Grenzerfahrungen. Eine Annäherung an die serbische Performerin Marina Abramović


Tesis (Bachelor), 2013

82 Páginas, Calificación: 2,0


Extracto


Inhalt

Vorwort

Hinführung zur zentralen Frage

Hauptteil. Einfluss auf Marina Abramović durch soziales und historisches Umfeld
1. Grenzerfahrungen innerhalb Jugoslawiens und ihrer Familie
1.1 Der historische Hintergrund
Entstehung des 2. Jugoslawiens
1.2 Heranwachsen in Jugoslawien
Gesellschaftliche und familiäre Grenzerfahrungen
1.3 Studium und Proteste in den 60ern und 70ern
Politische und künstlerische Grenzerfahrungen
1.4 Marina Abramovićs erste Performances
Körperliche und geistige Grenzerfahrungen
2. Leben und Kunst außerhalb Jugoslawiens. Grenzüberschreitungen
2.1 Das Verlassen Jugoslawiens
Liebes- und Arbeitsbeziehung zu Ulay
2.2 Reisen. Suche nach Weisheiten. Kunst als Brücke
Grenzerfahrungen in der Welt
3. Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien
3.1 Der Zusammenbruch der SFRJ. Historischer Hintergrund
3.2 Marina Abramovićs künstlerische Rückkehr in den Balkan
Grenzerfahrungen innerhalb der Imagination des Balkans

Schluss

Grenzerfahrung als Brücke. Kunst als Vermittler für eine

Integration Südosteuropas in ein europäisches Wir

Quellennachweis

Anhang (Fotos, Ergänzungen)

Vorwort

An Grenzen treffen verschiedene Räume aufeinander. Es findet Reibung und Austausch statt. Das erzeugt Kreativität und bietet Anstoß, Kunst zu schaffen. Diese kann Reaktion auf gesellschaftliches Geschehen sein, dient als Brücke und Vermittler zwischen angrenzenden Seiten. Ein Künstler ist unter anderem geprägt von seiner Umwelt, der politischen und sozialen Geschichte seines Wohnorts und durch seine Familie, die Teil der jeweiligen Gesellschaft ist. Warum will ein Mensch Kunst schaffen? Marina Abramović sagte, Kunst sei Selbstausdruck, sei Dialog, sei Anprangern und Verwirren. (Brecht 1986: S.11) Das künstlerisch Dargestellte basiert auf der subjektiven Wahrnehmung des Künstlers. Kunst beinhaltet Interpretationsmöglichkeiten, man kann sie historisch und kunsthistorisch zuordnen, vergleichen und deuten. Will man einen Künstler aus einem bestimmten Land beschreiben, kann man nie auf alles, was ihn beeinflusst, eingehen, da er sowohl in seiner Persönlichkeit, als auch in seinem Drang sich künstlerisch auszudrücken, sehr vielfältig und mehrschichtig geprägt worden ist. Nicht allein die Einflüsse durch sein Heimatland, sondern auch durch die gesamte Welt- und Kulturgeschichte spielen eine Rolle. In meiner hier folgenden Arbeit konzentriere ich mich auf gesellschaftliche und politische Einflüsse auf die Künstlerin Marina Abramović, die im ehemaligen Jugoslawien aufwuchs. Ihre Eltern kämpften als Partisanen im 2. Weltkrieg. Die Rolle der politischen Eltern und ihrer religiösen Großmutter prägte ihre Kindheit und Jugend, genau wie die gesellschaftspolitischen Ereignisse dieser Zeit. Abramović gehört zu den bekanntesten internationalen Künstlern heute. Manche bezeichnen sie als wichtigste Künstlerin des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. (Wulffen 1998: S.10)

Performance-Kunst als Grenzerfahrung entwickelte sich in den 70ern. Damals gab es eine neue Generation von Künstlern die Zuschauer und Kritiker schockieren wollten. Sie vergifteten sich, verletzten sich, teilweise mit Todesrisiko. Zu ihnen gehörten Vito Acconci und Chris Burden aus den USA, sowie Gina Pane und Marina Abramović aus Europa. Alle brachte der Schmerz in einen Zwischenzustand des Bewusstseins. (Abramović 2007: S.33) Sie provozierten Situationen, die die Zuschauer in einen Status zwischen Kunst und Leben, zwischen ästhetischen und ethischen Forderungen verlagerte. (Abramović 2007: S.35) Zwischenphasen zu kreieren war charakteristisch für die Performance-Kunst der 70er Jahre. Vieles in dieser Zeit basierte auf Rationalität und Funktionalität. Künstler, vor allem Performance-Künstler negierten diese Herangehensweise. (Abramović 2007: S.44) Seit damals half Marina Abramović mit ihren Performances, Video- und Soundinstallationen eine fundamentale Entwicklung der Kunstgeschichte zu definieren.

Nahezu masochistisch prüfte sie in ihrer Kunst ihren eigenen Körper, ihre Ausdauer und ihre Schmerzgrenze. Eine Rolle dabei spielte ihr Interesse an Philosophien verschiedener fernöstlicher Kulturen. (Siae 2001: S.38)

Jeder Künstler würde die Frage, was Kunst bedeute, anders beantworten, denn diese ist nicht allgemein definierbar. Für Marina Abramović ist Kunst unter anderem ein Werkzeug, welches sie im Moment ankommen lässt. (Biesenbach 2010: S.211) In einem Interview mit Klaus Biesenbach erklärte Abramović, dass sie sich als Vertreter der Bodyart sehe, aber weder als politische, noch als feministische, sondern nur als praktizierende Künstlerin. (Stiles, Biesenbach 2008: S.20) Abramovićs Kunst wirkt, als sei sie stark von Mythologie und Religion beeinflusst. Ihre Werke erinnern an christliche Symbolik und Märtyrertum und haben eine rituelle Qualität, durch das Sich-Selbst-Zufügen von Schmerz. (Stiles, Biesenbach 2008: S.22) Sie selbst lehnt Religion jedoch ab und interessiert sich nur für die in Religionen oft erfahrene Spiritualität. Da ihrer Auffassung nach die Menschen inzwischen weniger in Kirchen gingen, als in Museen, versuche sie im Museum ein kirchenähnliches Erlebnis zu schaffen, erklärte sie. (Stiles, Biesenbach 2008: S.25)

