Leseprobe
Inhalt
Einleitung
Hauptteil
1. Lernen in Abgrenzung von Bildung und Erziehung
2. Wissenschaftliche Lerntheorien in ihrem historischen Kontext
2.1. Behaviorismus
2.2. Kognitionspsychologie
2.3. Konstruktivismus
3. Definitionen von Lernen
Schlussbetrachtungen
Anhang
Literaturverzeichnis
Internetpräsenzen
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Der Begriff Lernen ist ein hypothetisches Konstrukt. Das bedeutet zum einen, dass er nicht materiell fassbar ist und daher nur durch verschiedene Indikatoren erschlossen werden kann. Zum anderen führt dieser theoretische Zugang dazu, dass sich Lernen auf unterschiedliche Weisen definieren lässt. Die wissenschaftliche Forschung beschäftigt sich bis heute in verschiedenen Disziplinen mit der Frage, was lernen eigentlich bedeutet. Der Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf der pädagogischen Perspektive, da sie im Rahmen des grundwissenschaftlichen Teils eines Lehramtsstudiums entstand.
In einer von Umfang her stark eingeschränkten Hausarbeit können nicht alle historischen und aktuellen Überlegungen angeführt werden. So wird an zahlreichen Stellen sowohl im historischen als auch im erziehungswissenschaftlichen Kontext auf weiterführende Literatur verwiesen. Die Entscheidung für die Auswahl der in der Arbeit gewählten Ansätze erfolgte auf Grundlage des von Frau Dr. Seifert1 im Sommersemester 2012 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehaltenen Seminars „Was bedeutet Bildung?“
Im ersten Teil der Hausarbeit wird der Begriff des Lernens von verwandten Begriffen des Erziehungswissenschaften wie Bildung und Erziehung abgegrenzt. Im zweiten Teil werden diese Erkenntnisse genutzt, um behavioristische, kognitionspsychologische und konstruktivistische Lerntheorien vor dem jeweiligen historischen Hintergrund zu beschreiben. Im dritten Teil werden einige Definitionen des Begriffs Lernen vorgestellt und anhand der Ergebnisse der vorangegangenen Abschnitte kritisch hinterfragt. Im Schlusskapitel werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und ein Versuch unternommen, die im Untertitel dieser Arbeit implizierte Frage nach einer eindeutigen Definition von Lernen zu beantworten.
Grundlegende Literatur waren die beiden Artikel Lernen2 und Neue Unterrichtskultur – Veränderte Lehrerrolle3 von Herbert Gudjons4 sowie der Sammelwerksbeitrag Lernen5 von Jörg Dinkelaker.6 Wichtige Impulse lieferten zudem die Diskussionen im Seminar „Was bedeutet Bildung?“ sowie die von Prof. Dr. Kunter7 im Sommersemester 2012 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehaltene Vorlesung „Psychologische Grundlagen von Erziehung, Bildung und Unterricht.“
Hauptteil
1. Lernen in Abgrenzung von Bildung und Erziehung
In der Pädagogik – und anderen geistes- wie sozialwissenschaftlichen Disziplinen – werden häufig abstrakte Begriffe benutzt, deren unklare Definitionen in einer flexiblen Thematik keine trennscharfe Abgrenzung ermöglichen.8 Um die weiteren Überlegungen und Formulierungen nachvollziehen zu können, erfolgt zunächst eine Differenzierung des Begriffs Lernen von den Bezeichnungen Bildung und Erziehung.
Einigkeit herrscht in der Wissenschaft darüber, dass es sich beim Lernen um einen Prozess handelt, der eine Änderung des Verhaltens zur Folge hat. Der Unterschied zu Bildung und Erziehung besteht darin, dass diese Verhaltensänderung wertneutral stattfindet.9 Beispielsweise entspricht die Aneignung von asozialem Verhalten der grundlegenden Definition von Lernen als Änderung des Verhaltens. Dies ist mit den durch Normen, Werte und Moral geprägten Vorstellungen von Bildung und Erziehung unvereinbar. Diese beiden Begriffe beschreiben Prozesse, die intentional Werte vermitteln.10 Bei der Bildung geht es dabei primär um die Aneignung von Wissen. Nach der bis heute schlüssigen Definition Wilhelm von Humboldts11 liegt der wahre Zweck des Menschen darin, „die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ anzustreben.12 Bildung steht daher in enger Verbindung mit Institutionen zur Wissensvermittlung wie Schulen oder Universitäten.
