Dem Wachstum verfallen?!

Wie das kapitalistische Wachstumsparadigma zum »goldenen Kalb« westlicher Gegenwartsgesellschaften wurde.


Masterarbeit, 2012

200 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

A Vorwort

B Inhaltsverzeichnis

C Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Das Objekt Kapitalismus und das Mittel Geld
1. Das Objekt: Kapitalismus
2. Das Mittel: Geld
III. Das Subjekt im Kapitalismus
3. Kapitalismus – Eine gesellschaftliche Konstruktion?!
4. Wachstumstrieb auf der Subjektebene
IV. Schlussteil
5. (Aus‑)Blick über den kapitalistischen Tellerrand
6. Reflexive Schlussbetrachtung

D Literaturverzeichnis.

A Vorwort

"Wer seinen Wohlstand vermehren möchte, der sollte sich an den Bienen ein Beispiel nehmen. Sie sammeln den Honig, ohne die Blumen zu zerstören. Sie sind sogar nützlich für die Blumen. Sammle deinen Reichtum, ohne seine Quellen zu zerstören, dann wird er beständig zunehmen."

– Siddhartha Gautama

Die Ursprünge der großen Probleme unserer Zeit, sind uns schon lange bekannt. Dass der Lebenswandel der Menschen in der westlichen Welt häufig auf Kosten der übrigen Weltbevölkerung geht, ist den meisten Menschen bewusst oder zumindest sehen sie vage Zusammenhänge. Trotzdem scheint sich kaum etwas im Verhalten der Menschen zu ändern. Die oben zitierte Textzeile scheint einen sehr simplen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Das Streben nach „mehr“ und die Parole „viel hilft viel“ scheint immer noch in den Köpfen der Menschen verankert zu sein. Es stellt sich die Frage, wie es zu dieser Verinnerlichung gekommen ist. Die Beantwortung dieser Frage stellt einen Meilenstein auf dem Weg zur gesellschaftlichen Veränderung dar.

Ausgehend von Berichten wie dem des Club of Rome („Limits to Growth“) oder neueren wachstumskritischen Veröffentlichungen von Tim Jackson („Wohlstand ohne Wachstum“) und Meinhard Miegel („Exit: Wohlstand ohne Wachstum“), soll die Thematik dieser Arbeit um eben dieses scheinbar allgegenwärtig anzutreffende „Wachstumsparadigma“ entwickelt werden. Daher sollten anfangs noch die von Miegel, Jackson und anderen dargelegten Probleme, deren Ursachen sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung von dem Zustand der momentanen kapitalistischen Wirtschafts‑ und Gesellschaftsordnung im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Es sollte mittels empirischer Analysen das Ziel verfolgt werden, die Wahrnehmung der besagten Probleme in der Bevölkerung sowie deren Erwartungshaltung im Hinblick auf Zufriedenheit und Wohlstand zu ermitteln. Diese Daten hätten schließlich Rückschlüsse auf die (theoretische) Durchsetzungsfähigkeit von alternativen Gesellschaftsordnungen jenseits des Wachstums ermöglichen sollen.

Als erste Frage stand nun im Raum, woher dieses Wachstumsdenken insbesondere auch auf der subjektiven Ebene kam und wie es sich derart in den Köpfen der Menschen manifestierte, sodass es im Zusammenhang mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem vielerorts noch heute als faktisch alternativlos angesehen wird. Da sich der (neoliberale) Kapitalismus nur durch stetiges ökonomisches Wachstum reproduzieren kann und somit die Verflechtung dieses Wirtschaftsmodells mit dem Wachstumsparadigma evident ist, erschien uns eine Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus unumgänglich, um eben diese auch hinsichtlich des Wachstumsparadigmas analysieren zu können. Weil diese theoretische Vertiefung bereits für sich hinreichenden Inhalt bot, kann diese Arbeit gleichsam als theoretische Hinführung zu dem oben beschriebenen empirischen Vorhaben betrachtet werden, welches den thematischen Anschluss an die vorliegende Untersuchung darstellen wird.

Es soll in dieser Arbeit jedoch klar zwischen dem Kapitalismus als Gesellschaftsordnung (vor allem: Privateigentum an Produktionsmitteln, Steuerung von Produktion und Konsum über freie Märkte, Kapitalakkumulation sowie Gewinn und eben Wachstum) und dem Wachstums denken – als entscheidender Faktor des Kapitalismus – in der Gesellschaft unterschieden werden. Im Zentrum soll demnach einmal, mit Bezug auf den Sozialkonstruktivismus nach Peter Berger und Thomas Luckmann, die soziale Konstruktion des Wachstumsparadigmas stehen, also wie sich dieses in die gesellschaftliche Sozialisation einbettet, wie es institutionalisiert, objektiviert und schließlich legitimiert wird. Ein weiterer Fokus liegt in Anlehnung an Harald Welzer schließlich auf der Mikroebene und der Betrachtung dessen, inwiefern das Leben der Menschen selbst in kapitalistischen Gesellschaften auf ein persönliches Wachstum der Individuen ausgerichtet ist und welche Rolle dabei vor allem der neoliberale Kapitalismus der heutigen Zeit spielt. Mit diesen Erkenntnissen erhoffen wir uns, Denkanstöße geben und in der Folge eine kritische Reflexion des eigenen Lebenswandels beim Leser auslösen zu können.

Matthias Hellmich

Hendrik Weinekötter

C Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

Eine Alliteration ist ein sprachliches Stilmittel bei dem Wörter mit gleichen Anfangslauten aneinander gereiht werden. Dieses Stilmittel wird verwendet, um den Zusammenhang aufeinanderfolgender Begriffe stilistisch zu betonen und die Aufzählung einprägsamer zu machen. Für den politischen Betrieb in westlichen Gesellschaften scheint es eine solche Alliteration geschafft zu haben, den Status einer kausalen Argumentation zu erreichen und damit zur zentralen Leitlinie des öffentlichen und privaten Lebens zu werden. Das Motto lautet »Wirtschaft, Wachstum, Wohlstand«. Diese Kausalkette dient vielen Entscheidungsträgern als die beste Antwort auf Probleme, sowohl wirtschaftlichen, sozialen und auch ökologischen Ursprungs. Die Argumentation erscheint zunächst so simpel wie genial. Wenn von allem mehr produziert wird, dann kann auch mehr an alle verteilt werden. Wächst die Wirtschaft, dient dies im Allgemeinen dem Fortschritt und es wird innovativen Technologien, die auch die Umwelt im Blick haben, der Weg bereitet. Selbst wenn die Verteilung nicht immer gerecht verläuft, so fallen doch auch für die Benachteiligten zumindest immer größere Brocken ab. „Es gibt bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum“ (Beck, 1986, S. 122).