Kunst, als mentale und körperliche Konstruktion an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, sei nach Abramović nur im Dialog mit den Zuschauern möglich, nicht aber im Privaten. Zu dem sollte ihre Kunst nicht nur angesehen werden, sondern auch für die Zuschauer erfahrbar sein. (Biesenbach 2010: S.211) Abramović zitierte den rumänischen Philosophen und Religions-Historiker Mircea Eliade, der sagte Mensch zu sein, bedeute initiiert zu sein. Sie fügte hinzu, ein kreativer Mensch zu sein, bedeute selbst-initiiert zu sein. (Stiles, Biesenbach 2008: S.37) Was machte bei ihr diese Selbst- Initiierung aus? Äußerungen aus ihrem autobiografischen Werk „The Biography“ von 1993 bezeugten den Zusammenhang ihrer Kunst mit ihrer Vergangenheit. Diesen Zusammenhang beabsichtige ich in der folgenden Arbeit zu ergründen. Biographisches Wissen über die Künstlerin verschafft Erkenntnisse über ihre Arbeit, denn diese entsteht, angetrieben von Ängsten, Bedürfnissen und Gefühlen der jeweiligen Lebenssituation. (Danzker 1996 : S.16) Besonders prägend für Abramović war ihre Jugend innerhalb der Familie und des Staates, wo oft die Kontrolle des Körpers, sowie mentale Ehrerbietung gefordert waren. Zu dem Teil jugoslawischer Kultur, in dem Bilder vom Heldentum und von Aufopferung eine wichtige Rolle spielten, fühlte sie sich verbunden. Die öffentliche und politische Gesellschaft Jugoslawiens prägte sie in ihrer persönlichen Ethik. Wichtig ist zu beachten, wie sich das von ihr verinnerlichte Einhalten von strengen, disziplinären Werten in ihrer Familie und von kommunistischen Prinzipien in der Öffentlichkeit, später 4 in ihrer Kunst widerspiegelt. In ihren Performances machte sie die psychosomatischen Effekte der Zeit, in der sie lebte, sichtbar. Die Körperkünstlerin setzte Maßstäbe, in dem sie die Darstellung von Zeit, Raum, Erinnerung und Dauer verständlich machte, ihren Körper als Werkzeug und visuelles Kommunikationsmittel nutzend. So wurde ihr Körper zum Zeugen von Geschichte und zum Vehikel und Vermittler für Aussagen über ihre psychologischen, sozialen, kulturellen und politischen Erfahrungen. (Stiles, Biesenbach 2008: S.34) Abramović erklärte einmal, dass es für einen Künstler sehr wichtig sei, aus welchem Hintergrund er komme. Je problematischer seine Kindheit gewesen sei, ein desto besserer Künstler könne er werden. Ihre eigene Kindheit sei schwer gewesen, da sie an viele Grenzen stieß, familiäre, gesellschaftliche und politische, welche ihr Inspiration gaben, um Kunst zu schaffen. Sie betonte jedoch, wie wichtig es dabei sei, aus dem eigenen Material und der persönlichen Geschichte etwas universelles zu machen. Nur dann könne das präsentierte Werk auch zum Spiegelbild des Zuschauers werden. (Daneri 2002: S.27)

Die zentrale Frage meiner nun folgenden Ausführungen soll sein, welche Grenzerfahrungen es innerhalb und außerhalb der jugoslawischen Gesellschaft waren, die Marina Abramović zur Kunst brachten und inwiefern sie neue Grenzerfahrung in ihren Werken nutzt, um Grenzen zu überschreiten und gesellschaftliche, politische, spirituelle und philosophische Erfahrungen an ihr Publikum zu vermitteln und so durch ihre Kunst selbst eine Brückenfunktion zu übernehmen.

Hauptteil. Einfluss auf Marina Abramović durch soziales und historisches Umfeld

1. Grenzerfahrungen innerhalb Jugoslawiens und ihrer Familie

1.1 Der historische Hintergrund. Die Entstehung des 2. Jugoslawiens

Cyrill Stieger erklärte historische Hintergründe, um Kunstschaffende aus Südosteuropa besser verstehen zu können. Er beschrieb, wie sich bereits seit dem 19. Jahrhundert in Kroatien und Slowenien unter Intellektuellen der Traum vom südslawischen Staat verbreitete, welcher dann im Dezember 1918 durch die Gründung des 1. Jugoslawien, als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, realisiert werden sollte. Dieses 1. Jugoslawien entstand quasi auf den Trümmern der Vielvölkerstaaten des Habsburger Reichs und des Osmanischen Reichs. 1929 wurde es in Königreich Jugoslawien umbenannt. (Humpl 2004: S.46) König Alexander setzte die Verfassung außer Kraft und löste das Parlament auf. Wie in Rumänien und Bulgarien wurde in der Zeit zwischen den Weltkriegen die demokratisch-parlamentarische Regierung durch eine „Königsdiktatur“ ersetzt. (Humpl 2004: S.47) Durch den Zusammenschluss der Länder erhoffte man sich das Ende der Fremdherrschaft und eine nationale Selbstbestimmung. Der Begriff „Jugoslawien“ stand für Freiheit, nationale Emanzipation und politische Gleichberechtigung. Diese Hoffnungen zerschlugen sich bald, da sich die nationalen, politischen und sozialen Gegensätze im Königreich zuspitzten. (Humpl 2004: S.46) Im 1. Jugoslawien gab es starke Unterschiede und Entwicklungsgefälle. Von Anfang an war das Königreich vom Kampf zwischen Serben und Kroaten, beziehungsweise auch Slowenen, geprägt gewesen. Erstere forderten einen zentral regierten Staat von Belgrad aus, die anderen wollten Dezentralisierung, da sie Angst hatten, ihre eigenen Rechte zu verlieren. Das politische Erbe des Osmanischen Reiches im Gebiet Serbiens, Montenegros, Bosnien- Herzegowinas und Mazedoniens und das des Habsburger Reiches in der Vojwodina, in Slowenien und Kroatien wurde sichtbar. Die Osmanen waren bereits im 14. Jahrhundert in das zuvor ostkirchlich, byzantinisch geprägte Gebiet gekommen. In einer traditionell patriarchalischen Gesellschaft ist die Loyalität gegenüber einem Dorf, einer Sippe oder Familie oft größer, als die gegenüber dem Staat. Als politisches Gegengewicht zur Staatsmacht war eine Bürgergesellschaft mit unabhängigen Institutionen kaum entwickelt. Dies mochte an einer fehlenden Mittelschicht als Träger wirtschaftlicher und politischer Modernisierung gelegen haben. Staatlicher Zentralismus und Dirigismus hatten, unter anderem durch die Fremdherrschaft von Osmanen und Habsburgern, eine lange Tradition. (Humpl 2004: S.47)

Marina Abramovićs Großmutter Milica Rosić,war arm aufgewachsen und hatte mit 16 Jahren 1919 Uroš Rosić geheiratet. Dieser kam aus einer wohlhabenden montenegrinischen Familie. Sein Bruder Petar wurde 1930 zum Patriarchen der serbisch orthodoxen Kirche ernannt. Dort erhielt er den Namen „Varnava“ und leitete unter anderem einen Protest gegen das dortige Konkordat der katholischen Kirche. (Westcott 2010: S.10) 1937 kam der Streit um die serbische oder kroatische Überlegenheit zum Höhepunkt in der 19-jährigen Nation Jugoslawien. Premierminister Milan Stojadinović brachte das Konkordat vor das Parlament und Varnava starb auf mysteriöse Weise. Damit begann eine Art Plott gegen die Rosić Familie, denn beide Brüder kamen nach einem Besuch ihres sterbenden Bruders ebenfalls ums Leben. (Westcott 2010: S.11) So führte die Transformation Montenegros von der Theokratie zu einem nichtkirchlichen Staat mit zum Tod von Marina Abramovićs Großvater, sowie Großonkel. Angeblich starb Varnava durch 6 eine Vergiftung des königlichen Arztes, weil er es abgelehnt hatte, die katholische und die orthodoxe Kirche zu verbinden. (Stiles, Biesenbach 2008:S.41) Die genauen Todesursachen wurden nie bekannt, da der damalige Premierminister die Ermittlungen stoppen lies. Es entstanden jedoch Spekulationen rund um die Todesursache. (Westcott 2010: S.11) So wurde zum Beispiel erzählt, dass Petar und seine Brüder vom König zum Essen eingeladen worden wären und dann durch Diamanten in den Speisen starben. Nach seinem Tod wurde Varnava einbalsamiert und als Heiliger in einer Belgrader Kirche begraben. (Ruf, Landert 1996: S.32) Die Geschichte um den Tod Varnavas wird komplexer, betrachtet man seine Nazi-Sympathien im tendenziell anti-semitischen Serbien der 30er Jahre. Deutschen Journalisten gegenüber hatte er ein lebendiges Interesse für das Neue Deutschland und Hitler ausgedrückt. Ihm gefiel der Kampf gegen die Bolschewisten. (Stiles, Biesenbach 2008: S.41) Dieses Detail wird meist nicht erwähnt. Marina Abramović gibt ihren Großonkel oft als ihren Großvater aus. Ob sie dies tat, um die Geschichte zu vereinfachen, oder weil ihr der Gedanke gefiel, den Widerspruch in ihrer Familie zu haben: einen Märtyrer der serbisch orthodoxen Kirche und Partisanen Eltern, ist nicht bekannt. (Westcott 2010: S.11) Varnava als der Heilige in Abramovićs Familie wurde oft erwähnt, vielleicht als Gegensatz zu dem von Staat angeordneten Atheismus im Kommunismus Jugoslawiens. Das serbisch-orthodoxe Erbe könnte der Künstlerin geholfen haben, ihre Narrative zu formen, darunter die konzeptionelle Tradition des Schmerzes und der Ausdauer. (Biesenbach 2010: S.16)

