnittliche Abschneiden der deutschen Schüler gesehen (Jablonka 2006, S. 155-186). Abgesehen davon, dass diese Behauptungen das Faktum nicht berücksichtigen, dass das unterstellte Versagen der Schulen nicht allein auf die konstatierten Mängel in der Arbeit der Schulpädagogen zurückgeführt werden kann, sondern immer auch ein Ergebnis der von der Politik und der Bürokratie zu verantwortenden Rahmenbedingungen( Klassengröße, Anteil von Migrantenkindern, materielle Ausstattung, Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte usw.) ist, zeugt diese Kritik von einem Mangel an Vertrauen von Politik und Gesellschaft in die pädagogische Arbeit der Schulen. Eine derart pauschale Bewertung der schulpädagogischen Arbeit wird der Situation sicherlich nicht gerecht. Sie kann überdies kontraproduktiv sein. Denn der selbstverständlich den Schülern entgegengebrachte Vertrauensvorschuss, der erhebliche Motivationskräfte hervorbringt, wird denjenigen entzogen, die unter oft schwierigen Rahmenbedingungen mit hohem Einsatz ihre Arbeit verrichten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Nicht alles, was in den Schulen geschieht, ist lobenswert und nicht alle Lehrer werden ihrer Aufgabe immer gerecht. Aber deswegen die bisherige schulische Arbeit generell zu verwerfen, ist gegenüber den vielen engagierten Lehrern nicht zielführend und von der Sache her fragwürdig.
-Ein weiteres Problem sehe ich in der Kompetenzorientierung. Auch dieses Konzept ist einerseits gekennzeichnet von einer widersprüchlichen Position hinsichtlich der Bewertung von Vertrauen und Misstrauen. Während auf der einen Seite den Schülern zugetraut wird selbständig zu entscheiden, was sie wann lernen, unterwirft man sie andererseits einer rigiden Kompetenzstruktur.
-Ähnliches gilt für das Thema Schulentwicklung. Auch hier werden die Schulen aufgefordert, ihre Ziele selbst zu formulieren, um sie dann im nächsten Schritt wieder einer restriktiven Überprüfung und Genehmigung durch Behördenvertreter zu unterziehen.
-Noch eklatanter in dieser Hinsicht ist das Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell, das die Arbeit der Lehrer in rigide Zeitfaktoren zerlegt. Der Grund für diese Maßnahme liegt m.E. wiederum in der Absicht, die Arbeit der Lehrer zu kontrollieren. Auch die Einrichtung sogenannter Schulinspektionen dokumentieren den Versuch der Politik und der Bildungsbürokratie, direkten Zugriff auf die Arbeit in den Schulen zu bekommen mit der Folge, dass sowohl die Arbeitsmotivation der Lehrer an den Schulen sinkt und langfristige Erkrankungen steigen (vergl. hierzu Schaarschmidt 2004, S.98 ff.; Sieland 2004, S.143 ff.).
-Ein weiteres Indiz für die Kultur des Misstrauens der bildungspolitischen Entscheidungsträger und der Bildungsbürokratie kann darin gesehen werden, dass die Methodenfreiheit, die seit Jahrzehnten, den pädagogischen Gestaltungsspielraum der Lehrer definierte, im Zuge einer Gesetzesänderung 2009 in Hamburg aufgehoben wurde. Damit wurde noch einmal deutlich, von welchem Paradigma Bildungspolitik in Deutschland ausgeht.

Fazit: Aus den obendargelegten Erörterungen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen, die für die in Kapitel 4 zu führende Debatte über die wissenschaftlichen Konzepte im Hinblick auf Ziele und Inhalte von Bildung im schulischen Bereich, vor allem in der Grundschule, als diskussionsleitende Merkmale dienen sollen. Für eine integrative Ausrichtung der Diskussion um Schule und Bildung bedarf es vor dem Hintergrund der obigen Ergebnisse zum Bereich Schule eines Paradigmenwechsels auf drei Ebenen:

A. Bildungspolitische Entscheidungen müssen ein Ergebnis eines herrschaftsfreien Dialoges sein, an dem alle Beteiligten mitwirken können.

B. Die bildungstheoretische Debatte muss an einer dynamischen und kreativen Entwicklung orientiert sein, die die Motivation der Mitwirkenden als grundlegendes Element begreift.

C. Eine integrative Pädagogik kann nur auf der Basis einer Kultur des Vertrauens entwickelt werden, in der Verantwortung ein zentrales erkenntnisleitendes Interesse bildungstheoretischer und bildungspolitischer Diskussion bildet.

2.4 Der Bereich Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Natur

In diesem Abschnitt geht es um eine knappe Analyse zentraler Perspektiven im europäischen Kulturraum im Hinblick auf politische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungen. Dabei sollen folgende Fragestellungen erörtert werden:

1.Wie ist der gegenwärtige Entwicklungsstand im europäisch geprägten Kulturraum unter integrativer Perspektive zu beurteilen?
2.Welche Merkmale kennzeichnen eine integrative Entwicklung in diesem Bereich?

Wenn im Folgenden von europäisch geprägtem Kulturraum die Rede ist, so bezieht sich die Diskussion nicht nur auf Europa im engeren Sinne. Einbezogen sind auch Zivilisationen außerhalb Europas, die von den grundlegenden Denk- und Handlungsmustern der ursprünglich von Europa ausgehenden Kulturentwicklung geprägt sind. Hierzu gehören neben den westlichen Industrienationen auch der Bereich der osteuropäischen und teilweise auch der asiatischen Hemisphäre. Der Schwerpunkt der Betrachtung der politischen und wirtschaftlichen Prozesse wird dabei allerdings auf Deutschland und Europa fokussiert sein.

Betrachten wir nun den gegenwärtigen Entwicklungsstand vor dem Hintergrund integrativer Merkmale, so lassen sich folgende Thesen formulieren:

-Der Entwicklungsstand ist geprägt von der Dominanz von Profit- und Machtinteressen in Natur, Wirtschaft und Politik(Merkmal Nachhaltigkeit).
-Die Entwicklung ist geprägt von gewaltsamen Lösungen gegenüber Mitmensch und Natur (Merkmal Empathie).
-Die Entwicklung ist geprägt von einseitiger Orientierung an quantitativem Wirtschaftswachstum (Merkmal Nachhaltigkeit).
-Die Entwicklung ist geprägt von der Dominanz repräsentativer Institutionen bei zentralen politischen Entscheidungen (Transparenz, Partizipation).
-Die Entwicklung ist geprägt von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen dem Reichtum der entwickelten Industrieländer und der Armut in den Entwicklungsländern (Merkmal Verantwortung).
-Die Entwicklung ist geprägt von exorbitantem Verbrauch natürlicher Ressourcen (Merkmal Nachhaltigkeit).

Im Folgenden sollen nun Belege für die obigen Thesen zusammengestellt werden:

Merkmal Verantwortung

- Hunger und Überernährung: Trotz erheblicher wirtschaftlicher Ressourcen, verbunden mit einer enormen Verfügung über materielle Güter in den westlich-industrialisierten Staaten, verhungern in den sogenannten Entwicklungsländern Zehntausende Menschen täglich (vergl. Miegel ebenda, S.111; vergl. Herren 2009). „ Für die nächsten Jahre wird ein Anstieg der Hungernden und Mangelernährten auf bis zu 3 Milliarden befürchtet“ (Miegel ebenda, S. 115; vergl. ders. S.111). Andererseits leiden viele Menschen in den reichen Industrieländern Europas und Nordamerikas unter den Folgen der Überernährung. „Reichlich ein Viertel isst demgegenüber zu viel – die deutlich Übergewichtigen und Fettleibigen“ (Miegel ebenda S.112).
- Riskante Energie: Die Risiken des technischen Zeitalters sind ins Unermessliche gestiegen. Insbesondere die Energieerzeugung durch Atomkraft hat sich insbesondere durch die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl 1986, deren Folgen bis heute und auf unabsehbare Zeiten für die betroffenen Menschen in den Regionen und darüber hinaus spürbar sein werden, als sehr risikoreich erwiesen. Dazu gehören kontaminierte Böden und Nahrungsmittel. Ferner leiden viele Kinder in der Region Tschernobyl an den Spätfolgen der Katastrophe – „Herzkrankheiten, Hepatitis und natürlich Krebs aller möglichen Arten“ (Münchmeyer 2011, S. 23). Auch Erbschäden und Entwicklungsstörungen bei im Mutterleib bestrahlten Kindern werden diagnostiziert (vergl. Sieker 1986, S.131 ff.; Frank 1992; Strohm 1977, S.238 ff.). Durch den radioaktiven Fallout wurden große Teile Nord- und Mitteleuropas kontaminiert. Der Schock saß tief, die Anti-Atomkraft- Bewegung in Deutschland bekam Auftrieb und eine rot-grüne Bundesregierung beschloss den Ausstieg durch schrittweises Abschalten der deutschen AKWs. 2010 beschloss allerdings eine schwarz-gelbe Regierung eine Verlängerung der Laufzeiten um viele Jahre. Die zentralen Argumente sind: 1. Man brauche die Atomkraft als Brückentechnologie bis zum vollständigen Umbau der Energieversorgung auf erneuerbare Energien. 2. Das Restrisiko in Deutschland und anderen hochtechnisierten Staaten der Welt im Hinblick auf eine mit Tschernobyl vergleichbare Katastrophe sei so gering, dass es zu vernachlässigen sei. Am 11. März 2011 geschieht das, was von den aktuell in Deutschland Regierenden, allen voran der Kanzlerin Merkel, für unmöglich gehalten wurde. „Das illustriert ihr Satz, in Japan sei das ‚Unmögliche möglich‘ geworden – …“ (Zastrow 2011, S.10). Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima bietet ein ähnliches Szenario wie die Katastrophe von Tschernobyl. Auch hier ein außer Kontrolle geratener Atomreaktor, der nicht nur die bedauernswerten Arbeiter in der Anlage hohen radioaktiven Belastungen aussetzt, sondern darüber hinaus den Lebensraum im Umkreis von vielen Kilometern zerstört und sogar den Ballungsraum Tokio mit 35 Millionen aufs höchste gefährdet. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen ist der Ausgang der Sache ungewiss (vergl. hierzu: Die Chroniken von Fukushima 2011, S 2/3). Die Reaktion in Deutschland: Abschaltung älterer AKWs für ein vierteljähriges Moratorium und Prüfung aller anderen Anlagen. Unter dem Eindruck des Schocks scheint nun, zumindest in Deutschland ein Umdenken zu erfolgen. Ob dies ein nachhaltiger Prozess ist, wird man sehen. Harald Weizer bezweifelt dies in seinem Aufsatz, obwohl er dies für absolut notwendig erklärt (vergl. hierzu Weizer 2011, S.21). Neben den genannten Gefahren der Kontamination durch außer Kontrolle geratene Kraftwerke hebt Rifkin die Gefahren durch die aus der zivilen Nutzung der Kernspaltung resultierende Möglichkeit militärischer Nutzung und der Gefahr des Missbrauchs durch terroristische Gruppen in den Fokus der Diskussion und damit das Szenario des „atomaren Weltunterganges“ (vergl. hierzu Rifkin ebenda, S. 359 ff.). Jonas entwickelte sein Konzept „Das Prinzip Verantwortung“ genau vor diesem Hintergrund. Er meint damit das Bewusstsein, dass wir alles, was wir tun, verantworten können müssen (vergl. Jonas 1995). Verantwortung als primär kognitive Kompetenz muss aber ergänzt werden durch emotionale Faktoren.Verantwortung ohne emotionale Basisbleibt aus integrativer Sicht unwirksam.

