Die Deutung der Demokratie im Konflikt um Stuttgart 21

Eine qualitative Analyse


Research Paper (postgraduate), 2011

62 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

1 Einleitung
1.1 Theoretische Vorüberlegungen
1.2 Der Fall „Stuttgart 21“: Eine Chronologie

2 Methodik & Methodologie
2.1 Methodologische Vorüberlegungen
2.2 Qualitative Forschungsansätze
2.2.1 Grounded Theory
2.2.2 Latente Sinnstrukturen und ihre Erfassung
2.2.3 Deutungsmusteranalyse
2.3 Methodisches Vorgehen
2.3.1 Evaluation des Materials
2.3.2 Gestaltung der Analyse

3 Auswertung
3.1 Die Rolle der Zeitungen
3.2 Deutungen in der Diskussion um „Stuttgart 21“
3.2.1 Restriktive Deutung des Demonstrationsrechts
3.2.2 Universale Deutung des Demonstrationsrechts
3.2.3 Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens
3.2.4 Defizite in der Politik
3.2.5 Demokratie als direkte Beteiligung
3.2.6 Fazit der empirischen Auswertung
3.3 Theoretische Einbettung der Ergebnisse
3.3.1 Idealtypen des Demokratieverständnisses
3.3.2 Das Verhältnis von Idealtypen und Deutungsmustern

4 Zusammenfassung und Ausblick

5 Anhang
5.1 Literatur
5.2 Überblick über die Deutungsfiguren und Deutungsmuster

1 Einleitung

Noch vor zwei Jahren war den meisten in Deutschland lebenden Menschen völlig unbekannt, dass in Stuttgart ein neuer Bahnhof entstehen soll. Auch in der Landeshauptstadt selbst haben sich nur wenige Bürger überhaupt mit dem Großprojekt, dessen Idee bereits seit 1994 existiert, auseinandergesetzt. Inzwischen ist „Stuttgart 21“ in aller Munde und des Themas sind die ein oder anderen schön überdrüssig geworden. Dabei ist es nicht das Projekt selbst, das auf überregionales Interesse gestoßen ist, sondern die Art der Auseinandersetzung darüber, ob Stuttgart wirklich einen ganz neuen Bahnhof benötigt.

Der Zwist zwischen Politikern und Teilen der Bevölkerung hat sich schließlich so zugespitzt, dass sich tausende Menschen über längere Zeit in einer neuen Bewegung mobilisieren ließen. Diese Menschen sind enttäuscht von ihren gewählten Vertretern und fordern die Abkehr von „Stuttgart 21“. Neben der Auseinandersetzung um Kostensteigerungen, dem Fällen von Bäumen im Stuttgarter Schlossgarten, der Gefährdung von Mineralquellen und vielen anderen als kritikwürdig erachteten Aspekten des Projekts werden auch Fragen der demokratischen Legitimation überhaupt thematisiert.

Es scheint so, als wird ein städtisches Großprojekt zur Gretchenfrage der Demokratie und dadurch für die Soziologie in zweierlei Hinsicht interessant: Die wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen der politisch Verantwortlichen, der Deutschen Bahn als Vertragspartner und der politischen Öffentlichkeit innerhalb des bisherigen Institutionengefüges können einen Anhaltspunkt darüber geben, wie sich der Konflikt zunehmend verstärkt hat und an welchen Stellen das politische System nachgebessert werden müsste. Desweiteren muss der Konflikt als ein Kampf um Deutungshoheit erachtet werden, indem bestimmte wertgebundene Ansichten zur Beschaffenheit der Demokratie miteinander in Konkurrenz stehen.

Eine Analyse der ersten Art zielt auf die strukturelle Bedingtheit demokratisch zustande gekommener Entscheidungen ab, vergisst aber die Einbeziehung der subjektiven Werthaltungen der Akteure, welche die Richtung eines möglichen institutionellen Wandels erst anzuzeigen vermögen. Dementgegen wird sich die vorliegende Arbeit mit den akteurseigenen Deutungen der Demokratie auseinandersetzen und sich anhand der Diskussion um „Stuttgart 21“ auf die Suche nach intersubjektiv geteilten grundlegenden Werthaltungen machen. Dem liegt die weberianische Überzeugung zugrunde, wonach einer ursächlichen Erklärung möglichen institutionellen Wandels (der im vorliegenden Fall bisher noch nicht nachhaltig eingetreten ist) das deutende Verstehen und subjektive Nachvollziehen der beteiligten Akteure vorausgehen muss.

In diesem Sinne ist die Arbeit als qualitative Forschungsarbeit angelegt. Der Streit um das Großprojekt bietet eine seltene Chance, dass sich sonst nicht geäußerte, aber latent vorhandene und intersubjektiv geteilte Weltbilder der Demokratie in öffentlichen Verlautbarungen manifestieren. Dadurch gewährt die Stuttgarter Bürgerschaft dem Beobachter einen Blick in die demokratische Seele der gesamten Gesellschaft. Die Methode garantiert, dass dieser Blick möglichst unvoreingenommen ist, doch ist Vorsicht geboten vor einer Verallgemeinerung der dort vorgefundenen Ansichten. Schon im Vorfeld sei darauf verwiesen, dass es darum nicht gehen kann. Stattdessen soll anhand der Methode der Deutungsmusteranalyse und nach den methodologischen Ideen der „Grounded Theory“ ein erster Überblick über die in Konflikt miteinander stehenden Weltbilder geschaffen werden.

Auf den Punkt gebracht lautet die Frage dieser Arbeit folglich: Lassen sich Unterschiede in den Deutungen der Demokratie ausmachen, die im Konflikt um „Stuttgart 21“ zum Ausdruck kommen? Aufgrund des induktiven Charakters der Arbeit wird auf die Formulierung von Hypothesen verzichtet.

1.1 Theoretische Vorüberlegungen

Die Demokratie lebt von Konflikten. Sie lebt aber auch von ihrer Bewältigung, sei es durch das Finden von Kompromissen oder die Durchsetzung des Willens einer Mehrheit gegen den einer Minderheit. Sie lebt vor allem von der Bewältigung solcher Konflikte: Die institutionellen Mechanismen sollen garantieren, dass es zu einer Milderung des Konfliktpotentials kommt, indem sie Verfahrensweisen sicherstellen, die transparent und durch die Verfassung geschützt sind. Auf diese Weise entsteht das, was Max Weber als „rational-legale Herrschaft“ bezeichnet, nämlich der Glaube an die gesatzte Ordnung, an die Richtigkeit der im Verfahren entstandenen Mehrheiten und Ergebnisse.1

Die institutionellen Mechanismen der Demokratie legen fest, was als politische Mehrheit zu gelten hat und wann politischen Entscheidungen dieses Kriterium zuteilwird. Es ist leicht einzusehen, dass eine Entscheidung gegen den Willen der Mehrheit nicht durchgesetzt werden kann. Wie Dahrendorf in seiner Konflikttheorie darstellt, werden Konflikte in bestimmten Bahnen gelenkt (also institutionalisiert) und verlieren so an Schärfe oder werden bestenfalls in einem gemeinsamen (und dadurch mehrheitsfähigen) Konsens beendet (Dahrendorf, 1969). Für den anderen Fall, wonach sich kein Kompromiss finden lässt (sei es durch die Sturheit der beteiligten Konfliktparteien oder ihrer grundsätzlich widersprüchlichen inhaltlichen Positionen), ist die in der Kampfabstimmung unterlegene Seite zumindest bereit, ihren Widerstand aufzugeben.

Herrschaft und Macht in der Definition von Weber sind die Elementarkategorien sowohl des Konflikts wie auch seiner Bewältigung: Der Versuch, einen Konflikt innerhalb einer Gesellschaft ohne jegliche Ordnung durch den Einsatz von Macht zu befrieden, ist langfristig darauf angelegt zu scheitern.2 Wieso kann aber in einer Herrschaftsordnung im Idealfall davon ausgegangen werden, dass die Machtanwendung zur Durchsetzung von Entscheidungen zu einer Milderung des Konfliktes beitragen kann?

Herrschaft ist nach Weber die Chance, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1976[1920]: 28). Dieser Gehorsam wird dadurch sichergestellt, dass die Herrschaft in einer legalen Ordnung, nicht an die Person sondern an die Position und das Erreichen dieser Position wiederrum an legale Verfahren geknüpft ist. Der Glaube an die Legitimität der Ordnung wiegt so im Idealfall die Anwendung von Macht zur Durchsetzung einer ungewollten Entscheidung auf. Häufen sich aber diese ungewollten Entscheidungen, muss dem demokratischen System nicht gleich die Legitimation entzogen werden. Die Unpersönlichkeit des politischen Amtes in der parlamentarischen Demokratie erlaubt es, seinen Inhaber vermittels Wahlen auszutauschen - womit gewährleistet ist, dass eine Regierung nicht zu mächtig werden kann.

Dennoch bleiben auch in Demokratien politische Krisen, in denen die Legitimationsgrundlage des politischen Systems von den Bürgern hinterfragt wird, nicht aus. Das Anzweifeln der Rechtmäßigkeit bestimmter Elemente der demokratischen Ordnung bedeutet hingegen nicht notwendig, die Demokratie als solches gegen eine wie auch immer geartete alternative Ordnung ersetzen zu wollen. Häufig zielt die Kritik an bestehenden politischen Systemen auf eine Reformierung bestimmter Verfahrensweisen ab, welche von Teilen der Bevölkerung als notwendig erachtet wird und deren Ausbleiben langfristig zu einem Entzug des Legitimitätsglaubens führen kann. Der Wandel von politischen Institutionen entspricht aber keineswegs einer Notwendigkeit, sondern bedarf bestimmter Trägergruppen, die ihre Ideen von einer „besseren“ demokratischen Ordnung artikulieren und dafür Unterstützung suchen.

Wie der Wandel sich vollzieht, kann nie ganz vorhergesagt werden. Reformen des institutionellen Gefüges sind in demokratischen Ordnungen selbst an Verfahren rückgebunden, sodass das politische System durch ihre Durchführung nicht notwendigerweise destabilisiert wird. Im Kampf um die politische Führung können auch institutionelle Reformen auf die Agenda der Wahlkämpfer gesetzt werden.3 Der Politologe Sidney Verba definiert dem folgend:

„Eine Krise meint also eine Änderung, die eine Innovation und deren Institutionalisierung seitens der Regierung erfordert, wenn die Eliten nicht ernsthaft den Verlust ihrer Führungsposition oder die Gesellschaft ihre Lebensfähigkeit riskieren sollen“ (Verba, 1973: 299)

Die Bewältigung dieser Krise findet also im demokratischen Rahmen selbst statt, womöglich durch das Abwählen der bisherigen Regierung. Der Vorteil eines demokratischen Staatssystems ist damit zweifellos seine endogene Anpassungsfähigkeit, d.h. die Möglichkeit sich zu reformieren ohne sich zu zerstören. In einer gut funktionierenden Demokratie sind zumindest theoretisch keine Revolutionen mehr nötig, denn vermittels Wahlen können die Träger neuer Ideen in einflussreiche Ämter vorstoßen.

Während der Studentenrevolte wurde der Slogan des „Marsches durch die Institutionen“ für die neue Linke ausgegeben. In einer weniger radikalen Deutung wurde mit den Erfolgen der Partei „Die Grünen“ die Möglichkeit einer inneren Reformierbarkeit aufgezeigt. Wenn diese These auch heute eher umstritten ist, galt sie zumindest für die Anfänge der Partei: Als Teil verschiedener linker Bewegungen war sie jene Trägergruppe neuer Ideen und konnte so die Bonner Republik ein wenig durcheinander bringen. Doch ganz unabhängig davon, ob soziale Bewegungen in Parteien aufgehen oder allgemein in Distanz zur institutionalisierten Politik gehen zeigt sich immer, dass Ideen nur dann handlungsrelevant werden, wenn sie auf bestimmte Interessen treffen und von Trägergruppen in den Diskurs eingebracht werden (Lepsius 2009: 7). Im Diskurs werden die jeweiligen alternativen Ideen in Stellung gebracht und im Kampf um Deutungshoheit in ihrer klarsten und logisch konsistenten Form dargeboten.

Doch die Idee der Demokratie nimmt heute heterogene Formen an: Eine Reduktion auf Gewaltenteilung, freie Wahlen und Parlamente greift zum Verständnis heutiger Ideen über die Ausgestaltung demokratischer Systeme zu kurz. Die Demokratie ist als Staatsform nicht mehr wegzudenken und auch die Deutschen sind zu einem Volk von Demokraten, von mündigen Staatsbürgern geworden (vgl. a.a.O.: 84). Und dennoch können die Vorstellungen über das Wesen und die Beschaffenheit des Demokratischen vielfältige Formen annehmen, besonders unter Berücksichtigung der Zivilgesellschaft, wie sich später noch zeigen wird.

Wie können solche unterschiedlichen Vorstellungen erfasst werden? Das bereits angesprochene Konzept, wonach es latente Grundstimmungen gibt, ist zugegeben etwas vage, kann aber als Hilfsannahme dienen: Für den Forscher (sofern er sich der verstehenden Soziologie verpflichtet fühlt) kann solange nichts über solche Stimmungen ausgesagt werden, wie diese sich nicht in irgendeiner Form äußern. Erst im Handeln einer Person, im gesprochenen Wort etwa, werden diese greifbar und können mit Äußerungen anderer Menschen verglichen werden. Es gilt also, die Gemeinsamkeiten der Aussagen herauszufinden und so die ideell vorhandenen Modelle, konkret den Vorstellungen über ein demokratisches Gemeinwesen, nachzuzeichnen.

1.2 Der Fall „Stuttgart 21“: Eine Chronologie

Immer wieder finden sich Anlässe, die die Menschen zur Empörung und auf die Straße bringen. In der jüngeren Geschichte Deutschlands stechen besonders die Studentenproteste 1967/68, die Proteste der Umwelt- und Friedensbewegungen in den 80er-Jahren und natürlich die Montagsdemonstrationen 1989, die wesentlich zum Untergang der DDR beigetragen haben, hervor. Die Schauplätze solcher Proteste waren häufig die Großstädte Berlin, Hamburg, Frankfurt und im letzten Fall Leipzig und später auch andere Städte Ostdeutschlands. Auch die Region Wendland im südlichen Niedersachsen ist, bedingt durch die Diskussion um das mögliche Endlager Gorleben, eine Hochburg des Protests gegen Atomkraft.

Dagegen blieb der Süden der Republik von öffentlichen Unmutsbekundungen bisher weitgehend verschont. Auch in Baden-Württemberg, dem selbst erkorenen „Musterländle“, schien lange Zeit eine gewisse Zufriedenheit mit der Politik der dortigen Landesregierung aus CDU und FDP zu bestehen. Zwar ist es nicht so, dass sich nicht hier und da grüne Enklaven (Tübingen, Freiburg, Konstanz) gebildet hätten, doch blieb größerer Widerstand bisher aus - bis sich 2009 etwas Unerhörtes aus der Sicht der Regierung ereignete: In der Landeshauptstadt stieß das dort geplante Bahnhofs- und Immobilienprojekt (der Bahnhofsneubau sollte sich durch den Verkauf der neu entstehenden Immobilien finanzieren) auf Ablehnung größerer Teile der Bevölkerung und äußerte sich im Juni erstmals in einer herben Wahlniederlage der Regierungsparteien: Die Grünen wurden zur stärksten Fraktion im Stuttgarter Rathaus.

Seitdem wuchs der Protest und brachte zehntausende „Wutbürger“ auf die Straße. Während Ministerpräsident Stefan Mappus längere Zeit in einem Kommunikationsfehler die Ursache der Proteste sah und daraufhin die Werbestrategie für das Projekt änderte, bemängelten einige Demonstranten den generellen Stil der Kommunikation: Es habe zu keiner Zeit einen ernsthaften Dialogversuch seitens der Landesregierung gegeben, sondern bestand die Kommunikation stets nur in dem Versuch, die Bevölkerung mit fadenscheinigen Argumenten auf die Seite von „Stuttgart 21“ zu bringen.

Vielleicht ist es das ungewohnte Verhalten der sonst so als genügsam und brav geltenden Schwaben, die das bundesweite Interesse am „Aufständle“ erklären.4 Tatsächlich ist es aber etwas anderes, möchte man den Worten des Berliner Bewegungsforschers Dieter Rucht Glauben schenken:

„Dieser Fall verdeutlicht auch eine generell sich abzeichnende Kluft zwischen Regierenden und Regierten. Er wirft damit die Frage nach dem Zustand der Demokratie in Deutschland. Nur daraus erklärt sich auch das enorme mediale Interesse für das Projekt und dem damit verbundenen Konflikt“ (Rucht et al, 2010: 1)

Das mediale Interesse hält bis zum heutigen Tag an und „Stuttgart 21“ ist längst nicht mehr nur eine Frage der Umsetzung eines Großprojekts, sondern tangiert wesentlich die Frage des Zusammenlebens in einer politischen Gemeinschaft. Auch die damalige Landesregierung musste die Erfahrung machen, dass die Aufständischen gehört werden wollten und man deren Forderung auf Dauer nicht ignorieren kann.

In bewusster Anlehnung an die Bürgerbewegung 20 Jahre zuvor, trafen sich seit November 2009 wöchentlich die Projektgegner zur „Montagsdemonstration“ vor dem Hauptbahnhof. Auch an manchen Wochenenden konnten mehrere zehntausend Demonstranten mobilisiert werden. Ein zentrales Datum war dabei die Nacht des 30. Septembers 2010, als die ersten Baumfällungen im Stuttgarter Schlossgarten vorgenommen wurden und es dabei zu einem größeren Polizeieinsatz gegen die Demonstranten kam. Unter dem Einsatz von Wasserwerfern wurden nach Zählungen des Deutschen Roten Kreuzes mehr als hundert Personen verletzt, vier Personen davon schwer.

