Ziel dieser Arbeit ist, bibliotherapeutische Möglichkeiten einer Thematisierung von Tod und Sterben im Unterricht an der Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung aufzuzeigen. Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der Zielgruppe, da in Schulen dieses Förderschwerpunkts Schülerinnen und Schüler mit progredienten Erkrankungen beschult werden und es einer Auseinandersetzung und Thematisierung im Unterricht bedarf, sowohl für die selbst erkrankten Schülerinnen und Schüler, als auch für deren Mitschülerinnen und Mitschüler.
Neben der generellen Notwendigkeit der Thematisierung scheint es wichtig, dabei die kulturellen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, besonders ihre religiösen Prägungen, da diese entscheidenden Einfluss auf die Konzepte von Sterben und Tod haben können.
In der vorliegenden Arbeit sollen nach der Klärung grundlegender Begriffe die
Besonderheiten bei Sozialisationprozessen progredient erkrankter Schülerinnen und Schüler aufgezeigt werden. Darauf folgt eine Darstellung der Entwicklung von kindlichen Todeskonzepten nach NAGY und nach GESELL ILG, wobei mögliche
Einflüsse von religiösen Hintergründen berücksichtigt und erörtert werden sollen.
Im weiteren Verlauf werden Bewältigungsstrategien lebensbedrohlicher
Erkrankungen thematisiert. Anschließend soll das Konzept der Bibliotherapie
vorgestellt und seine Relevanz für die Thematisierung von Sterben und Tod
aufgezeigt werden. Abschließend werden zwei Kinderbücher vorgestellt, die auf ihre Eignung zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod überprüft werden . Neben der generellen Einsetzbarkeit soll auch die Rücksichtnahme auf religiöse Unterschiede der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen.
Am Ende wird die Bedeutung und die Berücksichtigung des religiösen
Einflusses auf die Thematisierung von Sterben und Tod reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Begründung des Themas
2. Grundlegende Begriffe
2.1 Der Begriff der Körperbehinderung
2.2 Die Schule mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung .
2.3 Progredienz und progrediente Erkrankungen
2.3.1 Kennzeichen und mögliche Erkrankungen
3. Sozialisationsprozesse progredient erkrankter Kinder und Jugendlicher
3.1 Personale Ebene
3.2 Familiäre Ebene
3.3 Institutionelle Ebene
3.4 Gesellschaftliche Ebene
3.5 Sinngebende Ebene
4. Todeskonzepte
4.1 Aspekte eines „reifen“ Todeskonzeptes
4.2 Religiöse Einflussfaktoren aufdie Entwicklung von Todeskonzepten
4.3 Weitere Einflussfaktoren
4.3.1. Kognitive Entwicklung
4.3.1.1 Objektpermanenz und Zeitverständnis
4.3.2 Progrediente Erkrankungen
4.3.3 Medienkonsum
4.4 Drei Phasen nach NAGY
4.5 Altersstufen nach GESELL und ILG
5. Bewältigung einer lebensbedrohlichen Erkrankung
5.1 Einflussfaktoren
5.2 Coping-Prozesse
5.3 Modelle des Erlebens einer lebensbedrohlichen/finalen Erkrankung
5.3.1 Phasen-Lehre nach KÜBLER-ROSS
5.3.2 Bewältigungsmodell nach SHONTZ
6. Bibliotherapie
6.1. Geschichte der Bibliotherapie
6.2. Definition und Wirkungsweise
6.3. Auswahlkriterien für Bücher
7. Analyse zweier Bücher zurThematisierung von Sterben und Tod unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Vielfalt der Schülerinnen und Schüler
7.1 WolfERLBRUCH: Ente, Tod und Tulpe
7.1.1 Inhalt
7.1.2 Analyse
7.1.2.1 Berücksichtigung religiöser Vielfalt
7.2 Ulf NILSSON und Anna-Clara TIDHOLM: Adieu, Herr Muffin
7.2.1 Inhalt
7.2.2 Analyse
7.2.2.1 Berücksichtigung religiöser Vielfalt
8. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Begründung des Themas
Ziel dieser Arbeit ist, bibliotherapeutische Möglichkeiten einer Thematisierung von Tod und Sterben im Unterricht an der Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung aufzuzeigen. Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der Zielgruppe der o.g. Schulform, da in Schulen dieses Förderschwerpunkts Schülerinnen und Schüler mit progredienten Erkrankungen beschult werden und es einer Auseinandersetzung und Thematisierung im Unterricht bedarf, sowohl für die selbst erkrankten Schülerinnen und Schüler, als auch für deren Mitschülerinnen und Mitschüler.