Das (Wirtschafts-)Wachstum ist dabei die zentrale Bedingung, gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt an dem die gesamte Argumentation aufgehängt ist. In den westlichen Ländern hat es den meisten Menschen über Jahrzehnte einen steten Zuwachs an materiellem und finanziellem Wohlstand beschert. Der Kapitalismus als wachstumsorientierte Wirtschaftsordnung hat sich in dieser Zeit als scheinbar durchsetzungsfähigstes System gegenüber anderen Systemen – konkret dem Kommunismus – erwiesen. Allerdings basiert dieses Wirtschafts‑ und Gesellschaftsmodell auf der Ausbeutung des Planeten sowie eines großen Teils der Menschen bzw. der „Marginalisierten“ durch einen kleinen Teil der Weltbevölkerung. Im Zuge der Globalisierung verschwinden jedoch zunehmend die natürlichen wie menschlichen »Ressourcen«, die – dem Wachstum geschuldet – zusätzlich zu den bisherigen ausgebeutet werden können. Daher wird heute immer weniger der Raum, sondern vielmehr die Zeit ausgebeutet bzw. werden die zukünftigen Generationen ihrer Lebensgrundlagen schon heute beraubt. Die derzeitige Art des Wirtschaftens zerstört die Grundlage ihres Erfolgs (vgl. Welzer, 2011, S. 37; Miegel, 2012, S. 4).

Die enge Verbindung des Wohlstands einer Gesellschaft mit dem wirtschaftlichen Wachstum hatte auch zur Folge, dass der Grad des Wohlstands auf einer quantitativen bzw. monetären Basis, namentlich dem Bruttoinlandsprodukt (BIP), berechnet wird. Die hier gemessene Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen soll Auskunft darüber geben, wie hoch die Produktivität des Marktes ist und damit folglich die Menge der zur Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehenden Güter. Daraus ist zu schließen, dass sich durch diese Weise der Wohlstands‑Berechnung Verschwendung und (ökologische) Zerstörung in der volkswirtschaftlichen Bilanz »positiv« niederschlagen (vgl. Gorz, 2009, S. 70 f.). Auch wenn es mittlerweile eine Vielzahl weiterer Indikatoren zur Wohlstandsmessung gibt, hat die Messung des BIPs immer noch ihre Bedeutung bei der Ermittlung des Wohlstands eines Landes. Beispielsweise setzt die Weltbank auf das daraus ermittelte Pro-Kopf-Einkommen und auch im Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen ist das Pro-Kopf-Einkommen eine Variable, die dort allerdings durch weitere Einflussgrößen ergänzt wird.

Nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise hat dazu geführt, dass Zweifel an dieser (materiellen bzw. monetären) Wachstumsorientierung aufgekommen sind. So zeigt eine aktuelle Umfrage von TNS Emnid in Deutschland und Österreich, dass etwa 60 % der Bundesbürger nicht daran glauben, dass weiteres Wirtschaftswachstum ihren persönlichen Lebensstandard verbessern würde. Trotzdem sieht der Studie zur Folge nur einer von zehn Befragten in Deutschland grundsätzliches Wirtschaftswachstum nicht als „wichtig“ bis „sehr wichtig“ an, sehr ähnlich sind die Ergebnisse für die österreichischen Teilnehmer (vgl. TNS Emnid, 2012, S. 4). Dieselbe Studie zeigt auch, dass die befragten Personen eine Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und umweltverträglicher Ressourcennutzung meist für möglich halten (vgl. ebd., S. 5).

Dass es aber absolute Grenzen des Wachstums gibt und geben muss, wurde schon im Jahr 1972 zunächst auf der UN-Konferenz in Stockholm („Only one earth“) sowie im Bericht (engl. Originaltitel: The Limits to Growth : A Report for the Club of Rome´s Project on the Predicament on Mankind, 1972) der Forschergruppe um Dennis Meadows, welche von der Organisation Club of Rome beauftragt wurde, in drastischer Weise herausgestellt, indem vor allem auf die begrenzte „Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen“ und „Senkenkapazität der Ökosysteme“ hingewiesen wurde. Auch wenn die darin enthaltenen Berechnungen und Simulationen zukünftiger Szenarien mithilfe mathematischer Modellannahme damals wie heute auf Kritik[1] stoßen, wurde durch diesen Bericht dennoch die öffentliche Aufmerksamkeit für die Begrenztheit der Erde erregt. Damit wurde einem anhaltenden Diskurs über die Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und anhaltendem Wachstum der Weg bereitet. Der Diskurs fand schließlich im Brundtland Report („Our common future“) aus dem Jahr 1987 Berücksichtigung, wenn auch in durchaus optimistischer Weise, was die Vereinbarkeit von ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischem Wachstum betrifft. Auf der Rio-Konferenz des Jahres 1992 wurde dann ein deutlich kritischerer Blick vor allem auf den Lebensstil bzw. den übermäßigen Konsum der westlichen Staaten geworfen, da dieses Konsumverhalten nicht mit einer globalen nachhaltigen Entwicklung vereinbar sei. Dies rief eine gemeinsame Opposition des Westens (in der UN, OECD und weiteren internationalen Gremien) hervor, die fortan begannen, eigene Untersuchungen bezüglich nachhaltiger Produktion und Konsumption durchzuführen (vgl. Sanne, 2002, S. 274). Sowohl 20 als auch 30 Jahre nach dem Bericht des Club of Rome schauten dessen Autoren auf die Entwicklung der jeweils vergangenen Jahrzehnte zurück (Meadows, Meadows, & Randers, 1992; Meadows, Randers, & Meadows, 2004). In diesen Veröffentlichungen wurde neben einigen positiven Entwicklungen jedoch vor allem festgestellt, dass die Menschen westlicher Gesellschaften fortwährend „über ihre Verhältnisse“ leben.