Die Reaktion der Landesregierung, die sich hinter den Polizeieinsatz stellte und die Demonstranten für die Eskalation verantwortlich machte, stieß ihrerseits auf heftige Ablehnung unter den Projektgegnern und heizte den Konflikt zusätzlich an.5 Bemerkbar wurde dies in den darauffolgenden Wochen, als auf den Montagsdemonstrationen (deren Teilnehmerzahl sonst zwischen 5 000 und 10 000 schwankte) mehr als 65 000 Bürger ihren Unmut über das Verhalten der Politik äußerten. Schließlich war die Situation so zerfahren, dass zur Deeskalation eine Schlichtung unter der Führung des früheren CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler vorgeschlagen wurde.

Ab dem 22. Oktober trafen sich daraufhin die Befürworter und Gegner des Projekts im Stuttgarter Rathaus zu acht Sitzungen, die im Zeichen des von Geißler erklärten Mottos „alle an den Tisch, alles auf den Tisch“ für das Bestreben nach einer sachlichen und transparenten Auseinandersetzung standen. Die Transparenz wurde auch durch die öffentliche Liveberichterstattung im Fernsehen gewährleistet - eine Innovation, die es den Bürgern ermöglichte, sich ihr eigenes Bild über den Bahnhof zu machen. Neben der öffentlichen Schlichtung, in dessen Verlauf keine Bauarbeiten unternommen werden durften, fand eine neue Vokabel Eingang in den Wortschatz von Bürgern und Politikern: Im Schlichterspruch vom 30. November sprach sich Geißler zwar für die Umsetzung von „Stuttgart 21“ aus, jedoch unter dem Vorbehalt, dass Nachbesserungen durchgeführt werden und das Projekt einen „Stresstest“ erfolgreich besteht.6

Zwar hat die Schlichtung tatsächlich eine Entschärfung der angespannten Situation erreichen können, doch änderte dies nichts am Misstrauen der Demonstrierenden gegenüber der Landesregierung. Die Proteste gingen auch während der Schlichtung weiter, ebenso nach dem Ende der Schlichtung, als die Bauarbeiten wieder aufgenommen wurden. Aus der Landtagswahl am 27. März 2011 gingen auch aufgrund der Diskussion um den Bahnhof und des Verhaltens der Regierung neue Mehrheiten hervor. Zwar blieb die CDU die stärkste Kraft, musste die Regierungsmehrheit aber an die Grünen und die SPD abtreten. Zwar konnten die Gegner des Projekts über das Wahlergebnis erfreut sein, doch bedeutete der Regierungswechsel noch nicht das Ende von „Stuttgart 21“.

Die vertraglichen Bindungen an das Großprojekt bestanden nach wie vor, zudem hat sich die SPD schon früh für „Stuttgart 21“ ausgesprochen. Beide Koalitionspartner einte aber das Bestreben, die Bevölkerung des gesamten Bundeslandes in einem Volksentscheid über das Projekt abstimmen zu lassen. Der Volksentscheid sollte am 27. November 2011 für Klarheit sorgen und ein möglicherweise endgültiges Ergebnis zu Tage fördern.

Die von Rucht erwähnte Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten lässt sich in einem Wechselverhältnis beider Seiten, wie sie in dieser kurzen Abhandlung versucht wurde darzulegen, gut beschreiben. Es ist ein ständiges Reagieren auf Ereignisse und Äußerungen der Gegenseite und es lässt sich stets nach den Wahrnehmungen und Motiven der handelnden Akteure fragen. Weshalb etwa hat die Landesregierung unter Mappus die Situation erst als Kommunikationsproblem erachtet? Wieso wurde der Polizeieinsatz am 30. September vonseiten der Demonstranten der Regierung angelastet? Wie wurden die Ergebnisse der Schlichtung von beiden Seiten interpretiert?

In einer institutionenanalytischen Sicht kann man auch beobachten, dass bestimmte institutionelle Arrangements für den Fall „Stuttgart 21“ geschaffen wurden, die jenseits des als üblich in der Landesverfassung niedergeschriebenen Entscheidungsverfahrens liegen: Im wesentlichen sind dies die Schlichtung, der „Stresstest“ und die Volksabstimmung (die zwar als Möglichkeit in der Verfassung steht, aber zuletzt vor 40 Jahren zur Anwendung kam). Die interessante Frage dahinter ist die nach den Bedingungen der Etablierung neuer Verfahrensweisen: Wieso wurde die Schlichtung als passendes Instrument der Deeskalation gewählt, weshalb soll eine Volksabstimmung eine größere Legitimation der politischen Verfahren begründen?

Diese Arbeit kann sicherlich keine Antwort auf all diese Fragen geben, aber sie kann dabei helfen, die Gründe bestimmter Forderungen nach institutionellen Nachbesserungen der politischen Verfahren offenzulegen. Man muss allerdings den Trugschluss vermeiden, wonach eine eindeutige Zuordnung bestimmter Motivlagen für institutionelle Reformen zu einer der beiden in Konflikt stehenden Seiten möglich sei, denn schließlich kann es ebenso gut Anhänger von Volksentscheiden unter den Befürwortern von „Stuttgart 21“ geben, wie es Projektgegner gibt, die Volksentscheide ablehnen. Die Befürworter des Projekts sind selbst nicht nur in der Politik zu finden, sondern nutzen ebenso das Demonstrationsrecht um sich zu „Stuttgart 21“ zu bekennen.

2 Methodik & Methodologie

2.1 Methodologische Vorüberlegungen

Blieben quantitative Methoden lange Zeit nur auf den Bereich der Wirtschaftswissenschaft beschränkt, ist inzwischen beobachtbar dass auch in den Nachbardisziplinen verstärkt mit statistischen Auswertungen gearbeitet wird. In der Soziologie gibt es aber auch einen gegenläufigen Trend, der in der Professionalisierung der Techniken der qualitativen Datenerhebung und Datenanalyse sichtbar wird (vgl. Flick et al., 2007).

Wieso die Anwendung qualitativer Methoden für die Soziologie so bedeutsam ist, bedeutsamer als in anderen Disziplinen, lässt sich vermutlich am besten in Anlehnung an Max Weber verstehen: Eine Wissenschaft mit dem Anspruch, den „subjektiven Sinn“ einer Handlung zu erfassen, also die subjektiven Gründe als Ursache der Handlung anzuerkennen, würde mit dem Instrumentarium der quantitativen Forschung schnell an ihre Grenzen geraten. Zwar können standardisierte Fragebögen durchaus Fragen zu bestimmten Haltungen, Neigungen und Motiven der Akteure beinhalten. Eine tiefergehende Analyse der tatsächlichen Gründe und sozialen Kontexte bestimmter Handlungen kann diese Methode allerdings nicht leisten.

Trotz der Langwierigkeit des Forschungsprozesses sind hier qualitative Methoden geeigneter, denn verfügen sie über ein analytisches Instrumentarium, dass den Akteur als Einheit begreift und die Subjektivität nicht in Kategorien von objektivierten Merkmalsausprägungen aufteilt. Der Forscher dieses Schlags muss weit mehr Fähigkeiten besitzen als ein Statistiker: Er muss in narrativen oder leitfragengestützten Interviews ein Gespür für den Verlauf der Kommunikation haben und sich jederzeit bewusst sein, dass sein eigenes Verhalten die Aussagen des Gegenübers beeinflussen kann; schließlich muss er die Fähigkeit besitzen, zwischen den Zeilen lesen zu können, nicht nur in den Interviews, sondern ebenso bei der Auswertung von Texten.

Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Methode bei der Auswertung des für diese Forschungsarbeit ausgewählten Datenmaterials angewendet wird. Da die qualitative Forschung zahlreiche Techniken zur wissenschaftlichen Interpretation und Verallgemeinerung hervorgebracht hat, sollen die in dieser Arbeit relevanten Analysemethoden hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall kurz eingeführt werden. Bei der Auswahl des Instrumentariums gilt der von Mayring explizierte Grundsatz, wonach „nicht die methodische Machbarkeit, sondern die Angemessenheit der Methode für das Material und die Fragestellung“ (Mayring, 2007: 474) zentral ist. Dem folgend wird für die Auswertung des Materials ein Mix bestimmter Methoden als notwendig erachtet.

2.2 Qualitative Forschungsansätze

2.2.1 Grounded Theory

In Abgrenzung zu den Hypothesen testenden und dadurch deduktiven Verfahren in der quantitativen Forschung, ermöglicht ein induktives Vorgehen die Generierung von Hypothesen. Mehr noch können, wie Barney G. Glaser und Anselm S. Strauss mit ihrer „Grounded Theory“ darlegen (Glaser/Strauss, 1998), ganze Theorien durch ein induktives Verfahren gewonnen werden. Dabei bedarf ein grundlegend empirischer Zugang nicht einmal bestimmter Vorannahmen die es zu testen gilt. Die künstliche Naivität des Wissenschaftlers ermögliche einen uneingeschränkten Blick auf das Handeln, Denken und Erfahren der Menschen. Das Erkennen des Sinnzusammenhangs steht so im Vordergrund der Analyse:

„(…) die Generierung von Grounded Theory ist gleichbedeutend mit der Entdeckung einer Theorie, die ihrem Gegenstand angemessen ist und sich handhaben läßt (unabhängig davon, daß weiterhin Tests, Klarstellungen und Reformulierungen nötig sein werden). Eine Grounded Theory wird aus den Daten gewonnen und nicht aus logischen Annahmen abgeleitet.“ (a.a.O.:39)

Offensichtlich kehrt sich hier der gewöhnliche Forschungsprozess um, denn werden nicht empirische Daten zur Bestätigung oder Falsifikation einer zuvor aus der Theorie abgeleiteten Hypothese gebraucht. Im Gegenteil beginnt man mit der Erhebung ohne Annahmen über kausale Zusammenhänge getroffen zu haben. Auch wenn man nicht bestrebt ist, ganz neue Theorien zu erschaffen, so kann diese Herangehensweise auch als ein Verfahren betrieben werden, welches anhand des empirischen Materials zu einem Resultat kommt, dass im Anschluss mit dem bestehenden Theoriekatalog verglichen werden kann. Auf diese Weise wird nicht die Validität einer Theorie durch Testung einzelner aus ihr abgeleiteten Hypothesen gemessen, sondern ex post die Passung der empirischen Befunde mit der Theorie herausgearbeitet.

Dieses Vorgehen deckt sich zwar nicht mit der grundlegenden Idee der Theoriebildung nach Glaser und Strauss, doch weist das Vorgehen große Ähnlichkeiten auf: Das Material ist nicht im Lichte einer bestimmten Theorie zu betrachten, der Forscher ist stattdessen bei der Auswertung auf sich und das Material allein gestellt und entwickelt Zusammenhänge auf planvolle und systematische Weise (a.a.O.: 38). Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, ein Vorgehen zu erarbeiten, dass dem Material gerecht wird und dessen Inhalt nicht verfälscht (ganz im Sinne des oberen Zitats von Mayring). Dafür notwendig ist eine genauere Betrachtung des „Untersuchungsobjekts“. Der nächste Abschnitt legt dar, wie ein systematischer Zugang in eine intersubjektiv geteilte Gedankenwelt konkret aussehen kann.

2.2.2 Latente Sinnstrukturen und ihre Erfassung

Neben den Erwägungen der „Grounded Theory“ bezüglich der Relation zwischen Empirie und Theorie, müssen in einem Forschungsprozess auch inhaltsanalytische Verfahren Anwendung finden, die den subjektiv gemeinten Sinn interpretativ erfassen können. In der Analyse von Texten etwa können die Motive des Akteurs in einem hermeneutischen oder diesem ähnlichen Vorgehen erfasst werden (so etwa die Gründe, weshalb eine Person sich öffentlich äußern möchte). Doch damit nicht genug: Sprichwörtlich „zwischen den Zeilen“ zu lesen bedeutet auch, all jene Aspekte des Textes ausfindig zu machen, die sich wiederholt in den Texten unterschiedlicher Akteure finden und dem Einzelnen möglicherweise nicht bewusst sind. Statt beim subjektiven Sinn eines Individuums stehenzubleiben, muss eine Inhaltsanalyse dieser Art den „kulturellen Sinn der Weltbilder“ (Stachura, 2005: 168) erfassen.

Als geteilte Sinngehalte werden latente Sinnstrukturen allerdings noch nicht von sich aus für den Einzelnen handlungsrelevant, denn dazu bedarf es zweier wesentlicher Bedingungen: Die latenten Sinnstrukturen müssen erstens normative Gültigkeit besitzen, d.h. ihretwegen kann der Akteur die soziale Welt wertend erfassen und sein Handeln danach ausrichten (ebd.). Hierin werden latente Sinnstrukturen zu kollektiven Mustern der Deutung von Situationen. Zweitens treten jene Deutungsmuster dort offen zutage, wo sich in der sozialen Welt Situationen auftun, die assoziativ mit den kollektiv geteilten Weltbildern verknüpft sind. Ereignisse mit großer öffentlicher Resonanz etwa können dazu beitragen, dass latent vorhandene Sinnstrukturen manifest werden und sich in öffentlich sichtbaren Handlungen niederschlagen. Wohlgemerkt ist das nicht gleichbedeutend damit, dass sich die Akteure dieser kollektiv geteilten Inhalte vollauf bewusst sind. Ebenso wenig kann prognostiziert werden, welche konkreten Handlungen von den Akteuren unternommen werden.

Für die Forschung ergibt sich dann die Möglichkeit, den kollektiv-normativen Wissensstand von Gesellschaften, Generationen, Kulturräumen, etc. zu erfassen, denn drückt sich dieser in den öffentlichen Bekundungen und Handlungen gleich welcher Art aus. Diese Bekundungen sind für gewöhnlich auch dadurch motiviert (und das macht die Sache so interessant), dass es keineswegs nur ein kollektiv geteiltes Weltbild innerhalb einer Gesellschaft gibt, sondern im öffentlichen Diskurs verschiedene Weltbilder aufeinander treffen. Das Bedürfnis sich zu äußern wird dann verstärkt, wenn die gegenwärtig in der Öffentlichkeit dominierenden Deutungen mit der prinzipiellen Haltung des Akteurs unvereinbar sind.

2.2.3 Deutungsmusteranalyse

Im Gegensatz zum einfachen Erfassen und Kontrastieren bestimmter Aussagen mittels des gesprochenen Wortes bedarf die Expedition der tiefer liegenden Sinnstrukturen auch eine tiefergehende Analyse des Gesagten. Damit verharrt man nicht auf der Ebene der bloßen Aussagen, sondern bemüht sich darum, den Subtext dieser Aussagen herauszulesen. Zum Vorgehen bei der Deutungsmusteranalyse eignet das folgende Vorgehen:

Zunächst werden Ideen-Aussagen von Policy-Aussagen geschieden (vgl. Stachura, 2005: 171): Ideen-Aussagen beziehen sich auf Aussagen, die den Charakter von wertbasierten Äußerungen tragen. Dabei wird auf „letzte“ Werte rekurriert, die als allgemein Gültig erachtet werden und deshalb selbst nicht begründet werden müssen. Solche Aussagen setzen diese Werte in Bezug zu konkreten Situationen, wodurch der Akteur den defizitären Charakter situationsspezifischer Handlungen anderer Menschen oder deren Konsequenzen aufzeigen möchte. So könnten etwa gemessen an dem als Gültig erachteten Wertmaßstab der „Sparsamkeit“ die Ausgaben eines Bauprojekts als „Verschwendung“ problematisiert werden.

Die Policy-Aussage richtet sich demgegenüber auf die Relation von Mittel und Zweck, indem sie die institutionellen Regelungsmodelle herausstellen, mit denen bereits vordefinierte Ziele erreicht werden können. Sie sind technischer Natur und somit nicht direkt auf höhere Werte bezogen, was sie für die Deutungsmusteranalyse irrelevant macht. Doch ist besonders im Fall von „Stuttgart 21“ Vorsicht geboten: Was wie eine Policy-Aussage aussieht, kann sich im Kontext gelesen tatsächlich als Ideen-Aussage entpuppen. Grund dafür ist gerade die Thematisierung der institutionellen Verfahrensweisen, innerhalb der das Projekt und künftige Entscheidungen getroffen werden sollen: Etwa vor dem Hintergrund möglicher verkehrter Mehrheiten innerhalb des Parlaments und der Bevölkerung, kann die Forderung nach einem „Volksentscheid“ mit dem Rückgriff auf den Wert der „Volkssouveränität“ erfolgen. Hier resultiert der Vorschlag eines bestimmten Verfahrens aus tiefer liegenden Werten, womit man es mit einer Ideen-Aussage zu tun hätte.

Wurde die Auswertung hinsichtlich des Aussagencharakters vorgenommen, kann man mit der tiefergehenden Analyse beginnen, welche nach Stachura auf drei Abstraktionsebenen vollzogen werden muss (vgl. a.a.O.: 173ff.) Auf der ersten analytischen Ebene werden die Ideen-Aussagen zu Deutungsfiguren zusammengefasst, d.h. nach der ihnen zugrundeliegenden Semantik kategorisiert. Damit ist zugleich ein Schema der Codierung geschaffen, welches bestenfalls alle Ideen-Aussagen aufgreifen können sollte, wobei die Codes klar voneinander unterscheidbar sind.