„Aber auch Kinder selber werden schwer krank und erleben dadurch die Bedrohung des eigenen Lebens. Die unmittelbare Konfrontation mit der Möglichkeit des Todes löst bei den Betroffenen häufig eine Vielzahl von existenziellen Fragen, Veränderungen ihres Lebens und Belastungen aus. Diese Kinder und Jugendliche benötigen auch in der Schule besondere Unterstützung und Begleitung, für die dort tätigen Pädagoginnen und Pädagogen besondere Qualifikationen benötigen. Diese beziehen sich auf fachliches Wissen über medizinische und psychosoziale Aspekte lebensbedrohlicher Erkrankungen, Kenntnisse über methodisch-didaktische Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Thematik und beinhalten auch persönliche Kompetenzen in Bezug auf die eigene Auseinandersetzung mit Sterben und Tod.“ (Sven JENNESSEN, 2007: S. 2).
In den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung“ von 1998 nimmt die Kultusministerkonferenz explizit Stellung zu Schülerinnen und Schülern mit progredienten Erkrankungen uns äußert sich darin wie folgt:
„Bei Schülerinnen und Schülern mit fortschreitenden Erkrankungen und begrenzter Lebenserwartung rücken die Befriedigung aktueller Bedürfnisse und Möglichkeiten einer sinnerfüllenden Lebensgestaltung, die Stabilisierung der Persönlichkeit und ggf. Hilfen bei der Auseinandersetzung mit der sich verändernden Lebenssituation, der verkürzten Lebenserwartung und dem nahenden Tod in den Vordergrund.“ (Kultusministerkonferenz, 1998: S. 12).
Neben der generellen Notwendigkeit der Thematisierung scheint es wichtig, dabei die kulturellen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, besonders ihre religiösen Prägungen, da diese entscheidenden Einfluss auf die Konzepte von Sterben und Tod haben können.
In der vorliegenden Arbeit sollen nach der Klärung grundlegender Begriffe die Besonderheiten bei Sozialisationprozessen progredient erkrankter Schülerinnen und Schüler aufgezeigt werden. Darauf folgt eine Darstellung der Entwicklung von kindlichen Todeskonzepten nach NAGY und nach GESELL ILG, wobei mögliche Einflüsse von religiösen Hintergründen berücksichtigt und erörtert werden sollen.
Im weiteren Verlauf werden Bewältigungsstrategien lebensbedrohlicher Erkrankungen thematisiert. Anschließend soll das Konzept der Bibliotherapie vorgestellt und seine Relevanz für die Thematisierung von Sterben und Tod aufgezeigt werden. Abschließend werden zwei Kinderbücher vorgestellt, die auf ihre Eignung zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod überprüft werden . Neben der generellen Einsetzbarkeit soll auch die Rücksichtnahme auf religiöse Unterschiede der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen.
Am Ende wird die Bedeutung und die Berücksichtigung des religiösen Einflusses auf die Thematisierung von Sterben und Tod reflektiert.
2. Grundlegende Begriffe
2.1 Der Begriff der Körperbehinderung
Vor der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod und Sterben im Unterricht an der Förderschule mit dem Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung“ ist es nötig, den Begriff der „körperlichen Behinderung“ zu klären und somit die betreffenden Schülergruppe zu umreißen.
Zum Verständnis und zur Klassifikation von Behinderung legt die World Health Organization (WHO) der Vereinten Nationen die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) vor. Darin sind die Dimensionen einer Behinderung in zwei Teile gegliedert:
Der erste Teil umfasst die Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung, dieser umfasst auf der ersten Ebene die Körperfunktionen (physiologische und psychologische Funktionen von Körpersystemen) und Körperstrukturen (einzelne Teile des Körpers).