Gegenwärtig findet sich eine Vielzahl von Autoren wie Tim Jackson oder Meinhard Miegel (um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen), die ein Streben nach „Wohlstand ohne Wachstum“ und damit eine vollständige Abkehr von diesem Paradigma fordern. Doch trotz der aktuellen Finanzkrise und dem immer häufigeren Stoßen auf Wachstumsgrenzen (Peak Oil [2], Kohlendioxid‑Emissionen (CO2)[3], Klimawandel, abnehmende Biodiversität, globale Ungleichheit) erscheint das (Wirtschafts‑)Wachstum vielerorts immer noch als eine Art „goldenes Kalb“, das die Menschen verehren und in das sie ihre Hoffnung auf Wohlstand legen. Dieser Handlungslogik sind aber nicht nur wirtschaftsorientierte Akteure verfallen, sondern auch bei grünen und/oder linken Politikern finden sich Vorschläge für Konjunkturprogramme mit einer entsprechend angepassten Schwerpunktsetzung (vgl. Welzer, 2011, S. 11). So setzen etwa die Grünen auf ein grünes Konjunkturprogramm[4], das sich am New Deal des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt orientiert. Wie das Programm des amerikanischen Präsidenten widmet sich der Green New Deal den Phänomenen einer Wirtschaftskrise. In beiden Fällen sollen zahlreiche Reformen dafür sorgen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden und die Wirtschaft angekurbelt wird. Im Fall des »grünen« Programms soll dies aber insbesondere durch den Ausbau ökologischer und nachhaltiger Wirtschaftsbereiche geschehen. Diese Beispiele belegen, dass Wachstum nicht nur eine Forderung von Politikern ist, die ideologisch der klassischen Wirtschaftsauffassung nahe stehen. Da sich auch in anderen politischen Lagern Forderungen nach Wachstum finden, kann von einer größeren Verbreitung in der Gesellschaft ausgegangen werden. Sind die Menschen allgemein also dem Wirtschaftswachstum »verfallen« und woher stammt dieser anhaltende Wachstumsoptimismus?

Die folgende Arbeit soll, der Wachstumsgläubigkeit bzw. dem Wachstumstrieb nachgehen. Die Metapher des „goldenen Kalbs“ wurde einerseits gewählt, weil die Fokussierung auf Wachstum als Versprechen von Wohlstand Ähnlichkeit mit einer religiösen Ergebenheit aufweist. Gleichzeitig kann das „goldene Kalb“ aber auch als Symbol für die »sündhafte« Verehrung von Reichtum und materiellen Gütern gesehen werden (vgl. Koenen, 2006). Der Hauptteil dieser Arbeit besteht aus zwei (Themen‑)Blöcken. Die ersten beiden Kapitel widmen sich dabei ganz konkret dem Objekt Kapitalismus und dem Mittel Geld. Das erste Kapitel beginnt mit der Beschreibung des historischen Entwicklungsprozesses des Kapitalismus sowie der entscheidenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Elemente, die den Kapitalismus in Phasen wie beispielsweise den Frühkapitalismus, den Hochkapitalismus oder den neoliberalen Kapitalismus unterteilt haben. Der zweite Abschnitt widmet sich theoretischen Konzepten zum Kapitalismus. Hier stehen die Ansichten der Autoren Adam Smith, Karl Marx, Werner Sombart, Max Weber und Joseph Schumpeter aber auch die neoliberalen Theorieansätze der Chicagoer und Freiburger Schulen im Mittelpunkt. Ziel dieser ersten beiden Kapitel ist der Versuch einer Begriffsklärung – einer Annäherung an eine Kapitalismus‑Definition durch das Herausfiltern von kapitalistischen Kernelementen, denen im Zwischenfazit nachgegangen wird. Den Abschluss dieses Fazits bildet eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Kapitalismus der Gegenwart, die zugleich bereits eine inhaltliche Verknüpfung zwischen der kapitalistischen Wirtschafts‑ und Gesellschaftsform und dem Individuum andeutet, auf das im zweiten Block eingegangen wird.

Ebenfalls zum ersten Themenblock gehörig schließt sich ein ausführlicher Theorieteil zum Mittel Geld an, da der Kapitalismus und das inhärente Wachstumsparadigma nicht abschließend erklärt werden können, ohne auf das Geldsystem im Allgemeinen und die Finanzwirtschaft im Speziellen einzugehen. Dabei wird von der klassischen Definition des Geldes in den Wirtschaftswissenschaften ausgegangen, um dann mit Marx und Simmel zu einer soziologischen Perspektive zu gelangen. Besonderer Wert wird hierbei schließlich auch auf modernere Geldtheorien von Christoph Deutschmann und Axel Paul gelegt. Die Kapitel zum Kapitalismus und zur Geldtheorie bilden somit zusammen die Argumentationsbasis für den zweiten Teil der Arbeit. Es wird dargelegt, wie das Wachstum vorerst zu wirtschaftlicher Bedeutung gelangte, bevor der Wachstumstrieb seine »Macht« schließlich auf alle Gesellschafts‑ und Lebensbereiche ausdehnen konnte.

Letzteres wird im zweiten Teil dieser Arbeit aufgegriffen, indem insbesondere die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen (erstes Kapitel) sowie die Menschen bzw. das Subjekt (zweites Kapitel) im Kapitalismus in den Vordergrund rücken. Beginnen wird der zweite Teil mit der Institutionalisierung des (neoliberalen) Kapitalismus und seines Aufstiegs zu einer umfassenden Gesellschaftsordnung. Dieses Kapitel orientiert sich besonders an den Hypothesen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (nach Berger und Luckmann). Dies erlaubt es, die Mechanismen und Legitimationsstrukturen zu explizieren, was es wiederum ermöglicht, den Kapitalismus und seine Eigenschaften als sinnstiftende soziale Ordnung zu betrachten. Gleichzeitig wird durch diese Perspektive der Blick auch auf Sozialisation und ihren Einfluss speziell auf die Denk- und Handlungsweisen im Kapitalismus gelenkt. Dabei wird auch darauf eingegangen, dass menschliches Denken stark von dem (sozialen) Umfeld und von (Sozialisations‑)Erfahrungen abhängig ist. Die notwendige Eigenschaft von Gesellschaften sich auf gemeinsame Symbole und Sprache zu verständigen, lässt den Kapitalismus als einen dialektischen Prozess erscheinen. Dass es sich dabei nicht immer um einen demokratischen Prozess handelt, zeigt die Art und Weise, wie einzelne Interessensgruppen Einfluss nehmen (können). Das Wachstumsdenken und seine anhaltende Etablierung im Alltag und in den Köpfen der Menschen bekommt durch diese Beobachtungen neben der ökonomischen auch eine sozialgeprägte Erklärungsebene. Hier sollen auch Erklärungsansätze dafür geliefert werden, wie sich die Wachstumslogik trotz anhaltender Kritik aufrechterhalten konnte und wie sich der Umgang mit Kritikern bzw. »Abweichlern« darstellt.