Das Erste Jugoslawien zerbrach vor allem, weil die zahlenmäßig überlegenen Serben nach politischer Vorherrschaft strebten. 1941 kam es zu einer relativ schnellen Kapitulation der Serben beim Angriff deutscher Truppen in Belgrad. (Humpl 2004: S.47) Die faschistischen Ustaša in Zagreb riefen einen „Unabhängigen Staat Kroatien“ aus, worin auch weite Teile Bosniens einbegriffen waren. Eine Art Marionettenstaat, zwar geleitet von Ante Pavelić, aber eigentlich von Hitler und Mussolini geführt. Es kam zum Terrorregime und zur

Säuberung Kroatiens von den Serben, welche rekatholisiert, beziehungsweise „rekroatisiert“ werden sollten. Orthodoxe Kirchen wurden zerstört. Konzentrationslager wurden errichtet und Nichtkroaten verfolgt und umgebracht. Dies löste ein tiefes Trauma unten Serben und Bosniern in Kroatien bis heute aus.

Im 2. Weltkrieg kam es zum grausamen Bürgerkrieg zwischen Četniks und Ustaša. Erstere wollte das Königreich unter serbischer Vorherrschaft wieder aufbauen. Die kommunistischen Partisanen unter Josip Broz Tito kämpften mit den Angehörigen aller jugoslawischen Staaten gegen die Besatzungsmächte. (Humpl 2004: S.47) Unter ihnen waren auch Marinas Vater Vojin Abramović und ihre Mutter Danica. Vojin, genannt Vojo, 7 kämpfte in der ersten proletarischen Brigade und wurde sofort nach dem Krieg zum Chef- Kommandeur in Titos Elite-Garde, wo er Tito auf vielen seiner Reisen durch Jugoslawien begleitete. (Westcott 2010: S.10) Ihre Mutter lehnte alles ab, was ihr von ihren Eltern beigebracht wurde, sowohl die Religion, als auch den Antisemitismus und die Bourgeoisie und wurde Kommunistin. (Stiles, Biesenbach 2008: S.42) Danica hatte vor dem Krieg ein Medizinstudium begonnen und wurde daraufhin im Krieg 1941 Krankenschwester bei den Partisanen. Sie und Vojin kamen aus verschiedenen Städten in Montenegro. (Westcott 2010: S.17) Danica kämpfte im Widerstand im 2.Weltkrieg und wurde Majorin in der Armee Titos. Dort traf sie Vojin Abramović, damals Kommandeur der 13. Montene- grinischen Division. Beide wurden zu Helden in Jugoslawien und gleichzeitig zu hohen Mitgliedern der Jugoslawischen Kommunistischen Partei. (Stiles, Biesenbach 2008: S.42) Das Kennenlernen von Danica und Vojin, gefiltert durch Familien-Folklore wurde Stoff von Partisanen-Filmen, in denen heroisch und nostalgisch der Widerstand gefeiert wurde. So zum Beispiel in Stipe Delićs Film „The Battle of Sutjeska“ von 1973. Die dominierende Narrative dieser Geschichte übernahm Marina Abramović in ihren Kreationsmythos. (Westcott 2010: S.17) Sie erzählte die Geschichte ihrer Großeltern und Eltern etwas romantisch und einseitig. Zum Beispiel schilderte sie, wie ihre Eltern sich kennen lernten: Vojin soll, auf einem weißen Pferd reitend, ihre Mutter verwundet gefunden und gerettet haben.(Stiles, Biesenbach 2008: S.42) Er zuvor wollte er in Spanien im Bürgerkrieg gegen Franco kämpfen, wurde unterwegs jedoch gefangen und saß einige Wochen im Gefängnis, bis seine Parteimitgliedschaft legal wurde. (Westcott 2010: S.17) Im November 1942 wurde der „Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens“ (AVNOJ) gegründet als Exekutivorgan der sich durchsetzenden Partisanenbewegung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand das 2. Jugoslawien. Dies wurde kommunis- tisch und in Form einer Föderation mit sechs gleichberechtigten Teilrepubliken gebildet. Dazu gehörten Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Mazedonien und die beiden autonomen Provinzen Kosovo und Vojwodina. Nationale Regungen und andere politische Gegner wurden stark bekämpft. Der Zusammenhalt des Landes sollte durch eine kommun- istische Einheitspartei und eine gemeinsame Armee entstehen. (Humpl 2004: S.48)

1.2 Hernawachsen in Jugoslawien. Gesellschaftliche und familiäre Grenzerfahrungen

Danica studierte nach dem Krieg Kunstgeschichte und wurde durch eine staatliche Agentur für Kunst und Denkmäler in Jugoslawien zuständig. (Westcott 2010: S.10) Sie war stolz darauf, bis zur Geburt Marinas weiter gearbeitet zu haben. Bei einer Sitzung des kommunistischen Komitees für die Gesundheit des Volkes am 30. November 1946 platze 8 ihre Fruchtblase und Marina Abramović kam zur Welt. Danica erkrankte nach der Geburt und ging für ein Jahr in die Schweiz auf Kur. Dank ihrer hohen politischen Position war dies möglich. (Westcott 2010: S.9)

Marina Abramovićs stets verzweifelter Versuch mit der Mutter zu kommunizieren rührte eventuell daher, dass sie erst mit sechs Jahren zu ihren Eltern kam. (Stiles, Biesenbach 2008: S.48) Bis dahin lebte sie gemeinsam mit ihrer „baka“, ihrer Großmutter in einer kleinen Wohnung. Die Großmutter Millica war reich gewesen, bis durch die Kommunisten das Land aufgeteilt wurde. Milica nannte Kommunisten deshalb „rote Teufel“ und beschuldigte ihre Tochter Danica für ihren Verlust, da diese aktiv in der kommunistischen Partei mitwirkte. Es kam häufig vor, dass Ältere, ehemals Reiche, in Jugoslawien ihre Kinder für ihre finanziellen Probleme verantwortlich machten. Auch war es in Jugoslawien nicht untypisch, dass die Großeltern die Fürsorge für ein Kind übernahmen, wenn beide Elternteile arbeiteten. (Westcott 2010: S.10) Marina Abramović war ein schwaches, kränkliches Baby und wurde von einer Amme gepflegt. (Westcott 2010: S.9) Ihre Eltern wohnten in der Makedonska Strasse, gegenüber des Büros der titotreuen Zeitschrift „Politika“. (Westcott 2010: S.9) Anfangs hatten sie in einer luxuriösen Villa im Parteiboss- Viertel in Belgrad gelebt. Vojin missfiel die bourgeoise Gegend aber und sie zogen um. (Westcott 2010: S.21) Danica und Vojin Abramović ließen ihre Tochter ihren Geburtstag immer am 29. November feiern, dem Nationalfeiertag Jugoslawiens. An diesem Datum hatte 1943 der „Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens“ sich selbst als oberste Autorität des Landes deklariert. In Missachtung dessen zogen Nazis und die jugoslawische Monarchie ins Londoner Exil. Zwei Jahre später, ebenfalls am 29. November, riefen die Kommunisten die Föderative Volksrepublik Jugoslawien aus und Josip Broz Tito wurde Premierminister. Bis zu ihrem zehnten Geburtstag glaubte Marina Abramović ihren Eltern, dass dies ihr Geburtstag sei. Jedes Jahr war sie enttäuscht, da sie nicht wie die anderen Geburtstagskinder zur Parade eingeladen wurde. (Westcott 2010: S.9) Ihren Namen bekam sie angeblich, weil ihr Vater zuvor in eine russische Soldatin verliebt gewesen war, die Marina hieß. Diese starb vor seinen Augen durch eine Granate. Der Name rief Danica Abramovićs Eifersucht hervor auf die ehemalige Geliebte ihres Mannes. (Stiles, Biesenbach 2008: S.42) Auch Marina Abramović deutete ihre Mutter als Rivalin in ihrer Vater-Beziehung und verweigerte sich ihr und ihren Forderungen stark. (Stiles, Biesenbach 2008: S.48)