Die zweite Ebene beinhaltet Aktivitäten und die Partizipation, was unter „Teilhabe“ zusammengefasst werden kann. Beeinträchtigungen der Aktivitäten meint Schwierigkeiten, die ein Mensch beim Ausführen einer Handlung haben kann. Eine Beeinträchtigung der Partizipation meint „ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in Lebenssituationen erleben kann.“ (WHO, 2005: S. 19) Teilhabe umfasst:
(1) Lernen und Wissensanwendung
(2) Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
(3) Kommunikation
(4) Mobilität
(5) Selbstversorgung
(6) Häusliches Leben
(7) Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
(8) Bedeutende Lebensbereiche
(9) Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerschaftliches Leben
Der zweite Teil der ICF beschreibt mit Kontextfaktoren den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen. Dieser wird auf erster Ebene mit Umweltfaktoren beschrieben, dies sind alle Faktoren, die außerhalb des Individuums liegen, wie beispielsweise materielle, soziale, gesellschaftliche, politische und kulturelle Faktoren der Lebenswelt eines Menschen. All diese Faktoren können sich sich sowohl positiv als auch negativ auf die Handlungsmöglichkeiten auswirken.
Auf zweiter Ebene werden personenbezogene Faktoren beschrieben, dazu gehören alle Gegebenheiten eines Menschen, die zwar Krankheit und Gesundheit beeinflussen können, aber nicht Teil dessen sind. (vgl. WHO, 2005: S. 13-22) „Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf [..] umfassen[...].“ (WHO, 2005: S. 22).
Mit der ICF wird einer bis dahin oft defizitorientierten Herangehensweise an Definitionsversuchen von Behinderung Rechnung getragen, da nun der gesamte Lebenshintergrund eines Menschen mit einbezogen wird, und nicht nur eine Schädigung isoliert betrachtet wird. Christoph LEYENDECKER kommentiert zur ICF:
„Mit alldem wird die Relation von Behinderung herausgestellt. Eine Behinderung ergibt sich nicht zwangsläufig, allein weil ein Körperschaden vorliegt. Behinderung konstituiert sich erst in der Relation zu den Einschränkungen der Aktivität und der Beeinträchtigung der Partizipation.“ (LEYENDECKER, 2005: S. 19).
Demnach sollte eine (Körper-)Behinderung als eingeschränkte soziale Teilhabe verstanden werden, die durch begrenzte oder veränderte Verhaltensmöglichkeiten des Individuums entsteht, die durch eine Schädigung entstanden sind. (vgl. LEYENDECKER, 2005: S. 19)
LEYENDECKER definiert:
„Als körperbehindert wird eine Person bezeichnet, die infolge einerSchädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist.[Hervorhebung v. Autor]“ (LEYENDECKER, 2005: S. 21).
2.2 Die Schule mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung
Wird bei einem Schüler ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt, bedeutet dies nicht automatisch den Lernort Förderschule. Nach der Ausbildungsordnung sonderpädagogischer Förderbedarf des Landes NordrheinWestfalen (АО-SF) wird erst in einem dritten Schritt über den Ort der sonderpädagogische Förderung entschieden, nachdem Förderbedarf festgestellt und ein FörderSchwerpunkt festgelegt wird. (vgl. SCHULMINISTERIUM NRW, 2011). Die Kultusministerkonferenz weißt in ihren Empfehlungen für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler mit fortschreitenden Erkrankungen und mit begrenzter Lebenserwartung besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Der Ort Förderschule kommt nur in Frage, wenn die Schülerin oder der Schüler in einer allgemeinen Schule nicht ausreichend gefördert werden kann, das schließt auch integrative Möglichkeiten wie kooperative Formen ein. (vgl. KMK 1998, S.9-16). Zur Integration und zum Selbstverständnis der Schule mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung betont LEYENDECKER:
„Um so mehr wird unter dem Aspekt der sozialen Integration gefordert, dass die wohnortnahe Schule die Bedingungen für eine mehrdimensionale Förderung körperbehinderter Schüler schafft und sich behinderten Kindern öffnet. Denn die Frage der Integration lässt sich nicht so sehr an der persönlichen Integrationsfähigkeit festmachen, sondern ist vielmehr eine Frage, wie integrationsfähig und offen für alle Schülerinnen und Schüler eine Schule gestaltet wird. Deshalb versteht sich die Schule für Körperbehinderte nur so lange als eine besonders notwendige Institution, wie eine angemessene Förderung in Formen gemeinsamen Unterrichts nicht gewährleistet werden kann [Hervorhebung v. Verf.].“ (LEYENDECKER, 2005: S.156).