Im Anschluss können die Deutungsfiguren miteinander in Beziehung gebracht werden, indem der den normativen Aussagen zugrundeliegenden Wertbezug rekonstruiert wird. Auf diese Weise werden sie auf der zweiten Analyseebene zu Deutungsmustern vereint. Im vorliegenden Beispiel würden die Deutungsfiguren „Verschwendung“ und „Volksentscheid“ den Deutungsmustern „Sparsamkeit“ bzw. „Volkssouveränität“ zugeordnet werden können. Zur Vermeidung von Redundanzen ist einsehbar, dass es beispielsweise in letzterem Fall kein weiteres Deutungsmuster „Primat des Volkes“ geben darf. Sehr wohl möglich und in dieser Arbeit erwünscht wäre hingegen ein Deutungsmuster „Souveränität des Parlaments“, da dieses in einem negativen Verhältnis zur „Volkssouveränität“ stehen würde.7

Die größtmögliche Aggregation findet auf der dritten analytischen Ebene statt, auf der die Wertbezüge der Deutungsmuster unter einen Grundwert zusammengefasst werden. Die Deutungsmuster „Volkssouveränität“ und „Souveränität des Parlaments“ sind zwar in Bezug aufeinander kontradiktorisch, beziehen sich aber auf denselben Gegenstand des „politischen Selbstbestimmungsrechts“ als gemeinsamer Deutungsdimension.

Wie die Beschreibung der Methode zeigt, handelt es sich bei der Deutungsmusteranalyse klassischerweise um ein induktives Vorgehen, dass den Weg von den einzelnen Ideen-Aussagen über die Deutungsfiguren und -muster zu den Deutungsdimensionen nimmt. Es muss aber nicht zwangsläufig induktiv in dem strengen Sinne sein, dass vor der Auswertung keinerlei Vorannahmen getroffen werden dürfen und bei der Interpretation sämtliche Kontextbezüge außen vor gelassen werden müssen. Der Vorteil der Deutungsmusteranalyse liegt gerade darin, dass sie offen für ergänzende Methoden der Auswertung und Textanalyse ist. Dem von Weber angeführten „deutenden Verstehen“ wird die Deutungsmusteranalyse qua ihrer Beschaffenheit (den drei Analyseebenen) gerecht, unabhängig der konkreten Ausgestaltung der Codierung und Interpretation.

2.3 Methodisches Vorgehen

2.3.1 Evaluation des Materials

Die Auswahl des passenden Datenmaterials benötigt immer die Berücksichtigung der Thematik und der Fragestellung der Arbeit. Tagesaktuelle Ereignisse werden in Unmengen von Schrift-, Bild- und Tonträgern festgehalten, daher ist der Fundus an möglichen Quellen erst einmal gewaltig: Zeitungsartikel, Fernsehberichte, Aufzeichnungen von Sitzungen, Reden von Politikern, Stellungnahmen von Vereinen, Behörden, Unternehmen usw. - letztendlich bedarf es einer Auswahl mit Augenmaß und dem Bewusstsein möglicher Einschränkungen durch das Material selbst.

Auch zu „Stuttgart 21“ wurde viel geschrieben und gesendet. Mit dem Bedürfnis, latente Sinnstrukturen zum Demokratieverständnis aufzudecken, welche möglichst eine Verallgemeinerung auf die Bevölkerung zulassen würden, bleibt davon allerdings nicht viel übrig: Zeitungsberichte erläutern die aktuellen Ereignisse und beschreiben Einstellungen und Handlungen der Akteure. Damit verarbeiten sie praktisch schon Daten - auf journalistische Art. Mittels Zeitungsartikeln eine tiefergehende Analyse vorzunehmen würde daher heißen, Daten „aus zweiter Hand“ auszuwerten und birgt das Risiko, journalistischer Verzerrung auf den Leim zu gehen. Anders verhält es sich mit Stellungnahmen, Redebeiträgen oder Interviews von direkt beteiligten Akteuren: Was sagt die Landesregierung? Was die Deutsche Bahn? Wie äußert sich das Aktionsbündnis?

Der Vorteil des direkten Zugangs zum Gesagten bzw. Geschriebenen kann eine valide Grundlage für das Erkennen der tieferliegenden Deutungsmuster bieten. Allerdings ist es schwerlich möglich, eine Verallgemeinerung auf die Bevölkerung zu vollziehen. Offensichtlich ist die Haltung der Landesregierung oder der Bahn in gewisser Weise durch ihr institutionelles Eingebettetsein gekennzeichnet und es kann zu Recht bezweifelt werden, dass die Aussagen dieser kollektiven Akteure einen (zumal unbewussten) Wertbezug rekonstruieren lassen. Es muss demnach eine Quelle gefunden werden, in denen sich Einzelakteure äußern und deren Äußerung in möglichst nicht sinnentstellter Weise publik gemacht werden. Diese beiden Bedingungen erfüllt das Medium der Leserbriefe.

Für gewöhnlich handelt es sich bei Leserbriefschreibern um Personen, die am tagesaktuellen Geschehen nicht nur interessiert sind, sondern die sich aktiv daran beteiligen wollen. Somit ist der Akt des Leserbriefschreibens selbst als Handlung aufzufassen: Es besteht das Bedürfnis, einen Sachverhalt öffentlich zu bewerten, einen Artikel zu loben oder zu berichtigen, eine Verbindung zu den eigenen Überzeugungen herzustellen. Kein Leser würde sich diese Mühe machen, wenn ihm ein Thema gleichgültig wäre. Genau hierdurch eignet sich dieses Medium zur Analyse der Deutungsmuster, denn finden sich besonders in den öffentlichen Empörungen zahlreiche wertgebundene Ideen-Aussagen.

Es wäre alternativ auch möglich, sich in der virtuellen Öffentlichkeit auf die Suche nach Deutungsmustern zu machen: So böten etwa Internetforen genügend Material für die Auswertung, wobei diese besonders von jüngeren Menschen genutzt werden. Die Problematik an solchen Foren kann allerdings in der niedrigen Eintrittsschwelle und der Anonymität der Autorenschaft gesehen werden. Es kostet kaum Mühe, einen Beitrag in das Internet zu stellen, zumal die Qualität der Beiträge stark schwanken kann und die Anonymität des Internets wilde Beschimpfungen („Flaming“) ermöglicht. Demgegenüber macht es schon mehr Mühe, einen Leserbrief so abzufassen, dass die Redaktion diesen für den Abdruck freigibt. Tatsächlich drucken die Zeitungen inzwischen auch manche Beiträge aus deren eigenen Internetforen ab, sofern diese die Qualitätskriterien eines Leserbriefes erfüllen.

Mit der Vorselektion der Leserbriefe durch die Zeitungsredaktion tritt für den Forscher eine Schwierigkeit zutage. Schließlich liegt ihm nicht das gesamte Datenmaterial zur Vollerhebung oder zur Bildung eines Samplings zur Verfügung. Tritt damit auch hier das für die Zeitungsartikel bereits attestierte „Zweite-Hand“-Problem auf?

Charakteristisch für Leserbriefe ist ja gerade, dass durch sie die Leser zu Wort kommen und man kann einer Redaktion unterstellen, dass sie ein Interesse daran hat, verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen um Leser mit unterschiedlichen Auffassungen an sich zu binden. Vorbehaltlich inhaltlicher Kürzungen und den Kriterium der Qualität werden schließlich die Leserbriefe wortgemäß abgedruckt. Damit wird zumindest die Zugänglichkeit an die vom Leserbriefschreiber sinnhaft gemeinten Inhalte erleichtert. Außen vor bleibt allerdings die Möglichkeit einer Auszählung der in den Leserbriefen vertretenen Ansichten mit dem Ziel ihrer Verallgemeinerbarkeit. Es lässt sich also nicht sagen, dass bspw. die Deutung „Verschwendung von Steuergeldern“ eine andere Deutung „sinnvolle Investition“ übertrumpft, weil bei einer bestimmten Zahl von abgedruckten Leserbriefen die Mehrheit im Sinne der ersten Deutung argumentiere. Dieser Schluss wäre nur bei einer Vollerhebung aller der Redaktion zugesandten Leserbriefe möglich.

Es bleibt die Frage: Führt die fehlende Machbarkeit einer Vollerhebung dazu, dass man zu keinen wissenschaftlich tragbaren Ergebnissen kommen kann? Ausgehend von einem hypothesenprüfenden Verfahren wäre dies sicher richtig, denn kann deshalb dem Kriterium der systematischen Deutungsmusteranalyse im quantitativen Sinne (vgl. Stachura 2005: 183) nicht entsprochen werden. Da es sich in dieser Arbeit aber um eine qualitative Auswertung in dem Sinne handelt, dass aus dem Material heraus die Existenz bestimmter Deutungsmuster attestiert werden soll und keine „Kräfteverhältnisse zwischen den Deutungsmustern gemessen werden“ (ebd.), gilt hier statt dem Kriterium der Vollständigkeit das Kriterium der „theoretischen Sättigung“.8

Das Projekt „Stuttgart 21“ findet zwar bundesweite Aufmerksamkeit, bleibt aber ein lokales Projekt mit dem sich die Bürger vor Ort auseinandersetzen. So ist es sinnvoll die beiden großen Tageszeitungen in Stuttgart zur Auswertung heran zu ziehen. Die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten erreichen zusammen mit den angeschlossenen Regionalzeitungen eine Auflage von etwa 193.000 Exemplaren9 und sind damit die meist gelesenen Tageszeitungen im Raum Stuttgart. Sie gehören beide der Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft mbH an, was dafür spricht, dass es keinerlei Überbietungswettbewerb um den Zeitungsmarkt gibt. Dies muss nicht heißen, dass die inhaltlichen Standpunkte der Redaktionen nicht trotzdem unterschiedlich sein können. Alternative Medien im Raum Stuttgart, wie etwa die besonders von jüngeren Menschen geschätzten Stadtmagazine, wurden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.10 Da es in der Auswertung nicht darum geht, mit den aus dem Material gewonnenen Deutungsmustern ein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung im Raum Stuttgart zu schaffen, wird dies nicht als schwerwiegend erachtet.

Die Untersuchung beschränkt sich bei der Analyse der Zeitungen auf den Großraum Stuttgart (dazu zählen neben der Stadt Stuttgart auch die umliegenden Landkreise Böblingen, Ludwigsburg, Waiblingen und Esslingen), wobei es ebenso möglich ist, dass die Zeitungen auch in anderen Teilen der Welt gelesen werden. Leserbriefe aus anderen Regionen finden daher ebenso Eingang in die Untersuchung, zumal diese häufig einen externen Blick auf die Ereignisse werfen und daher bereichernd sein können.

Das Projekt selbst wird zwar schon seit Jahren diskutiert, doch sind erstmals 2010 die Demonstrationen in der öffentlichen Wahrnehmung präsent. Auch die Kostensteigerungen des Projekts sorgten für ein Anfachen der Diskussionen, die sich auch in den Leserforen der Zeitungen niederschlugen. Nicht nur das Volumen, auch die Inhalte der Leserbriefe haben über die Zeit einen größeren Wandel durchgemacht: Noch 2009 bezogen sich die wenigen Leserbriefe zu „Stuttgart 21“ kritisch auf bestimmte Aspekte des Projekts. Dies änderte sich während des Jahres 2010, als immer stärker die Akteure in der Politik und auf der Straße in den Fokus rückten.

Beachtlich ist auch die Zunahme der Verweise auf das Projekt in Leserbriefen, die sich thematisch auf andere Sachverhalte beziehen. Ob es um die Finanzierung des örtlichen Kindergartens oder um Probleme in der Integrationsdebatte geht, stets wurde von einem Desaster „wie bei Stuttgart 21“ gewarnt. Daran merkt man dass dieses eine Thema die Menschen beschäftigt und andere Themen überragt.

Die in diesem Projekt ausgewerteten Leserbriefe wurden im Zeitraum von Februar 2010 bis August 2011 in den beiden Tageszeitungen veröffentlicht. Der Grund für diesen weit gefassten Zeitraum von 19 Monaten ist die Orientierung an den vielen größeren und kleineren Ereignissen, die während dieser Zeit auf den Straßen, in den Parlamenten und in den Redaktionshäusern vor sich gingen. Gerade weil die Leserbriefe eine Reaktion auf diese Vorgänge darstellen erschien es als wichtig, die wesentlichen Wegmarken in der Chronik des Projekts einzufassen: Vom Baubeginn im Februar 2010 über die Ausschreitungen im Schlosspark im September desselben Jahres, die darauf folgende Schlichtung, bis hin zur Landtagswahl im März 2011.

Nicht immer haben diese Ereignisse die erhofften Ergebnisse geliefert. Insbesondere Aussagen über Politiker und Parteien während dieser Zeit waren häufig in den Leserbriefen platziert, erwiesen sich auf der Suche nach allgemeinen Deutungsmustern aber meistens als nutzlos. Dennoch ließ sich mit dem Verzicht diesbezüglicher Leserbriefe aufgrund des hohen Aufkommens anderer Leserbeiträge gut leben.

Es ist einleuchtend, dass der Auswertungsprozess für den Forscher dem Häuten einer Zwiebel gleichkommt: In dutzenden von Selektionsprozessen werden die Leserbriefe herausgefiltert, die tatsächlich von Relevanz für die Forschungsfrage sind, um schließlich in einer letzten Selektion den Weg in die Arbeit zu finden. Zwangsläufig bleibt dabei viel Material auf der Strecke - manchmal auch solches, das man zuerst für wertvoll erachtete, aber dann doch verwerfen musste. Um den Umfang des Materials zu verdeutlichen: Schon die Auswahl der Leserbriefe die sich thematisch mit „Stuttgart 21“ befassten, beliefen sich auf etwa 280 Seiten.

2.3.2 Gestaltung der Analyse

Der Auswertungsteil der Untersuchung wird sich in drei Blöcke gliedern. Im ersten Block wird die Rolle der Zeitungen für die Leser hinterfragt: Werden die Zeitungen der Rolle als objektive Berichterstatter aus Sicht der Leser gerecht? In öffentlichen Diskussionen in der Art von „Stuttgart 21“ sitzen die regionalen Journalisten möglicherweise leicht zwischen allen Stühlen. Wie reagieren die Redaktionen darauf? Diese Fragen zu stellen ist allein schon deshalb wichtig, da die Journalisten mit ihren Artikeln und Kommentaren nicht nur einfach für die Verbreitung von Botschaften verantwortlich sind, sondern schnell selbst Teil der Debatte werden. Der erste Block dient daher der Vorbereitung auf den Kern der Untersuchung.

Die Deutungsmusteranalyse zur Beantwortung der Forschungsfrage findet sich im zweiten Block, denn hier werden die Leserbriefe systematisch erfasst und nach Deutungsmustern ausgewertet. Hierbei wird ein dreistufiges Verfahren angewandt:

1. Herausarbeiten eines Kategoriensystems: Mittels mehrmaligem Lesen der Leserbriefe werden die wesentlichen Thematiken erfasst und die Leserbriefe danach sortiert. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um eine exklusive Zuordnung handeln kann, denn werden in den Leserbriefen gelegentlich mehrere Thematiken aufgegriffen.
2. Verallgemeinerung zu Deutungsfiguren: Ähnlich dem Vorgehen von Stachura (2005: 173) werden anschließend semantisch ähnliche Ideen-Aussagen in Deutungsfiguren zusammengefasst.
3. Entwicklung von Deutungsmustern: Nun lassen sich in einem weiteren Schritt die Deutungsfiguren mittels ihrer Beziehung zu bestimmten Werten zu Deutungsmustern verallgemeinern. Nachdem die Deutungsmuster entwickelt wurden können die sie repräsentierenden Werte miteinander in Relation gesetzt werden. Die Chance darin liegt in der möglichen Gegenüberstellung sich widersprechender Haltungen. Zu diesem Zweck eignet sich eine Analyse, die die gegensätzlichen Deutungsmuster so kontrastiert, das wesentliche Unterschiede erkennbar werden.

Nach einem Zwischenfazit wird der dritte Block an die Ideen der „Grounded Theory“ anknüpfen. Einschränkungen sind allerdings unumgänglich, da die gewonnenen Ergebnisse aus dem zweiten Block noch keine ausreichende Grundlage für die Erklärung von Kausalzusammenhängen liefern, geschweige denn damit ganze Theorien geschaffen werden können. In zweierlei Hinsicht können die Ergebnisse aber interessant sein: Sie sind Hypothesengenerierend, d.h. aus ihnen können Annahmen für Kausalzusammenhänge gewonnen werden; Dazu lassen sie eine Prüfung bereits bestehender theoriegeleiteter Kausalannahmen zu. Somit kann der Grad der Passung zwischen den empirischen Befunden und den existierenden Theorien austariert werden, wodurch eine Brücke zwischen der Sphäre der Empirie und der Theorie geschlagen wird. Für die vorliegende Untersuchung eignen sich die von Jürgen Habermas vorgeschlagenen Idealtypen dreier normativer Modelle der Demokratie. Auf die Feinheiten eines Vergleichs von empirischen Befunden und (niemals in der Realität anzutreffenden) Idealtypen wird vor Ort hingewiesen.

3 Auswertung

3.1 Die Rolle der Zeitungen

Leserbriefe entstehen meist als Reaktion auf Artikel oder Kommentare, denn kann die Stellungnahme eines Journalisten oder die Art seiner Berichterstattung zu Unmut unter den Lesern führen. Gerade im Fall von „Stuttgart 21“ scheinen immer wieder journalistische Beiträge den Nerv einzelner Leser zu treffen. Diese Provokationen können als willkommene Stimuli gesehen werden, die die Leser zu einer Reaktion veranlassen. Sie offenbaren ihre Werthaltungen und liefern so dem Wissenschaftler sein Material.