Merkmal: Nachhaltigkeit

Zerstörung der Lebensgrundlagen: Unsere zentralen Lebensgrundlagen sind Luft, Wasser und Land. Die Luft als zentrales Lebensmittel für alles Leben auf der Erde wird seit Beginn der Industrialisierung über die natürlichen Quellen (Vulkane, Waldbrände) hinaus zunehmenden Belastungen ausgesetzt durch „Rauch, Ruß, Staub, Gase, Aerosole, Dämpfe und Geruchsstoffe“ (Miegel ebenda, S.97). Hinzu kommt das klimaschädliche Kohlendioxid. Die durch Menschen verursachte Luftverschmutzung durch Energieerzeugung und durch den motorisierten Massenverkehr zu Lande, zu Wasser und in der Luft, der trotz der in den letzten Jahren intensivierten Suche nach Alternativen immer noch weitgehend die Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Energieerzeugung verwendet, hat dramatische Folgen. „Diese verschmutzte Luft wirkt auf Vieles ein: Böden und Gewässer werden übersäuert und überdüngt, die Ozonschicht dünnt aus, Kunstwerke werden zerstört, das Klima verändert sich. Und der Mensch keucht und hustet, leidet unter luftbedingten Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Allergien. Manche sterben daran. Die Zahl der Opfer verschmutzter Luft wird weltweit jährlich auf zwei bis drei Millionen Menschen veranschlagt“ (Miegel ebenda, S.97 f.; vergl. Rahmstorf 2006). Die Folgen der Klimaveränderung durch das durch Verbrennung entstehende Kohlendioxid sind noch nicht abzusehen. Die Mehrheit der Klimaforscher ist sich jedoch einig, dass die Wahrscheinlichkeit der „Zunahme von extremen Wetterereignissen wie Wirbelstürmen, Dürren, Überschwemmungen oder Waldbränden“ (Miegel ebenda, S.99, vergl. auch Rahmstorf 2006; vergl. Rifkin ebenda, S.353) steigt. Das Wasser ist eine weitere zentrale Lebensgrundlage. Neben der zunehmenden Verschmutzung von Flüssen, Seen und Meeren („Weltweit gilt die Hälfte aller Flüsse und Seen als stark verschmutzt, wobei die Quellen der Verschmutzung ungereinigte Abwässer, Fäkalien sowie chemische Substanzen sind, unter ihnen Schädlingsbekämpfungsmittel und künstliche Düngungsmittel“) (Miegel ebenda, S.105) und den weitreichenden Folgen für Flora und Fauna ist auch der zunehmende Wasserverbrauch, vor allem in den industrialisierten Ländern, ein großes Problem. Während ersteres zum biologischen Tod von Gewässern („Ein Sechstel der Ostsee ist schwer geschädigt oder tot“ (Miegel ebenda, S.105), führt die Verunreinigung der Meere durch Müll zu einem Sterben einer Unzahl von Seevögeln, Meeressäugern und Fischen (vergl. Lamp 2008; vergl. Opitz 2009). Hinzu kommen Tankerunfälle und Unfälle mit Bohrinseln, die durch auslaufendes Rohöl zur Vernichtung von Seevögeln und Meerestieren aller Arten führt.Als dritte natürliche Lebensgrundlage ist das Land zu betrachten. Hier sind in erster Linie die Industrialisierung der Landwirtschaft mit der intensiven Bodennutzung und der Überweidung, die Zersiedelung der Landschaft, die Rodung der Wälder, vor allem der für das irdische Klima bedeutungsvollen Regenwälder (vergl. Miegel ebenda, S.108), zu nennen. „ Die Folgen sind klimatische Veränderungen, die Zerstörung von Ökosystemen und eine abnehmende biologische Vielfalt“ (Miegel ebenda S.108). So verringerte sich 2009 die Artenvielfalt um 17000 (vergl. Miegel ebenda S. 239; vergl. Bechmann/Michelsen 1981). Konrad Lorenz hatte bereits vor fast 30 Jahren darauf hingewiesen, dass damals schon 49 Tierarten auf der roten Liste standen. Zu ihnen gehören bekannte Tierarten wie Graureiher, Biber, Libellen, Kreuzottern, Fledermäuse, Feldhasen, Schmetterlinge, Waldameisen, Weißstörche, etc. (vergl. hierzu Lorenz 1973). Hinzu kommt infolge der intensiven Bodennutzung die zunehmende Versalzung der Böden, der Nährstoffmangel, die Bodenverdichtung, die chemische Verschmutzung durch Kunstdünger und Pestizide (vergl. Miegel ebenda, S.108). Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen führt dies nach Meinung vieler Wissenschaftler zu einer Verknappung der landwirtschaftlich nutzbaren Böden und damit zu einer Verschlechterung der weltweiten Ernährungssituation (vergl. Miegel et al. 2008, S.6). Dies ist angesichts einer immer noch stark wachsenden Weltbevölkerung (vergl. hierzu Miegel ebenda, S.124 ff.) besonders schwerwiegend. „Dass die Ernährung der Menschheit künftig noch größere Probleme als bisher aufwerfen wird, ist mittlerweile Konsens. Wie bei Luft und Wasser hat sich die Menschheit offenbar auch beim Land, beim Boden, der sie trägt und nährt, Grenzen genähert, die sie möglicherweise noch ein wenig verschieben, nicht aber aufheben kann. Nicht wenige meinen, sie habe diese Grenzen längst erreicht, und manche, sie habe sie bereits überschritten“ (Miegel ebenda, S. 109). Diesen aufgezeigten Entwicklungen stehen Ansätze gegenüber, die versuchen, Nachhaltigkeit in den Vordergrund ihres Handelns zu stellen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sollen hier einige besonders bedeutsame Projekte genannt werden. So existieren seit längerer Zeit Konzepte alternativer Energieformen (Sonnenenergie, Wärmepumpen, Windenergie, von Wasserstoff usf.) (vergl. Strohm ebenda, S.1105 ff.; Gräff 1980,S.76 ff.; Bick et al., 1984, S.215 ff.). Ein Beispiel für eine praktische Umsetzung dieser Ansätze liefert der Plan eines Solardorfes in Berley (USA) 1983. Inzwischen hat sich dieser Bereich weiterentwickelt. Solartechnik ist in den letzten Jahren eine Wachstumsbranche. Neueste Visionen wie die vom Bau eines Sonnenkraftwerks in der Sahara gehören dazu (vergl. hierzu Vorholz 2009). Auch Konzepte zu alternativen Wirtschaftsformen in Industriekonzernen gehören dazu. Ein besonders interessantes Projekt in diesem Bereich stellt das Schweizer Konzept M-Frühling dar. Hier wurde der Versuch gemacht, den Konzern Migros zu demokratischem, nachhaltigem und entwicklungspolitisch verantwortlichem Handeln zu bewegen. Zu den Teilnehmern an diesem Versuch gehörten Umweltgruppen, Dritte-Welt-Organisationen, kirchliche Kreise, Tierschutzorganisationen usf. (vergl. hierzu Pestalozzi 1980, S.105 ff.). An dieser Stelle ist auch auf Konzepte zum alternativen Landbau (vergl. Bick ebenda, S.36 ff.), zur gesunden Ernährung, zum Arten- und Biotopschutz (vergl. Baur 2010) u.v.a.m. hinzuweisen. In Bezug auf nachhaltige Konzepte gibt es eine umfangreiche Debatte (Bolscho/Michelsen 2002)

Merkmal Empathie

Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Menschen, kriegerische Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen Staaten und der teilweise brutale Umgang mit Tieren sind in der Menschheitsgeschichte nicht neu. Betrachten wir zunächst die polizeiliche Kriminalstatistik hinsichtlich der Kriminalität von Jugendlichen unter 21 Jahren im Jahr 2009, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild: „ Rohheitsdelikte wie gefährliche Körperverletzung und Raub ohne Gruppenbezug sind rückläufig, stagnieren jedoch auf relativ hohem Niveau bei 24,5 Prozent gegenüber 25,2 Prozent in 2007 der zur Tatzeit 14- bis noch nicht 21-Jährigen gegenüber den Erwachsenen“ (Heisig 2010, S. 27). Dieser Behauptung widersprechen Kemme u.a. mit ihrem Bericht über die Kriminalitätsentwicklung. Danach hat dieser Bereich der Gewaltdelikte bundesweit zugenommen (vergl. Kemme u.a. 2011, S.33). Bemerkenswert ist auch das allgemein hohe Häufigkeitsniveau bei den 14- bis 30-Jährigen. Hier gibt in einigen Bundesländern sogar eine starke Zunahme. So sind die Verurteiltenzahlen in Niedersachsen bei schwerer Körperverletzung um 188 Prozent gestiegen (vergl. Kemme u.a. ebenda, S.33). Bei besonders schweren Gewaltdelikten ist das Bild einheitlicher. Statistiken der Delinquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden unter 21 Jahren ergeben folgende Befunde: „So waren bei Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten acht Tatverdächtige von 13, bei Raubüberfällen auf Spielhallen 13 von 17, bei Raubüberfällen auf Tankstellen zehn von 14, bei Handtaschenraub 61 von 101 und bei schwerem Raub aus Wohnungen 56 von 96 unter 21 Jahre alt“ (Heisig a.a.O., S. 29). Beim Langzeitvergleich ergibt sich ein noch dramatischeres Bild. Heisig vergleicht die Zahl der Strafverfahren, die bei Jugendlichen und Heranwachsenden in Neukölln (Berlin) in der Zeitspanne von 1990 bis 2008 erhoben wurden. Allein die Gesamtzahl der durchgeführten Strafverfahren hat sich von 1990 mit 1600 Verfahren bis 2008 auf 3585 um 124 Prozent gesteigert (Heisig ebenda, S.30). „Im Bereich der Körperverletzung ist eine Steigerung von 274 Prozent zu verzeichnen, beim Raub um 144 Prozent und bei Eigentumsdelikten um 194 Prozent“ (Heisig ebenda, S.30). Überdies weist Heisig darauf hin, dass die Geburtenrate in diesem Zeitraum erheblich abgenommen hat (Heisig ebenda, S.30). Auch das erhöht die Dramatik der dargebotenen Zahlen. Kemme u.a. weisen ebenfalls daraufhin, dass bei Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen bei allgemeinem Trend der Abnahme dieser Delikte bei Jugendlichen und Heranwachsenden eindeutige Zunahmen zu verzeichnen sind, „in Niedersachsen beträchtlich“ (vergl. Kemme u.a. ebenda, S. 74). Ähnliches gilt auch bei dem Delikt Widerstand gegen die Staatsgewalt (vergl. Kemme u.a. ebenda, S.61 f.). Bei dem Delikt Totschlag ist entgegen der allgemeinen Tendenz bei den Jugendlichen und Heranwachsenden keine Abnahme der Delikte zu verzeichnen (vergl. auch hierzu Kemme et al. ebenda, S.62). Für den Bereich Sachbeschädigung ist ebenfalls eine deutliche Zunahme in der oben erwähnten Altersgruppe zu verzeichnen. Auch die Prognose ergibt hier einen fortgesetzten negativen Trend (vergl. Kemme u.a. ebenda, S.142).

Betrachtet man die Situation von kriegerischen Konflikten, in die die westlich europäisch geprägten Staaten in den letzten Jahren verwickelt waren oder noch sind, so reicht der Weg vom Balkankrieg über Irak bis hin zu Afganistan und ganz aktuell in Libyen, Ägypten und Syrien.

Betrachtet man diese Fakten, so erscheint die Situation bedrohlich und dramatisch. Gewalt scheint dominant und allgegenwärtig zu sein. Hinzu kommt die Gewalt, die wir Tieren zufügen. So werden immer noch Hühner, Puten und anderes Geflügel in tierquälerischer Weise gehalten, um möglichst billig Fleisch zu produzieren. Beispielsweise werden Legehennen in Europa zu 75 % in Legebatterien gehalten(vergl. hierzu Wikipedia 2013).

Diesem düsteren Szenario setzt Rifkin ein optimistischeres Weltbild entgegen. Er entdeckt in der gesamten Menschheitsgeschichte, sowohl in Augenblicken mit weltgeschichtlicher Relevanz als auch in der Alltagswelt eine bedeutsame und seiner Auffassung nach sehr wirksame und prägende Kraft, die Empathie. „Obwohl das Leben um uns herum durchsetzt ist mit Leid, Sorgen, Ungerechtigkeiten und verbrecherischen Machenschaften, besteht es im Großen und Ganzen doch aus Hunderten von kleinen Zeichen der Aufmerksamkeit und der Großzügigkeit. Liebe und Mitgefühl zwischen den Menschen schaffen Wohlwollen, prägen soziale Bande und bringen Freude in unser Leben“ (Rifkin a.a.O., S.21). Dieses Konzept der emphatischen Weltentwicklung durchzieht nach Rifkins Ansicht die gesamte Weltgeschichte und führt schließlich zu einem Zeitalter der globalen Empathie (vergl. Rifkin ebenda, S. 315 ff.). Diesen Geschichtsdeterminismus hat es in der Marxistischen Ideologie schon einmal gegeben. Einer solchen gleichsam automatischen Entwicklung der menschlichen Geschichte muss man meiner Auffassung nach mit erheblicher Skepsis begegnen. Dennoch bleibt es richtig, auf diese Möglichkeit menschlicher Entwicklung hinzuweisen, auch wenn sie nicht linear oder gar zwangsläufig erfolgt, sondern eher großer Anstrengungen bedarf. Und eine grenzenlose Empathie ist weder realistisch noch wünschenswert. Vom integrativen Standpunkt aus sollte sie von Skepsis begleitet werden. Aber dennoch ist Empathie ein wichtiger Baustein für eine integrative Entwicklung. Sie muss jedoch in einem ausgewogenen Verhältnis stehen zu einer Fähigkeit, für wichtige und zentrale Grundsätze zu kämpfen. Dazu zählt der unbedingte Einsatz für Menschenrechte gegenüber autoritären Regimen genauso wie die Verteidigung der Gleichberechtigung von Frauen in der Gesellschaft oder der notfalls konfrontative Einsatz gegen tierquälerische Machenschaften, wie es Aktivisten von Greenpeace beim Kampf gegen den Walfang zeigen. Dazu gehört neben der Empathie für Kriminalitätsopfer auch das entschlossene Vorgehen gegen Kriminalität, vor allem gegen Gewalt. Empathie und Konfrontation sind dabei zwei Seiten einer integrativen Strategie.