Das anschließende Kapitel in diesem zweiten Block widmet sich konkret dem Menschen, seinen individuellen Handlungsmotiven und seinem Streben nach persönlichem Wachstum. Zwar wird hier anfangs noch einmal der klassische kapitalistische Unternehmer als Sinnbild des kapitalistischen Subjekts dargestellt, doch geht es primär um die breite Masse der Nicht-Kapitalisten. Schlagworte in diesem Kapitel sind etwa Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung. Diese Begriffe spielen bei der Darstellung des Subjekts, das eben kein klassischer Kapitalist ist, eine zentrale Rolle. Denn sie sind Bestandteile eines Menschenbildes das, geprägt von kapitalistischer bzw. neoliberaler Sozialisation, gut an die Herausforderungen einer »ökonomisierten« Gesellschaftsordnung angepasst bzw. durch sie geprägt ist. Diese Ausgangsbasis, die später auch mit der Inneren Landnahme durch den Kapitalismus umschrieben wird, wird hinsichtlich eines direkten Zusammenhangs mit subjektiven Wachstumstrieben, wie etwa der Konsumorientierung oder dem Drang nach individueller Selbstentfaltung untersucht.

Den letzten großen Block der Arbeit bildet der Schlussteil, der die vorherige grobe Zweiteilung zusammenführt und auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die westlichen Gesellschaften und speziell die Individuen selbst „dem Wachstum verfallen“ sind. Bevor eine Beantwortung dieser Frage versucht wird, erfolgt ein Überblick über Alternativen zum Modell des (neoliberalen) Kapitalismus, dem faktisch unbegrenzten Profitstreben und der quantitativen Wachstumsorientierung. Im Schlussteil wird die Verbindung von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, dem Objekt, und dem Subjekt bzw. dessen Abhängigkeit noch einmal verdeutlicht. Zudem werden einige Aspekte postwachstumsökonomischer Ansätze aufgezeigt, welche die kapitalistische Wirtschafts-und Gesellschaftsform insgesamt hinterfragen. Die Vorstellung dieser Alternativen und Reformansätze soll dazu dienen, dem Leser einen Überblick über neue wachstumskritische Denkansätze und Weiterentwicklungen klassischer Wachstumstheorien zu geben. Diese theoretischen Überlegungen können somit als Gegenentwurf zur klassischen Wachstumsökonomie verstanden werden. Um eventuellen Irritationen vorzubeugen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass im Folgenden alle Originalzitate bewusst in ihrer ursprünglichen Orthographie und Grammatik übernommen wurden, um inhaltliche Abweichungen ausschließen zu können.

II.Das Objekt Kapitalismus und das Mittel Geld

Den Kapitalismus im Rahmen dieser Arbeit zu definieren kann und muss misslingen, da es einmal verschiedene (theoretische) Auffassungen von der Wirtschaftsform gibt, die kapitalistisch sein soll. Dies ist zweitens eng mit dem Zeitpunkt verbunden, in dem die Wirtschaftsform von einem Autor bzw. Theoretiker als Kapitalismus beschrieben wurde und welche Elemente er zu eben diesem Zeitpunkt als notwendige Faktoren für eine spezifisch kapitalistisch geprägte Wirtschaftsform ansah. An dritter Stelle schlagen sich zudem die regionale Herkunft des Betrachters sowie auch die regionale Abgrenzung der betrachteten Gesellschaft(en) in der jeweiligen Definition von Kapitalismus nieder. Diesbezüglich wird in dieser Arbeit die geschichtliche Analyse im Frühstadium des Kapitalismus vordergründig die Herausbildung dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsform im christlichen Abendland darstellen. Im Laufe der historischen Veränderungen und der Ausbreitung kapitalistischer »Werte« wird die hier angelegte Betrachtung ebenfalls ihren Horizont erweitern und den Okzident zuzüglich Nordamerika und Japan als „westliche Welt“ begreifen.

Der anschließenden Themenkomplex setzt sich mit dem Geld, seiner Bedeutung für den Kapitalismus und seinen, aus soziologischer Sicht relevanten, sozial geprägten Eigenschaften auseinander. Ausgangspunkt ist die ökonomische Lehrmeinung und deren Definition des Geldes. Daran anschließend wird ausgehend von Marx eine kritische Sicht eingenommen. Besonderes Augenmerk liegt hier auf der Verbindung von Geld und Wachstum. Diese bildet wiederum den Anschlusspunkt für den darauf folgenden Teil. Die verstärkt soziologische Betrachtung nimmt Bezug auf die beiden vorangegangenen Abschnitte, legt aber nun auch verstärkt Wert auf die Herausstellung der gesellschaftlichen und konstituierenden Bedeutung des Geldes.

Um für das nachstehende Kapitel zum Kapitalismus vorab eine gewisse Orientierungshilfe zu geben, folgen zunächst einige kurze Interpretationen des Kapitalismusbegriffs unter anderem jener Autoren, deren Betrachtungen zum Kapitalismus im Anschluss noch genauer beleuchtet werden. (Übersicht nach Willke, 2006, S. 19):

Marx : Die „kapitalistische Produktionsweise“ ist geprägt durch „Privateigentum an den Produktionsmitteln“, Profit aus „Mehrwertproduktion“ = „Ausbeutung“ sowie durch die Klassenstruktur der Gesellschaft.

Sombart : Der Kapitalismus ist durch drei Merkmale bestimmt: a) Menschen werden „durch Kapital einem Erwerbszwecke dienstbar gemacht“; b) „Rationalisierung des Wirtschaftslebens unter dem Gesichtspunkt höchstmöglicher Gewinnerzielung“, und c) die kapitalistische Unternehmung“.

Weber : Moderner Kapitalismus ist „bürgerlicher Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit“ Kapitalisten orientieren sich an „Erwerbschancen“ und „am geschätzten Rentabilitätserfolg“.

Nell-Breuning : Im Kapitalismus ist „eine gesellschaftliche Minderheit im Besitz des wesentlichen Kapitals = Vermögens“; „das Kapital herrscht, die Arbeit dient“.