Für einige Schülerinnen und Schüler ist die Förderschule dennoch ein guter Lernort, so stellt JENNESSEN fest, der sich mit dem sonderpädagogischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer auseinandergesetzt hat: „Die hier skizzierten pädagogischen Aufträge erfüllt in quantitativ sowie in qualitativ hervorzuhebender Weise die Schule für Körperbehinderte“ (JENNESSEN, 2008: S. 158) da diese „über die konzeptionellen, personellen, baulichräumlichen und sächlichen Voraussetzungen für eine körperbehindertenpädagogische qualifizierte ganzheitliche Lernförderung“
(KMK 1998, S. 16) verfügt. Laut Kultusministerkonferenz sind Ziele von sonderpädagogischer Förderung allgemein und in besonderem Maße für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, die individuellen Entwicklungsaufgaben der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Diese umfassen die Förderung und den Umgang mit zum Teil erheblichen Einschränkungen der Mobilität, Ausdrucksmöglichkeiten und der kommunikativen Fähigkeiten. Im Fall von progredient erkrankten Schülerinnen und Schülern ist die Unterstützung im Umgang mit einer begrenzten Lebenserwartung ebenfalls Ziel der Förderung. (vgl. KMK, 1998). Ergänzend ist anzumerken, dass ein weiterer schulischer Förderort für progredient erkrankte Schülerinnen und Schüler die Schule für Kranke ist, die meist an größere Krankenhäuser, Universitätskliniken und Psychiatrien etc. angegliedert ist. Hier werden Schülerinnen und Schüler aller Schulformen beschult, wo ein längerer, das heißt mindestens vierwöchiger Aufenthalt im Krankenhaus notwendig ist. Aus Gründen der Relevanz wird auf diese Schulform nicht weiter eingegangen.
2.3 Progredienz und progrediente Erkrankungen
2.3.1 Kennzeichen und mögliche Erkrankungen
Kennzeichnend für Kinder mit progredienten Erkrankungen ist eine geringere Lebenserwartung. Die Erkrankungen führen im Kindes-, Jugend- oder frühen Erwachsenenalter zum Tod. Ihre Symptomatik verstärkt sich entweder kontinuierlich oder tritt in Schüben auf und ist infaust, das heißt, der Krankheitsverlauf führt unabwendbar zum Tod.
LEYENDECKER und Alexandra LAMMERS nennen als Beispiele für die bei Kindern auftretende progrediente Erkrankungen die Muskeldystrophien ( im Besonderen den Typ Duchenne), Mukoviszidose, an AIDS erkrankte Kinder (dabei weisen sie darauf hin, dass nicht lediglich HIV-positive Kinder gemeint sind, sondern diejenigen, bei denen das Virus bereits ausgebrochen ist), Hirntumore und akute Leukämie. (vgl. LEYENDECKER/ LAMMERS, 2001: S. 18). Christoph BORDAWÉ fügt die Friedreich'sche Ataxie hinzu. (vgl. BORDAWÉ, 1989: S. 41).Neben der Erwähnung verschiedener Diagnosen zeigen LEYENDECKER/LAMMERS einige Gemeinsamkeiten progredienter Erkrankungen auf. Nach ihnen sind ,,[l]ebensbedrohlich erkrankte und progredient behinderte Kinder [...] gekennzeichnet durch:
„(1) eine in der Regel seit früher Kindheit bestehende chronische Erkrankung oder körperliche Schädigung, (2) eine kontinuierliche oder schubweise Verstärkung des symptomatischen Erscheinungsbildes, (3) eine Unumkehrbarkeit dieses Prozesses („absolute Progredienz“), (4) eine reduzierte Lebenserwartung („infauste“ Prognose: Tod im Kindes-, Jugend- oder jungem Erwachsenenalter).“
(LEYENDECKER/LAMMERS, 2001: S. 17f).