Merkmale Transparenz und Partizipation

Repräsentative Strukturen sind in den europäisch geprägten Demokratien zentrale Entscheidungsmechanismen. Vom Volk, in freien, geheimen und gleichen Wahlen, werden alle 4-5 Jahre parlamentarische Entscheidungsträger gewählt. Diese Abgeordneten des Volkes sind nach der Wahl bei politischen Entscheidungen nur ihrem Gewissen unterworfen (vergl. hierzu Grundgesetz, Art.38, 1), das heißt, sie können bei Abstimmungen unabhängig von den Wählern Entscheidungen treffen. Der Einfluss der Wähler auf konkrete politische Entscheidungen ist kaum vorhanden. Die Wahl ist also nicht Ausdruck poltischer Entscheidungsmacht, sondern sie überträgt bestimmten Entscheidungsträgern die Macht, die dann nach eigenem Gutdünken damit umgehen. Diese aus den historischen Entwicklungen am Ende des Absolutismus stammenden Prinzipien der politischen Entscheidungsfindung haben Eingang in die Verfassungen der europäisch geprägten Demokratien gefunden und haben seit ca. 200 Jahren ihre Gültigkeit. Ein weiteres Element dieser Organisation von Entscheidungsmacht ist das sogenannte Mehrheitsprinzip. Alle Entscheidungen werden durch Mehrheitsentscheidung getroffen. So werden Abgeordnete gewählt, Regierungen bestimmt, Gesetze beschlossen usf. Auch hier also eine Entscheidungsmacht, die auf Unterwerfung Anderer ausgerichtet ist. Ein weiteres Element europäischer Verfassungen ist die Rolle von Parteien. Laut Parteiengesetz der BRD gilt: „Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit“ (PartG, § 1,2, 2013). In der politischen Realität haben sich Parteien längst zu Institutionen der Machtausübung entwickelt (vergl. hierzu Schuett/Wetschky 1991, S. 23). Sie bestimmen, wer Kandidat für ein Abgeordnetenmandat wird, sie beeinflussen qua Sitz und Stimme in den Verwaltungsräten der öffentlich-rechtlichen Medien die Auswahl des Führungspersonals und nehmen so Einfluss auf die Medien (vergl. Schuett-Wetschky ebenda), sie rekrutieren das politische Personal, sie beeinflussen die Auswahl des leitenden Verwaltungspersonals usf. Hier findet nicht nur Mitwirkung an der politischen Willensbildung statt. Hier wird politische Machtausübung konkret vorbereitet und organisiert (vergl. hierzu Schuett-Wetschky 2005, S.6 f.). Fasst man diese drei Aspekte zusammen, so kann man vor dem Hintergrund der o.a. Merkmale integrativer politischer Entwicklung folgendes feststellen: Politische Entscheidungen entstehen in europäisch geprägten repräsentativen Demokratien durch Machtausübung weniger über viele Menschen. Dieses Prinzip, schon in der Verfassungstheorie intendiert, führt in der Verfassungsrealität zu neofeudalen Abläufen der Machtausübung (vergl.hierzu Kirchhoff 2004). Im Prinzip wird politische Macht als Unterwerfung anderer ausgeübt. Beispiele für solche Prozesse gibt es genug. Stellvertretend für viele sollen an dieser Stelle nur einige besonders wichtige und aktuelle genannt werden. Stuttgart 21 ist ein derartiger Vorgang, wo ohne ausreichende Beteiligung der Betroffenen ein milliardenschweres Bauvorhaben durchgesetzt werden sollte. So kritisierte etwa der Ex-Chefplaner der Deutschen Bahn Ernst Krittian, „dass die Politiker das Projekt nach meinem Empfinden in Gutsherrenmanier beschlossen haben. Die Abwägung wurde nicht so kommuniziert, wie sich das unter zivilisierten Menschen gehört, sondern es wurde im stillen Kämmerlein beschlossen“ (Krittian 2010). Auch die Einführung der Energieform Atomkraft gehört in diese Reihe, ebenso die Einführung des Euro, die Beteiligung an Kriegseinsätzen usf. Ein anderes Beispiel ist die durch einen Volksentscheid gescheiterte Primarschulreform, bei der ein bildungspolitisches Konzept gegen viele Bedenken durchgesetzt werden sollte. In der Bildungspolitik lassen sich viele Beispiele finden, bei denen Entscheidungen ohne die ausreichende Einbeziehung der Betroffenen gefällt wurden (vergl. hierzu Kap.2.2). Auch die Umsetzungsmodalitäten bildungspolitischer Konzepte von oben nach unten, das heißt durch hierarchisch strukturierte Abläufe, sind ein Beispiel für den Mangel an Partizipation. Auch hier kann man neofeudale Strukturen erkennen. Die Folgen dieser Mängel sind vielfältig: Einerseits kommt es zu einer zunehmenden Entfernung zwischen Politik und Bürgern. Ein Teil der Bürger setzt dieses Misstrauen, bzw. die Frustration, in Protest um, ein anderer Teil resigniert, nimmt nicht mehr an Wahlen teil (vergl. Bundeszentrale für politische Bildung 2013 ). Die Betroffenen in den Bildungseinrichtungen passen sich an, resignieren, flüchten ins Private oder werden krank. Nur Wenige wehren sich. Daran zeigt sich, wie wichtig Partizipation ist. Aber auch partizipatorisch optimierte Abläufe reichen für eine integrative Entwicklung nicht aus. Hier muss in Richtung einer konsensualen Entwicklung geforscht werden. Konsens zu erzielen erfordert aber von allen Seiten ein hohes Maß an klarer Positionierung einerseits und Kompromissbereitschaft andererseits. Entwicklung mit dem Ziel der Erzielung von Konsens erfordert aber noch mehr. Man benötigt Geduld genauso wie Zielstrebigkeit, einen festen Standpunkt genauso wie die Bereitschaft, die Standpunkte der anderen Seite als gleichwertig zu respektieren, und man benötigt Zeit. Schnelle Entscheidungen und Lösungen bergen die große Gefahr, nicht alles sorgfältig bedacht zu haben. Eine langsamere, wohldurchdachte, von allen mitgetragene Entscheidungsprozedur reduziert das Konfliktpotential.Ansätze zu einer partizipatorischen Entscheidungsfindung zeigt Hofmann vor dem Hintergrund aktueller Großprojekte(z.B. Berliner Großflughafen). Dabei wird deutlich, dass neben der Verminderung von Konflikten auch die Qualität der Vorhaben verbessert werden kann (Hofmann/Sinemus 2013).

2.5 Der Bereich der Weltanschauungen, Kultur, Ideologien, religiösen und philosophischen Prägung

Im Folgenden soll nunmehr, soweit es im Rahmen dieser Arbeit möglich und notwendig ist, eine Skizze derjenigen Entwicklungen in der europäischen Geschichte angefertigt werden, die als Ursachen der gegenwärtigen Situation identifiziert werden können. Dabei wird von folgenden Thesen ausgegangen:

-Das dualistische Weltkonzept der römischen Epoche ist eine Ursache für die technisch und militärisch expansive Ausrichtung der europäischen Zivilisation (Merkmal: Integrales Bewusstsein).
-Das christliche Konzept des außerhalb der Natur stehenden Schöpfergottes hat die Verfügungsmacht des Menschen über die Natur begründet und das instrumentelle und profitorientierte Verhältnis der europäischen Zivilisation begünstigt ( Merkmal: Verantwortung).
-Das neuzeitliche Bewusstseinskonzept, das durch das von Descartes formulierte Konzept der Spaltung der Welt in das denkende Ich (Mensch) und die natürliche Umwelt gekennzeichnet ist, hat die expansive, naturzerstörerische und gewaltorientierte Ausrichtung der Entwicklung der europäischen Zivilisation forciert (Merkmal: Ehrfurcht vor dem Leben).

Merkmal: Integrales Bewusstsein

Die neuzeitliche Entwicklung war im Wesentlichen durch drei zentrale Kulturentwicklungen in Europa geprägt: durch die griechische und die römische Kultur und das Christentum. Betrachtet man zunächst die griechische Weltsicht, so lässt sich Folgendes feststellen:

Die Welt, das Universum, wird dort verstanden als „Physis“, d.h. die Gesamtheit aller Dinge und Lebewesen. „Alle Dinge, alle Gedanken, alle Worte, unsere außermenschliche „Natur“ genau wie der Mensch, die Seele als Urheber der Bewegung, ja auch die Götter gehören zur Physis, kurz alles, was in der Zeit ist“ (vergl. Liedke 1984, S.37). Diese monistische Auffassung der Welt erfuhr in der römischen Kulturentwicklung eine grundlegende Veränderung. Für das römische Weltbild waren Natur (res natura) und Mensch bereits getrennt. „Res natura“ war etwas, über das der Mensch verfügen konnte. Damit war die in der griechischen Physiskonzeption noch vorhandene Einheit von Mensch und Natur zum ersten Mal aufgebrochen (vergl. Liedke ebenda, S. 38).

Dieser nun entstandene Dualismus in der Weltsicht hatte erhebliche Konsequenzen bezüglich des Umgangs mit der Lebenswirklichkeit. Während die griechische Kultur weder technisch noch politisch expansive Tendenzen hatte, war die römische Kultur geprägt von technischen Entwicklungen (z. B. Wasserleitungsbau) und politisch-militärische Eroberungen. Diesem dualistischen Konzept setzt Gebser das integrale Bewusstsein entgegen. Darunter versteht er:

-Die Verbindung aller bisherigen Bewusstseinsformen ( archaisch, magisch, mythisch, mental, vergl. auch hierzu Kapitel 4)
-Aperspektivisches und ganzheitliches Wahrnehmen der Welt
-Aufhebung des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt (vergl. Gebser 1986, S. 379)

Die Folgen dieser neuen Denkstruktur sind die Aufhebung der Trennung von Mensch und Natur mit allen daraus resultierenden Konsequenzen für den respektvollen Umgang mit dem Leben auf der Erde, die Entwicklung der technischen Instrumente als Hilfsmittel zum Schutze allen Lebens nicht nur für die Interessen der Menschen und der Aufbau gewaltfreier Lösungen in Politik und Gesellschaft.

Merkmal: Verantwortung

Das dritte bedeutsame kulturelle Fundament der europäischen Entwicklung war das Christentum. Laut christlicher Vorstellung von der Schöpfung stand Gott als Schöpfer im Unterschied zu den römischen und griechischen Göttern außerhalb der Natur. Die Natur war demnach frei von Göttern und stand zur Verfügung der Menschen (vergl. Liedke ebenda, S. 53 ff.; Drewermann ebenda, S. 67 ff.). Damit kam zum Dualismus der römischen Kultur das Macht- und Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Natur hinzu (vergl. hierzu Habermas ebenda, S.287; Weischedel 1976). Infolge der positiven Bewertung von Handarbeit im Christentum (Liedke ebenda, S.48) wurde dieses Herrschaftsbewusstsein von technischen Entwicklungen geprägt. Besonders bedeutsam war in diesem Zusammenhang die Erfindung des sogenannten „schweren“ Pfluges, der im Unterschied zum antiken Grabstock tief in den Boden einschnitt und ihn umwendete. Mit diesem neuen Verfahren in der Landwirtschaft wurde die Nutzung der nassen und schweren Böden ermöglicht und ein zweiter Arbeitsgang überflüssig. Die Ernährung der zunehmenden Zahl von Menschen in Europa war damit gesichert (vergl. Liedke ebenda, S.43). Mit dieser neuen Pflugtechnik wurde überdies die Haltung des Menschen zur Natur nachhaltig verändert. Der Mensch sah sich nicht mehr als Teil der Natur, sondern als Herrscher über sie. (vergl. Liedke ebenda, S.44 f.). Weitere Entwicklungen folgten, die das Bewusstsein der Menschen in dieser Richtung weiter vertieften. Die Ausnutzung des Wassers durch Wassermühlen und die der Luft durch Druck- und Heißluftmaschinen erweiterten die technischen Möglichkeiten sprunghaft (Liedke ebenda, S.45). Diese Entwicklung wirkte wiederum auf das Bewusstsein der Menschen zurück. Das verdichtete sich somit mehr und mehr zu der Auffassung, die Natur sei vor allem zum Nutzen und zur unbegrenzten Verfügung des Menschen da.