Heilbroner : „Capitalism is a ‘regime’ whose organizing principle is the ceaseless accumulation of capital“.

Baumol : „Capitalism is the free enterprise form of economic organization“.

Sloterdijk : Kapitalismus ist mehr als „Produktionsverhältnisse“; Kapitalismus „impliziert das Projekt, das gesamte Arbeits-, Wunsch- und Ausdrucksleben der von ihm erfassten Menschen in die Immanenz der Kaufkraft zu versetzen“.

1. Das Objekt: Kapitalismus

Dieses erste Kapitel soll einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus sowie über die dabei entscheidenden Fundamente und Triebkräfte geben, die als kapitalistische Kernelemente im weiteren Verlauf als die Definition von Kapitalismus behandelt werden und auf welchen die weitere Untersuchung aufbaut. Fundamente sollen hier notwendige Bedingungen sein, wie zum Beispiel das Recht auf Privateigentum und daraus folgend die Möglichkeit kapitalistischer Akkumulation sowie ein freier Arbeitsmarkt. Triebkräfte hingegen, seien sie beispielsweise ökonomischer oder auch religiöser Natur, spielen – wenn überhaupt – nicht bei allen Kapitalismus‑Theoretikern dieselbe Rolle, was unter anderem mit den anfangs genannten unterschiedlichen Rahmenbedingungen ihres Wirkens zusammenhängt. Daher werden die von den Autoren dargelegten verschiedenen Triebkräfte nachfolgend nur soweit in die Betrachtung mit einbezogen, als dass sie für die hier angestrebte Basisdefinition bzw. den zweiten Teil dieser Arbeit relevant sind.

Die Herleitung dieser Basisdefinition soll sich in chronologischer Reihenfolge an den jeweiligen Entwicklungsstufen des Kapitalismus (Abschnitt 1.1) und den wichtigsten Vertretern kapitalistischer Theorienbildung (Abschnitt 1.2) orientieren. Mittels der gewonnenen Erkenntnisse erfolgt in einem Zwischenfazit (Abschnitt 1.3) eine kurze Zusammenfassung sowie eine Bestimmung des Kapitalismusbegriffs. Aufgrund des beschränkten Umfangs und der Schwerpunktsetzung dieser Arbeit wird von einer (zu) komplexen Erklärung Abstand genommen. Für die Bearbeitung und die Thematik sowie das Verständnis der nachfolgenden Kapitel wird die entwickelte Definition jedoch über ein hinreichendes Ausmaß verfügen.

1.1 Die historische Entwicklung des (okzidentalen) Kapitalismus

Zunächst ist hervorzuheben, dass der Kapitalismus nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt begann, sondern sich in vielen Jahrhunderten des Wirtschaftens und den daraus entstandenen Normen sowie auch technischen Errungenschaften entwickelte.[5] Vor allem Landflucht und Urbanisierung, die primäre Akkumulation[6] sowie die neuen Technologien und die stetige Industrialisierung stellten schon im Vorfeld der frühkapitalistischen Phase die sozialen wie ökonomischen Weichen (vgl. Willke, 2006, S. 30). Der Grundstein für die okzidentale Entwicklung des Kapitalismus wurde bereits im Feudalismus gelegt, der in einer Übergangsphase (ca. 1200 – 1780) den Handelskapitalismus[7] herausbildete und damit weitere kapitalistische Schübe forcierte.[8]

Der erste deutliche kapitalistische Schub ereignete sich im bzw. mit dem Frühkapitalismus (ca. 1780 – 1870), der die knapp hundertjährige Wandlung des Merkantilismus[9] in die frühen Formen des Kapitalismus beschreibt. Während dieser Frühphase zeichnen sich deutliche systemische Umgestaltungen unter anderem durch technischen Fortschritt ab, die als Industrialisierung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts – als zweite Phase – den Weg für den Hochkapitalismus legen sollten. Dieser führte den begonnenen Umschwung vom landwirtschaftlichen zum industriellen Sektor immer weiter und vor allem zunehmend organisierter (Finanzkapital, Gewerkschaften) bis Mitte des 20. Jahrhunderts – zum Ende des zweiten Weltkrieges – fort. Mit dem Ende des Weltkrieges – und seit Ende des Kalten Krieges nahezu ungehemmt – entwickelte sich der globalisierte Kapitalismus, dessen Grundsätze (Ausweitung der Weltwirtschaft, internationale Institutionen zur Regulierung des globalen Güter‑ und Kapitalverkehrs) noch bis heute gelten. Da der globalisierte Kapitalismus seit Mitte der 1970er Jahre und bis heute deutlich von der Verdrängung des Staates durch das (private) Kapital geprägt ist, kommt dem Neoliberalismus der letzte Abschnitt der nachfolgenden Chronologie zu.

1.1.1 Frühkapitalismus / Industrielle Revolution (1780 – 1870)

Mit Ende des 18. Jahrhunderts und in den darauffolgenden ca. 100 Jahren bis etwa 1870 wurde die bereits angestoßene Übergangsphase um Faktoren erweitert, die sowohl dem wirtschaftlichen als auch dem gesellschaftlichen Leben eine neue Qualität gaben. Diese sind vor allem im unternehmerischen Auftreten von Kapitalbesitzern, im Zurückweichen der Hausindustrie gegenüber dem Fabrikwesen, in technischen Fortschritten, in rationaler ökonomischer Kalkulation, in einer hohen Verfügbarkeit an Arbeitskräften sowie in der (weltweiten) Ausweitung der Absatzmärkte und damit verbundener Massenfertigung zu sehen. Darüber hinaus war ein Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu verzeichnen, in der zum einen das Geld eine immer wichtigere Rolle spielte und zum anderen eine neue Ware in Form der Arbeitskraft und damit ein neuer Markt – der Arbeitsmarkt – geschaffen wurde. In der Industriellen Revolution basierte der Großteil der Gewinne auf dem erzeugten Mehrwert, der – wie im Abschnitt 1.2.1 zu Marx beschrieben – durch die Unterordnung der menschlichen Arbeitskraft unter das Kapital erreicht werde; Handels- und Innovationsgewinne spielten nur bzw. noch eine nachrangige Rolle (vgl. Fülberth, 2006, S. 148 f.; Willke, 2006, S. 30).