Erziehung wird abgrenzend dazu als Erlernen sozialer Verhaltensweisen definiert.13 Dieser primär in der Familie stattfindende Prozess wird allerdings stark durch das soziale Umfeld geprägt. Der Begriff Sozialisation und die Diskussion um die Einflüsse von Anlage und Umwelt auf die Persönlichkeitsentwicklung dürfen daher an dieser Stelle nicht ungenannt bleiben.14
Zusammenfassend kann man Lernen grundsätzlich als eine wertneutrale Verhaltensänderung beschreiben, deren unterschiedliche Definitionen stark von ihrem historischen Kontext abhängen, wie im anschließenden zweiten Kapitel näher herausgearbeitet wird.
2. Wissenschaftliche Lerntheorien in ihrem historischen Kontext
2.1. Behaviorismus
Diese verhaltenspsychologischen Ansätze haben über Jahrzehnte die Theorien des Lernens geprägt und wurden in unzähligen wissenschaftlichen Abhandlungen analysiert. An dieser Stelle sei auf die richtungsweisenden Arbeiten von Iwan Pawlow15 und Burrhus F. Skinner16 verwiesen. Ersterer begründete in seinem berühmten Experiment zur Konditionierung des Speichelflusses bei Hunden Anfang des 20. Jahrhunderts mit der klassischen Konditionierung – der Koppelung von angeborenen, natürlichen Reizen und einem bestimmten Verhalten – das assoziative Lernen. Skinner ergänzte wenige Jahre später in seinen Experimenten mit Tauben, dass neben der von Pawlow nachgewiesenen Kopplung von Reiz und Reaktion Verhalten auch durch Verstärkung und Bestrafung beeinflusst wird.17
Aus historischer Perspektive gilt es zu berücksichtigen, dass sich während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen trotz der Errichtung internationaler Institutionen wie des Völkerbundes stark nationalistische Tendenzen in den europäischen Staaten herausbildeten. Nach ihrem Eingreifen in den Ersten Weltkrieg verstanden sich die USA als „Weltpolizist“, dessen demokratische Ideale nicht überall akzeptiert wurden. Nach der Oktoberrevolution in Rußland entwickelte sich unter Lenin das totalitäre Sowjetsystem. Sowohl im Westen als auch im Osten entstanden die behavioristischen Theorien durch machtpolitisch motiviertes Denken, das stark durch militärische Überlegungen geprägt war.18
Die amerikanischen Streitkräfte planten im Zweiten Weltkrieg sogar, die operante Konditionierung als Möglichkeit zur Steuerung von Raketen zu benutzen, indem konditionierte Tauben in den Trägersystemen deren Flugbahn beeinflussen sollten.19 In Deutschland wurden die behavioristischen Lerntheorien im Dritten Reich dahingehend pervertiert, dass sowohl Erziehung und Bildung als letztlich auch Lernen vom Regime vorgegeben und manipuliert wurden. Entsprechend der nationalsozialistischen Rassenideologie sollte eine bedingungslos obrigkeitshörige Jugend – beziehungsweise mit Blick auf die Sozialisation20 der Gesellschaft das gesamte Volk – geschaffen werden.21
Diese Beispiele aus militärischer Verwendung und dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Behaviorismustheorien maßgeblicher Bestandteil der menschlichen Entwicklung sind. Die klassische und die operante Konditionierung finden bis heute – und sicherlich auch in Zukunft – sowohl in der familiären Erziehung als auch im pädagogischen Schulalltag Verwendung. Dass die Kopplung von Reiz und Verhalten sowie dessen Konditionierung aber nicht allein für die Persönlichkeitsbildung verantwortlich sind und welche Rolle kognitive Ansätze dabei spielen, wird im nächsten Abschnitt herausgearbeitet.
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1 Dr. Anne Seifert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Onlinedokument:
www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/seifert.html (13.7.2012)
2 GUDJONS, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn (2008): Julius Kinghardt. Kapitel 8: Lernen. S. 211-229.
3 GUDJONS, Herbert: Neue Unterrichtskultur – Veränderte Lehrerrolle in Ders. (Hrsg.) Neue Unterrichtskultur – Veränderte Lehrerrolle. Bad Heilbrunn (2006): Julius Kinghardt. S. 15-31.
4 Dr. Herbert Gudjons (geb. 1940) war von 1980 bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg.
Onlinedokument:
www.herbertgudjons.de (13.7.2012)
5 DINKELAKER, Jörg: Lernen in KADE, Jochen et al. (Hrsg.) Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart (2011): Kohlhammer. S. 133-139.
6 Dr. Jörg Dinkelaker ist Lehrbeauftragter am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Onlinedokument:
www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/dinkelaker.html (13.7.2012)
7 Dr. Mareike Kunter ist Professorin für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Onlinedokument:
www.uni-frankfurt.de/fb/fb05/psychologie/abteilungen_und_bereiche/pp/personen/kunter (13.7.2012)
8 PONGRATZ, Ludwig A.: Sackgassen der Bildung. Paderborn (2010): Schöningh. Kapitel Pädagogische Grundbegriffe: 'Spielmarken' oder 'theoretische Sprengsätze'. S. 13ff.