Merkmal: Ehrfurcht vor dem Leben

Die oben erwähnte Auffassung der Natur als unbegrenzt verfügbares Objekt des Menschen erhielt einen weiteren entscheidenden Impuls durch Descartes zu Beginn des 17.Jahrhunderts begründetes und legitimiertes wissenschaftliches Konzept. Descartes sah die Wirklichkeit in zwei Bereiche unterteilt, die „res cogitans“ und die „res extensa“(vergl. Liedke ebenda S.54). Vereinfacht gesagt, handelt es sich nach Descartes Auffassung bei der ‚res cogitans‘ um das ‚denkende Ich‘ des Menschen und bei der der ‚res extensa‘ um die natürliche Umwelt. „Damit ist auf ganz unpathetische Weise der Spaltungszustand geschildert, den wir bis heute haben: Die Welt ist zerbrochen in eine ‚geistlose Natur‘ (res extensa) auf der einen und einen ‚naturlosen Geist‘ (res cogitans) auf der anderen Seite“ (Liedke ebenda, S.54). Im Gegensatz zur griechischen `Physis` steht der Mensch bei Descartes außerhalb der Natur, und die Natur wird reduziert auf ihre Ausdehnung (extensa), die der Sinneserfahrung und Messung des Menschen zugänglich ist und deren Existenz nur auf den Menschen und seinen Verfügungsanspruch bezogen ist. „Insofern ist zwar die Konsequenz, der Mensch begründe die Existenz der Natur, absurd für die ‚Physis‘, nicht so völlig sinnlos aber für den neuzeitlichen Begriff der Natur, die in der Tat eine Natur von Gnaden des Menschen ist, genauer : das an der Natur, was dem Zugriff des Menschen erreichbar ist“ (Liedke ebenda, S.55). Mit diesem Konzept hat Descartes das auf den Begriff gebracht, was in der römischen und christlichen Weltsicht bereits Jahrhunderte vorher entwickelt worden war. Dies war der entscheidende Impuls für die nach Descartes einsetzende naturwissenschaftliche und technische Entwicklung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Vor allem die naturwissenschaftlich-technischen Auswirkungen dieses Denkens haben zu seiner ubiquitären Akzeptanz und seiner weltweiten Verbreitung beigetragen. Das ganzheitliche Denken trat immer stärker zurück in die Bereiche von Musik, Kunst und Literatur (vergl. Liedke ebenda, S.101). Ferner war dieses Denken in der romantischen Reaktion auf die ‚Aufklärung‘, im amerikanischen Transzendentalismus, in den Ideen von Marx, bei den Vitalisten und im Werk Wilhelm Reichs weiterhin vorhanden (vergl. Merchant 1994, S.277). „Die Grundaussagen einer organischen Naturauffassung sind im 20. Jahrhundert wiedergekehrt in Jan Christian Smuts Theorie des Holismus, der Prozessphilosophie Alfred Whiteheads, der ökologischen Bewegung der dreißiger und siebziger Jahre, in alternativen Untersuchungen in der Kernphysik (dem sogenannten `bootstrap- Modell`) und in Entwicklungstheorien der Psychologie“ (Merchant ebenda, S.277/278). Allen genannten Konzepten ist bei allen unterschiedlichen Akzenten eines gemeinsam:

„Die alte Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der der Ablauf sich spiegelt, auf der anderen, also die Descartes´sche Unterscheidung von `res cogitans` und `res extensa` eignet sich nicht mehr als Ausgangspunkt der modernen Naturwissenschaft. Im Blick dieser Wissenschaft steht vielmehr vor allem das Netz der Beziehungen zwischen Mensch und Natur, der Zusammenhänge, durch die wir als körperliche Wesen abhängige Teile der Natur sind und sie gleichzeitig als Menschen zum Gegenstand unseres Denkens und Handelns machen“ (Heisenberg 1956, S.45 f.; vergl. auch Drewermann 1981, S.111 ff.). Dieses Bewusstsein, das zunächst überwiegend aus der wissenschaftlichen Erfahrung kam, ist im Verlauf der sich verschärfenden ökologischen Krise auch in anderen Bereichen wieder verstärkt hervorgetreten. Es hat sich trotz der immer noch vorhandenen Dominanz des Descartes‘schen Ansatzes als eine wichtige Perspektive zur Überwindung der Krise erwiesen. Der Mensch muss lernen, bei allem, was er tut, sich selbst als abhängigen Teil des Ganzen zu betrachten, wenn er überleben will. Er muss ferner lernen, bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen die Mitwelt stärker zu beachten. Doch dieses Paradigma reicht nicht aus, um eine Veränderung der seit 400 Jahren existierenden und machtvollen Denk- und Handlungsmuster zu bewirken. Aus integrativer Perspektive bedarf es der Erweiterung des Paradigmas um das aus dem nach Gebser (siehe oben) notwendigen ‚integralen Bewusstsein‘ resultierenden Baustein emotionaler und ethischer Kompetenzen. Einen Ansatz dazu könnte Albert Schweitzers Philosophie der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ liefern (vergl. Schweitzer 1988). Schweitzers aus den vielfältigen Begegnungen mit Menschen und Natur in Afrika entstandener Ansatz kommt nach meiner Auffassung einem integrativen Paradigma sehr nahe, weil es, im Unterschied zu den oben angeführten Autoren, den emotionalen Bewusstseinsaspekten eine besondere Dignität verleiht. Darüber hinaus basiert es auf einer positiven Haltung zur Lebenswirklichkeit. Nicht die Schwierigkeiten stehen im Vordergrund, sondern das positive Schlüsselerlebnis der Liebe zum Leben. Die Philosophie der Ehrfurcht vor dem Leben ist überdies nicht nur ein gebendes Paradigma sondern bei Schweitzer immer auch auf helfende Handlung bezogen (vergl. Schweitzer 1988, S.13 ff. und S.32 ff.). „Die in dem denkend gewordenen Willen zum Leben entstehende Ehrfurcht vor dem Leben enthält also Lebensbejahung und Ethik miteinander und ineinander. Sie geht darauf aus, Fortschritte zu verwirklichen und Werte zu schaffen, die der materiellen, geistigen und ethischen Höherentwicklung des Menschen und der Menschheit dienen“ (Schweitzer ebenda, S. 22).

2.6 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Die oben entwickelten Merkmale einer integrativen Lebenswirklichkeit sollen im nachfolgenden Kapitel als Leitthesen einer integrativen Bildungsdebatte verwendet werden. Dabei sind 12 Merkmale in der Debatte zu erörtern, die im Folgenden thesenartig formuliert und zusammengestellt werden.

-Geborgenheit: Kinder mit Defiziten müssen von stabilen Schülern profitieren können und umgekehrt.
-Verbundenheit: Individuelle Fähigkeiten müssen zum Nutzen aller Kinder wirksam werden und somit die soziale Verbundenheit stärken.
-Offenheit: Fertige Konzepte und vereinheitlichtes Material sind aus integrativer Sicht kontraproduktiv.
-Vertrauen: Bildung und Unterricht sind aus integrativer Sicht ohne eine Kultur des Vertrauens nicht möglich. Eine rigide Kompetenzstruktur ist nicht produktiv. Die in den Bildungsinstitutionen tätigen Fachleute müssen mehr Einfluss auf Inhalt, Ziele und Methoden gewinnen und mit einem Vertrauensvorschuss bedacht werden.
-Zugehörigkeit: In der Bildungsdebatte mit integrativem Anspruch müssen die Gemeinsamkeiten der Kinder betont werden. Es bedarf eines einheitlichen Zugehörigkeitsstatus.
-Austausch: In der Debatte um Bildung muss vor einer Entscheidung ein freier Gedankenaustausch aller am Bildungsprozess Beteiligten organisiert werden.
-Offenheit: Integrative Bildungspläne müssen Vereinheitlichung und zu starke Normierung vermeiden.
-Nachhaltigkeit: Das Thema sollte einen bedeutenden Stellenwert in der Bildung haben.
-Empathie: Empathie allein reicht nicht. Die Bereitschaft zu einem klarem Standpunkt und entschlossenem Handeln muss in einem integrativen Konzept hinzukommen.
-Transparenz: Bildungspolitische Entscheidungen müssen für alle Beteiligten durchsichtig und einsichtig sein, damit konsensuale Entscheidungen möglich werden.
-Verantwortung: Das Jonas‘sche Prinzip „Verantwortung“ darf nicht nur kognitiv formuliert werden.
-Ehrfurcht vor dem Leben: Diese Maxime Albert Schweitzers kann zu einem Paradigma integrativer Bildungsentwicklung werden.

3. Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung

3.1 Einleitung und Fragestellung

Im folgenden Kapitel soll nun die subjektive Seite (Mensch) näher beleuchtet werden. Angesichts vielfältiger Probleme von Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schule, der Zunahme von Lern- und Verhaltensstörungen, dem Anwachsen von psychiatrischen Störungen, von Gewalt, Drogensucht, Spielsucht u.v.a.m. (Kemme et al. ebenda; siehe auch Kapitel 5) bedarf es eines grundlegenden Verständnisses von menschlicher Persönlichkeit. Dazu werden im Folgenden zentrale wissenschaftliche Persönlichkeitstheorien unter der integrativen Perspektive betrachtet, um daran anschließend Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung zu formulieren. Diese sollen dann bei der schrittweisen Entwicklung des integrativen Lehrens und Lernens die subjektive Orientierung für die Formulierung eines pädagogischen Konzepts beschreiben. Aufgabe des folgenden Kapitels ist es also, vor dem Hintergrund des integrativen Verhältnisses von Mensch und Welt (siehe Kapitel 1) näher zu bestimmen, was eine integrative Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit kennzeichnet und welche Fähigkeiten und Merkmale einem Menschen unter diesem Blickwinkel prinzipiell zur Verfügung stehen. Die hier diskutierten, sehr umfangreichen und differenzierten Theorieansätze betrachten die menschliche Persönlichkeit aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, die m.E. alle einen wichtigen Beitrag für das wissenschaftliche Verständnis der komplexen Begrifflichkeit liefern. Sie sollen deshalb an dieser Stelle in der gebotenen Kürze zu Wort kommen, um dann einer integrativen Sicht unterzogen zu werden.

Nach Myers ist unter dem Begriff Persönlichkeit ganz allgemein „ein individuelles charakteristisches Muster des Denkens, Fühlens und Handelns“ (Myers 2008, S.588) zu verstehen. Im Folgenden sollen nun die zentralen Persönlichkeitstheorien, die in der wissenschaftlichen Forschung entwickelt und diskutiert wurden, kurz vorgestellt und dann einer integrativen Betrachtung unterzogen werden. Dabei dienen die zusammenfassenden Beiträge von Gerrig/Zimbardo und Myers als Hauptquelle. Die im Folgenden genannten und zitierten Autoren der verschiedenen Theorieansätze sind den beiden Hauptquellen entnommen.

Folgende Persönlichkeitstheorien werden nunmehr Grundlage der Erörterung sein:
-Persönlichkeitstheorien Typen und Traits: Hier werden vor allem die für diesen Ansatz bedeutenden Autoren wie Allport(1966),Cattell(1979),Eysenck(1990) McC rae& Costa (1999) vorgestellt , wobei Letztere den neueren Forschungsstand repräsentieren.
-Psychodynamische Theorien: Ausgehend von Freud werden hier vor allem die Konzepte Adlers (1920) und C.G.Jungs (1995) einer integrativen Betrachtung unterzogen.
-Humanistische Theorien: Die in diesem Bereich herausragenden Autoren sind vor allem Maslow(1973), Rogers (1977)und Karen Horney (1950).
-Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien: Dieser vor allem von Dollard und Miller (1950) entwickelte Ansatz hat sich vor allem in drei Konzeptionen ausgeprägt:
- Mischels kognitiv-affektive Persönlichkeitstheorie
- Banduras sozial-kognitive Lerntheorie
- Cantors Theorie der sozialen Intelligenz
-Theorien des Selbst: Dieser von William James ausgehende Ansatz wird vor allem von den Autoren Krueger & Stanke (2001); Mussweiler & Boden (2002) und Markus und Nurius ( 1986) repräsentiert.

3.2 Persönlichkeitstheorien in der wissenschaftlichen Forschung

3.2.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits

Diese in ihren Wurzeln aus der Antike (Hippokrates) stammende Lehre von den von den Körpersäften bestimmten Persönlichkeitstypen(sanguinisch, phlegmatisch, melancholisch und cholerisch) wurde im 20.Jahrhundert von Sheldon (1942) und Salloway (1996) weiterentwickelt. Dieser Ansatz ist dann von Autoren wie Allport (1966), Cattel (1979) und Eysenck (1990) zu einer Traits-orientierten Persönlichkeitstheorie weiterentwickelt worden (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 507).

Unter Traits versteht man im Unterschied zu den sehr starren Typenkonzepten flexiblere „überdauernde Merkmale und Eigenschaften, die eine Person dazu prädisponieren, sich über verschiedene Situationen hinweg konstant zu verhalten“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.507).