JENNESSEN weißt ebenfalls auf Gemeinsamkeiten von progredienten und chronischen Erkrankungen hin, wie etwa auf eine phasenhafte Verschlimmerung und darauf, dass nicht die Erkrankungen an sich behandelbar seien, sondern lediglich die Symptome gelindert werden können und der Verlauf nicht aufgehalten, sondern nur gebremst werden könne. Dabei seien auch immer wieder symptomfreie Zeiträume möglich, was bedeute, dass das Kind nicht akut erkrankt sein müsse. Dabei seien Häufigkeit, Erscheinungsform und Verlauf der einzelnen Erkrankungen sehr heterogen. Neben den bereits genannten progredienten Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters nennt JENNESSEN weitere: onkologische Erkrankungen wie Maligne Lymphone (bösartige Erkrankungen des lymphatischen Systems, umgangssprachlich auch Lymphdrüsenkrebs genannt), Neuroblastome (bösartige Neubildungen der Nebenniere, des autonomen Nervensystems und der peripheren Nerven) und Wilms-Tumore (bösartige Nierentumore). Weitere Stoffwechselerkrankungen seien Mukopolysaccharidosen (Funktionsstörungen und Untergang der betroffenen Zellen durch Ablagerungen von Mukopolysacchariden; diese haben progrediente Skelettdeformitäten und, je nach Typ, psychomotorische Retardierung zur Folge) und Leukodystrophien (fortschreitender Abbau der Myelinschichten der Nervenzellen im Gehirn, Rückenmark und anderer Nerven; Folge sind neurologische, psychische und motorische Störungen). Als spezifischen Syndromkomplex nennt JENNESSEN das Rett-Syndrom (durch einen Gendefekt bedingte rapide Entwicklungsretardierung); die chronische Niereninsuffizienz (eingeschränkte Filtrationsleistung durch dauerhafte Schädigung des Nierengewebes) ordnet er den allgemeinen Organerkrankungen zu. (vgl. JENNESSEN, 2008: S.174ff)
3. Sozialisationsprozesse progredient erkrankter Kinder und Jugendlicher
Pädagogisches Handeln lässt sich nicht von der rein medizinischen Perspektive ableiten, denn diese kann allenfalls helfen, physische, motorische und zum Teil auch kognitive und psychische Veränderungen zu begründen. JENNESSEN sieht als Grundlage für pädagogisches Handeln und für Belastungs- und Bewältigungsmomente von Lehrkräften in der schulpädagogischen Begleitung progressiv erkrankter und sterbender Schülerinnen und Schüler.“ die ,,[...] spezifischen Sozialisationsprozesse progredient erkrankter Kinder und Jugendlicher[...].“ (JENNESSEN, 2008: S. 182) Dabei unterscheidet er verschiedene Aspekte von Sozialisationsprozessen, wie von Urie BRONFENBRENNER beschrieben. Nach BRONFENBRENNER sind diese in eine personale, familiäre, institutionelle, gesellschaftliche und sinngebende Ebene unterteilbar. (vgl. JENNESSEN, 2008, zitiert nach BRONFENBRENNER, 1981)
3.1 Personale Ebene
Auf personaler Ebene ist der Sozialisationsprozess und die subjektive Auseinandersetzung mit der eigenen progredienten Erkrankung maßgeblich vom Entwicklungsalter abhängig. JENNESSEN weißt darauf hin, dass sich die Bewältigungsstrategien von Kindern in den ersten Lebensjahren von denen der Adoleszenz stark unterscheiden, wie auch Todeskonzepte vom Entwicklungsalter abhängig sind, auf die im weiteren Verlauf (Kapitel 4) eingegangen wird. Als ein wichtiges Kriterium der Sozialisation auf personaler Ebene wird die Zunahme der erkrankungsbedingten Einschränkungen genannt. Auf der einen Seite nehmen Mobilität und Interaktionsmöglichkeiten mit dem Umfeld (Schule, Freizeit etc.) der erkrankten Kinder und Jugendlichen ab, auf der anderen Seite nimmt der Bedarf an Unterstützung im Alltag in Form von Pflege, Therapien und Krankenhausaufenthalten zu. (vgl. JENNESSEN, 2008: S. 182). Anna NEDER-VON DER GOLTZ beschreibt dies am Beispiel der Entwicklung des sozialen Status:
„Normalerweise baut sich ein junger Mensch in seinen Jugendjahren erst seinen sozialen Status durch Schulbildung, anschließender Berufswahl und durch Familiengründung auf und konsolidiert diesen durch Übernahme von gesellschaftspolitischer oder kultureller Aufgaben. Für den von unheilbarer Krankheit betroffenen Jugendlichen ist dies, wie bereits mehrfach erwähnt, kaum möglich, aus diesem Grund reduziert sich sein Sozialleben fast ausschließlich auf (Bezugs)- personen bzw. auf Familie, Schule, Tagesstätte, Heim und Krankenhaus. In diesen Einrichtungen beschränken sich die Kontakte weitgehend auf therapeutische und pädagogische Funktionen.“ (NEDER-VON DER GOLTZ, 2001: S. 187).