Dass in einer aufgeheizten Debatte auch die Zeitungen zwischen alle Stühle geraten können, kann anhand eines Kommentares in der Stuttgarter Zeitung vom September 2010 deutlich gemacht werden. So schreibt der Journalist,

„[d]ie Debatte über das Bahnprojekt Stuttgart 21 hat längst diesen [extremen] Grad der Polarisierung erreicht, und die Redaktion der Stuttgarter Zeitung sitzt gemessen an der Wucht der Leserreaktionen längst nicht mehr zwischen den Stühlen, sondern eher zwischen den Mahlsteinen.“ (Artikel der StZ, 01.09.10)11

Interessanterweise soll mit dem Artikel keineswegs erreicht werden, dass sich die Leserschaft in die schwierige Lage der Redakteure hineinversetzt und nicht jeden Kommentar auf die Goldwaage legen solle. Die Zeitung geht einen anderen Weg:

„Aber es ist der Anlass, das grundsätzliche Dilemma der Zeitung zu thematisieren: Sie muss Stellung beziehen, wissend, dass sie in heftigen Gefechten nie allen gerecht werden kann. Die Stuttgarter Zeitung hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21: Wir sehen das Vorhaben positiv, weil wir in dem Ausbau der Schieneninfrastruktur eine große Chance für die Stadt, für die Region und das Land sehen. Zu dieser generellen Einschätzung, die in einer großen und selbstbewussten Redaktion natürlich fast ebenso kontrovers diskutiert wird wie in der Stadt, steht die Stuttgarter Zeitung unverändert. Gleichwohl sehen wir das Projekt in Einzelpunkten kritisch (…)“ (ebd.)

Es scheint ein Paradox zu sein, doch die Parteilichkeit zumindest der Stuttgarter Zeitung scheint von der Redaktion als unproblematisch, von einigen Lesern aber als Problem wahrgenommen zu werden: So geht die Positionierung der Redaktion mit dem Vorwurf mangelnder Objektivität und fehlender Distanz einher. In der Konsequenz fühlen sich einige Leser von der Haltung ihrer Zeitung vor den Kopf gestoßen, wie zahlreiche Leserbriefe in Reaktion auf eine Sonderbeilage zu „Stuttgart 21“ dokumentieren:

„Sie meinen immer noch, die Leser manipulieren zu können.“ (StZ 27.09.10)

„Seit meiner Schulzeit vor über 50 Jahren und als jahrelanger Abonnent habe ich die StZ geachtet und sie war Maßstab zur persönlichen Meinungsbildung. Das ist ein für alle Mal Vergangenheit. Pfui Teufel, schämen Sie sich eigentlich nicht? (…) Was ist nur aus diesem einstmals seriösen Blatt geworden?“ (StZ 27.09.10)

„Volksverdummung par excellence!“ (StZ 28.09.10)

„Meinungsmache durch unseriöse, einseitige und verdrehte Darstellung zu S21.“ (StZ 04.10.10)

Besonders in den Reihen der „Stuttgart 21“-Gegner ist der Unmut über die Berichterstattung groß. In einer Umfrage unter den Demonstranten während einer Montagsdemonstration im Oktober 2010 schätzen 86% der Befragten die Stuttgarter Zeitung und 81% die Stuttgarter Nachrichten als parteiisch ein. Demgegenüber wird die Berichterstattung des SWR „nur“ von etwa der Hälfte der Befragten als parteiisch angesehen (Rucht et al. 2010: 8).

Es gibt aber auch Stimmen, die sich in den Leserbriefen für das Projekt aussprechen, aber ebenso wenig von der Berichterstattung halten. Im Unterschied zu den mit Emotionen aufgeladenen Briefen der Gegnerschaft sind diese in einem eher nüchternen Ton verfasst, ohne dabei an Deutlichkeit einzubüßen:

„Da sich offensichtlich einige Mitarbeiter Ihrer Reaktion bereits gegen Stuttgart 21 entschieden haben, vermisse ich eine objektive Darstellung der Sachverhalte. Mit Befremden nehme ich zur Kenntnis, dass in den Leserbriefen wiederholt die Gegner von Stuttgart 21 die Klugheit für sich reklamieren, während den Neutralen und den Befürwortern jede Intelligenz abgesprochen wird.“ (StZ 18.08.10)

„Ich sehe mit Sorge, wie sich die Stuttgarter Zeitung zunehmend dem Willen der Straße beugt.“ (StZ 04.10.10)

„Aufmerksam lese ich die Reportagen. Besonders die anfänglichen Berichte hatten mit dem Zukunftsprojekt S 21 nichts zu tun. Vielmehr entsteht der Eindruck, man hätte die Parteizeitung ‚Die Grünen‘ vor sich.“ (04.11.10)

Interessant ist hier die Differenziertheit in den Leserbriefen: Der erste Leserbrief adressiert nicht die gesamte Redaktion, sondern lediglich einige Mitarbeiter und geht dann über in die befremdliche Darstellung durch andere Leserbriefschreiber (und nicht etwa der Redakteure). Der kurze Einwurf des zweiten Leserbriefes gutiert der Zeitung implizit, dass sie eine Position für „Stuttgart 21“ eingenommen hat, welche sie durch den Druck zu verlieren droht. Aus dem dritten Leserbrief geht hervor, dass hier ein aufmerksamer Befürworter in den anfänglichen Berichten, womöglich aber nicht in den Späteren, eine Tendenz der Zeitung gegen das Projekt herausliest.

Offenkundig stoßen sich also besonders die Projektgegner an der Berichterstattung der Stuttgarter Zeitung, was in den emotional stärker aufgeladenen Briefen zum Ausdruck kommt. Mit dem offenen Bekenntnis der Zeitung zu „Stuttgart 21“ können die Befürworter unter den Lesern natürlich besser umgehen - wenn auch diese nicht weniger kritisch mit ihrer Tageszeitung sein mögen. Für die Stuttgarter Nachrichten blieben solche Debatten über die Qualität der Berichterstattung weitestgehend aus, was vermutlich auch am fehlenden öffentlichen Bekenntnis der Redaktion liegen kann.

3.2 Deutungen in der Diskussion um „Stuttgart 21“

3.2.1 Restriktive Deutung des Demonstrationsrechts

Für Gewöhnlich ist das Recht auf Demonstration ein wesentlicher Bestandteil der Bürgerrechte und als solcher in der Verfassung niedergeschrieben. Doch mit der Ausübung dieses Rechts können Einschränkungen für Unbeteiligte einhergehen. Ohne Ansehen der Motive und Zusammensetzung der Demonstranten werden in einer restriktiven Deutung des Demonstrationsrechts die Kosten für die Allgemeinheit herausgestellt. Die Leserbriefe geben Auskunft über zwei Arten von Kosten: Die finanziellen Kosten der Demonstration, d.h. des Polizeiaufgebots und möglicher Sachbeschädigung, sowie die Einschränkungen für Passanten in ihrem Tagesablauf.

„Bei Stuttgart 21 gehen die Gegner auf die Straße, um zu blockieren. Was wurde schon alles demoliert! Das Geld ist hinausgeworfen.“ (StN, 16.04.11)

„Es kann nicht toleriert werden, dass Unbeteiligte genötigt werden, indem man Straßen und Gleise blockiert. Es werden immer die hohen Kosten für Stuttgart 21 kritisiert, aber die Kosten welche die Gegner durch ihr Verhalten verursachen, diese werden nicht bilanziert.“ (StZ, 31.08.10)

Aus diesen Aussagen geht hervor, dass das Verhalten der Demonstranten als verwerflich angesehen wird. Dieses zugeschriebene Verhalten wird verallgemeinert auf „die Gegner“, die sich illegaler Aktionen hingeben und dadurch der Gemeinschaft Kosten aufbürden. Die Argumentation möchte ein wesentliches Argument der Projektgegner offensichtlich ausstechen, indem die von ihnen mutmaßlich verursachten Kosten gegen die hohen Kosten des Projekts aufgerechnet werden.

Nicht nur in diesen Darstellungen werden die Demonstranten mit negativen Attributen belegt. In einigen Leserbriefen wird bewusst unterschieden zwischen dem prinzipiellen Recht eines jeden Bürgers sich an Demonstrationen zu beteiligen und dem Einzelfall, also der Wahrnehmung dieses Rechts durch Stuttgarter Bürger. Hier ein Beispiel:

„Seine ablehnende Meinung gegen das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 im Rahmen von Protestaktionen zu äußern, ist das gute Recht eines jeden Bürgers. Dies ist aber nur zu tolerieren, solange diese konstruktiv und friedlich verlaufen. Das jedoch, was sich momentan in Stuttgart abspielt, geht zu weit. Protestaktionen (...) beeinträchtigen unbeteiligte Bürger in ihrem geregelten Tagesablauf.“ (StZ, 31.08.10)

Die Hauptunterscheidung liegt damit zwischen der Deutung von „friedlicher Demonstration“: Ist eine Kundgebung friedlich, wenn sie keinerlei Unbeteiligte behindert und keine spontanen Besetzungen durchführt? Wenn diese Schwelle überschritten ist, kann dann von Gewaltanwendung seitens der Demonstranten gesprochen werden? Immer wieder werden von Lesern Befunde vorgetragen, die auf eine missbräuchliche Anwendung des Demonstrationsrechts hinweisen sollen: Bedrohung von Personen, Beschimpfung demokratisch gewählter Politiker, Populismus.

So stellt sich die Frage, ob die negativen Zuschreibungen singulär auf die Demonstranten gegen „Stuttgart 21“ bezogen sind, so wie es die Leserbriefe suggerieren. In diesem Fall wäre das Prinzip des Demonstrationsrechts unangetastet und als Wertegrundlage akzeptiert. Weiter ließe sich dann aber fragen, ob die Aversion gegen die Demonstranten nicht eher durch den eigenen konträren Standpunkt zu „Stuttgart 21“ moderiert ist. Oder die negativen Zuschreibungen beziehen sich generell auf die Anwendung des Demonstrationsrechts, sei es durch die Projektgegner oder durch andere zivilgesellschaftliche Akteure. Hierbei wäre die Betonung des Demonstrationsrechts eher plakativ, da jede Form der Wahrnehmung desselben als mindestens am Rande der Legalität erachtet werden würde.

Neben der kollektiven Zuschreibung von negativen Attributen gibt es auch Stimmen, die hinter den Demonstrationen Strippenzieher vermuten, ohne diese aber konkret zu benennen:

„Stuttgart 21 ist ein Beispiel, wie sich Demagogen eines griffigen Themas annehmen und Bürger auf die Straße bringen, die üblicherweise am Abend friedlich Äffle und Pferdle gucken.“ (StZ, 14.10.10)

Der Begriff der Demagogie unterstellt den Demonstranten implizit, sie seien wenig reflektiert und folgten blind den Anweisungen einer undefinierten Gruppe an Aufwieglern. Verstärkt wird dies durch die Aussage, diese Bürger schauen „üblicherweise am Abend friedlich Äffle und Pferdle“, wodurch der Eindruck entsteht, es handele sich um ein Täter-Opfer-Verhältnis zwischen unbescholtenen Bürgern und den Führern der Bewegung.

Diese Zuschreibung weicht von der vorigen sichtlich ab, da nun nichtmehr alle Beteiligten generalisiert mit negativen Eigenschaften versehen werden. Die Verantwortungslosigkeit liegt hier nicht bei den Demonstranten, die das Demonstrationsrecht in friedlicher Absicht nutzen. Das Argument der Demagogie zielt stärker auf die untergeschobene Motivation der Menschen ab: Die Leserbriefautoren sehen, dass man die Demonstranten mit falschen Informationen gelockt habe und diese sich nun einbilden, quasi aus „freien Stücken“ gegen „Stuttgart 21“ zu sein. In Wahrheit handele es sich aber um eine Instrumentalisierung der Bevölkerung zu dem eigennützigen Zweck, die politische Mehrheit (etwa die des Parlaments) zu schwächen:

„Wenn Agitatoren Erwachsene wie Kinder gegen demokratische Entscheidungen auf die Straße bringen, müssen verantwortliche Menschen auch bereit sein, für Demokratie zu kämpfen und nicht noch schwächer werden. Wohin Schwäche führt, zeigte 1933. (…) Es lohnt sich, für die Demokratie zu kämpfen, oder wollen wir wieder, dass Minderheiten von rechts oder links wieder das Sagen bekommen?“ (StZ, 4.10.10)

Ausgehend von der Idee, es gäbe sichtbare Mehrheiten, ob im Parlament oder innerhalb der Gesamtbevölkerung, wird davor gewarnt, dass mittels der Straße Minderheiten in eine politisch mächtige Position begeben könnten. Offensichtlich ist dies ein Beispiel für eine ausgesprochen restriktive Haltung gegenüber dem Demonstrationsrecht, wenn auch hier ein weiteres Mal nicht festgestellt werden kann, ob sich diese Aussage ausschließlich auf die Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ bezieht. Hier geht es um die Verteidigung der Demokratie durch verantwortliche Menschen, die verhindern sollen, dass durch die Demonstrationen - die ja eigentlich Bestandteil der Demokratie sind - die Demokratie geschwächt wird. Hierin läge das Bestreben der Aufrührer. Dass hier statt dem Begriff der Demagogie die Personifizierung „Agitatoren“ verwendet wird, ist insofern zweitrangig, als dass sich die Strategie die in beiden Leserbriefen unterstellt wird gleicht: Die Bevölkerung wird irrgeleitet und dadurch auf die Straße gebracht.

Schließlich ergibt sich für das Deutungsmuster der restriktiven Deutung des Demonstrationsrechts folgender Befund: Seine Anhänger sehen die Ausübung dieses Rechts kritisch, wobei die Skala von der Einschätzung der Aktionen der Projektgegner von unangenehm bis gefährlich reicht. Unangenehm vor allem für Unbeteiligte, die sich in ihrem Alltagshandeln gestört fühlen, gefährlich für die Vertreter der These, es gäbe eine Gruppe an Aufrührern, die nicht mehr auf dem Boden der Demokratie stünden. Unterschiede ergeben sich in der Zuschreibung von Verantwortungslosigkeit, die in letzterem Fall nicht auf alle Projektgegner bezogen wird.

3.2.2 Universale Deutung des Demonstrationsrechts

Im Vergleich zur restriktiven Deutung geht es den Vertretern der universalen Deutung des Demonstrationsrechts gerade darum herauszustellen wie bedeutsam öffentliche politische Bekundungen sind. Demokratie wird hier als aktives Mitwirken am politischen Geschehen aufgefasst. Dabei wird die Gewaltfreiheit der Demonstrationen besonders herausgehoben:

„Als Teilnehmerin der Demo am Montag kann ich nur sagen, dass ich Tausende friedlich protestierender Menschen erlebte. Wenn ganz wenige das Menschengemenge ausnutzen, um gewalttätig gegen Polizisten aufzutreten, verurteile ich dies, verwahre mich aber dagegen, dass die überwältigende Mehrheit der Demonstranten damit in ein schlechtes Licht gerückt wird.“ (StZ, 04.08.10)

Der Leserbrief warnt davor, den Demonstranten unberechtigterweise die Anwendung von Gewalt vorzuwerfen. Die Leserbriefautorin leitet dies aus ihrer Erfahrung auf einer der Demonstrationen ab und möchte dadurch ihre Aussage legitimieren. Interessant ist, dass sie an den Eindruck den sie von den Demonstranten hatte einen Bedingungssatz anknüpft der eine für sie vermutlich nicht vorstellbare Situation schildert: Dass nämlich „ganz wenige das Menschengemenge ausnutzen, um gewalttätig gegen Polizisten aufzutreten“. Sie macht dabei deutlich, wo für sie die vom Demonstrationsrecht zugestandene Freiheit endet. Attacken gegen die Polizei dürften nicht geduldet werden.

Auch andere Autoren nehmen Stellung zur Frage, wann politische Aktionen friedlich sind und wo das Maß überschritten ist:

„Anketten oder sich vor Baufahrzeuge legen ist keine Gewalt. (…) Auch Mahatma Gandhi hat Straßen blockiert. Wer wagt es, ihn als gewaltbereit zu bezeichnen? Sich so zu verhalten ist gewaltfreier Widerstand.“ (StN, 28.06.10)

„Dennoch war auch dieser Protest ein absolut bürgerlicher. Bereits während der mittlerweile 36. Montagsdemo wurde die Aktion der Besetzer von Menschen unterschiedlichster Gruppen friedlich und kreativ unterstützt.“ (StZ, 04.08.10)

In dem oberen Leserbrief wird der Begriff des gewaltfreien Widerstands erklärend eingeführt. So heißt es, dass Aktionen jenseits der bloßen Demonstration ebenso gewaltfrei sind und als legitim erachtet werden. Ein solches Verhalten wird als generell angemessen, also unabhängig vom konkreten politischen Kontext gesehen, wie die Berufung auf Gandhi zu zeigen scheint. Zweifellos soll die Berufung auf Gandhi zusätzliche Legitimation beim Leser hervorrufen, wobei die rhetorische Frage dem Leser keinen Spielraum in der Interpretation von gewaltfreiem Widerstand lassen möchte.

Häufig wird der Begriff „bürgerlich“ verwendet um herauszustellen, dass das Verhalten eng mit der Bürgerrolle verknüpft ist. Sofern sich die Leser dieser Zeilen (wovon auszugehen ist) selbst als Bürger bezeichnen, wird damit der Graben zwischen den Demonstranten und den Menschen in ihren Wohnzimmern verkleinert: weil man sich mit der Bürgerrolle identifiziert, müsse man sich auch mit den Protestierenden identifizieren - sie leben diese Rolle. Im zweiten Leserbrief bedeutet der Begriff des bürgerlichen aber noch etwas mehr: Der Autor hätte ebenso gut schreiben können: „Dennoch war auch dieser Protest ein absolut friedlicher“. Offenbar hat er dies bewusst vermieden, da das Bürgerliche mit dem Friedlichen gleichgesetzt werden sollte. Auch die Wendung der friedlichen und kreativen Unterstützung der Besetzer weist implizit darauf hin, dass die Besetzung ebenso ein friedlicher Akt sein müsse. Würde dies explizit gemacht und von der „friedlichen Aktion der Besetzer“ gesprochen werden, wäre wiederrum ein Bruch mit dem bürgerlichen Leser zu befürchten, für den eine Besetzung möglicherweise eher ein Dorn im Auge ist als eine legitime Art der Unmutsbekundung.