Traits sind charakteristische Merkmale einer Persönlichkeit wie Schüchternheit, Ehrlichkeit, Optimismus, Introvertiertheit usf. Die aktuellere Forschung hat sich inzwischen auf ein Fünf-Faktoren-Modell der menschlichen Persönlichkeit festgelegt (McCrae& Costa 1999 zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.507), (Ozer und Reise 1994 zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.507). Dieses Modell umfasst die Faktoren Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrungen. Diese werden dann bipolar definiert, z. B. Faktor Verträglichkeit: mitfühlend, freundlich, herzlich versus kalt, streitsüchtig, unbarmherzig. „Die Traits-Forschung versucht die Persönlichkeit im Sinne stabiler und zeitüberdauernder Verhaltensmuster zu definieren…“ (Myers ebenda, S.607). Das bedeutendste Modell dieser Forschungsrichtung wurde von Mc Crae & Costa (1986) entwickelt. Es formuliert die nach Ansicht der Autoren fünf wichtigsten Faktoren der Persönlichkeit: Gewissenhaftigkeit (u.a. Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Anstrengungsbereitschaft, Pünktlichkeit, Disziplin, Ehrgeiz), Verträglichkeit (u.a. Altruismus Mitgefühl, Verständnis, Wohlwollen, Vertrauen, Kooperativität), Neurotizismus (u.a. Nervosität, Ängstlichkeit, Traurigkeit, Unsicherheit, Verlegenheit), Offenheit für Erfahrung( u.a. hohe Wertschätzung für neue Erfahrungen, Wissbegierde, Kreativität, Fantasie, Unabhängigkeit im Urteil), Extraversionen (u.a. Geselligkeit, Aktivität, Gesprächigkeit, Herzlichkeit, Optimismus, Heiterkeit) (vergl.McCrae&Costa1986 zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.512/513).

Die hier kurz vorgestellte persönlichkeitstheoretische Forschungsrichtung wird kritisiert, „weil sie im Allgemeinen nicht erklären, wie Verhalten entsteht oder wie sich die Persönlichkeit entwickelt“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.513). Allerdings liefert sie „genaue Beschreibungen der Persönlichkeiten unterschiedlicher Menschen…“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.513; vergl. auch Myers ebenda, S.608).

Unter der integrativen Perspektive wäre Folgendes anzumerken:

Eine Persönlichkeitsentwicklung, die integrativen Maßstäben entspricht, müsste eine Ausgeglichenheit der bipolaren Definitionen der o.a. Faktoren anstreben. Integrativ formuliert würde das Fünf-Faktoren- Modell in folgender Weise neu formuliert werden müssen:

Faktor: Extraversion Bipolar: Gesprächig, Energie geladen und durchsetzungsfähig vs. ruhig, zurückhaltend und schüchtern Integrativ: Feinfühlige und rücksichtsvolle Gestaltungskraft

Faktor: Verträglichkeit Bipolar: Mitfühlend, freundlich, herzlich vs. kalt, streitsüchtig und unbarmherzig Integrativ: Empathische Konfliktfähigkeit

Faktor: Gewissenhaftigkeit Bipolar: Organisiert, verantwortungsbewusst, vorsichtig vs. sorglos, leichtsinnig, verantwortungslos Integrativ: Gelassenes Verantwortungsbewusstsein

Faktor: Neurotizismus Bipolar: Stabil, ruhig, zufrieden vs. ängstlich, instabil und launisch Integrativ: kritische Stabilität

Faktor: Offenheit für Erfahrungen Bipolar: Kreativ, intellektuell, offen vs. einfach, oberflächlich und nicht intelligent Integrativ: rücksichtsvolle Intelligenz

3.2.2 Psychodynamische Theorien

„Allen psychodynamischen Persönlichkeitstheorien ist die Annahme gemeinsam, dass mächtige innere Kräfte die Persönlichkeit formen und das Verhalten motivieren“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.515). Aus dieser zusammenfassenden Perspektive wird zweierlei sichtbar:

-Psychodynamische Theorien befassen sich intensiv mit den Ursachen und Ursprüngen der menschlichen Persönlichkeit.
-Sie betrachten und erklären die Motive von Persönlichkeitsentwicklung und von daraus resultierendem Verhalten und sind somit im Unterschied zu den oben dargestellten Theorien von Typen und Traits aktionsbezogen.

Der Begründer dieser Theorien, Sigmund Freud (1915, 1923), ging davon aus, dass jedes menschliche Individuum angeborene Instinkte und Triebe besitzt, die aus seiner Sicht psychische Energien für die Persönlichkeitsentwicklung liefern können (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.515). Dabei identifizierte er zunächst zwei grundlegende Triebe, den Selbsterhaltungstrieb und den Sexualtrieb. Letzterem wies Freud dann eine zentrale Bedeutung zu. Auf dieser Basis entwickelte er sein umfangreiches Konzept einer psychosozialen Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, die hier nur in aller Kürze und auf das Wesentliche beschränkt wiedergegeben werden kann.

Nach Freud erfolgt die Persönlichkeitsentwicklung auf der Basis der sexuellen Entwicklung. Dabei unterscheidet er folgende Entwicklungsphasen (Oral, Anal, Phallisch, Latenz, Genital).

Diesen Phasen ordnet er zunächst sogenannte Entwicklungsaufgaben zu: Entwöhnung, Sauberkeitserziehung, Ödipuskomplex, Entwicklung der Abwehrmechanismen, reife sexuelle Intimität. Aus den Entwicklungsaufgaben wiederum entwickelt er beispielhaft charakteristische Merkmale von Erwachsenen, die als Kind auf diese Phase fixiert bleiben, z.B. Oral: Rauchen, übermäßiges Essen, Passivität, Leichtgläubigkeit; Anal: Sauberkeitserziehung, Ordentlichkeit, Gründlichkeit, Sturheit oder das Gegenteil, Ödipuskomplex: Eitelkeit, Rücksichtslosigkeit oder das Gegenteil. Die Überwindung dieser Fixierungen führt nach Freud dann zu einer reifen sexuellen und darüber hinaus gehenden Persönlichkeitsentwicklung (vergl. hierzu Gerrig/Zimbardo 2008, S.516, Freud 1915, zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 516).

Über den oben dargestellten dynamischen Aspekt hat die Theorie Freuds auch eine strukturelle Komponente. Nach Freuds Vorstellung besteht die Grundstruktur der menschlichen Persönlichkeit aus den Elementen „Es“, „Über-Ich“ und „Ich“(vergl. Myers ebenda, S.590). Ersteres repräsentiert nach dieser Idee die grundliegenden Triebe (das Lustprinzip), das „Über-Ich“ moralische Werte (das Gewissen) und das „Ich“ fungieren als realitätsgebundene Schlichtungsinstanz zwischen „Es“ und „Über-Ich“ (Realitätsprinzip) (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S.518; vergl. auch Myers ebenda S.591, Freud ebenda). Dieses grundlegende Persönlichkeitskonzept ist in der wissenschaftlichen Diskussion innerhalb dieser Sicht auf die menschliche Persönlichkeit weiterentwickelt worden. So hat unter anderen Alfred Adler die bei Freud starke Betonung des Lustprinzips kritisiert und stattdessen die als kleines Kind erlebte Erfahrung der Minderwertigkeit als Ausgangspunkt der Persönlichkeitsentwicklung postuliert. Das Ziel der Entwicklung ist nach seiner Ansicht die Überwindung dieser Gefühle (Adler 1920, zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.521). Karen Horney distanzierte sich am weitesten von der Freud´schen Theorie, indem sie seine phallozentrische Betrachtung umkehrte und den männlichen Neid auf die Schwangerschaft und Mutterschaft (Gebärmutterneid) als dynamische Kraft betonte und darüber hinaus kulturelle Faktoren stärker betonte als Freud. Ferner waren ihr die charakterliche Entwicklung wichtiger als die kindliche Sexualität (Horney 1992, zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.521).

„Alfred Adler und Karen Horney stimmten mit Freud darin überein, dass die Kindheit wichtig ist. Aber sie waren der Überzeugung, dass die sozialen und nicht die sexuellen Spannungen in der Kindheit entscheidend für die Ausbildung der Persönlichkeit sind“ (Myers ebenda, S. 594).

Ein weiterer wichtiger Vertreter der psychodynamischen Perspektive war Carl Gustav Jung, der vor allem das Konzept des Unbewussten erweiterte. „Für ihn war das Unbewusste nicht auf die einzigartigen Lebenserfahrungen des Individuums begrenzt, sondern mit fundamentalen psychischen Wahrheiten gefüllt, die von der ganzen Menschheit geteilt werden“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.521). Jung „war der Meinung, dass wir auch ein kollektives Unbewusstes haben“ (Myers ebenda, S.594). Dieses umfasst Mythen, Kunstformen und Symbole. Letztere sind dann Ausgangspunkt universeller Archetypen. Darunter versteht er dann eine symbolische Repräsentation von Instinkten (vergl. auch hierzu Jung 1995, zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.521). Neben vielen unterschiedlichen Archetypen postulierte Jung den männlichen und den weiblichen Archetyp. Ersterer ist durch die Dominanz aggressiver Impulse gekennzeichnet. Dem weiblichen Archetyp wird vor allem Empfindsamkeit zugeordnet. Ziel der Persönlichkeitsentwicklung nach Jung ist die Balance zwischen beiden Archetypen (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S.522). Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass auch neuere Forschungen belegen, dass unbewusste Mechanismen Lernprozesse evozieren (Myers ebenda, S.599). „Mehr als wir glauben, fliegen wir mit Hilfe eines Autopilots. Unser Leben wird gelenkt durch eine nicht bewusste Informationsverarbeitung, die unsichtbar im wirklichen Leben stattfindet. Dieses Verständnis der nicht bewussten Informationsverarbeitung entspricht eher den Auffassungen aus der Zeit vor Freud: ein im Untergrund fließender Strom von Gedanken, aus dem spontan kreative Ideen auftauchen“ (Myers ebenda, S. 600).

Betrachtet man nun die psychodynamische Perspektive noch einmal unter der integrativen Sichtweise, so lässt sich Folgendes festhalten:

Alle hier erwähnten Vertreter dieser Richtung sehen das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung in der Überwindung einer jeweils unterschiedlichen bipolaren Struktur. Freud postuliert die gelungene Konfliktlösung zwischen „Es“ und „Über-Ich“, Adler formuliert die Überwindung des kindlichen Minderwertigkeitsgefühls durch kompensatorische Gefühle der Gleichwertigkeit, Horney sieht den „Gebärmutterneid“ durch unbewusste Impulse in Kreativität umgewandelt und Jung spricht von einer gelungenen Persönlichkeitsentwicklung, wenn weiblicher und männlicher Archetyp ausbalanciert sind. Damit verfolgen sie alle einen integrativen Ansatz. Allerdings betont jedes Konzept bestimmte Aspekte und führt somit zu einer eher einseitigen Betrachtung menschlicher Persönlichkeit . Darüber hinaus stellt Myers fest: „Die moderne Entwicklungspsychologie sieht Entwicklung als lebenslangen Prozess, der nicht auf die Kindheit beschränkt ist. Es wird auch die Ansicht vertreten, dass Freud den elterlichen Einfluss überschätzte, den Einfluss der Gleichaltrigen dagegen unterschätzte“ (Myers ebenda, S. 598).

Ein integrativer Ansatz müsste diese Einseitigkeiten vermeiden und die Balance zwischen Triebstrukturen und moralischen Postulaten (Freud), zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Überlegenheitsgefühlen (Adler), zwischen Gebärmutterneid und Überkompensation (Horney) und zwischen weiblichem und männlichem Archetyp (Jung) in einem Gesamtansatz integrieren. Darüber hinaus ist die Einbeziehung des Unbewussten für die Persönlichkeitsentwicklung und für das Lernen, wie neuere Forschungen zeigen, von größerer Bedeutung als bisher angenommen. Weiterhin ist auch der Hinweis von Myers zu beachten, dass nicht nur der elterliche Einfluss, sondern auch der Einfluss Gleichaltriger in das Entwicklungskonzept einbezogen werden muss. Auch dies ist für einen integrativen Ansatz von großer Bedeutung.

3.2.3 Humanistische Theorien

„Humanistische Ansätze zum Verständnis der Persönlichkeit zeichnen sich durch die besondere Betonung der Integrität der persönlichen und bewussten Erfahrungen einer Person und Ihres Wachstumspotentials aus (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.522).