Als Krise werden Schmerzen, mangelnde gesellschaftliche Teilhabe und vor allem die verkürzte Lebenserwartung dann empfunden, wenn keine ausreichenden Bewältigungsstrategien, sog. Copingstrategien, entwickelt werden. Dabei wird vermutet, dass sich progredient erkrankte Kinder und Jugendliche auch ohne eine offene und explizite Thematisierung ihrer begrenzten Lebenserwartung sehr wohl bewusst sind. (vgl. JENNESSEN, 2008: S.182 ff).
„Lebensbedrohlich erkrankte Kinder wissen häufig intuitiv aufgrund ihrer eigenen Leibeserfahrung und des Verhaltens der Umwelt, wie es um sie steht. Die Form der Mitteilung über das Wissen und die Auseinandersetzung mit der existenziell bedrohlichen Situation erfolgt selten in direkten Gesprächen, häufig auf symbolischer Ebene.“ (LEYENDECKER/LAMMERS, 2001: S. 132f).
Eine weitere Besonderheit des Sozialisationsprozesses auf personaler Ebene können häufige Unterbrechungen sein, worauf im weiteren Verlauf im Rahmen von Bewältigungsmodellen lebensbedrohlicher Erkrankungen (siehe Kapitel 5.3) näher eingegangen wird. Dabei muss das Selbstkonzept immer wieder neu entwickelt und an den Status quo angepasst werden, wenn körperliche Einschränkungen und psychische Belastungen zunehmen. Zur Besonderheit beim Aufbau eines identitätsstiftenden Selbstbildes stellt NEDER-VON DER GOLTZfest:
„Der Vorgang der Individuation ist bei dem körperbehinderten und progredient erkrankten Jugendlichen bereits durch ein beschädigtes Körperselbstbild erschwert, darüber hinaus ist der Vorgang der Integration in die Gesellschaft durch die fehlende Möglichkeit, verschiedene gesellschaftlich anerkannte Rollen zu übernehmen, erschwert.“ (NEDER-VON DER GOLTZ, 2001: S. 140).
JENNESSEN greift auf das von Volker DAUT auf den möglichen Umgang mit der eigenen fortschreitenden Erkrankung modifizierte Phasen-Modell der Trauer von Elisabeth KÜBLER-ROSS zurück. DAUT unterscheidet dabei die Phasen des (1) Nicht-wahr-haben-Wollens, (2) des Zorns, (3) des Verhandelns der Todesahnung, (4) der Depression und (5) die derZustimmung (vgl. DAUT, 2005: S. 51 ff) Generell kritisiert JENNESSEN die defizitorientierte Beschreibung der Lebenswirklichkeit progressiv erkrankter Kinder und Jugendlicher.
„In den vorliegenden wissenschaftlichen Texten zur personalen Situation progressiv erkrankter Kinder und Jugendlicher überwiegt eine deutlich negative und belastungsorientierte Beschreibung der Situation der Betroffenen. Die Bedeutung von individuellen Ressourcen und Copingstrategien sowie Resilienzfaktoren wird bislang kaum in Verbindung mit der Herausforderung einer progressiven Erkrankung gesetzt und somit meist dem vorherrschenden kompetenzorientierten sonderpädagogischen Paradigma widersprechende Schlussfolgerungen gezogen.“ (JENNESSEN, 2008: S. 185).