Marina Abramovićs früheste Erinnerung ist, dass sie 1948 einen Marsch schwarz- gekleideter trauriger Menschen aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtete. Dies könnte nach der Exkommunikation Titos vom kommunistischen Informationsbüro durch Stalin gewesen sein. Stalin veranlasste dies, um Titos Streben nach einer unabhängigen Form des Kommunismus zu bestrafen. Die UdSSR strich Jugoslawien alle Verbindungen. Das war für viele Jugoslawen sehr schmerzlich, da man sich stark verbunden gefühlt hatte, unter anderem durch die Allianz im Zweiten Weltkrieg. (Westcott 2010: S.11) Tito reagierte auf diese Exkommunikation durch eine massive Paranoia vor sowjetischem Einfluss und ging gegen stalinistische Sympathien unter Parteizugehörigen vor. Die Opfer wurden in das Gefängnislager auf der Adria-Insel „Goli Otok“ gebracht. Nachdem Jugoslawien zuvor bereits seine Unabhängigkeit von den Nazis und dem Westen gezeigt hatte, trennte es sich nun auch von der Sowjet Union. (Westcott 2010: S.13)

In den ersten Jahren bei der Großmutter gaben Marina Abramović kirchliche Rituale

Stabilität. Fast jeden Tag ging sie mit Milica in die Kirche. Damals war Religion nur für alte Menschen akzeptabel. In der Kirche saßen oft Spione, die auf Listen vermerkten, wer an den Messen teilnahm. So blockierte eine Religionszugehörigkeit für junge Leute mitunter die Karriere und machte einen Beitritt zur Partei unmöglich. Trotzdem taufte Milica ihre Enkelin heimlich. Die starke Willenskraft, die Marina Abramović bereits als Kind entwickelte, wurde von der Familie als Erbe Varnavas gedeutet. Diese Eigenschaft schlug bei ihr oft zur Rebellion um. Bis sie vier Jahre alt war, weigerte sie sich zu sprechen, obwohl sie es konnte. (Westcott 2010: S.13) Zu dem hatte sie es bis sie zwei war, abgelehnt zu laufen. (Atlas, Abramović 1993: 11-63)

Bis sie sechs war, besuchten sie ihre Eltern nur am Sonntag, da sie sonst arbeiteten. Damals dachte sie nur, dass ihre Mutter froh sei, sich nicht um sie und ihren Dreck kümmern zu müssen. (Westcott 2010: S.15) Vojin Abramović, ihren Vater, sah sie fast nie, da er viel unterwegs war. Ab 1948 wurden seine Reisen häufiger. Auch ihm drohte die Haft auf „Goli Otok“, da er Sympathisant der Sowjet Union war. Es gelang ihm jedoch Titos Vertrauen zu erlangen. (Westcott 2010: S.20) In dieser Zeit starb Marina Abramovićs UrGroßmutter Krsmana, welche bereits über 100 Jahre alt war. So kam Marina Abramović als kleines Kind das erste Mal mit Tod und Vergänglichkeit in Berührung, welche später eine große Rolle in ihren Werken spielen sollten.

Als sie sechs Jahre alt war zog sie mit Großmutter Milica zu ihren Eltern in die Makedonska Straße. (Westcott 2010: S.15) Als Kind sollte sie nicht mit anderen Kindern spielen, wegen der Infektionsgefahr, bestimmte ihre Mutter. (Elliott 1996: S.55) 1952 wurde Marina Abramovićs Bruder Velimir geboren. (Atlas, Abramović 1993: 11-63) Sie war eifersüchtig auf ihn. Velimir hatte epileptische Anfälle und Marina wurde oft gescholten, wenn er weinte. (Westcott 2010: S.15) Die volle Aufmerksamkeit lag auf ihm, was sie in eine Art Hysterie versetzte. Sie entwickelte die Bluter-Krankheit. (Stiles, Biesenbach 2008: S.48) Monatelang wurde sie im Krankenhaus getestet, da sie ein untypischer Fall war, denn ihre Eltern hatte die Krankheit nicht. Niemand zog psychosomatische Ursachen in Betracht. In dieser Zeit wurde ihr vorgelesen, sie malte viel und erfand Spiele mit Schattenspielpuppen. Ein Jahr musste sie im Bett verbringen. (Westcott 2010:S.16) Trotz ihrer Bettlägrigkeit beschrieb sie dieses Jahr, als die beste Zeit ihres Lebens, denn sie bekam damals die volle Aufmerksamkeit ihrer Familie. Sonst blieb das Kind der in der Öffentlichkeit glänzenden Familie meist allein. Später fragte Marina Abramović ihre Mutter, warum sie sie nie gehalten, geküsst oder umarmt habe. Darauf erklärte diese, sie wollte sie nicht verhätscheln. (Stiles, Biesenbach 2008: S.51) Nur sehr selten waren beide Eltern gemeinsam zu Hause. Vojin war meist nicht da. Wenn er da war, brachte er seiner Tochter Schach bei und organisierte Malunterricht für sie. Häufig kam es zum Streit der Eltern. Jeden Morgen gab Danica Abramović ihrer Tochter eine Liste mit Dingen, die zu tun oder zu überdenken seien. Unter Mangel an Zuneigung wurde sie traurig und scheu. Sie entwickelte einen unersättlichen Wunsch nach Freiheit und eine eiserne Sturheit, was zusätzlich von ihrer politischen Umgebung beeinflusst sein konnte. (Westcott 2010: S.21) Es gab für beide Geschwister strenge Regeln zu Hause. Wenn sie nicht eingehalten wurden, schlug Danica ihre Kinder. Daher wurde die Angst, Regeln zu brechen, immer stärker. Marina hatte viele Alpträume. (Westcott 2010: S.23) Sie empfand sich als hässlich. (Stiles, Biesenbach 2008: S.119) Danica Abramović kontrollierte nachts, ob Marinas Bettwäsche in Ordnung sei und weckte sie, wenn das nicht der Fall war. Außerdem kontrollierte sie ihre Telefongespräche. (Stiles, Biesenbach 2008: S.120) Während sie als Kind durch ihre Eltern militärische Disziplin erlebte, flüchtete sie sich zu ihrer Großmutter. Gemeinsam saß sie mit ihr über Stunden in der Kirche. So erlebte sie sehr gegensätzliche Lebenskonzepte. (Ruf, Landert 1996: S.34)