Das Bürgerliche als Synonym für gewaltfrei und friedlich im Gegensatz zu dem Chaotischen und der Gewalt kommt auch in folgenden Passagen zum Ausdruck:

„(…) diese empörten Bürger sind keine gewaltbereiten Park-Anarchos und entstammen nicht der auf Krawall gebürsteten Schmuddelszene. Keineswegs handelt es sich bei dieser Bürgerbewegung und einen parteipolitisch gesteuerten Schachzug, sondern um intelligente Menschen mit sehr klugen Argumenten.“ (StN, 02.04.11)

Die Bürger bleiben im Sinne des Wortes gefasst: Sie empören sich, das heißt sie sublimieren ihre Affekte und lassen trotz des vorhandenen Potentials nicht zu, dass ihr Verhalten in Gewalt umschlägt. Mit anderen Worten sie verhalten sich als Bürger (lat.: civis) zivilisiert, erhalten die Ordnung und grenzen sich dadurch von „gewaltbereiten Park-Anarchos“ ab. Auch das Herausstellen der Eigenständigkeit der „Bürgerbewegung“ durch die Zuschreibung von Intelligenz und Klugheit kann als Antwort auf den Vorwurf gelesen werden, wonach eine Gruppe von Agitatoren/Demagogen versucht, die Bewegung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Auf die Bezeichnung „empörte Demonstranten“ wird auch deshalb verzichtet, da das Hervorheben des Selbstbewusstseins und die Fähigkeit zur Reflexion eine neue Bürgerrolle beschreiben soll, mit der sich möglichst viele Menschen angesprochen fühlen mögen.

Ein anderes Zeichen für das Bestreben der Projektgegner nach Legitimation ihres Handelns, aber auch zur Schilderung ihrer Wahrnehmung der Demonstrationen, ist das Herausstellen der vielfältigen Zusammensetzung der Menschen, die zum Demonstrieren auf die Straße gehen. Besonders in Reaktion auf die Ereignisse am 30. September 2010, der Räumung des Schlossparks, wurde dies nochmals herausgestellt:

„Dieses Megaprojekt, das die Seele der Stadt zerstört, ist nicht durchführbar, wenn es von so vielen Bürgern - von Schülern bis zu über 80-Jährigen - so dauerhaft aktiv abgelehnt wird.“ (StN, 02.10.10)

„Das brutale Vorgehen der Polizei in Stuttgart hat ganz Deutschland geschockt. Hier geht es nicht um militante Protestler, sondern hier geht man gegen Schüler, Bürger der Mittelschicht und alte Menschen vor. Gegen jene Bürger also, die einen Querschnitt des Staates darstellen und die im Gegensatz zu den Politikern noch ihren gesunden Menschenverstand haben.“ (StN, 02.10.10)

Häufig wird betont, dass es sich bei den Demonstranten um einen Querschnitt der Bevölkerung handelt, was besonders am Alter der Beteiligten festgemacht wird.12 Interessant ist abermals die Betonung des Bürgerbegriffs, wobei dieser sich im zweiten Leserbrief auf die Angehörigen der Mittelschicht bezieht. Warum ist es möglicherweise wichtig diese Einschränkung zu machen? Das subjektive Zugehörigkeitsgefühl zur Mittelschicht unabhängig der tatsächlichen objektiven Lage wurde schon häufiger durch Studien belegt (vgl. die Darstellungen in Geißler, 2006: 97ff.) und der Leserbriefautor möchte womöglich an dieses solidarisierende Moment anknüpfen Eventuell liegt es auch daran, dass unter den Lesern besonders diese Menschen anzutreffen sind: Menschen der Mittelschicht bzw. solche, die sich ihr zugehörig fühlen. Damit entfallen auch negative Eigenschaften, die oft mit der Unterschicht und der Oberschicht assoziiert werden.

Für das Deutungsmuster der universalen Deutung des Demonstrationsrechts ergibt sich abschließend der Befund, dass die aktive Ausübung als Teil der Bürgerrolle verstanden wird. Es wird hervorgehoben, dass jeglicher gewaltfreier Widerstand vonseiten der Bürgerschaft als Zeichen für eine lebendige Demokratie gesehen wird, wobei darunter auch Besetzungen und Blockaden zu zählen sind. Der Eindruck entsteht, dass es einer Verpflichtung gleich kommt, sich als guter Bürger zu empören und sich öffentlich Gehör zu verschaffen.

Interessanterweise wird der Maßstab der Legalität besonders von den Vertretern der restriktiven Deutung angelegt, während die Vertreter der universalen Deutung eher mit dem Maßstab der Legitimität von gewaltfreiem Widerstand hantieren. Grundsätzlich aber gilt dabei die universale, kontextunspezifische Anwendbarkeit der darunter subsumierten Aktionsformen des zivilen Ungehorsams.

3.2.3 Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens

Einen wesentlichen Kern der Diskussionen um „Stuttgart 21“ machen die politischen Verfahrensweisen aus, mittels derer die Entscheidung zu dem Großprojekt zustande gekommen ist, denn die Legitimation eines auf Delegation beruhenden rein parlamentarischen Systems scheint fortan nicht mehr garantiert zu sein. Manche Leserbriefeschreiber und Projektbefürworter sehen im In-Frage-stellen der repräsentativen Demokratie eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie überhaupt:

„Ich habe das Nazi-Regime und die kommunistische DDR mit ihren Massenhysterie erzeugenden Propaganda-Apparaten erlebt und betrachte deshalb unsere Repräsentative Demokratie als ein Geschenk.“ (StN, 25.09.10)

„Damit sich Geschehnisse der Vergangenheit nicht wiederholen, hat sich die BRD eine repräsentative Demokratie gegeben, in der die gewählten Vertreter die Entscheidungen treffen. Und auf dieser Ebene muss verhandelt und entschieden werden, nicht auf der Straße.“ (StZ, 06.10.10)

Unzweideutig wird von beiden Autoren der Wert der repräsentativen Demokratie stark gemacht, da diese Form der Staatsverfassung als Lehre aus den bitteren Jahren des Landes eingeführt wurde. Ein Verlust der Wertschätzung dieses Systems käme so einem politischen Rückfall gleich. Der Autor des ersten Leserbriefes bringt dazu seine Erfahrungen mit ein und erinnert an die „Propaganda-Apparate“ der beiden Regime, wobei daraus implizit eine Warnung für die Zukunft herausgelesen werden kann (aber nicht notwendig herausgelesen werden muss): Es ist Vorsicht vor allerlei Scharfmachern geboten, die durch Populismus einen Vorteil erringen wollen - nur die repräsentative Demokratie garantiere es, dass diesen Leuten keine politische Macht zu Teil wird.

Neben der Gefährdung der Demokratie insgesamt empören sich die Projektbefürworter auch über die Ignoranz der Gegnerseite bezüglich der in ordentlichen Verfahren zustande gekommenen Beschlüsse. Wie schon aus dem zweiten Leserbrief hervorgeht, beharren die Befürworter darauf, dass auf parlamentarischer Ebene Entscheidungen gefällt werden. So sehen viele die Souveränität des Parlaments unberechtigterweise in Frage gestellt. Dazu heißt es:

„Selten wurde ein Großprojekt in der Bundesrepublik Deutschland demokratischer beschlossen als Stuttgart 21. Der Bundestag, der Landtag von Baden-Württemberg und der Gemeinderat von Stuttgart stimmten mit großer Mehrheit Stuttgart 21 zu. Alle Klagen dagegen wurden von den Gerichten abgewiesen. Exekutive und Legislative sind auf einer Linie.“ (StN, 06.09.10)

Interessant ist die Beschaffenheit dieses Leserbriefes. Eingeleitet mit der These, dass selten etwas demokratischer beschlossen wurde, leitet er über in eine Aufzählung von Fakten, die sich alle auf das Verfahren beziehen. Offensichtlich möchte der Autor damit nicht argumentieren, sondern die Dinge klarstellen. Es scheint ganz so, als seien diese Tatsachen unumstößlich und aufgrund ihrer Beschaffenheit als Tatsachen nicht verhandelbar. Ebendies deutlich zu machen ist der Zweck dieser Aufzählung, doch stellen sich diese Passagen als Appell an das demokratische Gewissen der Leser dar. Es wäre möglich, dass der Autor die Leserschaft insofern unterschätzt, als dass sich unter ihr Personen finden mögen, die bereits Zweifel an der Richtigkeit solcher Verfahren haben, womit dieser Appell bei ihnen keine Resonanz finden würde.

Die Legitimität des repräsentativen Systems basiert besonders auf der Vorstellung, die gewählten Politiker vertreten die Interessen der Bevölkerung. Sofern sich also eine Mehrheit unter den Wahlberechtigten für die Positionen einer Person oder einer Partei ausspricht, findet sich nach der Wahl diese Mehrheit auch im Parlament. Die Zusammensetzung des Parlaments entspricht somit den gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnissen, woraus das Recht der Mandatsträger abgeleitet wird, für die politische Gemeinschaft verbindliche Entscheidungen zu treffen. Dieser Vorstellung folgend entspräche der Akt des Wählens einer Bürgertugend und Angriffe auf das Repräsentativsystem kämen einer Entehrung dieses Aktes gleich:

„Ich frage mich, ob es noch Sinn macht, wählen zu gehen, wenn das, was die Gewählten beraten und beschlossen haben, massenhaft missachtet und bekämpft wird und die Gewählten sich übelste Diffamierungen gefallen lassen müssen, wie das beim Protest gegen Stuttgart 21 der Fall ist.“ (StN, 26.03.11)

Besteht der Beitrag zum politischen Leben im Wesentlichen in der Wahl der Volksvertreter, wird das Verhalten der Projektgegner zu einer Art politischem Sinnverlust führen, welches hier zum Ausdruck gebracht wird. Hier wird der Schulterschluss mit den Mandatsträgern und der Regierung gesucht, da es ihnen möglicherweise an Durchsetzungsvermögen mangelt: Das Beschlossene wird „massenhaft missachtet und bekämpft“ - es besteht kein Respekt vor den Regierenden. Da Respekt und Vertrauen allerdings notwendige Voraussetzung für das repräsentative System sind, kommt die Verteidigung der Regierenden der Verteidigung des ganzen Systems der parlamentarischen Demokratie gleich.

Aber kommen in dieser Deutung der Demokratie als Delegation der politischen Entscheidungsbefugnis auch alternative Verfahrensweisen in Betracht? Nicht nur von Teilen der Projektgegner, auch von der SPD wurde ein Volksentscheid als neues Verfahren in die Diskussion eingebracht. Doch wird dieser Vorschlag mit Argwohn betrachtet:

„Ein Volksentscheid soll's richten. Von unseren Repräsentationsorganen bereits ergangene Beschlüsse sollen nachträglich zur Disposition gestellt werden. Das ist paradox, absurd und verfassungsrechtlich unmöglich. Gilt der demokratische und juristische Primat des Parlaments nicht mehr?“ (StN, 29.04.11)

„(...) mache ich mir ernsthaft Sorgen, dass ein zwar in die Jahre gekommenes, aber mehr als bewährtes System der repräsentativen Demokratie in Gefahr gerät. (...) Eine zunehmende unmittelbare Beteiligung der Bevölkerung an schwierigen, komplexen und weitreichenden Entscheidungen wird für mich nicht stabilisierend wirken. Im Gegenteil!“ (StZ, 14.10.10)

Der erste Leserbrief verwirft diese Idee und knüpft damit an die vorige Argumentation an. Jegliche Änderung der Verfahrensweisen bedarf eines guten Grundes. Wenn aber keine Problematik in den bisherigen Verfahrensweisen gesehen wird, wären institutionelle Veränderungen unangebracht. Die Sorgen eines Oberbürgermeisters im zweiten Leserbrief zeigen auf, dass man sich zumindest Gedanken über die möglichen Vor- und Nachteile von Volksentscheiden macht. Sein Ergebnis fällt allerdings zuungunsten dieses Vorschlags aus, da die politischen Entscheidungen für eine solche Abstimmung nicht handhabbar wären. Befürchtet wird eine Destabilisierung des politischen Systems.

Zusammengenommen ist das Deutungsmuster, wonach repräsentative Verfahren Gültigkeit besitzen müssen, aus den Leserbriefen klar abzulesen. Hier geht es um eine grundsätzliche Haltung zur Beschaffenheit der demokratischen Institutionen und die fällt zugunsten des Status Quo aus. Die Entrüstung liegt wie man sehen konnte darin begründet, dass es als Affront aufgefasst wird solche letzten Werte wie die Loyalität mit der repräsentativen Demokratie zu hinterfragen. Ein zentraler Wert von dem man dachte, er erfahre allgemeine Unterstützung in der Bevölkerung.

3.2.4 Defizite in der Politik

Bisher beschränkte sich die politische Partizipation auf den öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess sowie auf Wahlakte. Das Bestreben nach direkter Beteiligung an Entscheidungsprozessen ist eine Antwort auf die Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit der politischen Führung im Land. Ausdruck findet diese auch in den Leserbriefen, in denen besonders der Umgang der Politiker mit der politischen Öffentlichkeit gerügt wird:

„Wann werden die Politiker uns Bürger ernst nehmen? Wir lassen uns nicht mehr durch Fehlinformationen oder das Verschweigen von Fakten in unserer Meinungsbildung manipulieren.“ (StZ, 22.03.11)

„(...) unsere Not ist immens, unsere Wut auf arrogante, korrupte Politiker, die nur ihre Klientel bedienen, unbeschreiblich. Da werden gefährliche Entscheidungen mit der Brechstange durchgesetzt - gegen das Interesse des Gemeinwohls, dafür aber im Interesse von Habgierigen aus der Wirtschaft.“ (StN, 08.04.11)

Beide Leserbriefe schildern die Situation so, dass der Leser sich unweigerlich als Teil der Politikerkritischen Position sehen muss: Die Begriffspaarungen „uns Bürger“, „Wir lassen uns nicht (…) manipulieren“ und „unsere Not“ / „unsere Wut“ weisen darauf hin, dass die Autoren den Leser zum Komplizen machen und zum Nachdenken über seine Erfahrungen mit der Politik bringen wollen. Auch der Ausdruck „Interesse des Gemeinwohls“ hat eine ähnliche Wirkung. Er unterstellt, dass es andere Interessen geben muss, private Interessen, die bislang bevorzugt behandelt werden, um dann explizit die Interessen der „Habgierigen aus der Wirtschaft“ darunter zu fassen.

Dagegen stellen sich die „Wutbürger“. Die Zuschreibungen „arrogante und korrupte Politiker“ verweisen auf ein generelles Misstrauen gegenüber den gewählten Vertretern. Generell auch deshalb, da keinerlei Unterschiede etwa zwischen Opposition und Regierung gemacht werden. Dem generellen Misstrauen geht das Versagen der gesamten politischen Klasse voraus und man kann diesen Zeilen die Deutung entnehmen, dass mit dem Ausdruck „Klientel bedienen“ eine unterlegene Haltung der Politik gegenüber der Wirtschaftsmächtigen angesprochen wird. Insofern würde dem politischen System die Macht abhandenkommen, Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls zur Umsetzung zu bringen.

Man entnimmt den ersten Leserbrief die Auffassung, es herrsche ein gestörtes Verhältnis zwischen den Bürgern und den Politikern. Während diese Störung in der Deutung einiger Verfechter der repräsentativen Demokratie noch auf den fehlenden Respekt der Bürger gegenüber der Politiker zurückgeführt wurde, wird an dieser Stelle argumentiert, die Bürger werden nicht mehr ernst genommen, d.h. die Anliegen des Volkes werden von den Politikern ignoriert. Es findet hier somit eine verkehrte Schuldzuschreibung statt, denn haben sich die Bürger aufrichtig verhalten, die Politiker allerdings nicht. Der Vorwurf der Manipulation bezieht sich auf den Umgang mit Informationen und Fakten, welcher besonders im Fall von „Stuttgart 21“ für Unmut gesorgt hat.

Als defizitär wird in den Augen mancher Leserbriefschreiber auch die Flucht der Politiker aus der Verantwortung nach ihrer politischen Laufbahn erachtet. Vorstellbar sei, dass dies zu einer allzu kurzfristigen Folgeabwägung führt und die Entscheidungsträger nicht für negative Konsequenzen geradestehen müssen.

„Das gravierendste politische Problem jedoch (...) besteht darin, dass die Politiker, die heute Entscheidungen erzwingen, später, wenn sie gar nicht mehr regieren oder bereits im Ruhestand sind, nicht mehr gerichtlich herangezogen werden können, wenn die Konsequenzen eingetreten sind, die sie vom Tisch gewischt haben, und sie dafür verantwortlich gemacht werden könnten.“ (StZ, 02.12.10)

Die Politiker, so der Tenor dieser Passagen, sind risikofreudig weil sie sich bewusst sind, dass sie später nicht rechtlich belangt werden können. Die Risikofreude kommt in den Formulierungen „Entscheidungen erzwingen“ und „Konsequenzen (…) die sie vom Tisch gewischt haben“ zum Ausdruck. Auch in diesen Verhaltenszuschreibungen zeigt sich der Aspekt der Ignoranz, hier aber nicht gegenüber dem Gemeinwillen, sondern gegenüber der Alternativen.

Verantwortungsloses Handeln der Politiker zeige sich folglich einerseits in der Bevorzugung von Interessen, die jenseits der als dem Gemeinwohl dienlichen Interessen liegt. Andererseits werde dieses Handeln durch die fehlende rückwirkende Sanktionierung für falsche Entscheidungen durch rechtliche Instanzen gefördert. Neben der Auffassung, das Verhalten bzw. der Charakter der Politiker sorgt für „falsche“ Entscheidungen, existiert die Ansicht, wonach ein fehlerhafter Informationsaustausch den Entscheidungsträgern die Sicht auf die „besseren“ Alternativen verschränke.