Im Zentrum dieser Persönlichkeitstheorie steht das Konzept der Selbstverwirklichung (Selbstaktualisierung). Die Basis dieses Ansatzes liegt nach Ansicht der Vertreter dieser Richtung im Bestreben des Menschen, sein innewohnendes Potential, also seine Talente und Fähigkeiten, so weit wie möglich auszuschöpfen (vergl. hierzu Gerrig/Zimbardo ebenda, S.522). Diesem Streben nach Selbstverwirklichung steht das Bedürfnis nach Akzeptanz gegenüber. Damit sich dieses nicht störend auf den Prozess der Selbstverwirklichung auswirken und damit dieses Potential ausgeschöpft werden kann, bedarf es nach Rogers einer unbedingten positiven Wertschätzung bei der Erziehung von Kindern (Rogers 1977, 2004).

Diese führt dann im günstigsten Fall zu einer positiven Selbstwertschätzung. Karen Horney hat diese Ideen fortentwickelt (Horney ebenda) und kam zu dem Ergebnis, dass es zur Entwicklung des „wahren Selbst“, wie sie es nannte, günstiger Umweltbedingungen bedarf. „Dazu gehört eine Atmosphäre der Wärme, das Wohlwollen anderer und elterliche Liebe für ein Kind …“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 523).

Einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des humanistischen Ansatzes hat Abraham Maslow geliefert. Mit Hilfe seiner Bedürfnispyramide hat er eine hierarchische Ordnung menschlicher Grundbedürfnisse postuliert (Maslow 2008). Seine Pyramide enthält fünf Etagen: Auf der untersten Stufe befindet sich die biologische Bedürfnisebene. Sie enthält Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Erholung, Sexualität, Entspannung. Die zweite Stufe enthält das Grundbedürfnis nach Sicherheit, z B. Angstfreiheit, Behaglichkeit, Ruhe. Auf Ebene drei stellt Maslow das Bedürfnis nach Bindung (Zusammengehörigkeit, Bindung, Liebe). In Stufe vier nennt er das Bedürfnis nach Wertschätzung (Vertrauen und das Gefühl wertvoll und kompetent zu sein, Selbstwertschätzung und Anerkennung anderer). An der Spitze der Pyramide steht schließlich das zentrale Ziel der humanistischen Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, die Selbstverwirklichung. Diese nach Maslow höchste Ebene umfasst das Bedürfnis nach Ausschöpfung des eigenen Potentials. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass Maslow postulierte, die nächst höhere Ebene könnte nur nach erfolgreicher Absolvierung der vorhergehenden erreicht werden. Diese Forderung Maslows wurde zu Recht als zu starr kritisiert (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.421). Es entspricht durchaus der praktischen Erfahrung, dass mehrere Bedürfnisse gleichzeitig verfolgt werden, z. B. kann das Bedürfnis nach Liebe und Bindung gemeinsam mit den Bedürfnissen nach Nahrung und nach Sicherheit auftreten. Andere Kritiker werfen den humanistischen Theorien vor, sie seien zu individualistisch (vergl. Myers ebenda S. 606, vergl. auch Wallach u. Wallach 1983, zit. nach Myers 2008, S.606). Ferner wird den Vertretern dieser Theorien vorgeworfen, sie würden negative Tendenzen der menschlichen Persönlichkeit ignorieren. „Angesichts der globalen Erwärmung, der Überbevölkerung, des Terrorismus und der Verbreitung von Atomwaffen könnten wir leicht in Apathie versinken….Wer handelt, braucht genügend Realismus, um der Betroffenheit Energie zu verleihen; er braucht aber auch genügend Optimismus, um die Hoffnung nicht völlig aufzugeben. Die humanistische Psychologie, sagen die Kritiker, ermutigt zwar zu der notwendigen Hoffnung, nicht aber zu der gleichfalls notwendigen realistischen Einstellung gegenüber dem Bösen“ (Myers ebenda, S. 606).

Bei aller Kritik bleibt jedoch festzuhalten: Maslow formulierte in seinem Ansatz den Versuch, mittels einer an praktischer Erfahrung orientierten Theorie eine dynamische und mit positiver Zielsetzung versehene Persönlichkeitsentwicklung zu formulieren. Er fügt damit der statischen Traits-Theorie und der an pathologischen Erscheinungen orientierten Psychoanalyse eine wichtige ergänzende Sichtweise hinzu. Besonders interessant ist im Zusammenhang der integrativen Sichtweise, dass Maslow mit seiner humanistischen Psychologie ausdrücklich und in dieser Klarheit erstmalig für eine Integration der verschiedenen Ansätze in der Psychologie plädiert.

„Es ist der erste Versuch, die „Gesundheits- und Wachstums-Psychologie (…) mit der Psychopathologie und mit der psychoanalytischen Dynamik zu integrieren, das Dynamische mit dem Ganzheitlichen, das Werden mit dem Sein, das Gute mit dem Bösen, das Positive mit dem Negativen“ (Maslow 1973, S.15).

Einen inhaltlichen integrativen Aspekt liefert Maslow bei der Definition gesunder Menschen. „In ihnen sind das Konative, Kognitive, Affektive und der Antrieb weniger voneinander getrennt und synergischer, d.h. sie arbeiten ohne Konflikt zum selben Zweck zusammen“ (Maslow 1973, S.207). An einer anderen Stelle wird Maslow noch konkreter: „Wenn es unsere Hoffnung ist, die Welt voll zu beschreiben, muss ein Platz für die Typen des vorverbalen, unbeschreiblichen, metaphorischen, aus dem Primärprozeß und der konkreten Erfahrung stammenden , intuitiven und ästhetischen Erkennens geschaffen werden, denn es gibt gewisse Aspekte der Realität, die in keiner anderen Art und Weise erkannt werden können“ (Maslow ebenda, S.207).

Vom integrativen Standpunkt aus betrachtet liefert Maslow in seinem humanistischen Ansatz zwei interessante Thesen, die bezüglich der Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung weiterführend sind.

-Ein integrativer Persönlichkeitsbegriff muss grundsätzlich mehrperspektivisch sein. Infolgedessen müssen alle Theorieansätze in eine integrative Theorie einfließen.
-Ein integrativer Persönlichkeitsbegriff muss alle Bewusstseinsschichten des Menschen umfassen.

3.2.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien

Die bisher analysierten Theorien hatten trotz aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie gingen von nicht empirisch gewonnenen inneren Prozessen aus (Traits, Instinkte, Impulse, Tendenzen zur Selbstverwirklichung). Konkretes und beschreibbares Verhalten war nicht das zentrale Thema der traitsorientierten, psychodynamischen und humanistischen Theorien (vergl. hierzu Gerrig/Zimbardo ebenda, S.525).

Auf diese bedeutsame Dimension hingewiesen und eine Fülle von Forschungsergebnissen dazu geliefert zu haben, ist das Verdienst der behavioristischen Konzeption, die von einem Team unter Führung von John Dollart und Neal Miller (1950) entwickelt wurde (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S.525). Bei diesem Theorieansatz ist die Persönlichkeitsentwicklung das Ergebnis eines dynamischen Prozesses zwischen Umwelteinflüssen und der kognitiv gesteuerten Verhaltensreaktion des Individuums. Dazu gehören Ansätze wie das Beobachtungs- und Imitationslernen. Diese stark empirisch ausgerichtete Konzeption erfuhr im Laufe der Zeit unterschiedliche Akzentuierungen.

-Die kognitiv-affektive Persönlichkeitstheorie von Mischel
-Die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura
-Die Theorie der sozialen Intelligenz

Der Ansatz von Mischel (1973) versucht das Verhalten von Menschen aus der aktiven Teilnahme „an der kognitiven Organisation ihrer Interaktionen mit der Umwelt“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.526) zu verstehen. Zu diesem Zweck ordnet er bestimmte Personenvariablen wie Affekte, Ziele, Werte und Kompetenzen einer Definition zu. Dann wird das Verhalten einer konkreten Person auf der Basis von Beobachtungen zu einem Verhaltensmuster verdichtet.

Beispiel: Variable: Affekte – Definition: Ihre Gefühle und Emotionen, einschließlich physiologischer Reaktionen – Beispiel: Nadja errötet leicht (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 527).

Banduras sozial- kognitive Theorie betont im Unterschied zu Mischel menschliche Interaktionen in sozialen Situationen (Bandura 1979, zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.527). Sie postuliert eine komplexe Wechselwirkung zwischen Person, Umwelt und Verhalten. „Ihr Verhalten kann durch Ihre Einstellungen, Ihre Überzeugungen oder Ihre bisherige Verstärkungsgeschichte ebenso wie durch die in der Umwelt vorhandenen Reize beeinflusst sein. Was Sie tun, kann Auswirkungen auf die Umwelt haben, und wichtige Aspekte Ihrer Persönlichkeit können durch die Umwelt oder durch Rückmeldungen Ihres eigenen Verhaltens beeinflusst werden“ Gerrig/Zimbardo ebenda, S.528). Zentrales Theorem war für Bandura vor allem die Selbstwirksamkeit.

Darunter verstand er die Überzeugung einer Person, sich in einer Situation adäquat verhalten zu können (Bandura ebenda). Diese Kontrolle über eine Situation kann aber keinesfalls zu jeder Zeit aufrechterhalten werden. „Wie ein Muskel ist die Selbstkontrolle nach einem Einsatz eine Zeit lang schwächer, erholt sich in Ruhephasen und wird durch Training stärker, berichten Baumeister und Exline (2000). Wenn man Willenskraft aufbringt, wird mentale Energie verbraucht“ (Myers ebenda S.621). Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle können jedoch nach den Ergebnissen von Seligmann (1975) auch verlernt werden. Durch traumatisierende Erlebnisse kann ein Mensch sich hilflos fühlen (vergl. Myers ebenda S.621).

Nancy Cantor hat in Ihrem Entwurf der sozialen Intelligenz einen weiteren wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der kognitiv– empirischen Persönlichkeitstheorien geliefert (Kihlstrom &Cantor 2000 zit. nach Gerrig/Zimbardo ebenda, S.530).

Nach dieser Theorie unterscheiden sich Menschen in der Wahl ihrer Lebensziele, nach dem Grad ihres Wissens, das für soziale Situationen relevant ist, und nach den Strategien zur Umsetzung von Zielen (Problemlösungsstrategien). Alle drei Dimensionen wirken zusammen, um Verhaltensmuster zu produzieren (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 530). Gerrig und Zimbardo kritisieren an den Theorien dieser Art, dass sie „Emotionen nur als Nebenprodukte von Gedanken und Verhalten“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.530) betrachten. Damit werden nach ihrer Meinung Emotionen in ihrer wichtigen Funktion für die Persönlichkeitsentwicklung nicht gesehen (dieselben a.a.O., S. 530). Darauf weist auch Myers hin (vergl. Myers ebenda, S. 626). Er erweitert die Kritik sogar noch, indem er deutlich macht, dass der Situationsbezug bei diesem Ansatz zu stark betont wird und die „inneren Merkmale nicht berücksichtigt werden“ (Myers ebenda, S.626). Damit liefern die genannten Autoren einen Beitrag zu einem integrativen Persönlichkeitsbegriff.

3.2.5 Theorien des Selbst

Theorien des Selbst befassen sich am unmittelbarsten mit dem Individuum. Dabei geht es vor allem um die Regulierung des Selbstbildes (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 531). Das von William James schon 1890 entwickelte Konzept (William James 1892, zit.nach Gerrig/Zimbardo 2008, S. 531) unterschied 3 Ebenen des Selbst: „das materielle Ich (das körperliche Selbst einschließlich materieller Umgebung), das soziale Ich (das Bewusstsein dessen, wie andere sie sehen) und das spirituelle Ich (das Selbst, das private Gedanken und Gefühle überwacht) (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.531). Diese Theorie wurde ständig weiter entwickelt. Der aktuelle Forschungsstand lässt sich wie folgt in Kürze zusammenfassen:

-Das Selbstkonzept wird „als dynamische geistige Struktur, die intra- und interpersonale Verhaltensweisen und Prozesse motiviert, interpretiert, strukturiert, vermittelt und reguliert “ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S. S. 531).
-Es gibt kognitive Ansätze, die sich mit den verschiedenen komplexen Bestandteilen des Selbstkonzepts befassen. Dazu gehören Erinnerungen, Überzeugungen, Werte, Fähigkeiten, das ideale Selbst, das mögliche Selbst, Selbstwertgefühl, Überzeugungen, was andere von der betreffenden Person denken (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.531; Chen et al. 2006, zit nach Gerrig/Zimbardo 2008, S.531).
-Zentrales Paradigma dieses Theorieansatzes sind die sogenannten Selbstschemata, die die Informationsverarbeitung steuern, das eigene Verhalten bewerten und auch das anderer Menschen mit einbeziehen und beurteilen (Gerrig/Zimbardo S.532; Krueger & Stanke 2001, alle in Gerrig/Zimbardo ebenda, S.532).
-Ein weiterer Ansatz aktueller Forschungsansätze befasst sich mit dem Thema Selbstwertgefühl „als generalisierte Bewertung des Selbst“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.532).