9 GUDJONS Pädagogisches Grundwissen. S. 211ff.
10 - GUDJONS Pädagogisches Grundwissen. S. 175ff.
- REICHENBACH, Roland: Erziehung in KADE, Jochen et al. (Hrsg.) Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart (2011): Kohlhammer. S. 21.
11 Wilhelm von Humboldt (1767-1835) war Mitbegründer der preußischen Bildungsreform.
12 Wilhelm von Humboldt im Jahr 1792. Zitiert nach KOLLER, Hans-Christoph: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaften. Eine Einführung. Stuttgart (2004): Kohlhammer. Kapitel 3 Der Bildungsbegriff des Neuhumanismus: Humboldt. S. 74.
13 REICHENBACH Erziehung. S. 22.
14 Im begrenzten Rahmen dieser Hausarbeit kann an dieser Stelle nur auf weiterführende Literatur zum Thema verwiesen werden:
- GRUNDMANN, Matthias: Sozialisation und Entwicklung in KADE, Jochen et al. (Hrsg.) Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart (2011): Kohlhammer. S. 28-35.
- HURRELMANN, Klaus: Sozialisation als produktive Verarbeitung der Realität in HURRELMANN, K. und OELKERS, J. (Hrsg.) Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim und Basel (2006): Beltz. S. 11-39.
15 Iwan Pawlow (1848-1936) war ein russischer Mediziner und Psychologe. Zu seinem Wirken und der Bedeutung seiner Arbeit für die Verhaltensforschung siehe u.a. METTE, Alexander: J. P. Pawlow. Sein Leben und Werk. München (1958): Dobbeck.
16 Burrhus F. Skinner (1904-1990) war ein amerikanischer Psychologe. Die Ergebnisse seiner Verhaltensforschung wurden erstmals 1938 unter dem Titel The Behavior of Organisms: An Experimental Analysis veröffentlicht. Die B.F. Skinner Foundation legt diese Publikation regelmäßig neu auf:
SKINNER, B.F.: Behavior of Organisms. Acton (2006): Copley.
17 Beide Experimente zu behavioristischen Theorien wurden in der Literatur ausgiebig behandelt. Eine ausführliche Beschreibung der Versuchsanordnung, der Auswertung und deren Folgen für die Psychologie und Pädagogik erschien dem Autor bei dem begrenzten Umfang einer Hausarbeit als zu aufwendig. Eine übersichtliche Darstellung befindet sich beispielsweise in GUDJONS Pädagogisches Grundwissen. S. 212ff. (Pawlow) bzw. 214ff. (Skinner).
18 Zu den Grundlagen der politischen Theorie des Realismus siehe u.a.:
- JACOBS, Andreas: Realismus in: SCHIEDER, Siegfried und SPINDLER, Manuela (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen. Opladen (2003): Leske + Budrich.
- SCHMIDT, Manfred G.: Wörterbuch zur Politik. Stuttgart (1995): Kröner.
Zu den historischen Entwicklungen siehe u.a.:
KINDER, Hermann und HILGEMNANN, Werner: dtv-Atlas Weltgeschichte. Band 2. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Stuttgart (2003): dtv. Kapitel Zeit zwischen den Weltkriegen. S. 412-196.
Zur Rolle der USA, in denen Skinner forschte, siehe u.a.
SAUTTER, Udo: Lexikon der amerikanischen Geschichte. München (1997): C.H. Beck.
19 Dieses absurde Project Pigeon von 1940 schilderte Skinner selbst in seinem Aufsatz Pigeons in a pelican in American Psychologist. Nr. 15/1960. S. 28-37.
20 Zur Definition von Sozialisation siehe Fußnote 14 auf Seite 4.
21 Das nationalsozialistischen Verständnis von Erziehung, Bildung und Lernen wurde in zahlreichen Publikationen untersucht. Siehe dazu u.a.:
- BOLZ, Alexander: Nationalsozialismus und Gemeinschaftserziehung. Leipzig (2001): Schkeuditz.
- GAMM, Hans-Jochen: Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus. München (1990): List.
- KEIM, Wolfgang: Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Band 1: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung. Band 2: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust. Darmstadt (2005): Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
- LINGELBACH, Karl-Christoph: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. Weinheim (1970): Beltz.
- TAYLOR-SCHNEIDER, Barbara: Die Höhere Schule im Nationalsozialismus. Zur Ideologisierung von Bildung und Erziehung. Köln u.a. (2000): Böhlau.