Besonders die massiven Kostensteigerungen des Projekts haben für Zweifel gesorgt, ob das vor Jahren eingeleitete Entscheidungsverfahren heute noch tragbar ist. Hierbei machen sich die Leserbriefautoren darüber Gedanken, wie stark dieses Informationsdefizit die Meinungsbildung der Politik beeinflusst hat:

„In einer gelebten Demokratie muss alles hinterfragbar sein. In einer Demokratie darf es keine Unumkehrbarkeit geben. Mit demokratischer Legitimation ist doch gemeint, dass das Projekt durch alle Instanzen ging. Doch diesen demokratischen Instanzen war zum Entscheidungszeitpunkt nur ein Bruchteil der Informationen bekannt, die jetzt die Bevölkerung nervös machen und den Widerstand anwachsen lassen. Ich bezweifle, dass diese vielzitierte ‚demokratische Legitimation‘ bei der heutigen Sachlage zustande gekommen wäre.“ (StZ, 08.09.10)

Der Autor dieses Briefs erkennt an, dass sich die demokratische Legitimation auf die Verfahrenswege der Entscheidungsfindung bezieht, demnach spricht er der Politik im Unterschied zu voriger Argumentation keineswegs die Fähigkeit ab, gemeinwohlorientierte Entscheidungen herbeiführen zu können. Allerdings müssen dann alle Informationen den Entscheidungsträgern zugänglich gemacht werden. Sein Unmut bezieht sich auf die post-hoc- Argumentation, wonach Entscheidungen ab dem Moment unumkehrbar sind, ab dem sie von den Gremien beschlossen wurden - auch wenn sich im Nachhinein zeigen sollte, dass die Entscheidungsgrundlage falsch war. In einer sachlichen Argumentation möchte er darin die Ursache des Widerstands erkennen und kritisiert all jene Politiker, die Demokratie allein auf die formale Komponente des Verfahrens beziehen. Diese formale Komponente vergesse die Aspekte der Meinungs- und Willensbildung sondern richtet den Fokus allein auf die Regeln der Entscheidungsfindung.

Im Deutungsmuster „Defizite der Politik“ werden das Verhalten der Mandatsträger und der Prozess der Entscheidungsfindung problematisiert. Hierbei wurde ein Standpunkt eingenommen, der die Diskrepanz zwischen dem Willen des Volkes und den Entscheidungen des politischen Systems herausstellt. Es handelt sich dabei nicht um eine Argumentation, die gegen die Demokratie als solche gerichtet ist. Stattdessen wird es als Bürgertugend erachtet, auch zwischen den Wahlen politisch aktiv zu sein und notfalls seine Ansichten auf der Straße zu äußern. Dies wird treffend mit der Bezeichnung „gelebte Demokratie“ dargestellt.

3.2.5 Demokratie als direkte Beteiligung

Als logische Konsequenz der defizitären Lage sehen viele Autoren die Einbeziehung der Bevölkerung in die einzelnen Entscheidungen durch Volksentscheide. Nun ist damit nicht gemeint, dass sämtliche Entscheidungen der Zustimmung der Bevölkerung bedürfen, sondern lediglich solche von großer Relevanz. Interessant ist der folgende Beitrag eines Lesers der Stuttgarter Nachrichten:

„Es gibt Gesetze des redlichen Umgangs in einem Gemeinwesen, die nicht auf dem Papier stehen, ohne die aber ein gesellschaftliches Miteinander auf Dauer nicht möglich ist. Zu diesen zählen die Einbeziehung und Befragung der Bevölkerung bei einem so folgenschweren und stadtbildverändernden Projekt wie Stuttgart 21.“ (StN, 02.06.10)

Nach dieser Auffassung müssten informelle Gesetze, die „Gesetze des redlichen Umgangs“ die Politiker zur Einsicht bringen, dass eine Befragung der Bevölkerung angemessen wäre. Damit abstrahiert auch dieser Leserbriefschreiber von den rein formalen Aspekten der demokratischen Verfahrensweisen und stellt das Feingefühl der Politiker im Umgang mit solchen bedeutsamen Entscheidungen heraus. Mehr noch sieht er das gemeinschaftliche Miteinander in Gefahr wenn man sich nur auf rechtlich festgelegte Verfahrensweisen festläge und keinerlei Spielraum für den Kontakt mit der Bevölkerung lasse.

Man erinnere sich an die zuvor dargelegte Deutung der „Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens“, nach der das Hinterfragen der Verfahrensweisen zu einer Destabilisierung des politischen Systems führe. In dem hier aufgeführten Leserbrief wird die gegenteilige Meinung vertreten: Der Rekurs auf die formalen Aspekte der Verfahrensweisen wirke in dem Moment destabilisierend, in dem dieser als Rechtfertigung für eine Entscheidung herangezogen wird, mit der vermutlich große Teile der Bevölkerung nicht einverstanden sind. Insofern sei hier nicht nur die Stabilität des politischen Systems selbst in Gefahr, sondern das „gesellschaftliche Miteinander“ insgesamt.

Gerade weil der Leserbrief auf den redlichen Umgang der Politiker mit der Bevölkerung verweist könnte man als Konsequenz ableiten, die politische Klasse müsse qua der an die Rolle des Politikers gerichteten Verhaltensregeln von selbst auf die Idee kommen, einen Volksentscheid zu initiieren. Teile der Bevölkerung stehen dem allerdings skeptisch gegenüber, weshalb vor allem die Projektgegner die Ablehnung von „Stuttgart 21“ mit der Forderung nach der Einführung von direktdemokratischen Verfahrensweisen verbinden. Hierin zeigt sich das Bestreben, die Einbindung der Bevölkerung zu formalisieren und damit rechtlich verbindlich zu machen. Was vormals als Erwartung an die Politikerrolle gerichtet war, nämlich die Erwartung des ehrlichen und offenen Umgangs des Politikers mit den Bürgern, schlägt nun in die Forderung nach einer Reform der politischen Verfahrensweisen um. Damit würden die Gewählten an Eigenständigkeit einbüßen - zugunsten einer emanzipierten Bürgerschaft, wie die folgenden Leserbriefe herausstellen wollen:

„Ich möchte keine Parteien und deren kompletten Programme wählen. Ich möchte zu den einzelnen Programmpunkten die Meinung von verschiedenen Politikern und Experten hören und dann über einzelne Volksentscheide mitbestimmen. Ich möchte sehr viel häufiger zum Wählen gehen. (...) Es würde viel mehr um die Sache gehen als um Parteien und Politiker.“ (StN, 14.03.11)

„Bei der Frage, ob Stuttgart 21 gebaut werden soll oder nicht, hätte man nur einen Volksentscheid durchführen müssen. Die Bürger würden schon richtig entscheiden. Man verkauft sie nur für dumm.“ (StN, 20.11.10)

Ganz deutlich kommt im ersten Leserbrief die Wille zum aktiven Mitwirken an der Politik zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung im Vorfeld von Abstimmungen fände dann nicht so sehr über die gebündelten Sachpakete der Parteien wie im Falle von Parlamentswahlen statt. Die Abwägung der Vor- und Nachteile einzelner zur Abstimmung gestellten Themen würde stattdessen im Vordergrund stehen. In wieweit diese Abstimmungsfreudigkeit auch auf andere Bürger zutrifft bleibt jedoch fraglich, sosehr der Leserbriefschreiber auch die Vorzüge von Volksentscheiden herausstellt.

Beide Leserbriefe schätzen den normalen Bürger als aufgeklärt und an der Sache informiert (oder zumindest interessiert) ein, wie etwa aus dem Vorwurf „man verkauft sie nur für dumm“ herauszulesen ist. Auch in der überzeugend wirkenden Aussage „Ich möchte (…) die Meinung von verschiedenen Politikern und Experten hören und dann (…) mitbestimmen“ wird dies implizit deutlich: Hier ist ein normaler Bürger, der bereit ist, sich mit Pro und Contra auseinanderzusetzen und sein eigenes Urteil über einen Sachverhalt bilden kann. Entgegen der Annahme von Vertretern des „repräsentativen“ Deutungsmusters, soll mit dieser Argumentation die grundsätzliche Fähigkeit der Bürger, auch mit komplexen und folgenreichen Thematiken umgehen zu können, unterstrichen werden.

Schon mehr als ein Jahr vor der tatsächlichen Abstimmung begannen Teile der Stuttgarter Bevölkerung einen Volksentscheid bei den politischen Vertretern einzufordern. Ein weiterer Grund für die Befürwortung eines solchen Vorhabens war die Möglichkeit einer schnellen Befriedung der aufgeheizten Situation unter der Bürgerschaft. So appelliert ein Leser an die Verantwortlichen in der Politik:

„Wollen Sie, dass für weitere zehn und mehr Jahre unsere Stadt von Gräben durchzogen wird, dass in ihr Zwist und Streit die Atmosphäre vergiften? Ich sehe nur eine Möglichkeit: einen Bürgerentscheid, der dann von allen akzeptiert und mit allen Konsequenzen umgesetzt werden muss. Bis dahin logischerweise: vollständiger Baustopp.“ (StZ, 06.10.10)

Zu den für die Projektgegner wesentliche Präliminarien gehört das Einstellen der Bauarbeiten an dem Projekt, denn sonst würden neue Tatsachen geschaffen werden, die einen Ausstieg zunehmend unwahrscheinlicher machen. Die vergiftete Atmosphäre die in diesen Passagen erwähnt wird, entstand mit aus diesem Grund. Der konkrete Anlass dieses Briefen geht aber möglicherweise aus dem Datum seiner Veröffentlichung hervor: Eine Woche zuvor wurde mit einem großen Polizeiaufgebot der Stuttgarter Schlossgarten geräumt - der Höhepunkt der Konfrontation zwischen den demonstrierenden Projektgegnern und der Staatsmacht.

Deutlich wird der Wunsch des Autoren nach einer schnellen Lösung, da andernfalls der Konflikt bis zur Fertigstellung des Projekts („für weitere zehn und mehr Jahre“) andauern und die Gemeinschaft der Stuttgarter grundlegend gefährden würde. Er stellt aber ebenso unmissverständlich heraus, das Ergebnis müsse von allen Beteiligten bedenkenlos akzeptiert werden. Hierin zeigt sich die andere Seite des Verständnisses des aufgeklärten Bürgers: Das Recht zur Abstimmung zieht notwendig auch die Pflicht nach sich, auch unerwünschte Ergebnisse anzuerkennen. Insofern passt die implizite Selbstzuschreibung der sachlichen Differenziertheit und Unvoreingenommenheit des politischen Bürgers nicht zu den Attributen der Uneinsichtigkeit und Beharrlichkeit, die möglicherweise im Anschluss an einen Bürgerentscheid offenbar werden können.

Schlussendlich lässt sich das Deutungsmuster, wonach „Demokratie als direkte Beteiligung“ verstanden wird, so zusammenfassen: Die Bürger halten sich für ausreichend aufgeklärt und verantwortungsbewusst um auch mit komplexeren Sachverhalten umgehen und sich ein eigenes Bild machen zu können. Sie wollen nicht nur über die Angebote von Parteien und Politikern abstimmen, sondern auch über konkrete Thematiken. Unter der Voraussetzung der Toleranz unterschiedlicher Ansichten und der Akzeptanz von Wahlausgängen zuungunsten der eigenen Position können Volksentscheide zur Befriedung von aufgeheizten politischen Debatten innerhalb der Bevölkerung führen. Auf diese Weise könne das Gemeinwesen gestärkt werden.

3.2.6 Fazit der empirischen Auswertung

Die zahlreichen Ideenaussagen aus den Leserbriefen konnten in der Analyse zu einigen Deutungsfiguren und schließlich zu fünf Deutungsmustern zusammengefasst werden. Es hat sich gezeigt, dass diese Deutungsfiguren nicht ohne Bezug zueinander bleiben, sondern sich in wesentlichen Punkten teils ergänzen, teils unterscheiden. Zu beachten ist, dass die gewählte Darstellung einer Anordnung nach logisch-kausalen Gesichtspunkten entspricht, die so vom Forscher aus Gründen der vereinfachten Nachvollziehbarkeit gewählt wurde. Am Beispiel der aufeinanderfolgenden Deutungsmuster „Defizite in der Politik“ und „Demokratie als direkte Beteiligung“ wird die Kausalität klar, die der Forscher in einem Akt des subjektiven Nachvollziehens den Akteuren unterstellt hat. Dass einzelne Akteure von diesem Schema abweichen ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen: Ein Bürger der zu erkennen glaubt, die gewählten Vertreter handeln gegen die Interessen der Bevölkerung, kann ebenso gut an die Vernunft der Politiker appellieren und sich statt einem Volksentscheid bessere Politiker wünschen.

Unter die logische Trennung der Deutungsmuster fällt auch die als kontradiktorisch erscheinende Unterscheidung der „restriktiven“ von der „universalen“ Deutung des Demonstrationsrechts. Während sich diese Deutungsmuster tatsächlich logisch ausschließen, trifft dies nicht ohne weiteres auf das Verhältnis der Deutungsmuster „Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens“ und „Demokratie als direkte Beteiligung“ zu. Bezugspunkt hierbei ist der Status Quo, der im Sinne der ersten Deutung gestaltet ist. Insofern kann den Vertretern dieser Deutung unterstellt werden, dass sie für den Erhalt des Primats eines gewählten Parlaments und sich gegen direktdemokratische Elemente aussprechen.

Umgekehrt möchten die Vertreter der Deutung „Demokratie als direkte Beteiligung“ nicht notwendigerweise das Repräsentativsystem abschaffen. Im Gegenteil geht es vielen darum, dieses auf Delegation aufbauende System um die Möglichkeit von Volksentscheiden zu ergänzen. Dies ist wiederrum mit einer bloßen Dichotomisierung von „Erhalt“ und „Veränderung“ des Status Quo (vgl. Dahrendorf, 1969: 116) nicht zu greifen.

Nachdem die empirischen Befunde feststehen, können diese komparativ in einem theoretischen Rahmen platziert werden. Im nächsten Abschnitt wird dazu die Methode erläutert, die einen Theorie-Empirie-Vergleich unter Verwendung von Deutungsmustern überhaupt erst ermöglicht. Daraufhin soll diese Methode für die erörterten Deutungsmuster Anwendung finden.

3.3 Theoretische Einbettung der Ergebnisse

3.3.1 Idealtypen des Demokratieverständnisses

Als soziologisch überaus nützliches Handwerkszeug hat sich die Bildung und Anwendung von Idealtypen in der soziologischen Forschung (zumindest dort, wo sie nicht rein quantitativ betrieben wird) etabliert. Nach Max Weber wird ein Idealtypus gewonnen

„(…) durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitigen herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ (Weber, 1988[1904]: 191; Hervorhebung im Original)

Offensichtlich liegt die Chance in einem solchen Gebilde in ihrer gedanklichen Klarheit und logischen Reinheit, weshalb es in der Wirklichkeit nicht auffindbar sein kann. Die Arbeit des Wissenschaftlers muss es daher sein, bei Betrachtung der Wirklichkeit die Distanz zu den Typen festzustellen (ebd.), jedoch nicht mit dem Zweck des Herausfindens von Gemeinsamkeiten der empirischen Fälle, sondern des jeweiligen Alleinstellungsmerkmals.

Ein solches Vorgehen soll auch im Folgenden Anwendung finden: Das empirische Material erhielt man zuvor induktiv, indem aus den Äußerungen der Personen die intersubjektiv geteilten Muster erkannt und nachgezeichnet wurden. Die im Folgenden aus der Theorie abgeleiteten Idealtypen dienen als Raster zur Einordnung dieser Deutungsmuster, wodurch auch die Eigenart derselben offenbar wird. Damit ist es aber noch nicht getan.

Womöglich könnten die Deutungsmuster selbst als eine Art idealtypisches Konstrukt gesehen werden: Was im empirischen Teil beschrieben wurde sind die gedachten Weltbilder der Menschen, im Grunde intersubjektive Alltagstheorien. Nicht der Forscher ist es hier, der mittels wissenschaftlicher Standards (bestenfalls wertfreie) Zusammenhänge über die Realität erklärbar machen möchte, sondern die Akteure selbst schaffen sich Theorien des Alltags, die an ihre letzten Werte, d.h. ihre fundamentalen Glaubenssätze, anknüpfen.

Das Kriterium der logischen Konsistenz (vgl. Schütz, 1971: 49) scheint daher auch hier auffindbar zu sein: Es findet gedanklich eine Verknüpfung zwischen diesen letzten Werten und der idealen Beschaffenheit eines in der Realität auffindbaren Gegenstandes (in unserem Fall: der Demokratie) statt. Bei einer hinreichenden Zahl von Anhängern eines Weltbildes kann man davon ausgehen, dass logische Widersprüche in diesem intersubjektiv geteilten Schnittmuster nicht mehr vorhanden sind, sodass ein „höchstmöglicher Grad von Klarheit und Bestimmtheit“ (ebd.) unterstellt werden kann.

Indes gibt es eine wichtige Abweichung zum Idealtypus bei Max Weber: Die logische Konsistenz sagt nichts darüber aus, ob die Eigenschaften dieser Weltbilder tatsächlich die erforderliche Zuspitzung erfahren die benötigt wird, um die nötige wissenschaftliche Klarheit zu erlangen. Bestenfalls müssen Idealtypen so aufeinander bezogen sein, dass sie den Raum möglicher Mischtypen gänzlich abdecken. Dies kann bei induktiv gewonnenen Deutungsmustern nicht garantiert werden. Basierend darauf werden die Deutungsmuster nachfolgend als QuasiFälle betrachtet und mit den theoretisch erarbeiteten Idealtypen verglichen.