Dabei sind folgende Ergebnisse der Forschung besonders interessant. „Menschen mit hohem Selbstwertgefühl präsentieren sich der Welt als ehrgeizige, aggressive Personen, die Risiken eingehen. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl präsentieren sich vorsichtig und behutsam“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.533; Baumeister et al. 1989, zit. nach Gerrig/Zimbardo 2008, S.533). Um das Selbstwertgefühl bei Kindern zu stärken, sollte man ihnen geben, was „hilft, Herausforderungen anzunehmen… “ (Myers ebenda, S.632). Auf die Bedeutung eines hohen Selbstwertgefühls für die Bewältigung von Lebenssituationen weisen viele Autoren hin. „Wer sich selbst wohl fühlt, (….) erlebt seltener schlaflose Nächte, erliegt weniger leicht dem Druck zur Konformität, zeigt mehr Ausdauer bei schwierigen Aufgaben, ist weniger schüchtern, weniger einsam und einfach glücklicher (Cocker u. Wolfe 1999; Leary 1999; Murray et al.)“ alle in: Myers ebenda, S. 632)

-Besonders interessant ist der Ansatz der kulturellen Konstruktion des Selbst. In diesem Ansatz geht es darum, ob das Selbst in einer individualistischen Kultur definiert wird oder in einer kollektivistischen (vergl. Gerrig/Zimbardo ebenda, S.534). Erstere betonen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit (Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 534). „Um das kulturelle Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen, muss man sich selbst als Individuum verstehen, dessen Verhalten im Bezug auf das eigene Repertoire an Gedanken, Gefühlen und Handlungen organisiert ist und Bedeutung erlangt, und nicht durch den Bezug auf die Gedanken anderer“ (Markus & Kitayama 1991,S.226, zit. nach Gerrig/Zimbardo 2008, S.534). Die mehr kollektiv orientierten Kulturen betonen dagegen ein wechselseitig „abhängiges (interdependentes) Verständnis des Selbst“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S.534) „Die Erfahrung der Interdependenz beinhaltet, dass man sich selbst als Teil einer umfassenden sozialen Beziehung sieht und erkennt, dass das eigene Verhalten dadurch bestimmt wird, davon abhängt und größtenteils dadurch strukturiert ist, was der Handelnde als die Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer in der Beziehung wahrnimmt“ (Markus & Kitayama ebenda, S.227). Auf einen wichtigen Aspekt in Bezug auf das Lernen weist Myers hin. „Ein drittes Beispiel ist der Selbstbezugseffekt, die Fähigkeit, sich besser an Informationen zu erinnern, wenn wir sie zu unserer eigenen Person oder zu unserem eigenen Leben in Beziehung zu setzen“ (Myers ebenda, S.632). Auf diese Erkenntnis wird im Zusammenhang des Diskurses um Bildung und Lernen im Verlauf der Dissertation noch näher eingegangen.

Ein integrativer Persönlichkeitsbegriff müsste auf der Basis einer interdependenten Perspektive entwickelt werden. Allerdings sollte Interdependenz weiter gefasst werden. Nicht nur die soziale Interdependenz muss in Betracht gezogen werden, sondern auch die Interdependenz mit der natürlichen Umwelt.

3.3 Merkmale integrativer Persönlichkeitsentwicklung

Die oben skizzierte uneinheitliche Situation in der Persönlichkeitsforschung muss kein Nachteil sein. Im Gegenteil: Bei einem so komplexen Phänomen wie der menschlichen Persönlichkeit ist ein mehrperspektivischer Ansatz durchaus zweckmäßig. Auch Gerrig/Zimbardo kommen zu dem Schluss, dass „jeder Theorietyp einen unterschiedlichen Beitrag zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit“ (Gerrig/Zimbardo ebenda, S. 538) liefert. Aus integrativer Sicht komme ich zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass ein integrativer Persönlichkeitsbegriff basierend auf den oben betrachteten Theorien folgende Merkmale aufweisen muss.

Merkmal 1: Integrative Traits

Vor dem Hintergrund der Traitstheorien lassen sich folgende integrative Persönlichkeitsmerkmale konzipieren:

-Feinfühlige und rücksichtsvolle Gestaltungskraft
-Empathische Konfliktfähigkeit
-Gelassenes Verantwortungsbewusstsein
-Dynamisch-kritische Stabilität

Merkmal 2: Integrative Psychodynamik

Psychoanalytisch betrachtet ergeben sich folgende integrative Merkmale:

Die Balance zwischen:

-Triebstrukturen und moralischen Prinzipien
-Minderwertigkeit und Überlegenheit
-Gebärmutterneid und Überkompensation
-weiblich und männlich

Merkmal 3: Integrative Selbstverwirklichung

Die bei Maslow in der Bedürfnispyramide entwickelten Stufen dürfen in einer integrativen Perspektive nicht starr hierarchisch und additiv gedacht werden. Die Ebenen müssen als dynamisches Konzept gesehen werden. Die Bedürfnisse nach Nahrung, Sicherheit, Bindung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung sind immer gleichzeitig vorhanden, wenngleich auch mit unterschiedlicher Gewichtung.

Merkmal 4: Integration von sozialen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten

Die sozialen und kognitiven Theorien müssen alle Bewusstseinsebenen zu einer integrativen Theorie verknüpfen. Denken, Emotionen und Verhalten müssen eine Einheit bilden.

Merkmal 5: Interdependentes Selbst

Ein integratives Konzept der Persönlichkeitsentwicklung muss vor dem Hintergrund der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Mensch und Mitmensch und Mensch und Lebenswirklichkeit gedacht werden.

Um die in den Merkmalen einer integrativen Persönlichkeitstheorie knapp formulierten Aspekte weiter zu konkretisieren, soll an dieser Stelle ein Modell menschlicher Bewusstseinsstrukturen kurz vorgestellt werden, dass die Integration aller Bewusstseinsschichten postuliert und somit einen wichtigen Baustein für die bildungstheoretische Diskussion im nachfolgenden Kapitel liefert. Dieses Modell Jean Gebsers ist ein Versuch, die Vielschichtigkeit, Interdependenz und Dynamik menschlicher Persönlichkeit zu einem Gesamtentwurf zu verdichten. Das ist ganz im Sinne eines integrativen Persönlichkeitsansatzes.

3.4 Ein integratives Bewusstseinskonzept

Nach Jean Gebser haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte bisher vier Bewusstseinsstrukturen herausgebildet: die archaische, die magische, die mythische und die mentale Struktur (vergl. Gebser 1986,S.83 ff.).

Die „archaische Struktur bezeichnet nach Gebser die ursprüngliche Bewusstseinssituation des Menschen, die er als ‚tiefschlafähnliche‘ Identität des Menschen mit der Welt‘ bezeichnet (Gebser ebenda, S.83 ff.).

Die „magische“ Bewusstseinsstruktur stellt nach dieser Vorstellung den ersten Schritt zur Auflösung der bewusstseinsmäßigen Identität von Mensch und Lebenswirklichkeit dar. „In der magischen Struktur wird der Mensch aus dem Einklang mit dem Ganzen herausgelöst. Damit setzt ein erstes Bewusstsein ein, das noch durchaus schlafhaft ist: der Mensch ist zum ersten Male nicht mehr nur in der Welt, sondern es beginnt ein erstes, noch schemenhaftes Gegenübersein“ (Gebser a.a.O., S.88). Der Mensch versucht sich der Welt zu bemächtigen mit Bannen, Beschwörung, Ritualen (Gebser a.a.O., S.88/89). Charakteristisch für diese Bewusstseinsstufe, die dem Schlaf nahekommt, sind Ichlosigkeit, Raumlosigkeit und Zeitlosigkeit, Eingeflochtensein in die Natur, magische (Macht gebende) Reaktion auf die Welt (vergl. Gebser ebenda, S.91).

Die „mythische“ Bewusstseinsstruktur bezeichnet eine zweidimensionale Polarität des menschlichen Bewusstseins, die aussprechende (sich äußernde) und die schweigende Komponente. „Diese Polarität kommt selbst in der mythischen Aussage zum Durchbruch. Es gilt von ihr, was von jeder Aussage gilt, die entscheidend ist. Entscheidend wird es erst (…) durch die Mitbeachtung des im Gesagten Verschwiegenen. Bloßes Schweigen ist magische Gebanntheit, bloßes Reden ist rationaler Leerlauf“ (Gebser a.a.O., S.116). Vergleichbar ist das mythische Konzept mit dem Tagtraum.

Die „mentale“ Struktur bezeichnet nach Gebser die Bewusstseinsstufe des gerichteten, wachen, ermessenden Denkens, dessen zentrale Leistungen die Abstraktion und die Reflexion sind (vergl. Gebser ebenda, S. 125 ff.). Diese vier bisher genannten Bewusstseinsformen des Menschen sind nach Gebser in einem evolutionären Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden. Alle vier reichen nach Gebser für die Bewältigung der heutigen Lebenswirklichkeit nicht aus. Es bedarf daher einer neuen Struktur, die zum einen die Leistungen aller bisherigen Strukturen bewahrt und zum anderen neue Möglichkeiten hinzufügt.

Diese neue Bewusstseinsebene nennt Gebser das „integrale“ Bewusstsein. Kennzeichnend für diese Bewusstseinsform sind folgende Merkmale:

-Die Verbindung aller bisherigen Bewusstseinsformen (Integration)
-Aperspektivisches und ganzheitliches Wahrnehmen der Welt
-Aufhebung des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt( Gebser ebenda, S.379 ff.)

Diese Struktur ist nach Gebsers Ansicht erst in Ansätzen vorhanden. Bestimmend ist nach seiner Auffassung immer noch die mentale Struktur, die er als defizient gewordene Bewusstseinsform betrachtet, mit den in Kapitel zwei beschriebenen Folgen. Gebsers „integrales“ Bewusstsein ist aber nicht gleichzusetzen mit einem integrativen Bewusstsein. Deshalb kann uns Gebser lediglich als Ausgangspunkt dienen für den Weg zu einem integrativen Bewusstseinskonzept.

4. Merkmale integrativer Bildung

4.1 Einleitung und Fragestellung

Im nachfolgenden Kapitel sollen die in Kapitel zwei und drei getrennt untersuchten Bereiche Mensch und Lebenswirklichkeit wieder einer gemeinsamen Betrachtung unterzogen werden.

Da es in dieser Arbeit um eine pädagogische Perspektive geht, soll der Hintergrund der folgenden Betrachtungen die Diskussion des Bildungsbegriffs sein.

Auf der Grundlage der integrativen Merkmale der Lebenswirklichkeit im europäisch geprägten Natur- und Kulturraum soll im folgenden Kapitel versucht werden, den Blickwinkel der Arbeit nach der allgemeinen Grundlegung im ersten Kapitel, der daran anschließenden gesellschaftlich-kulturellen Perspektive in Kapitel 2 und der darauf folgenden individuellen Sicht in Kapitel 3 nunmehr durch eine weitere Perspektive der Entwicklung von Menschen zu ergänzen. Dieser Blickwinkel gibt unseren bisherigen Betrachtungen eine neue Ausrichtung, hin zu einer mehr intentionalen und planvollen Entwicklung, kurz einer pädagogischen Bestimmung. Für diese Erörterung erscheint mir der Bildungsansatz geeignet, da er sowohl allgemeine Zielsetzungen als auch individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und überdies gesellschaftliche Entwicklungen im Hinblick auf pädagogische Fragestellungen reflektiert. Da es in dieser Arbeit um die Entwicklung eines schulpädagogischen Konzepts gehen soll, kann der Bildungsbegriff an dieser Stelle als ein Transformationsinstrument der allgemeinen Entwicklung in die pädagogische Perspektive fungieren. Dabei geht es einerseits um die Frage, wozu die Fähigkeiten, über die nach Auskunft der psychologischen Persönlichkeitstheorien der Mensch verfügt, benutzt werden sollen. Geschieht es, „um den Menschen freizumachen oder um ihn zu funktionalisieren, um ihn für eine Funktion brauchbar zu machen“ (Krautz ebenda, S. 129)? Die Antwort darauf kann nur ein Bildungsbegriff geben, der die inhaltliche Ausrichtung deutlich macht. Ist diese Frage beantwortet, muss reflektiert werden, in welchen Situationen der Lebenswirklichkeit sie benötigt werden. Die Antwort muss ebenfalls ein Bildungsbegriff geben, der den inhaltlichen Umfang dessen festlegt, was dann in ein Unterrichtskonzept einfließen soll. Diese Diskussion um den Bildungsbegriff geschieht in Kenntnis der vielfältigen Kritik, die der Bildungsbegriff teilweise zu recht erfahren hat (vergl. hierzu Adorno 1977; Heydorn1980). Ich schließe mich jedoch der Position an, die, trotz der Ambivalenz des Bildungsbegriffs, einerseits Emanzipation initiieren zu helfen, andererseits der Legitimation von Privilegien gedient zu haben, an dem Begriff festhält. Auch Hansmann/Marotzki halten den Bildungsbegriff für konstitutiv „… sowohl für erziehungswissenschaftliche Theoriebildung als auch für pädagogisches Handeln…“ (HansmannMarotzki 1989, S.8). Als weitere Gründe für die Relevanz des Bildungsbegriff nennen sie die „geschichtlich orientierende Funktion“ und die daraus resultierende „das Verhalten des Menschen dimensionierende und strukturierende Kraft“ (Hansmann/Marotzki ebenda, S. 8). In der nachfolgenden Erörterung soll dieser Transformationsprozess in folgender Weise stattfinden:

Der in knappen Umrissen darzustellende aktuelle Forschungsstand hinsichtlich des Bildungsbegriffs soll nacheinander vor dem Hintergrund des in Kapitel 1 formulierten Begriffs der integrativen Entwicklung, der in Kapitel 2 entwickelten Merkmale gesellschaftlicher Entwicklung und der in Kapitel 3 formulierten integrativen Merkmale individueller Entwicklung reflektiert werden. Anschließend sollen Merkmale eines inte-grativen Bildungsbegriffs entwickelt werden. Dies soll in folgenden Schritten geschehen:

Erstens sollen Thesen zur Entwicklung eines integrativen Bildungsbegriffs formuliert werden. Anschließend wird die historische Entwicklung des Bildungsbegriffs vor dem Hintergrund einer integrativen Perspektive untersucht. Im nächsten Schritt wird dann der aktuelle Forschungsstand der Bildungsdiskussion referiert. Abschließend werden die Merkmale integrativer Bildung entworfen.