In einer Sache wandte sich Danica Abramović ihrer Tochter aufmerksam zu, sie besuchte mit ihr regelmäßig verschiedene Ateliers Belgrader Künstler. Sie wollte Marina mit so viel Kultur wie möglich in Berührung bringen. Sie organisierte für sie einen Französisch - und einen Englischlehrer, nahm sie mit zu klassischen Konzerten, Opern und zu russischem Ballett. Seit dem Marina Abramović zwölf Jahre alt war, ging sie mit ihrer Mutter zu jeder Biennale. Dort erlebte sie das erste Mal avantgardistische Kunst. Von Anfang an

unterstützte Danica Abramović den Wunsch ihrer Tochter Malerin zu werden. (Westcott 2010: S.24) Mit elf Jahren begann sie ihre Träume zu malen. Ein Jahr später hatte sie ihre erste Ausstellung. (Atlas, Abramović1993: 11-63) Die Pubertät war eine Zeit voller Ängste, Alpträume und Einsamkeit für die angehende Künstlerin. Jede Woche bekam sie heftige Kopfschmerzanfälle, für die ihre Mutter, die unter den selben Schmerzen litt, kein Mitgefühl hatte. (Westcott 2010: S.25) In dieser Zeit der Migräne, brachte sie sich starke Konzentration und das Aushalten von Schmerzen bei. Wenn diese dann vorbei waren, empfand sie eine erleichternde Euphorie. (Westcott 2010: S.26) Bojana Pejić, Historikerin und Freundin von Marina Abramović, erklärte später, dass der Schmerz Abramović in ihren Körper führte und ihr zugleich die Angst vor dem Schmerz nahm. Außerdem stellte er eine Flucht aus dem Bewusstsein dar. (Stiles, Biesenbach 2008: S.66) Mit 14 Jahren lud sie einen Freund zu sich ein, um Russisch Roulette zu spielen. Beide hatten Glück, doch beim dritten Schuss, der auf das Bücherregal gerichtet war, löste sich eine Kugel. Dieses knappe Überleben, jagte beiden einen riesigen Schrecken ein. (Stiles, Biesenbach 2008: S.120) Der waghalsige Versuch mag ein Ruf nach Aufmerksamkeit gewesen sein. Denn trotz der heroischen und romantischen Liebesgeschichten über ihre Eltern, war die Realität deren Ehe hart. Die eher bourgeoise Danica war im Kulturbereich unterwegs, während Vojin Abramović bei seinen Partisanen-Freunden war. (Westcott 2010: S.20) Beide sollen kaum miteinander gesprochen haben und hatten jeder eine Pistole auf ihren Nachttischen liegen. Er hatte viele Geliebte und wenn er spät nach Hause kam, stritten sie sich heftig und er schlug Danica. Sie versteckte sich dabei oft hinter ihrer Tochter. (Stiles, Biesenbach 2008: S.120) 1959 trennten sie sich. (Atlas, Abramović 1993: 11-63) Marina Abramović fand erst fünf Jahre später den Scheidungsvertrag, ohne von der Trennung gewusst zu haben. (Stiles, Biesenbach 2008: S.121) Sie litt stark darunter. Da ihr Vater mit seiner langjährigen Affäre Vesna zusammen zog und die Verantwortung für deren Kinder aus erster Ehe übernahm, verschwand er nahezu aus ihrem Leben. (Westcott 2010: S.30) Als sie ihren Vater Vesna küssend auf der Straße sah, drohte sie zu Hause aus dem Fenster zu springen. Dieses extreme Verhalten kennzeichnete Marina Abramović, die teils hysterisch, teils desillusioniert und melancholisch sein konnte. Sie wusste nicht wohin mit ihrer exzessiven Energie, außer in den Streit mit ihrer Mutter. (Westcott 2010: S.31) Die Themen Kontrolle und Zerstörung in ihren späteren Performances kämen aus ihrer Kindheit, sagte sie später in einem Interview mit Klaus Biesenbach. Ihre Mutter gab ihr stets Anweisungen, was zu tun, zu essen und zu lesen sei. Diese Zeit war von einem Rahmen der Disziplin umgeben, weshalb sie ihre Träume über Zerstörung malte, um dem zu entkommen. (Stiles, Biesenbach 2008: S.8)

Im April 1963 wurde die Föderative Volksrepublik Jugoslawien in Sozialistische Förderative Republik Jugoslaiwen, kurz SFRJ, umbenannt. 1966 trat sie mit 19 der kommunistischen Partei bei und begann Truck-Unfälle zu malen. (Atlas, Abramović 1993: 11-63) Besonders interessierten sie die großen grünen jugoslawischen Trucks. Hörte sie von einem Unfall, ging sie so nah wie möglich an die Unfallstelle und fotografierte sie, um sie später zu malen. (Stiles, Biesenbach 2008: S.8) Danach malte sie Wolken, am liebsten Militärflugzeug-Wolken. Häufig gelang sie an entsprechende Orte nur über die guten Verbindungen ihres Vaters. Er war mit dem Polizeichef und anderen wichtigen Personen eng befreundet. Über das Beobachten der Flugzeug-Wolken, kam Marina Abramović die Idee, nicht länger zwei-dimensional zu malen, sondern alles zu benutzen, was ihr verfügbar war. (Stiles, Biesenbach 2008: S.9)

1.3. Studium und Proteste in den 60ern und 70ern. Politische und künstlerische Grenzerfahrungen

Ab 1965 besuchte Abramović die Kunstakademie. Bis 1968 malte sie, dann fing sie an, Klanginstallationen und Performances zu machen, was sehr schwer war in Jugoslawien. Mit ihrer politischen und künstlerischen Haltung war sie gegen die jugoslawische Gesellschaft und gegen ihre Professoren. Dies brachte ihren Eltern Kritik auf Parteitagen ein. (Ruf, Landert 1996: S.34)