LEYENDECKER kritisiert im Rahmen von der Thematisierung der eigenen Behinderung die Annahme, dass es einen Punkt gebe, an dem ein Mensch sich mit seiner Behinderung abgefunden habe. Er weißt auf den prozesshaften Charakter von Copingstrategien hin:
„ln der Rehabilitationspraxis wird oft von 'Behinderungsverarbeitung' geredet; das klingt so, als ob sich eine Körperbehinderung gleichsam durch einen Fleischwolf drehen ließe, ähnlich wie man eine Wurst verarbeitet. Endprodukt sei dann eine realitätsgerechte Behinderungsverarbeitung.[...]
So ist auch Coping, Auseinandersetzung, Bewältigung stets ein Versuch, kein Ergebnis, stets Prozess und nie Ende. Copingprozesse sind immer im Werden und in der Veränderung: ein lebenslanger Prozess - begleitet von Krisen und Enttäuschungen, aber auch von Anpassung und Selbstbewusstsein, Widerstand, Neuorientierung und Hoffnung.“ (LEYENDECKER, 2006: S. 28f).
3.2 Familiäre Ebene
Auf der familiären Ebene der Sozialisationsprozesse spricht JENNESSEN von „familialen Umstrukturierungsprozesse[n] nach der Diagnose einer progredienten Erkrankung [...].“ (JENNESSEN, 2008: S. 185). So ist der Alltag der Familien von der Organisation von Therapien und möglichen Hilfsmitteln sowie von Informationsbeschaffung über die Erkrankung geprägt. Je nach Erkrankung sind auch immer wieder längere Krankenhausaufenthalte nötig, welche eine Trennung des Kindes bzw. des Jugendlichen von Familie und Alltag daheim bedeuten. Innerhalb der Familie können sich Geschwisterkinder durch den massiven Zeitaufwand für das erkrankte Familienmitglied vernachlässigt oder zurückgestellt fühlen. Unsicherheiten und Schuldgefühle „führen oftmals zu einem Erziehungsverhalten, das von Overprotection bestimmt ist und bei dem Bevorzugung und Verwöhnung auch zum Ziel haben, krankheitsbedingte Entbehrungen und Schmerzen zu kompensieren.“ (JENNESSEN, 2008: S. 187). Als „copingförderliche und entlastende Aspekte[...]“ (JENNESSEN, 2008: S. 188) werden vor allem einer ehrlichen und offenen Kommunikation innerhalb Familie große Bedeutung beigemessen, sowie auch einem vertrauensvollen Verhältnis, denn „birgt gerade eine nahe Bindung zwischen Eltern und Kind vielfältige Chancen der Begleitung und Unterstützung für das erkrankte Kind.“ (JENNESSEN, 2008, S. 187).
„Werden intrafamiliäre Kommunikationsbarrieren überwunden und Ausdrucksmöglichkeiten für die subjektiven Gefühle und Gedanken der Familienmitglieder entwickelt, überraschen die erkrankten Kinder Jugendlichen mit eindeutigen, offenen und wissenden Aussagen über ihre Lebensperspektive und die emotionale Befindlichkeit der anderen Familienmitglieder.“
(JENNESSEN, 2001:S. 187).
Auf den prozesshaften Charakter der Auseinandersetzung innerhalb der Familie weißt auch Annette NIEBERS hin:
„Gleichzeitig zeigt sich auch, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod für das Kind und für die Eltern kein einmaliges Ereignis, sondern ein länger andauernder Prozess darstellt, der in seinen unterschiedlichen Phasen auch jeweils unterschiedlich behandelt werden kann. Die Begleitung eines Kindes wird damit zu einer immer neuen, individuellen Herausforderung für Eltern [...].“ (NIEBERS, 2007: S. 20).
Das Wissen um den frühen Tod des Kindes kann die Gestaltung der Begleitung beeinflussen, so ist „[d]ie Tatsache, ein Kind, das erst am Beginn seines Lebens zu stehen scheint, bereits früh wieder verlieren zu müssen, [...] für viele Eltern ein unfassbares und kaum zu bewältigendes Phänomen.“ (JENNESSEN, 2008: S. 187).
3.3 Institutioneile Ebene
Als für die institutioneile Ebene der Sozialisationsprozesse relevante Institutionen nennt JENNESSEN die Einrichtungen der vorschulischen, schulischen und beruflichen Rehabilitation. Er weißt darauf hin, dass „[i]n Bezug auf die frühe Förderung bei progredienter Erkrankung [...] die Hilfe durch Institutionen der Frühförderung krankheitsspezifisch äußerst unterschiedlich [ist].“ (JENNESSEN, 2008, S. 189). So können Angebote der Frühförderung nur von den Kindern in Anspruch genommen, bei denen eine Diagnose bzw. ein Verdacht schon im Alter vor der Schulpflicht vorliegt.