Passend zu der vorliegenden Forschungsfrage hat Jürgen Habermas einen guten Beitrag erbracht, in dem er drei Verständnisse demokratischer Politik untersucht und dabei speziell auf die Rolle des Staatsbürgers, den Rechtsbegriff und die Natur des politischen Willensbildungsprozesses zu sprechen kommt (Habermas, 1996). Die bei Frank I. Michelman entnommenen Modelle, die Habermas als liberal und republikanisch bezeichnet und die besonders in den Vereinigten Staaten beobachtbar sind (Michelman, 1989), ergänzt er um sein deliberatives Modell. Die wesentlichen Punkte der Modelle sind im Folgenden kurz skizziert:

1. In der liberalen Auffassung wird Politik als Bündelung und Durchsetzung von Privatinteressen gegenüber einer öffentlichen Verwaltung mit eigenen Interessen gesehen. Sie muss als Vermittlung zwischen Bevölkerung und Administration gewährleisten, dass die Verwaltung kollektive Ziele über ihre eigenen Zwecke setzt. Die Vorstellung eines autonom agierenden Staates basiert auf dem grundlegenden Konzept des Liberalismus, wonach das Individuum seine subjektiven Rechte gegenüber Mitmenschen und dem Staat einfordern kann. Der Staat ist Schutzinstanz und Gefahr zugleich: Er kann den Handlungsspielraum des Einzelnen durch äußeren Schutz gewährleisten, aber zugleich durch politische Maßnahmen in ihn einfallen.

Die individuellen Rechte sind in dieser Auffassung ursprünglicher, sozusagen aus einem wie auch immer gearteten Naturgesetz abgeleitet, was dazu führt dass der Staat als notwendiges Übel zur Findung und Durchsetzung des Gemeinwohls betrachtet wird. Hinsichtlich des politischen Prozesses fällt der Politikbegriff in der liberalen Auffassung ernüchternd aus, denn handelt es sich hierbei um das Ringen um Ämter und Mandate. Die „Konkurrenz strategisch handelnder kollektiver Aktoren und der Erwerb von Machtpositionen“ (a.a.O.: 282) machen das Wesen des Parlamentarismus aus, welcher konkret im Kampf um Wählerstimmen zum Ausdruck kommt. Allein hierdurch stellt sich ein Gleichgewicht ein, denn durch freie Wahlen verfügt die Bevölkerung über ein Mittel der Sanktionierung ihrer Politiker.

2. Von dieser Auffassung unterscheidet sich das republikanische Verständnis demokratischer Politik in der Bedeutung die es der Gemeinschaft zuspricht. Neben den bloß negativ definierten subjektiven Rechten (als Freisetzung der Einzelnen vor äußerem Zwang, a.a.O.: 279) die auch ein Vertreter der liberalen Haltung dem Individuum zuerkennt, sind politische Rechte ein wesentliches Element der Partizipation jedes einzelnen an der Gemeinschaft. Als Eigner von Teilnahme- und Kommunikationsrechten wird das selbstbestimmte Individuum zum Staatsbürger und gestaltet so die Politik aktiv mit, wodurch der politische Prozess zu einem Vergesellschaftungsprozess wird. Wie die liberale Deutung den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, so erblickt die republikanische Deutung in der Zivilgesellschaft als „Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen“ (a.a.O.: 278) ihre Grundkategorie des politischen und öffentlichen Lebens.

Macht ist somit nicht an Ämter gebunden, stattdessen ein unmittelbares Produkt der Kommunikation in der Öffentlichkeit. In institutionalisierter Form sorgt sie für die Gewährleistung jener Prozesse der Meinungs- und Willensbildung und legitimiert hierdurch staatliches Handeln (a.a.O.: 283). Im Gespräch zwischen den Beteiligten und Betroffenen erkennt die republikanische Auffassung ein integratives und solidarisierendes Moment, welches über das bloße Eifern nach privaten Vorteilen hinausgeht.

Aus den Modellen lässt sich im Vergleich der beiden Grundansichten die Unvereinbarkeit leicht herauslesen, sodass der idealtypische Charakter offenbar wird. Habermas hebt beim republikanischen Verständnis den Aspekt der „Selbstorganisation der Gesellschaft durch die kommunikativ vereinigten Bürger“ lobend hervor welche über den Tellerrand der bloß strategischen kalten Aushandlung kollektiver Ziele als Schnittmenge von Privatinteressen hinausblickt (ebd.). Dem konfliktbehafteten Konzept des politischen Marktes setzt dieses Verständnis das der verständigungsorientierten politischen Arena gegenüber, wodurch sie aber zugleich ins Fadenkreuz der Kritik Habermas‘ gerät: Sie setzt die Tugendhaftigkeit gemeinwohlorientierter Staatsbürger voraus, die im Zweifelsfall auch bereit sind, Kompromisse einzugehen (ebd.). Um diesem ethisch-anthropologischen Axiom auszuweichen entwickelt Habermas ein drittes Modell:

3. Im diskursiven Demokratiemodell werden Aspekte der beiden vorigen Modelle vereinbart. Die Innovation besteht darin, den Verfahrenscharakter und die Kommunikations- voraussetzungen des Politischen hervorzuheben: Damit der politische Meinungs- und Willensbildungsprozess diesen unterschiedlichen Kommunikationsformen gerecht werden kann, ist eine Anpassung der institutionellen Strukturen vonnöten. Die Grundrechte und Prinzipien des Rechtsstaats werden dabei „als konsequente Antwort auf die Frage, wie die anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen des demokratischen Verfahrens institutionalisiert werden können“ (a.a.O.: 287) gesehen.

Mit diesem Konzept verabschiedet sich die Diskurstheorie von der Idee der tugendhaften Staatsbürger und setzt dem ein verfahrensrationales Konzept entgegen. Die informelle Meinungsbildung im herrschaftsfreien Diskurs schafft eine „höherstufige Intersubjektivität“ (a.a.O.: 288), die sich im konkreten Fall zur kommunikativen Macht formiert und in administrative Macht transformiert wird (ebd.). Eine autonome Öffentlichkeit (die Zivilgesellschaft) dient so als Kontrollorgan der dem Prozess des herrschaftsfreien Diskurses nachgeordneten rechtsstaatlichen Verfahrensweisen und wirkt integrativ in die Gesellschaft hinein.

Die drei Modelle bei Jürgen Habermas werden nun überarbeitet, in einzelnen Punkten ergänzt und auf zwei Deutungsdimensionen des demokratischen Politikverständnisses reduziert. Zweck dieses Vorgehens ist eine schärfere Abgrenzung der Idealtypen und die Anwendbarkeit auf die Deutungsmuster.

Instrumentell

Ohne auf eine Verwechslung mit der Bezeichnung des liberalen Modells bei Jürgen Habermas in der Rezeption von Peter Fischer (Fischer, 2006: 39ff.) hinzusteuern, scheint der Begriff des instrumentellen Verständnisses für eine überspitzte Darstellung einer liberalen Vorstellung angebracht. Habermas betont besonders den strategischen Charakter der Politik, indem Politiker an der Erlangung administrativer Macht interessiert sind und sich dafür mit ihren Programmen in Konkurrenz zu anderen Politikern begeben:

„Der Erfolg bemisst sich an der nach Wählerstimmen quantifizierten Zustimmung der Bürger zu Personen und Programmen. In ihrem Votum bringen die Wähler ihre Präferenzen zum Ausdruck (…) Sie lizensieren den Zugriff auf Machtpositionen.“ (Habermas, 1996: 282)

Instrumentell ist dieses Verständnis in der Sicht auf institutionelle Faktoren: Wahlen werden genutzt um Macht (genauer: administrative Macht) zu erlangen, eine andere Legitimation benötigt politisches Handeln nicht. Die Zusammensetzung des Parlaments ist das Abbild der aggregierten Präferenzen, der privaten Interessen, wobei über Mehrheiten im Parlament zugleich auch eine Aussage darüber gemacht werden kann, an welche privaten Interessen sich Regierungshandeln ausrichten muss.

Gemäß dieser Sichtweise akzeptieren auch die Wähler ihre Rolle als Mehrheitsbeschaffer und sehen ihre politischen Rechte mit dem Wahlakt als komplettiert. Im Vertrauen auf die Richtigkeit des politischen Handelns der Gewählten ist der Akt der Wahl zum einen ein Bekenntnis zum Parlamentarismus und dadurch zum zweiten die Ermächtigung der Abgesandten, alle kollektiven Entscheidungen im Rahmen der bestehenden Regeln zu treffen. Nach Habermas spricht dies für die Fokussierung auf eine Input-Output-Beziehung des politischen Systems, wonach die politischen Institutionen das Sinnbild des politischen Systems als Ganzes sind: Der Zivilgesellschaft kommt keine tragende Rolle zu.

Diskursiv

Im Gegensatz zum instrumentellen Verständnis, welches den Institutionen und den in ihnen stattfindenden Machtkämpfen einen prominenten Platz einräumt, stellt ein überzeichnetes Bild des diskursiven Demokratieverständnis das Verhältnis Staat - Gesellschaft auf den Kopf: Politik findet primär in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit statt und wird als kommunikative Macht an die Amts- und Mandatsträger übermittelt. In Jürgen Habermas‘ Diskurstheorie muss ein politisches System der Vielfalt an Kommunikationsformen gerecht werden und Verfahrensweisen entwickeln, die in institutionelle Arrangements münden (a.a.O.: 284f.).

Zentral scheint hier der Gedanke, dass der Meinungs- und Willensbildungsprozess selbst als ein Teil der Politik gesehen werden muss und dieser weder in einer unpolitischen Öffentlichkeit, noch allein in den Parlamenten stattfindet. Der Zivilgesellschaft kommt hiermit eine wichtige Rolle zu, hat sie doch die Fähigkeit, die Öffentlichkeit zu politisieren und Druck auf Politiker auszuüben. In diesem Verständnis formiert sich zu bestimmten Anlässen eine Masse, die gehört werden möchte und das Potential hat, der administrativen Macht eine kommunikative - durch den Austausch von Argumenten und Meinungen gebildeten - Macht gegenüberzustellen.

Nicht nur die Zivilgesellschaft gewinnt an Bedeutung, schließlich spielen die Medien als „vierte Gewalt im Staat“ eine ebenso wichtige Rolle. Von den Menschen mit solch einem Verständnis von Demokratie geht die Erwartung aus, dass Medien sachlich, fundiert und kritisch informieren und so den Willensbildungsprozess befruchten. Heute ist auch das Internet eine mindestens gleichbedeutende Quelle von Informationen.

Die Staatsbürgerrolle beschränkt sich somit nicht allein auf den Akt des Wählens. Stattdessen werden Formen des zivilen Ungehorsams als probates (und notwendiges) Mittel gesehen, um auf die Ansichten von Teilen der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Ziel ist auch hier, die politischen Akteure in den Staatsorganen unter Druck zu setzen und konkrete Entscheidungen einzufordern.

Nicht ausgeschlossen ist die Bestrebung, die politischen Institutionen zu verändern um die Verfahren der Entscheidungsfindung stärker mit der politischen Kommunikation in der Öffentlichkeit zu verzahnen. Die Forderung nach Einführung und Umsetzung von Volksentscheiden - oder allgemein „Bürgerbeteiligung“ - ergänzt sich gut mit der Idee des aufgeklärten Staatsbürgers, der die Kompetenz besitzt sich in der öffentlichen Auseinandersetzung sein eigenes Bild zu machen.

3.3.2 Das Verhältnis von Idealtypen und Deutungsmustern

Als eine wesentliche Dimension in der empirischen Betrachtung hat sich die Bürgerrolle herausgestellt. Unter den beiden Idealtypen verweist ein instrumentelles Demokratieverständnis auf den Wahlakt als zentrales Moment der politischen Einmischung. Insofern ist die Ratlosigkeit mancher Bürger wie sie in dem Deutungsmuster „Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens“ zum Ausdruck kommt darauf bezogen, dass den gewählten Vertreter kein Respekt entgegengebracht werde. Die Grundlage der demokratischen Legitimation, das Wählen selbst, werde nach diesem Verständnis untergraben und mit der Kritik an den Volksvertretern indirekt die Bürgerschaft selbst angegriffen.

Das Herausstellen der Repräsentativität in diesem Deutungsmuster verweist auf eine instrumentelle Verfahrensrationalität, die unter keinen Umständen hinterfragt werden darf. Sollte es doch dazu kommen, stelle sich dies als Gefahr für die Demokratie als solche heraus, wie die Verweise auf die deutsche Vergangenheit zeigen. Legitimität ist insofern gleichgesetzt mit der Legalität der verfassungsmäßig vorgesehenen Verfahren. Hierin zeigt sich ebenso eine Parallele zu Max Webers Idealtypus der rational-legalen Herrschaft.

Demgegenüber steht das Deutungsmuster der „Demokratie als direkte Beteiligung“, in der es um eine stärkere Partizipation in einzelne Entscheidungsverfahren selbst geht. Eine Veränderung der bisherigen Verfahrensgrundlage wird hier angestrebt und als Chance (nicht als Gefahr) für eine größere legitimatorische Basis der Demokratie angesehen. Als Argument wird die Eigenständigkeit der Bürger angeführt, die sich in einem öffentlichen Diskurs selbst eine Meinung bilden können - unzweifelhaft kommt diese Sichtweise dem Typus des diskursiven Demokratieverständnisses relativ nahe. In ihrem Selbstverständnis wird hier die Bürgerrolle nicht in der Gefolgschaft der selbst gewählten Volksvertreter gesehen, was in der kritischen Sichtweise auf die Politiker (Deutungsmuster „Defizite der Politik“) gezeigt wird. Auch hier spräche nichts gegen eine an bestimmte Verfahrensweisen geknüpfte Beteiligung der Bevölkerung, insofern entsteht hier ebenso (in Referenz zum rational-legalen Herrschaftstypus) die Legitimation aufgrund der gesatzten Ordnung, nur muss erst der Status Quo verändert, d.h. Volksentscheide mit angemessenen Abstimmungshürden eingeführt werden. Auf diese Weise kann die institutionelle Veränderung der Vielfalt an Kommunikationsformen einmal mehr gerecht werden.

In Abgleich mit der Bedeutung der Zivilgesellschaft in den beiden Idealtypen kann die Deutung des Demonstrationsrechts Anhaltspunkte für eine saubere Einordnung geben. Dem instrumentellen Typus entspräche eine Sichtweise, wonach sich der Unmut über falsche politische Entscheidungen in der Abwahl der Regierung äußern würde. Außen vor bleiben andere Formen öffentlichen Äußerung, so auch die Möglichkeit der Demonstration. Dies beschreibt annäherungsweise die restriktive Deutung, wonach die tatsächliche Wahrnehmung des Demonstrationsrechts kritisch beäugt wird.

Zwei Punkte sind aber relativierend zu erwähnen: Erstens kann keine Aussage über die Verallgemeinerbarkeit der Kritik an den Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ auf Demonstrationen überhaupt getroffen werden. Manche mögen sich nur an diesen Demonstrationen stören, was durch die ablehnende Haltung der Position der Demonstranten moderiert sein könnte. Zweitens ist das Demonstrationsrecht verfassungsrechtlich garantiert und wird auch von den Vertretern einer restriktiven Deutung nicht angezweifelt. Hierbei greift demnach wieder der Aspekt der formalen Legalität von Demonstrationen, der eine bloße Negation jeglicher öffentlicher Unmutsbekundungen außerhalb von Wahlen von der Hand weist.

Als Annäherung an den diskursiven Typus des Demokratieverständnisses stellt sich die universale Deutung des Demonstrationsrechts dar. In einer „gelebten Demokratie“ verharrt der Bürger nicht in einer bloß passiven Rolle, sondern artikuliert seine Forderungen und Bedürfnisse im öffentlichen Raum. Er möchte wahrnehmbar sein und Druck auf die Politik ausüben. Schon in der republikanischen Auffassung ist die aktiven Mitgestaltung des Bürgers unerlässlich für die Entstehung kommunikativ erzeugter Macht und dem Gemeinwesen überhaupt. Dieses Konzept findet sich auch im diskursiven Modell wieder, denn auch hier findet Politik wesentlich in der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung statt, also noch im Vorfeld des tatsächlichen politischen Entscheidungsprozesses. Demonstrationen, Blockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams sind demnach symbolische Akte im Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der Bürgerschaft.

Idealerweise bilden sich nach dem diskursiven Typus Mehrheiten durch einen herrschaftsfreien Diskurs heraus, der „auch für die Art der Ausübung politischer Herrschaft bindende Kraft“ (Habermas, 1996: 283) besitzt. Da das Volk in seiner Eigenschaft als Souverän nicht vertretbar ist (a.a.O.: 290), ist die kommunikative Macht grundlegender als die administrative Macht über die der Staatsapparat verfügt. Die kommunikative Macht und die sich im Diskurs fortwährend bildenden und sich wandelnden Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Bürgerschaft, können keineswegs auf Dauer ignoriert werden. Wie im Deutungsmuster „Defizite der Politik“ deutlich gemacht wurde und besonders die anfängliche Reaktion der Landesregierung unter Mappus aufgezeigt hat, kann sich eine Regierung nicht erlauben, von Kommunikationsfehlern zu sprechen und damit lediglich die einseitige Kommunikation vonseiten der Besitzer der administrativen Macht zu meinen. Damit schließt sich die politische Führung nach dem diskursiven und dem republikanischen Modell selbst von der verständigungsorientierten öffentlichen Kommunikation aus.