Für eine derartig gestaltete Wirtschaft lassen sich drei Faktoren ausmachen, die für den Kapitalismus spezifisch sind. Zunächst bedarf es an Kapital, das durch die Verwendung von akkumuliertem Kaufmannskapital (Handelskapital aus Zirkulationsprozessen) als Industriekapital (also zur industriellen Produktion) gebildet wird.[10] Da nun die Industrie bestimmender Faktor ist, werden auch große Produktionsanlagen (Fabriken) für den anonymen Marktbedarf benötigt, bei dem nicht länger direkt für den einzelnen Kunden, sondern – nur mittelbar kundenorientiert – für die Händler produziert wird. Das dritte Merkmal ergibt sich aus der resultierenden Nachfrage der Kapitalisten nach Lohnarbeitern (Proletariat), die kein Kapital besitzen und daher ihre Arbeitskraft gegen Lohn anbieten müssen; es entsteht eine durch ökonomische Abhängigkeit gekennzeichnete Klassengesellschaft (vgl. Willke, 2006, S. 36 f.).

Zur selben Zeit wurden Freiheitsrechte erkämpft, die auch der Wirtschaft eine liberalere Note gaben und im Zusammenspiel mit einem auflebenden asketischen Protestantismus (Calvinismus, Pietismus) Individualismus und Demokratie stärkten. Dies spiegelte sich im Primat des Individuums gegenüber dem Staat sowie im Recht auf Erwerbsfreiheit, Geschäftstätigkeit, Vertragsschließung, Eigentum und Vererbung wider. Auf der anderen Seite gingen mit der fortschreitenden Liberalisierung vor allem auch soziale Missstände einher, die sich in einer Proletarisierung, in Hungerlöhnen, unwürdigen Arbeitszeiten und ‑bedingungen, Ausbeutung, Frauen- und Kinderarbeit, hoher Sterblichkeit, Mietskasernen, Obdachlosigkeit und Verrohung ausdrückten. Insbesondere aber die monotone und persönlich unproduktiv erscheinende Arbeit an den Maschinen war Ursache für die (seelische) Verelendung der Menschen – das Streben der Industrie-Kapitalisten nach dem Mehrwert schuf das moderne städtische Proletariat. Es kam zur Massenverelendung, die einerseits auf die Überbevölkerung und andererseits auf die fehlende soziale bzw. staatliche Absicherung der Arbeiterschicht zurückzuführen ist (vgl. Fülberth, 2006, S. 153 ff.; Willke, 2006, S. 31 ff.).

All die bisher genannten Entwicklungen bzw. Differenzierungsprozesse sorgten für eine Zunahme an Komplexität in der Gesellschaft, was im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie einem „Fortschrittskriterium“ entspricht. Um einen Augenblick die systemtheoretische Perspektive beizubehalten: die Wirtschaft bildete sich als „spezialisiertes und relativ autonomes Subsystem“ (vgl. Willke, 2006, S. 33) heraus. Sie hat die Funktion, Güterknappheit zu reproduzieren und dabei das Niveau dieser Knappheit – durch zum Beispiel bessere oder günstiger produzierte Waren[11] – stets zu erhöhen. Ziel des einzelnen Investors am Markt und damit auch Triebkraft der wirtschaftlichen Dynamik – im Kapitalismus die Nutzbarmachung von Kapital – ist das Gewinnstreben. Im Gegensatz zum vorkapitalistischen Merkantilismus treibt der Unternehmer durch sein Streben nach Rendite die kapitalistische Wirtschaft an und nicht länger der Staat (vgl. ebd., S. 34 ff.).

Doch nicht nur auf der wirtschaftlich-strukturellen Ebene liefen Veränderungsprozesse ab, sondern mit ihnen begann sich auch die kulturell-mentale Ebene zu verändern und die Innenwelt der Menschen begann sich an die Entwicklungen der Außenwelt anzupassen. Besonders die vorangetriebene Arbeitsteilung sorgte dafür, dass sich eine wachsende Anzahl von Menschen in einer funktionalen Abhängigkeit wiederfand, die jedoch eine andere Qualität des Arbeitszwanges offenbarte. Ist diese in der Vergangenheit noch durch Obrigkeiten in Form der Leibeigenschaft ausgeübt worden, sah sich der „doppelt freie“ Lohnarbeiter (Marx) fortan durch seine eigene (aber gesellschaftlich oktroyierte) Leistungsorientierung zur Arbeit (und somit, was im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein wird, auch zum Triebaufschub) veranlasst (vgl. ebd., S. 37 f.).

Warum aber entstand die kapitalistische Wirtschaftsform zwischen 1814 und 1914 im Okzident und nicht in teilweise sogar (technisch) weiterentwickelten Staaten des nahen und fernen Ostens? In Europa war diese Zeit vor allem durch ein stabiles Gleichgewicht gekennzeichnet, das nur durch wenige (militärische) Konflikte gestört wurde. Die politischen Bedingungen und Institutionen, wie Herrschaft des Rechts, individuelles Eigentumsrecht sowie Beschränkung des Staates durch Verfassung und Gewaltenteilung, begünstigten die kapitalistische Entwicklung. Damit einher gingen weitere begünstigende Bedingungen, aus denen heraus sich Märkte, Unternehmer, die »freie« Lohnarbeit und schließlich die kapitalistische Industriegesellschaft entwickeln konnten. Einmal ist dies auf die Staatenvielfalt Europas zurückzuführen, in der jeder Staat eigens für Sicherheit, rechtliche Ordnung und den infrastrukturellen Ausbau zu sorgen hatte. Des Weiteren wirkte sich auf den kapitalistischen Entstehungsprozess fördernd aus, dass die Kommunen eine gewisse Autonomie besaßen und dass die Kirche verhältnismäßig frei vom Staat war (vgl. ebd., S. 38 f.). Für die früh industrialisierten Staaten („den Westen“ bzw. „die Erste Welt“) bedeutete ihr Vorsprung Dominanz gegenüber den unterentwickelten Regionen vornehmlich auf der Südhalbkugel, die sich zum Großteil den Bestimmungen der Industriestaaten beugen mussten (vgl. Fülberth, 2006, S. 159).