Die Mitteilung der Diagnose gegenüber der Eltern erfolgt fast ausschließlich auf institutioneller Ebene, in den meisten Fällen durch medizinisches Fachpersonal. LEYENDECKER/LAMMERS stellen fest, dass die Diagnosemitteilung meist einen Schock auslöse sowie Bestürzung, Verzweiflung und Resignation mit sich bringe. (vgl. LEYENDECKER/ LAMMERS, 2001: S. 102). „Das Diagnosegespräch wird vielfach von den Eltern als unbefriedigend erfahren. [...] Nach der Diagnosemitteilung sind die Eltern häufig sich selbst überlassen.“ (LEYENDECKER/LAMMERS, 2001: S. 102). Sowohl JENNESSEN als auch NIEBERS weisen ebenfalls darauf hin, dass die meisten Eltern die Mitteilung der Diagnose als nicht adäquat empfinden. „Einzelne Eltern mussten die Erfahrung machen, dass ihr Gespräch auf dem Flur der Krankenstation geführt wurde, oder sie im Stehen in der Ambulanz die Nachricht von der Unheilbarkeit der Krankheit ihres Kindes erhielten.“ (NIEBERS, 2007: S. 122). In einer Studie von NIEBERS geben lediglich 17% der befragten Eltern an, die Aufklärung über die Erkrankung des Kindes als einfühlsam und mitfühlend empfunden zu haben. (vgl. NIEBERS, 2007: S. 124).
Die in dieser Arbeit wichtigste Sozialisationsinstitution ist sicher die Schule. LEYENDECKER/LAMMERS stellen die Bedeutung von Schule als Institution sehr deutlich heraus:
„Der Schulunterricht, gleich ob an der Schule für Körperbehinderte oder an der Schule für Kranke stattfindet, bedeutet für lebensbedrohlich erkrankte und sterbende Kinder einen Bereich von „Normalität“. Der Unterricht ermöglicht, normale, alltägliche Erfahrungen aufrechtzuerhalten. Das Sterben wird durch den Unterricht nicht verdrängt, es ist aber nicht zentraler Mittelpunkt aller Handlungen. Einigen lebensbedrohlich erkrankten Schülern ist es wichtig, bis zuletzt Leistung zu erbringen.“ (LEYENDECKER/LAMMERS, 2001:S. 144).
Die tragende Bedeutung von Schule als Konstante im Alltag von Schülerinnen und Schülern ist wichtig, da sie einen Großteil ihrer Zeit eben in der Schule verbringen, besonders in Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, da diese Ganztagsschulen sind. Schule kann Alltag und Verlässlichkeit ermöglichen, aber auch ein sicheres Umfeld zur Beschäftigung mit existenziellen Fragen sein.
„Wird davon ausgegangen, dass die Bewältigung von Stressoren - und als solche wird die Konfrontation mit todnahen Themen von vielen Lehrkräften erlebt - nicht nur von den persönlichen Bewältigungsstrategien des Individuums, sondern auch von den umgebenden Sozialstrukturen abhängt, wird Schule hier eine bedeutende Funktion zugewiesen.“ (JENNESSEN, 2007: S. 38).
„Die Bedeutung der beruflichen Rehabilitation lässt sich anhand der grundsätzlichen Bedeutung von Arbeit und Beruf für den einzelnen Menschen nachvollziehen[.]“ (JENNESSEN, 2008: S. 190), da einige Schülerinnen und Schüler mit progredienten Erkrankungen die Schule verlassen und von Angeboten der beruflichen Rehabilitation betreut werden, und es zudem eine Aufgabe von Schule ist, Perspektiven nach der schulischen Ausbildung aufzuzeigen.
Im Vergleich zu den bereits genannten Institutionen gewinnen Kinderhospize immer mehran Bedeutung:
[...]
- Arbeit zitieren
- Peter Schneider (Autor:in), 2012, Sterben und Tod in der Bibliotherapie: Religiöse Bücher an Förderschulen für körperliche und motorische Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264685