Anhand eines anderen Aspektes lässt sich die Orientierung am Wert der „Kommunikation auf Augenhöhe“ deutlich ablesen: So meinen manche Leser, dass sich die Politik vom Gemeinwohl abwende und gegenüber wirtschaftlicher Interessen einknicke, ebenso wurde auch im Kapitel über die Rolle der Medien deutlich, dass sich viele an der Art der Berichterstattung stoßen. Beides weist darauf hin, dass der Referenzpunkt der unverfälschte herrschaftsfreie Diskurs ist und der Primat der kommunikativ erzeugten Macht Gültigkeit besitzen muss. Daneben darf es keine Einflüsse seitens anderer Machtquellen (z.B. der wirtschaftlichen Macht) auf die Politik geben.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Abschließend lässt sich sagen, dass die in den Leserforen der Tageszeitungen geführten Diskussionen um „Stuttgart 21“ tatsächlich das Potential hatten, die verschiedenen Spielarten des Demokratieverständnisses herauszuarbeiten. Wie anfangs erhofft, wurden die latent vorhandenen Sinnstrukturen (die intersubjektiv geteilten Weltbilder) als Reaktion auf die Geschehnisse manifest und für den aufmerksamen Beobachter greifbar. Die fünf Deutungsmuster sind das Ergebnis eines langen Rechercheprozesses und können zwar nicht ohne Weiteres verallgemeinert, doch kann die Existenz verschiedener Vorstellungen über das Wesen der Demokratie nun attestiert werden.

Im Abgleich mit der Theorie hat sich eine große Übereinstimmung der in ihren Eigenschaften gedanklich zugespitzten Idealtypen und den latenten gedanklichen Konzepten der Leserbriefschreiber gezeigt: Nun entfällt zwar aufgrund der Konzeption der Idealtypen die Möglichkeit einer konkreten Zuordnung einzelner Deutungsmuster zu den Typen, doch sind zumindest Annäherungen offensichtlich: Dem instrumentellen Demokratieverständnis kommt das Deutungsmuster „Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens“ nahe, welches im Verweis auf bestehende Institutionen die Legitimation der gewählten Volksvertreter ableitet. Durch die Hervorhebung des Wahlaktes als das partizipatorische Moment des Bürgers und dem Misstrauen gegenüber der Demonstranten, kann auch die „restriktive Deutung des Demonstrationsrechts“ (mit den genannten Abstrichen) näherungsweise dem instrumentellen Verständnis zugeordnet werden.

Demgegenüber werden von Vertretern des Deutungsmusters „Defizite der Politik“ sowohl in der Wahrnehmung des Verfahrens (Informationsdefizite) und dem Verhalten der Politiker Mängel attestiert, die mit den bisherigen Verfahrensweisen nicht zu lösen sind. Zwar enthält sich dieses Deutungsmuster als Bewertung des Status Quo einer näherungsweisen Zuordnung zu einem der beiden Typen, doch kann diese möglicherweise eine Erklärung für das Deutungsmuster „Demokratie als direkte Beteiligung“ darstellen.

Die defizitäre Sichtweise knüpft an die Forderung nach transparenteren Verfahrensweisen an und fördert so die Argumentation nach mehr öffentlich ausgetragenen Diskursen und direktdemokratischer Einbindung. Für dieses Deutungsmuster, das besonders den Volksentscheid als ein wichtiges Instrument herausstellt, ist die größte Annäherung an den Typus des diskursiven Demokratieverständnisses zu bescheinigen. Eine „universale Geltung des Demonstrationsrechts“ hebt die aktive Bürgerrolle in der Zivilgesellschaft hervor und ist ebenso dem kommunikativen Prozess im öffentlichen Raum zuträglich, dementsprechend besteht auch hier die Annäherung an den diskursiven Typus.

Neben zahlreichen thematisch unterschiedlich gelagerten Debatten zu „Stuttgart 21“ wurde immer wieder die Frage thematisiert, was eigentlich unter einer Mehrheit verstanden werden soll. Da die einzelnen Ideenaussagen eher als Konsequenz der in den Deutungsmustern „Gültigkeit des repräsentativen Verfahrens“ und „Demokratie als direkte Beteiligung“ dargelegten Grundhaltungen gleichkommt, wurden sie nicht in die Untersuchung eingearbeitet. Es lohnt sich dennoch, an dieser Stelle kurz darauf einzugehen.

Nach Darstellung der Projektgegner spiegelt die im Parlament vorhandene Mehrheit (auch nach der Wahl vom 27.März) nicht die Mehrheit der Bürger wider, die sich deshalb in Protestaktionen Gehör verschaffen müsse. Eine direkte Befragung würde „Stuttgart 21“ zu Fall bringen, weshalb schon früh ein Volksentscheid gefordert wurde. Hingegen verweist die Befürworterseite auf die demokratisch legitimierte Mehrheit der Parlamentarier, deren Entscheidung zu respektieren sei und nicht von einer vermeintlichen Mehrheit gekippt werden könne. In diesen Argumenten kommen die unterschiedlichen Verständnisse der Demokratie deutlich zum Ausdruck.

Mit dem Argument der parlamentarischen Mehrheit wird zugleich angezweifelt, dass sich jenseits der Gremien überhaupt eine Aussage über Mehrheiten treffen lässt. So mögen in der öffentlichen (medialen) Wahrnehmung die Projektgegner deutlich präsenter sein als die Befürworter und nicht zuletzt ging der Begriff „Wutbürger“ auf die Gegner zurück. Aber sorgen Proteste nicht notwendigerweise für ein Abbild der Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Bevölkerung. Diese Kritik wurde mit der Zeit zugunsten eines valideren Maßes ersetzt, nachdem jüngere repräsentative Umfragen wiederholt Mehrheiten für das Großprojekt attestierten.13 Noch bis vor einem Jahr fand sich regelmäßig eine Mehrheit für den Ausstieg.

Dies wirft eine entscheidende Frage auf, die im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht abschließend behandelt werden konnte. Von den Projektgegnern wurden die bisherigen Verfahren als wenig demokratisch und intransparent bezeichnet und daraufhin Forderungen nach direkter Einbeziehung des Volkes in die Entscheidungsfindung laut. Auf diese Forderungen ist zwar nicht die alte Regierung, aber die grün-rote Koalition schließlich eingegangen und hat den Volksentscheid vom 27.11.2011 in die Wege geleitet. Dadurch soll eine zusätzliche legitimatorische Basis geschaffen werden, doch was wird passieren, wenn dieser Entscheid gegen die Position derer ausgeht, die ihn selbst gefordert haben?

Hier schließt sich der Kreis zu Max Webers Herrschaftsbegriff. Ist es möglich, dass trotz der Implementierung von Volksabstimmungen kein Zugewinn an Legitimation stattfindet? Dies würde konkret heißen, dass die Forderung nach mehr direkter Demokratie nur als Mittel zur Abkehr von „Stuttgart 21“ gedient hat, seine Legitimation also allein am Gegenstand und dem prognostizierten Ergebnis festgemacht wird. Gleichfalls wäre dies keine Grundlage für langfristig angelegte Reformen der politischen Institutionen, denn beinhalte diese die Anerkennung sämtlicher vom Volk getroffener Entscheidungen. Eine Anerkennung, die aus der Legitimation des rechtmäßigen Verfahrens hervorginge.

Sieht man sich das Deutungsmuster „Demokratie als direkte Beteiligung“ nochmals genauer an, würde die eben genannte Vermutung unzutreffend sein, da aus den Leserbriefen die Wertschätzung für die Volksabstimmung als Verfahren zum Ausdruck kommt und das Vertrauen in die Bürger angemahnt wird. Der Tenor ist nicht, dass der Volksentscheid „Stuttgart 21“ kippen wird, sondern vielmehr steht die Befriedung des Konflikts im Vordergrund. Eine Verständigung auf dieses Verfahren wäre demnach als Fortschritt in der Deeskalation und letztlich als Beendigung dieses Konflikts zu werten.

In der hier geäußerten Vermutung entsprächen die Befürworter von Volksentscheiden etwa den Projektgegnern. Dies ist schon deshalb eine Vermutung, weil einige Gegenbeispiele angebracht werden können, die diesen ökologischen Fehlschluss offenbaren: Einerseits gab es von Beginn an auch Demonstrationen der Unterstützer von „Stuttgart 21“, die teilweise selbst eine Abstimmung unter den Bürgern forderten. Nicht zuletzt brachte die SPD als Verteidigerin des Projekts den Vorschlag des Volksentscheides ein. Auf der anderen Seite kann angezweifelt werden, ob der harte Kern der „Parkschützer“ ihren Widerstand bei einem negativen Votum der Bevölkerung einstellen wird. Auch die Deutsche Bahn hat sich zwar damit abgefunden, dass die Bevölkerung über das Projekt abstimmen wird und dementsprechend den Wahlkampf der Befürworter unterstützt, zugleich aber angekündigt, das Land bei dem Versuch der Kündigung der Verträge zu „Stuttgart 21“ auf Schadensersatz zu verklagen.

Der letzte Punkt skizziert ein weiteres Untersuchungsfeld für künftige Forschungsvorhaben: Wie auch schon andere Autoren festgestellt haben (vgl. Crouch, 2008), tut sich ein großer Graben zwischen den Interessen einer politischen Gemeinschaft und den Interessen der Wirtschaft auf. Zwar bestand hier schon immer ein Spannungsverhältnis, doch zeigt es sich bei „Stuttgart 21“ in einer etwas anderen Weise: Die Verträge zu diesem Projekt waren bereits unterzeichnet, als es durch die Wahl im Frühjahr 2011 zu einer neuen Landesregierung kam. Da sich aber rechtlich gesehen nichts geändert hat (denn der Vertragspartner ist die „Landesregierung“, unabhängig von ihrer Zusammensetzung) kann die Bahn auf die Einhaltung der Verträge pochen - sehr zum Unmut von Teilen der Bevölkerung, die demokratische Beschlüsse (die auch die Umkehrbarkeit von Großprojekten beinhaltet) generell über den Interessen einzelner Vertragspartner sehen möchten.

In den Leserbriefen wurde immer wieder auf diesen Konflikt verwiesen und das Verhalten der Deutschen Bahn gerügt, die neben der Einhaltung der Verträge auch immer wieder auf ihre rechtlichen Möglichkeiten als Bauherr verwies. Es wäre daher ein interessantes Vorhaben, das Wechselverhältnis zwischen Bürgern, politischer Elite und wirtschaftlicher Elite bei Großprojekten zu analysieren und die Bedeutung von Volksabstimmungen herauszuarbeiten. Möglicherweise können durch mehr Bürgerbeteiligung wirtschaftliche Macht und kommunikative Macht ausbalanciert und dabei der Ausbruch künftiger Konflikte verhindert werden.

5 Anhang

5.1 Literatur

Crouch, Colin. 2008. Postdemokratie. Berlin: Suhrkamp.

Dahrendorf, Ralf. 1969. Zu einer Theorie des sozialen Konflikts. In Theorien des sozialen Wandels, Hrsg. Wolfgang Zapf, 108-123. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Fischer, Peter. 2006. Politische Ethik. München: Fink.

Geißler, Rainer. 2006. Die Sozialstruktur Deutschlands. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Glaser, Barney G, und Anselm L. Strauss. 1998. Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber.

Habermas, Jürgen. 1996. Drei normative Modelle der Demokratie. In Die Einbeziehung des Anderen, Hrsg. Jürgen Habermas, 277-292. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lepsius, Mario R. 2009. Interessen, Ideen und Institutionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Mayring, Philipp. 2007. Qualitative Inhaltsanalyse. In Qualitative Forschung, 5. Auflage, Hrsg. Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke, 468-474. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Michelman, Frank I. 1989. Conceptions of democracy in American constitutional argument: Voting rights. Florida Law Review, 443-488.

Rucht, Dieter, Britta Baumgarten, Simon Teune, und Wolfgang Stuppert. 2010. Befragung von Demonstranten gegen Stuttgart 21 am 18.10.2010. Pressekonferenz 27.10.2010. http://www.wzb.eu/sites/default/files/personen/schneider.kerstin.468/s21_kurzbericht_2.pdf (Stand: 26. November 2011).

Schütz, Alfred. 1971. Gesammelte Aufsätze. Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Nijhoff.

Stachura, Mateusz. 2005. Die Deutung des Politischen. Frankfurt am Main: Campus.

Strauss, Anselm L. 1991. Grundlagen qualitativer Sozialforschung: Fink.

Verba, Sidney. 1973. Entwicklungskrisen und ihre Abfolge. In Politische Systemkrisen, Hrsg. Martin Jänicke, 295-315. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Weber, Max. 1976[1920]. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck.

Weber, Max. 1988 [1904]. Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Hrsg. Johannes Winckelmann, 146-214. Tübingen: Mohr Siebeck.

5.2 Überblick über die Deutungsfiguren und Deutungsmuster

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 Demokratie ist für Weber aber nicht nur die Legitimation qua einer legalen Ordnung, sondern enthält als „plebiszitäre Demokratie“ auch Elemente des charismatischen Herrschaftstypus, denn im Kampf um die politische Führung kommt es nicht (nur) auf die institutionellen Verfahren an, sondern vor allem auf die zur Wahl stehenden Personen und ihre Programme.

2 Dieser Gedanke folgt der Methode des wissenschaftlichen Naturalismus, der von einem ahistorischen Naturzustand ausgeht. In dieser Spielart kommt die Ordnungslosigkeit des „ursprünglichen“ Zustandes der Idee von Thomas Hobbes nahe, der von einem Krieg „aller gegen alle“ ausgeht und daraufhin den Leviathan als Ordnungshüter etabliert.

3 So passiert im Landtagswahlkampf, als die SPD und die Grünen sich für die Änderung der Landesverfassung zugunsten von Volksentscheiden ausgesprochen haben.

4 Vgl. Zeitungsartikel wie „Schwaben auf den Barrikaden“ (DER SPIEGEL, 05.08.2010) oder „Brave Schwaben proben den Massen-Aufstand“ (DIE WELT, 20.08.2010).

5 So blieben Forderungen nach einer Entschuldigung der Landesregierung für den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz ungehört (siehe „Fast erblindeter Aktivist will Entschuldigung von Mappus“ (Spiegel Online, 28.12.2010, nachzulesen unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,736829,00.html, Stand: 26.11.2011)

6 Dieser Test entsprach einer Simulation, die die Kapazität des neuen Bahnhofes bezüglich der stündlich haltenden Züge und unter Einbeziehung von Störungen auf die Probe stellen sollte.

7 Zumindest solange, wie keine Delegation der Volkssouveränität an das Parlament (und damit das Bestehen bleiben der als „ursprünglicher“ betrachteten Souveränität) unterstellt wird. Da es bei den Ideen-Aussagen in Leserbriefen auf die von dessen Autoren gedachte Definition des Souveränitätsbegriffe geht, ist es nicht notwendig, definitorische Anleihen in der politischen Theorie (Locke, Rousseau, usw.) zu machen.

8 „Sättigung heißt, dass keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit deren Hilfe der Soziologe weitere Eigenschaften der Kategorie entwickeln kann. Sobald er sieht, daß die Beispiele sich wiederholen, wird er davon ausgehen können, daß eine Kategorie gesättigt ist.“ (Glaser/Strauss 1998: 69)

9 Laut der „Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.“ für das 3.Quartal 2011 (einzusehen unter: http://daten.ivw.eu/, Stand: 20.11.2011). Knapp 171.000 Exemplare, also etwa 89% der Gesamtauflage, werden im Abonnement vertrieben.

10 Das Stadtmagazin „LIFT“ beschreibt seine Leserschaft so: „Die LIFT-Leser sind junge und aktive Städter mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau und ausgeprägten Konsumpräferenzen. Ihr höheres Einkommen geben Sie gerne für Kultur, Musik, Sport, Essen, Kunst und Einkaufen aus.“ (www.lift-online.de/service/mediadaten/, 21.11.2011) Bekanntermaßen trifft dies auch auf die WählerInnen der Grünen zu, sodass eine Auswertung der dortigen Leserbriefe möglicherweise zu interessanten Ergebnissen geführt hätte.

11 Im Folgenden wird bei der Zitation für Inhalte der Stuttgarter Zeitung das Kürzel StZ und für die Stuttgarter Nachrichten das Kürzel StN verwendet. Sofern es sich bei der zitierten Stelle um einen redaktionellen Artikel handelt, wird dieser als solches kenntlich gemacht; für Leserbriefe werden aus praktischen Gründen nur das Kürzel und das Datum der Zeitungsausgabe angegeben. Die Personifizierung der Leserbriefschreiber bleibt aus datenschutzrechtlichen Gründen aus.

12 Die Erhebung während einer Montagsdemonstration gibt darüber Aufschluss, dass die altersmäßige Zusammensetzung im Vergleich zu anderen Demonstrationen tatsächlich heterogener ist: So sind ein Viertel der Befragten jünger als 25, ein weiteres Fünftel über 64. Den größten Teil machen die 40-64 Jährigen mit 62% aus (Rucht et al. 2010: 3).

13 Laut einer Umfrage von infratest-dimap knapp zwei Wochen vor der Volksabstimmung möchten 45% der befragten Baden-Württemberger gegen das sog. „Kündigungsgesetz“, also für den Weiterbau des Projekts, stimmen (siehe http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/ baden- wuerttemberg/ laendertrend/2011/november/, Stand: 27.11.2011).

Excerpt out of 62 pages

Details

Title
Die Deutung der Demokratie im Konflikt um Stuttgart 21
Subtitle
Eine qualitative Analyse
College
University of Heidelberg  (Max-Weber-Institut für Soziologie)
Course
Forschungsseminar
Grade
1,3
Author
Year
2011
Pages
62
Catalog Number
V263537
ISBN (eBook)
9783656523185
ISBN (Book)
9783656530831
File size
771 KB
Language
German
Keywords
Stuttgart 21, Demokratieverständnis, Soziale Bewegungen, Oben bleiben, Deutungsmusteranalyse, Deutungsmuster, Grounded Theory, Habermas, Demokratie, diskursiv, repräsentativ, Michelman
Quote paper
Daniel Belling (Author), 2011, Die Deutung der Demokratie im Konflikt um Stuttgart 21, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263537

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