Marina Abramović erlebte den Materialismus einer sich beschleunigenden wirtschaftlichen Entwicklung. Es entstanden Wasserkraftwerke, Hochöfen, Zellstofffabriken und der Lebensstandard stieg, während die Natur litt und der revolutionäre Idealismus geringer wurde. (Elliott 1996: S.55) Sie begann sich in dieser Zeit teils nicht-realisierbare Konzeptarbeiten auszudenken. (Stiles, Biesenbach 2008: S.10) In der Kunst hatte man seit den 1950ern den sozialistischen Realismus über Bord geworfen, statt dessen galt eine pluralistische Moderne als offizieller Stil. Die Generation der 60er Jahre schuf parallel dazu eine Avantgarde. (Elliott 1996: S.55) Seit den 1950er Jahren hatte Tito seine Reformen des kommunistischen Systems sehr locker durchgeführt. Er lenkte die stalinistische Ökonomie in Jugoslawien in eine „Quasi-Unabhängigkeit“ der städtischen und industriellen Körperschaften, in der die Arbeiter Profite teilten. (Westcott 2010: S.37) Zur jugoslawischen Neukonzeption gehörte die „Arbeiterselbstverwaltung“. 1958 setzte sich die BdKJ für eine „sozialistische Demokratie“ ein. Meinungsunterschiede, nannte man in Abgrenzung zum stalinistischen Dogmatismus einfach einen Ausdruck schöpferischer Natur der sozialistischen Praxis. Während die Sowjetunion Osteuropa dominierte und die USA den Westen, fand Jugoslawien seit den 50ern seine Balance in der „Blockfreien Bewegung“. Dafür kooperierten sie wirtschaftlich und politisch mit verschiedenen postkolonialen Staaten und Entwicklungsländern. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien und Zypern waren die einzigen europäischen Mitglieder dieser 1961 in Belgrad gegründeten Allianz. Die „Arbeiterselbsverwaltung“ und die Abgrenzung zu hegemonialen Systemen unter jugoslawischen Kommunisten wurden später zu Positionen der Neuen Linken, welche die Studentenbewegung um 1968 prägten. Zu dem fand dieses „jugoslawische Modell“ unter linken Intellektuellen im Westen während des Kalten Krieges viel Anklang. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.16) Hierbei muss gesagt werden, dass die Politik innerhalb Jugoslawiens weniger ideal war, als teils von Außen wahrgenommen, da zum Beispiel sehr drastische Strafen für Oppositionelle verhängt wurden, siehe Goli Otok. Die Freiräume für kritische Meinungsäußerung hatten sich nur mittelfristig vergrößert. Ein Beispiel hierfür war der Umgang mit dem Belgrader Schriftsteller Milovan Djilas. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.17) Laut Djilas gab es in Jugoslawien und anderen kommunistischen Staaten eine zunehmend nach Macht strebende neue Klasse von Bürokraten. Djilas hatte zuvor an der Seite Titos gekämpft, forderte dann aber Demokratisierung. Kurz nach der Veröffentlichung eines Artikels wurde er für neun Jahre eingesperrt. Sein Buch „Neue Klasse“ inspirierte Marina Abramović und ihre protestierenden Kommilitonen. (Westcott 2010: S.37) Jugendforscher hatten zuvor vermutet, dass diese Generation niemals Konformismus, Hedonismus und Opportunismus des Krieges überwinden könne. Doch dann kam es auf der ganzen Welt zur Rebellion junger Menschen, darunter viele Studenten, welche in den 60er Jahren als privilegierte Generation aufwuchsen. Studenten protestierten für eine andere Politik und ein anderes Leben. Zwar hatte es auch früher Revolten privilegierter Jugendlicher gegeben, wie in Russland oder Lateinamerika, aber die Mehrheit der Aufständischen war immer auch gedemütigt, hungrig und verzweifelt gewesen. Die Rebellion der 60er aber, war keine Rebellion der Armen oder der Arbeiter, sondern Jugend, die nach Freiheit und Gerechtigkeit hungerte statt nach Brot. (Radulović 2008: S.1) Die Proteste kamen in Belgrad nicht unerwartet, jedoch energischer als gedacht. In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1968 war eine Prügelei zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften bei einem Konzert in Novi Beograd, dem Neubauviertel Belgrads, entfacht worden. Diese wandelte sich in einen Protestmarsch um. Am nächsten Morgen setzte die Polizei Schusswaffen ein, da tausende Studenten in Richtung des Stadtzentrums demonstrierten. Es kam zur Besetzung von Uni-Gebäuden und der Deklaration der „Roten Universität Karl Marx“. Die Slogans ähnelten den weltweiten Protesten, aber richteten sich vor allem an die Innenpolitik Jugoslawiens. Sie forderten die Abschaffung aller Privilegien, die Demokratisierung der Informationsmedien und die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. (Kanzleiter, Stojaković 2008:S.13) 1968 war Abramović Vorsteherin des Parteikaders der Belgrader Akademie der schönen Künste geworden und wurde so zu einer wichtigen Figur der studentischen Opposition. (Elliott 1996: S.55) An der Belgrader Akademie der Künste forderten die Studenten von Tito 13 Punkte; ein Mehr- Parteien-System, Meinungsfreiheit, besseres Essen, ein Kulturzentrum und anderes mehr. (Stiles, Biesenbach 2008: S.10) Marina Abramović selbst litt kaum unter den Umständen, die die Studenten beklagten, aber sie teilte deren Frustration. Die Angst vor Arbeitslosigkeit unter den Studienabsolventen stieg damals stark an. (Westcott 2010: S.37) Es gab einen großen Unterschied zwischen dem theoretischen Anspruch auf ein freiheitliches und alternatives Sozialismusmodell und den tatsächlichen Verhältnissen. Durch eine rasante Industrialisierung und Urbanisierung gelang es dem BdKJ nicht, die Lücke zwischen konsumorientiertem, reicherem Norden und traditionellerem, ärmeren Süden zu schließen. So entstanden regionale Disparitäten. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.17) Gerade nach den Reformprogrammen von 1964/65 waren die sozialen Ungleichheiten gewachsen und es kam zu Massenarbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen. Bereits seit dem Beginn der 60er Jahre vertraten regionale Führungsgruppen des BdKJ ihre eigenen regionalen Absichten immer stärker, woraus später nationalistische Proteste hervorgehen sollten.

Zwar ähnelte der jugoslawische Studentenprotest den weltweiten Protesten, doch berief sich dieser als einziger auf die Programme und die Verfassung der eigenen Regierung. Das Problem sah man nur in deren Umsetzung. Die Protestierenden kritisierten also den Widerspruch von Theorie und Praxis und somit die Heuchelei der Regierung. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.18) Die Studenten bezogen sich auf eine Gesellschaftskritik aus den 50ern von Intellektuellen und Künstlern, die teils aus dem Exil oder von den Partisanenkämpfen kamen und sich kritisch mit der jugoslawischen Wirklichkeit auseinandersetzten. Die Zeitung „Pogledi“ von 1952 und 1953 aus Zagreb gehörte zu den ersten veröffentlichten kritischen Stimmen dieser Zeit. Nach deren Verbot entstanden weitere kritische Zeitungen wie in Zagreb „Naše teme“ oder in Ljubljana „Perspektive“. Aus diesen kritischen intellektuellen Kreisen entstanden die philosophischen Zirkel Anfang der 60er Jahre, die das kritische, politische Bewusstsein der protestierenden Studenten prägten. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.19) Während der Proteste in Belgrad wurden in der besetzten Universität zahlreiche kontroverse Diskussionen über die Probleme des Landes geführt unter Studenten, Professoren und Bürgern. Künstler und Arbeiter-Delegationen bekundeten ihre Solidarität. (Kanzleiter, Stojaković 2008:S.13) Als eines der Schlüsselereignisse, die zu den Studentenprotesten in Jugoslawien führten, werden die Streiks 1966 in Zagreb, Sarajevo und Belgrad gegen den Vietnamkrieg genannt. Da kritisierte man, dass die Regierung, sich zwar gegen den Krieg ausspräche, aber dennoch mit den USA in vielen Fragen kooperieren würde. Im Dezember 1966 wurde ein Protestmarsch von Studenten an der Belgrader US-Botschaft brutal gestoppt, es kam zu Unruhen. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.31) Mit diesen Antikriegsprotesten begann die Phase des offenen Aktionismus, der im Streik 1968 kulminierte, wo gegen soziale Ungleichheit und die Entstehung einer „roten Bourgeoisie“ gekämpft wurde. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.32) Die Welt der globalisierten Medien verursachte eine unerwartete Solidarität unter rebellierenden Studenten in Belgrad. Es fanden Proteste aus Solidarität zu polnischen Studenten im Frühjahr 1968 statt. In dem einigermaßen lockeren, aber autoritären Regime Jugoslawiens war eine derartige Rebellion unerwartet gewesen und wurde als empörende Lästerung gegen die unantastbare Autorität der Partei und des Staates gewertet. Teile der jugoslawischen Presse begannen gegen die Studenten aufzuhetzen und die Polizei der SFRJ empfing die Protestierenden gewaltsam. (Radulović 2008: S.1) 1970 traten Studenten in Belgrad in den Hungerstreik, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne der Bergarbeiter in Bosnien-Herzegowina durchzusetzen. Der Vorsitzende des Studentenbundes wurde nach Ende des Streiks wegen „feindlicher Propaganda“ verhaftet. Daraufhin streikten 6000 Studenten an drei Fakultäten für zehn Tage. (Kanzleiter, Stojaković 2008: 33) Offene Proteste waren danach nicht mehr möglich. Die Bewegung zog ins Private. So auch die „Freie Universität“. Oppositionelle aus der ehemaligen Studentengruppe der Zeitung „Praxis“ trafen sich in ihren Belgrader Wohnungen, um politische Entwicklungen und theoretische Fragen zu diskutieren. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.35)