Weber (1988) macht den okzidentalen Vorsprung an dem, bereits erwähnten, kulturell‑mentalen Wandel in der abendländischen Gesellschaft fest, der auf den Übergang von der katholischen (Wirtschafts‑)Mentalität zur protestantischen Lebensführung zurückzuführen sei.[12] Diese beruhe auf rational‑puritanischen Tugenden wie Fleiß, Pflichtbewusstsein, Rechtschaffenheit, Disziplin und Sparsamkeit, sodass der Wunsch nach Trieberfüllung in die Befolgung kulturell anerkannter Verhaltensweisen umgelenkt werde. Die protestantische Ethik, insbesondere der Calvinisten, führte somit durch die asketische Lebensführung auf der einen Seite, zur Kapitalanhäufung und steigendem Investitionsvolumen auf der anderen Seite, da zwar der Konsum, nicht aber die wirtschaftliche Nutzung des Kapitals der protestantischen Sitte widerspricht (vgl. Leidinger, 2008, S. 54; Willke, 2006, S. 39 f.).

Im Zuge der Reformation entwickelte sich demnach die wirtschaftliche Tätigkeit gleichsam zu einem religiösen Dienst und die protestantisch‑rationale Lebensführung, im Sinne von Kalkulation und Buchführung, führte zur Möglichkeit der Gegenüberstellung wirtschaftlicher Leistungen sowie zu Wettbewerbsbedingungen. Gottesfurcht und Eifer nahmen den Platz menschlicher Ergebung in eine göttliche Fügung ein und leiteten gemeinsam mit der Rationalisierung die „Entzauberung der Welt“ (Weber) – Forscherdrang, persönliche Freiheits‑ und Eigentumsrechte und Innovationskraft – ein. Das Gemenge aus religiösen und wirtschaftlichen Antrieben entwickelte sich zu einer besonders starken Triebkraft, die menschliche Interessen auch über traditionelle Religions‑ und Kapitalismusideologien hinaus zu leiten vermochte (vgl. Swedberg, 2005, S. 28).

1.1.2 Industrialisierung und Organisation des Kapitalismus (1870 – 1900)

Im vorherigen Abschnitt sind bereits Vorbedingungen für eine kapitalistische Industriegesellschaft benannt worden, die zunehmend an Bedeutung gewannen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts nahm diese Entwicklung an Fahrt auf, sodass sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa die bürgerlich‑kapitalistische gegenüber der ständisch-feudalen Gesellschaft endgültig durchsetzte – die Industrielle Revolution war im Okzident (mit der Wirtschaftskrise 1873) überwiegend »abgeschlossen«. Mit der nachfolgenden Organisation der gleichwohl weiter fortschreitenden Industrialisierung war diese Phase daher weniger revolutionärer Gestalt, sondern vielmehr durch die Ausformung der bisherigen technisch‑wirtschaftlichen Errungenschaften geprägt. Fülberth beschreibt die Kapitalismusform dieser nach‑revolutionären Periode abendländischer Entwicklung als „Organisierten Kapitalismus“ (vgl. Fülberth, 2006, S. 176).

War die Industrielle Revolution vornehmlich durch Kapitalkonzentration (= Einbindung von Nicht‑Kapitalen in die kapitalistische Produktion) charakterisiert, trat nun die Kapitalzentralisation (= Zusammenfassung von existenten Kapitalen) hinzu. Organisiert wurde das Kapital sowohl von diesem selbst als auch durch staatliche Unterstützung. Dabei wurde der marktwirtschaftliche Wettbewerb und damit die von Kritikern befürchtete „Anarchie“ von Produktion und Handel im Kapitalismus durch die Schaffung von Kartellen, Konzernen und Trusts beschränkt (Monopolisierung) (vgl. ebd., S. 176 f.). Die Arbeit wurde in dieser Phase ebenfalls organisiert, indem die Bestrebungen von Arbeiterbewegungen zum einen durch Gewerkschaften vor den Kapitalisten und zum anderen durch sozialdemokratische Parteien vor dem Staat repräsentiert, ja förmlich in den Kapitalismus integriert wurden (vgl. ebd., S. 178 f.).

Willke führt bezüglich des vollendeten Übergangs zu einer kapitalistischen Gesellschaft fünf Bedingungslinien an, die bei wechselseitig abhängigem Zusammenwirken Kapitalismus ermöglichen. An erster Stelle nennt er technische Durchbrüche (u. a. Elektrizität und Chemie) [13], also (stetige) gravierende Umschwünge in der Produktionsweise und beim Transport, welche wiederum weitergehende Spezialisierung und Arbeitsteilung notwendig machten sowie auch die Trennung von Heim und Arbeitsplatz. Im Zuge dieser Veränderungen entstanden Kapitalgesellschaften, deren Produktion sich, wie oben erwähnt, am anonymen Markt orientierte, die über den Kapitalmarkt und die Börse finanziert wurden und deren Eigentümer – ab einer gewissen Größe – die Geschäftsführung ihrer Unternehmen an angestellte Manager abtraten (vgl. Willke, 2006, S. 41 ff.).

Die zweite Bedingung für Kapitalismus stellt ein sozialer Wandel dar, der jene Menschen, die lediglich ihre Arbeitskraft anzubieten hatten, zunehmend vom urbanen Arbeitsmarkt, anstatt von Obrigkeiten (auf dem Land) abhängig werden ließ. Die individuellen Auswirkungen auf den einzelnen Lohnarbeiter wurden bereits erwähnt, für die gesellschaftliche Struktur bedeutete diese Entwicklung jedoch, dass die statisch‑ländliche Ständegesellschaft durch eine dynamisch‑urbane und funktional differenzierte Gesellschaft verdrängt wurde; die bürgerliche Mittelschicht vergrößerte sich und es entstand eine neue, kleinbürgerliche Schicht zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aus dieser Konstellation mit neuen Risiken entwickelten sich die ersten staatlichen Sozialversicherungssysteme sowie eine Sozialpolitik, Arbeitsschutz- und Wohnungspolitik, die zu einer allgemein verbesserten sozialen Lage der Arbeiterfamilien führten und in den Jahren nach 1880 mit der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung zudem Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Alters- sowie 1923 auch eine Arbeitslosenversicherung mit sich brachten (vgl. ebd., S. 44 f.).

Der kulturelle Wandel ist Willkes dritte Bedingungslinie. In ihm spiegelt sich der Mentalitätswandel wieder, der sich im Übergang von den protestantischen Tugenden zum „Geist des Kapitalismus“ ausdrückte. Der kapitalistische Geist löste sich sowohl von den kirchlichen[14], als auch von den weltlichen Hemmnissen und ließ sich nun ausschließlich vom Profitstreben in Form rationaler Kalkulation leiten. Demzufolge wurde ökonomischer Erfolg nicht länger gering geschätzt, sondern erfuhr gesellschaftliche Anerkennung (vgl. ebd., S. 46 f.).