4.2 Thesen zur Entwicklung eines integrativen Bildungsbegriffs

-Integrative Bildung trägt zu einem integrativen Verhältnis von Mensch und Lebenswirklichkeit bei.
-Integrative Bildung fördert eine Persönlichkeitsentwicklung, die alle Fähigkeiten des Menschen zusammenführt.
-Integrative Bildung basiert auf einem komplexen Begriff der Lebenswirklichkeit, der individuelle, familiäre, gesellschaftlich-politische und historisch-kulturelle Faktoren zu einem integrativen Ansatz fortentwickelt.

4.3 Die Entwicklung des Bildungsbegriffs aus integrativer Perspektive

4.3.1 Bildung – eine begriffliche Annäherung

Vor der weiteren Erörterung der Bildungsdiskussion sollen an dieser Stelle zunächst einige Anmerkungen zum Bildungsbegriff vorangeschickt werden.

Ausgehend von dem in Kapitel 1 erörterten grundlegenden Verhältnis von Mensch und Welt und dem aus der kritischen Erörterung des in den hochindustrialisierten Staaten dominierenden Prinzips der machtorientierten Beziehung des Menschen zur Welt resultierenden integrativen Ansatzes stellt sich hier die Frage der Relevanz des Bildungsbegriffs für die Entwicklung einer integrativen Beziehung zwischen Mensch und Lebenswirklichkeit.

„Bildung umschließt Selbst- und Weltverständnis“ (vergl. Benner/Oelkers 2010, S.158; vergl. auch Andresen 2009). Diese Grundthese wird von Chien noch deutlicher formuliert: „Die Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt ist für die menschliche Bildung von höchster Relevanz, wenn man Bildung nicht nur als statischen Zustand, sondern auch als einen kontinuierlichen lebenslangen Prozeß auffaßt, in dem zwei verändernde Faktoren – Mensch und Welt, Ich und Welt – zusammenspielen“ (Chien 1982, S. 2). Damit hat sein Ansatz einen ähnlichen Ausgangspunkt wie das integrative Konzept. Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bildungstheorien wird sein Ansatz deshalb von besonderem Interesse sein.

Der Bildungsbegriff entzieht sich, wie Rang zu Recht deutlich macht, einer eindeutigen Definition (vergl. Rang 1989, S.277). „Allenfalls sind umschreibende Annäherungen möglich“ (Rang ebenda, S.277). Rang verweist sodann auf die Dimensionen der Bildung, „ eine intellektuelle, eine ästhetische, eine moralische- und(…) eine soziale“ (Rang ebenda, S. 277). Aus diesen Dimensionen ergeben sich nach seiner Ansicht „Lernfelder für die Ermöglichung synthetisierender und objektivierender Urteile (…) und orientierende Regulative für ihr Handeln (…)“ (Rang ebenda, S, 277). Zentral ist nach Rang vor allem die Tatsache, dass alle Begriffe und Aussagen zum Bildungsbegriff historisch bedingt sind (vergl. Rang ebenda, S. 277/278). Auch Baumgart weist auf die Bedeutung einer historischen Reflexion von Bildung und Erziehung hin (vergl. Baumgart 2007, S.12 ff.).

4.3.2 Historische Ansätze in der Bildungstheorie

Ich beginne den Diskurs über zentrale Bildungstheorien nicht mit gegenwärtigen Positionen, sondern mit bedeutsamen historischen Ansätzen, weil, wie Baumgart zu Recht postuliert, „eine…Beschränkung auf den aktuellen Diskussionsstand innerhalb der Allgemeinen Pädagogik (…) problematisch (...) wäre. Die gegenwärtige Debatte wird im Horizont einer langen Theorietradition, in Anknüpfung an ältere, traditionsbildende Entwürfe von Erziehung und Bildung und im Widerspruch zu ihnen geführt. Ohne Kenntnis dieser Tradition sind die aktuellen Kontroversen kaum zu verstehen“ (Baumgart ebenda, S.11). Im folgenden Abschnitt sollen daher vier wichtige, für die aktuelle Debatte bedeutsame historische Epochen, kurz skizziert und auf ihren bildungstheoretischen Gehalt untersucht werden. Im zweiten Schritt wird dann eine kurze Bewertung vor dem Hintergrund des integrativen Ansatzes erfolgen. Im daran anschließenden Abschnitt über den gegenwärtigen Diskurs wird dann immer wieder auf den Traditionshintergrund zurückzukommen sein, um transparent zu machen, welchen Grundannahmen die verschiedenen Positionen verpflichtet sind. Die hier zu erörternden Traditionen beziehen sich auf die Aufklärungsepoche, die Zeit des Neuhumanismus, die Reformpädagogik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts und die Bildungsdebatte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Die Aufklärungsepoche

Die Aufklärungsepoche, die auch als „Geburt der Moderne“ (Baumgart ebenda, S. 27) bezeichnet wird, beginnt im 17. Jahrhundert in England und in den Niederlanden. Sie speist sich aus dem Vertrauen in die menschliche Vernunft. Sie war eine Gegenreaktion zum bis dahin dominierenden religiösen und metaphysischen Weltbild. „Begründete Einsicht“ (Baumgart ebenda, S.27) statt traditionelle Denkmuster, das war das zentrale Anliegen. Als erster Wissenschaftler hat Kant das Leitziel der Epoche formuliert, in dem er den „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant, zit. nach Baumgart ebenda, S.27) forderte. Alles Denken und Handeln sollte sich nach der menschlichen Vernunft richten. Bevor wir uns dem Erziehungs- und Bildungsbegriff dieser Epoche nähern, soll vorher kurz auf deren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Hintergrund eingegangen werden, ohne den die Leitideen der Aufklärungsepoche nicht oder nur unvollständig zu verstehen sind. Baumgart spricht in diesem Zusammenhang von „historisch-gesellschaftlichen Problemlagen der Zeit“ (Baumgart ebenda, S. 12). Die gesellschaftliche Lage am Ende des 18. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch extreme Armut großer Teile der Bevölkerung infolge rückständiger Produktionsmethoden in der Landwirtschaft bei rapide wachsender Bevölkerung. Hungerkatastrophen und Seuchen waren an der Tagesordnung. Weiterhin entstand durch das Bevölkerungswachstum im Rahmen der ständischen Gesellschaft, in der jeder seinen festen Platz hatte, eine wachsende Anzahl von Menschen, die keinen festen Platz mehr hatten. Beispielsweise mussten viele bäuerliche Kinder den Hof verlassen, weil nur einer den Hof erben konnte. Diese Menschen gingen überwiegend in die Stadt und fristeten ihr Dasein als Bettler und Landstreicher (vergl. Baumgart ebenda, S.28). Auch die gebildete Schicht, das aufsteigende Bürgertum, Pfarrer, Professoren, Ärzte, Lehrer und die ökonomisch erfolgreichen Kaufleute fielen aus der ständisch gegliederten Gesellschaft heraus. Sie definierten sich nach dem Kriterium Leistung und nicht nach dem Stand (vergl. Baumgart ebenda, S. 29). Aus dieser neuen Schicht kamen die entscheidenden Impulse für den Prozess der Aufklärung. Hinzu kam, dass der aufgeklärte Absolutismus ein starkes Interesse an einem effizienten Herrschaftsinstrument hatte. Dies entwickelte sich in Form eines modernen, auf rationalen Prinzipien gegründeten Verwaltungsapparates. Dieser Prozess evozierte auf der anderen Seite das Bedürfnis der gebildeten Bürger nach Mitbestimmung. Da es jedoch eine ganz geringe Zahl gebildeter Bürger gab – die Mehrheit der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben – erhielten Erziehung und Bildung plötzlich eine große Bedeutung. Kant formulierte als einer der Ersten die Ziele dieser Bildung: Rationale Lebensführung, Mündigkeit, Freiheit, individuelle und gesellschaftliche Emanzipation, Selbstbestimmung und Moral (vergl. Baumgart ebenda, S.31/32). Hinzu kommt das, was Moses Mendelsohn „(…) aktive Mitgestaltung der Kultur“ nennt. „Dieser kulturelle Schaffensprozeß und das ‚vernünftige Nachdenken‘ über die gesellschaftliche Tätigkeit umschreiben den Bildungsbegriff“ (Mendelsohn 1784, S.194 zit. nach Krause1989 in Hansmann/Marotzki ebenda, S.16). Zu diesen anspruchsvollen Zielen standen die Erziehungsmethoden in erheblichem Widerspruch. Um möglichst schnell und effizient viele Menschen in diesem Sinne zu bilden, setzte man Methoden der Kontrolle, des Zwangs und der Disziplinierung ein. Dieser Widerspruch zwischen der proklamierten Erziehung zu einer freien Persönlichkeit und der praktizierten Erziehung zum Gehorsam war auch Kant bewusst. „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne“ (Kant in Baumgart ebenda, S. 45). Dieser Widerspruch der Aufklärungspädagogik, Krause nennt es „die Dialektik von allgemeiner Menschenaufklärung und sozialer Einbindung in Stand und Beruf…“ (Krause 1989, S. 34), ist dann später von den Vertretern des Neuhumanismus aufgegriffen und kritisiert worden. Ein weiterer wichtiger Punkt der Aufklärungspädagogik ist nach Baumgart der Anpassungsdruck in Richtung der bestehenden Gesellschaftsordnung und des materiellen Wohlstandes. Krause weist in seiner Sicht der Aufklärungsepoche allerdings darauf hin, dass sich das Bildungsziel „Nützlichkeit“ „moralischen Prinzipien unterordnet“ (Krause ebenda, S. 33). Ferner war das proklamierte Recht auf Bildung nur auf den gesellschaftlichen Status quo ausgerichtet: der Bauer sollte zum Bauern, der Bürger zum Bürger gebildet werden. Nützlichkeit und Brauchbarkeit wurden damit, trotz der von Krause gemachten Einschränkungen, zu wichtigen Leitlinien, um die ökonomische und technische Entwicklung zu fördern (vergl. Baumgart ebenda, S. 35/36). Die Unterwerfung der äußeren Natur und die der inneren Natur des Menschen war das Paradigma der Aufklärungspädagogik. Damit war in der Aufklärungsepoche das Gleichgewicht zwischen den beiden Prinzipien Machtorientierung und Verständigungsorientierung, wie es für ein integratives Paradigma notwendig ist, zugunsten des Machtprinzips aufgehoben.

[...]

Ende der Leseprobe aus 251 Seiten

Details

Titel
Integratives Lehren und Lernen
Untertitel
Entwicklung und Begründung eines integrativen Unterrichtskonzepts unter besonderer Berücksichtigung der Grundschule
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Pädagogik)
Note
1,8
Autor
Jahr
2013
Seiten
251
Katalognummer
V263436
ISBN (eBook)
9783656542278
ISBN (Buch)
9783656542377
Dateigröße
1411 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
integratives, lehren, lernen, entwicklung, begründung, unterrichtskonzepts, berücksichtigung, grundschule
Arbeit zitieren
Dr. Gerold Schmidt-Callsen (Autor:in), 2013, Integratives Lehren und Lernen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263436

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