Die Proteste waren die ersten im kommunistischen Jugoslawien. Da der Regierung ein Machtverlust durch die unzufriedenen Massen drohte, zeigte sich Tito relativ verständnisvoll. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.14) Er reagierte mit einer Strategie aus Inklusion und Repression und versprach zurückzutreten, würden die Probleme nicht gelöst werden, ging jedoch auf die meisten Forderungen nicht ein. Stattdessen begann er eine langwierige Kampagne gegen die radikalen Protestierenden und die kritische Intelligenz einzuleiten. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.32) Bei seiner Fernseh-Rede am 10. Juni 1968 verkündigte er, dass er das Engagement und die Selbstverwaltung der Studenten sehr schätze. Schon allein die rhetorische Unterstützung und Reaktion lies viele Studenten feiern, die Besetzung aufgeben und eine Parade mit Feuerwerk machen. Marina Abramović war damals so leidenschaftlich ideologisch, dass sie für ihre Ziele gestorben wäre. Titos Reaktion enttäuschte sie so sehr, dass sie ihre Partei-Mitgliedschaft verbrannte. Sie war angeekelt davon, dass alle trotz des geringen Erfolges feierten. (Stiles, Biesenbach 2008: S.10) Politik diskutierte man bei ihr zu Hause kaum. (Westcott 2010: S.35) Während sich Danica Abramović gegen Marinas Teilnahme an den Protesten aussprach, unterstütze Vojin Abramović die Studenten im Kampf gegen eine ungerechte Politik. Er nahm an öffentlichen Treffen und Kundgebungen teil und schmiss demonstrativ seine Parteimitgliedschaft in die Menge. (Westcott 2010: S.37) Nach langjähriger enger Zusammenarbeit mit Tito, schnitt er diesen aus allen gemeinsamen Fotos heraus, denn 1968 gab auch er seine Hoffnung an dessen Politik auf. (Westcott 2010: 38)

In Folge des Kontrollverlustes hatte die Regierung ihren Liberalisierungskurs gestoppt und es war zur Re-Dogmatisierung der Partei gekommen, um oppositionelle Strömungen zu verhindern. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.14) Der Traum von Freiheit war ausgeträumt und die Studenten kehrten in ihren Alltag und in die Repression zurück. Viele Karrieren von Professoren und anderen Beteiligten wurden beendigt. Es begann die Zeit des „Jugoslawischen Herbsts“ Anfang der 70er Jahre, was ein harter Schlag für die erkämpfte Freiheit war. Für Marković war die Studentenbewegung in Jugoslawien eine Geschichte ungenutzter Chancen, denn es war der erste und letzte Aufstand im kommunistischen Jugoslawien, wo nicht Nationalismus Hauptprogrammpunkt war, erklärte er. (Radulović 2008: S.2)

Unter wenigen Punkten, auf die Tito einging, war die Forderung nach einem Ort, wo sich die Kunststudenten ausleben könnten. Sie bekamen ein ehemaliges Polizeigebäude zugeteilt, was 1971 als „Studenski Kulturni Centar“ (SKC) eröffnet wurde. Dieser Ort war für Marina Abramović sehr wichtig, da sie dort ihre ersten Klanginstallationen und Performances machte, was sonst in Belgrad nicht möglich gewesen wäre. (Westcott 2010: S.38) Im neuen Kulturzentrum konnte wirklich freie Kunst gemacht werden. Die erste Direktorin dort war Dunja Blazević, Tochter des damaligen kroatischen Ministers, wodurch das SKC einige Sonderrechte genoss. (Stiles, Biesenbach 2008: S.10) Nach der ersten gemeinsamen Ausstellung mit dem Titel „Drangularium“ begann für Abramović ein neues Denken in der Kunst. (Westcott 2010: S.51) Für die Kunst hatte die Zeit um 1968 Folgen. Die Faszination über Freiheit und die neue Sensibilität wurden sichtbar. Die Kunst nach Ende des 2. Weltkriegs bis in die 60er Jahre könnte man als Periode der Realisierung konkreter Utopien bezeichnen. Es wurde eine Kunst im Geiste einer modernen, industriellen Gesellschaft der neo-avantgardistischen Praxis geschaffen. Zwar verfolgte man die Vision der historischen Avantgarde, aber man reagierte auch auf neue Lebensbedingungen. Neue Paradoxe, neue Formen des Totalitarismus und neue Unstimmigkeiten wurden durch Kunst enthüllt. Einerseits gab es höhere soziale Standards und bessere Kommunikationsformen, aber auch neue Formen staatlicher Kontrolle, sowie neue Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Es gab kritische Analysen ideologischer, religiöser und künstlerischer Projekte, wie zum Beispiel die Analyse der Grenze der Sprache, des Sinnes oder der Werte und Ideale in der spätmodernen Gesellschaft. Die Rede ist hier von später Konzept-Kunst der 70er Jahre mit ihren poststrukturalistischen Theorien. Als letzter großer Künstler der europäischen Utopie wurde Joseph Beuys gesehen, welcher sich zwischen den späten 70ern und frühen 80ern mit der Synthese von Kunst, esoterischer Praxis, Politik und Wirtschaft beschäftigte. Die Kunst der Postmoderne, welche Mitte der 70er begann, war antiutopische Kunst. (Radulović 2008: S.4) In den 60ern fand in der Kunstszene eine konzeptionelle und inhaltliche Suche statt, in der man Inhalte der Kunst hinterfragte, die nicht länger von der „Flucht vor der Wirklichkeit“ bestimmt sein sollten, wie es der kroatische Kunstphilospoh Danko Grlić formulierte, sondern gesellschaftspolitisch relevante Inhalte vertreten sollten. Kurzum, Künstler übernahmen eine progressive, statt einer passiven Rolle innerhalb der Gesellschaft. Das interessante hierbei war, dass die subversive Kunstszene, die Verfassungsmoral Jugoslawiens bejahte, aber deren Umsetzung kritisierte und somit statt den kritischen Intellektuellen, die politische Machtelite zum Verfassungsfeind erklärte. Subversive KünstlerInnen hatten allgemein eine tragende Rolle in der jugoslawischen Studentenbewegung. (Stojaković 2008)

Die Veränderungen der Kunst und der Künstler waren nicht autonom, sondern auch beeinflusst durch politische Entschlüsse bezüglich Kultur und Gesellschaft. Es entstanden Verbindungsnetze kultureller Zentren, wie zwischen dem SKC in Belgrad und dem SC, dem Studentischen Zentrum in Zagreb. (Radulović 2008: S.5) Im SKC entstand eine Künstler-Gruppe, die nicht traditionelle Kunst machte. Marina Abramović hatte sich dieser sechsköpfigen Diskussionsrunde über Kunst angeschlossen. Sie forderten die Befreiung der Kunst von der politischen Pflicht, wie sie zuvor im Sozialistischen Realismus üblich gewesen war. (Westcott 2010: S.39) Im SKC und in dieser Gruppe war man für eine neue Kunst und für eine neue Gesellschaft. (Westcott 2010: S.47) Als erste Avantgarde- Künstlerin Jugoslawiens verschrieb sich Marina Abramović der Performance-, Installations- und Videokunst. Mit in der Gruppe der Avantgarde-Künstler waren außer ihr nur Männer; Raša Todosejević, Ero Milivojević, Urkom Gergeli, Zoran Popović und Neša Paripović. (Stiles, Biesenbach 2008: S.60)

Neben dem gesellschaftlichen und philosophischen Umdenken während der Proteste, sowohl politisch, als auch künstlerisch, beeinflusste die Position des Theaters in der kritischen und politischen Jugend Marina Abramovićs Schaffen. Im Studententheater ging es nicht um Kritik an Tagespolitik, sondern um das Überwinden von gesellschaftlichen Zwängen. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.23) Das aktionistische Theater versuchte in der Zeit der Proteste die Trennung von Bühne und Auditorium zu überwinden. Es kam durch eine politische Debatte über das entfremdete historische Subjekt dazu, dem Individuum und dessen Einzelschicksal mehr Bedeutung zukommen lassen. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.22) Im Theater, dem sogenannten „Spiegelbild der Zeit“, war die Erwartungshaltung zur ideellen Positionierung sehr stark vertreten. (Kanzleiter, Stojaković 2008: S.24) Lusuardi meinte, dass das Theater ein sowohl formales, als auch substantielles Handlungspotential habe, welches in der Öffnung der Grenzen deren Ambivalenz erhalte und deren Zwiespältigkeit offenlege und dadurch eine poetische Energie freilege. (Karahasan 2003: 204 ff.)

Durch Titos spezielle Beziehungen, sowohl nach Russland, als auch zum Westen, war die Kunstszene in Belgrad bezüglich der experimentellen Kunst nicht so rar wie etwa in Rumänien oder Albanien. (Stiles, Biesenbach 2008: S.59) Das Arbeiten und Leben im SKC mit der kritischen Künstlergruppe gab Marina Abramović viel Selbstvertrauen. Die Gruppe suchte nach einer neuen Art von Kunst, wusste aber, nicht wie diese aussehen würde, da sie kaum Kontakt zu anderen Avantgarde-Gruppen hatten, die progressive Kunst machten. (Westcott 2010: S.40) Es gab zum Beispiel in Slowenien die Künstlergruppe „Otto“, die als erste in Jugoslawien auch Performances machte. Ihr Motto war dabei das Beobachten und Leben des Lebens, als sei es Kunst. (Westcott 2010: S.41) Abramović lernte den kroatischen strukturalistischen Filmemacher und Performance-Künstler Tomislav Gotovac kennen, welcher die ersten Happenings in Zagreb 1967 organisiert hatte. (Westcott 2010: S.42) Sie führte für sich das Element des Rituellen in die Kunst ein. (Meschede 1993: S.18) 1970 wollte sie eine Performance mit Russisch Roulette durchführen. (Stiles, Biesenbach 2008: S.48) Dies wäre ihre erste Performance gewesen, wäre sie nicht abgelehnt worden. Die Idee zu dieser Performance verdeutlichte Abramovićs Krieg mit ihrer Mutter, da es darum gegangen wäre, dass sie die von der Mutter vorgeschriebene Kleidung in der Performance nur getragen hätte, wenn sie durch das Russisch Roulette gestorben wäre, hätte sie überlebt, wäre sie als freie Frau von der Bühne gegangen, so gekleidet wie sie es selbst wünschte. (Westcott 2010: S.43) Sie wollte aus disziplinären Zwängen mit Hilfe der Performance ausbrechen und dafür sogar ihr Leben riskieren. (Westcott 2010: S.45)

Im letzten Jahr an der Belgrader Akademie hatte Abramović ihre erste Beziehung mit Neša Paripović, der auch Mitglied der Künstlergruppe war. Sie schloss ein Post-Diplom an ihr Studium an. Dafür ging sie nach Zagreb und lebte das erste mal nicht mit ihrer Mutter zusammen. Später heiratete sie Paripović. Ihre Mutter erschien nicht zur Hochzeit. Paripović folgte Abramović nach Zagreb. (Westcott 2010: S.47) Als sie später gemeinsam nach Belgrad zurückkehrten, erlaubte Danica Neša nicht zu ihnen zu ziehen oder dort zu übernachten. (Westcott 2010: 52) Mit Ende Zwanzig lebte Abramović wieder zu Hause und musste jeden Tag vor 22 Uhr zurück sein. (Westcott 2010: S.52 ff.) Trotz Abramovićs unbe-ständiger Ehe mit Paripović, wurde sie schwanger, was eine ihrer größten Ängste gewesen war. Sie lies das Kind sofort abtreiben, denn sie wollte nicht an ihrer Arbeit gehindert werden. Auf ihren Reisen hatte sie einige Affären, zum Beispiel mit einem Schweizer namens Thomas Lips. Nach ihm benannte sie eine Performance. (Westcott 2010: S.79)

1.4. Erste Performances. Körperliche und geistige Grenzerfahrungen

Während der technischen, politischen und sozialen Revolution der 1960er wurde das Gemälde als Nummer Eins in der europäischen Kunst durch die Performance verdrängt. (Biesenbach 2010: S.40) Die Performance ist kein Ort des Verstellens, wie das Theater, welches Erving Goffman als Allegorie für den Staat und deren soziale Kontrolle nutzte. Eine Performance ist offen und unplanbar. In der Performance gibt es nur eine virtuelle Bühne. (Biesenbach 2010: S.43) Die Avantgarde der 60er Jahre versuchte durch sie die Lücke zwischen Leben und Kunst zu schließen. Vito Acconci ejakulierte während einer Performance und Wiener Aktionisten beschmierten sich mit Blut oder schnitten sich zu Tode. Diese sogenannte störende Kunst der 60er und 70er Jahre beinhaltete eine Manifestation tiefer Veränderung in der Kultur als Ganzes. (Biesenbach 2010: S.31)

Im Interview mit Nancy Spector sagte Marina Abramović, dass die Performance-Kunst wegen ihrer Radikalität, Intensität, Einfachheit und Direktheit sehr begeistert habe. (Abramović 2007: S.15) Die Avantgarde-Künstler wollten Konventionen und Ideologie abstreifen, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Diese Schlichtheit bedingte, dass man ihre Kunst als „arm“ bezeichnete. Die bloße Fähigkeit des Körpers zur Konfrontation mit dem Mythos zählte. (Elliott 1996: S.58) Vorläufer der „armen“ Kunst kamen aus dem Frankreich der Nachkriegszeit. Wo innere Leere und die Obszönität des Holocausts thematisiert wurden, so unter anderem in der existenzialistischen Philosophie. (Elliott 1996: S.58)

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Detalles

Título
Grenzerfahrungen. Eine Annäherung an die serbische Performerin Marina Abramović
Universidad
Martin Luther University  (für Slavistik)
Curso
Südosteuropastudien
Calificación
2,0
Autor
Año
2013
Páginas
82
No. de catálogo
V265483
ISBN (Ebook)
9783656551164
ISBN (Libro)
9783656551317
Tamaño de fichero
4307 KB
Idioma
Alemán
Notas
In dieser Arbeit setze ich mich mit dem Zusammenhang zwischen Marina Abramovic´s Leben in künstlerischer udn historischer Sicht ausseinander. Historische udn biografische Faktoren als Impulsgeber für ihre Kunst.
Palabras clave
grenzerfahrungen, eine, annäherung, performerin, marina, abramović
Citar trabajo
Hildegard Pank (Autor), 2013, Grenzerfahrungen. Eine Annäherung an die serbische Performerin Marina Abramović, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265483

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