Die Ausweitung der Märkte des Okzidents beschreibt Willke als vierte Bedingung, deren Startpunkt allerdings weit in der Vergangenheit zu suchen ist. So dienten bereits die Kreuzzüge im Orient seit Ende des 11. Jahrhunderts, die Gründung der Hanse 1254 und der britischen Handelskompanie „Merchant Adventurer“ (1407) sowie die Entdeckung Amerikas 1492 als Weichensteller für einen im 19. Jahrhundert stetig expandierenden Welthandel. Dieser wurde vor allem durch die technischen Fortschritte in Bezug auf die Verkehrsmittel, den Ausbau von Verkehrswegen bzw. Handelsrouten sowie der Verbreitung von Kommunikationstechniken angetrieben, da diese allesamt die Transportkosten (für Waren, Dienstleistungen, Informationen und Wissen) reduzierten (vgl. ebd., S. 47 f.).

Als fünfte und letzte Bedingung für die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsform wird das Bank- und Kreditwesen genannt (dazu ausführlicher im Kapitel zur Geldtheorie), das sich durch drei Dienste etablieren konnte: erstens wurde dort der Welthandel durch Ausgabe und Umtausch von Währungen organisiert; zweitens wurden Kredite und Hypotheken vergeben sowie Transporte versichert; drittens sorgten sie in Form von Börsen für die Bewegung von Kapital mittels Wertpapieren, Aktien etc., aber durch die Einführung von Spekulationsgeschäften schließlich auch für vereinzelt verheerende Kurseinbrüche seit dem frühen 17. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 48 f.).

1.1.3 Hochkapitalismus (1870 – 1945)

In den 1870er Jahren waren zwar noch ca. 50 % der in Deutschland, Frankreich und den USA arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt – in Großbritannien waren es nur noch ca. 25 % –, dennoch hatten Industrialisierung, Fabrikarbeit und Urbanisierung der Gesellschaft bereits ihren Stempel aufgedrückt. Insbesondere die Montanindustrie (Bergbau, Eisen und Stahl) erlebte bis zum Ersten Weltkrieg einen erheblichen Produktionsanstieg. Des Weiteren zeichneten sich vor allem Eisenbahn, Maschinenbau und Chemieindustrie, nach dem Ersten Weltkrieg dann auch Elektrizität und Verbrennungsmotoren (Zweite Industrielle Revolution), als Zugpferde der damaligen kapitalistischen Hochphase aus. In diese Zeit fiel auch eine Umwälzung der Branchenstrukturen, in der die Anzahl von Großunternehmen und Mischkonzernen und damit einhergehend Oligopolen sowie Kartellen und Unternehmensvereinigungen zunahm. Der Preiswettbewerb verlor aufgrund mangelnder Konkurrenz an Bedeutung, dies jedoch zugunsten eines auf Produktinnovation und ‑differenzierung fokussierten Wettbewerbs[15] (vgl. Fülberth, 2006, S. 204 f.; Willke, 2006, S. 50 ff.).

In der Folge wurden immer neue Produktionsbereiche von der kapitalistischen Warenwirtschaft erfasst, sodass sich nach und nach die vollständige Durchkapitalisierung der (westlichen) Welt mit all ihren Lebensbereichen vollzog. Dies ist zudem auf das Faktum zurückzuführen, dass kapitalistisch erzeugte Waren im Gegensatz zur Heimarbeit günstiger in der Herstellung sind und damit eine breite Nachfrage bedienen können. Außerdem sorgen sie zumeist für eine qualitative Verbesserung bei der Deckung eines bestehenden Bedarfs oder aber sie bedienen gänzlich neue Bedürfnisse. Vor diesem Hintergrund wurde die kapitalistische Produktion ab dem 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße mit dem Fortschrittsbegriff in Verbindung gebracht, der wiederum mit steigender Freiheit und Gleichheit konnektiert wurde (vgl. Fülberth, 2006, S. 206 f.).

Für diese Entwicklung zeichnete sich insbesondere die fordistische Form der industriellen Warenproduktion verantwortlich, die auf rationalen wie arbeitsorganisatorischen Prinzipen des Taylorismus, Massenproduktion sowie auch Massenkonsum fußte. Der Fordismus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in den USA, erreichte aber um die 1920er Jahre auch den europäischen Kontinent. Die produktionstechnische Innovation des Fordismus bestand in der Optimierung der Arbeit der Industriearbeiter in Form der Zerlegung von Arbeitsabläufen in einzelne, zum Teil sehr kurze Arbeitsschritte, unter anderem am Fließband. Mit dieser Produktionsform wurde der Mehrwert nun weniger extensiv, durch die Ausbeutung der Arbeiter, sondern intensiv, durch die Rationalisierung der Produktionsprozesse sowie durch Massenproduktion und -konsum erwirtschaftet (vgl. Resch & Steinert, 2009, S. 229 ff.). Inwiefern der Konsum und in diesem Zusammenhang die „Kulturindustrie“ wichtige Rollen bei der Erzeugung und Reproduktion von Arbeitsmoral spielten, wird im zweiten Teil der Arbeit näher beleuchtet.

Die Zunahme an Oligopolen wurde derweil von den Banken aus Gründen der Sicherung von Unternehmenskrediten gestützt, was sich in der Folgezeit, durch das vermehrt auf die Industrie einwirkende Kapital der Banken (Finanzkapital), bis in die Unternehmensstrukturen auswirkte. Bislang waren die Unternehmer zugleich auch Eigentümer des Industriekapitals ihres Betriebs, nun aber wurde diese Ordnung durch an der Börse gehandelte Unternehmensfinanzierungs- und Beteiligungsformen ersetzt und der Aktiengesellschaft zum Triumph verholfen. Durch diesen Prozess wurden auch die bipolaren Klassen‑ bzw. Herrschaftsverhältnisse undurchschaubarer und unpersönlicher, da das Kapital in Form von Aktien aufgeteilt wurde und der Kapitalist zudem durch angestellte Manager mit Verfügungsgewalt ersetzt wurde. Die zentralen Akteure waren nun nicht mehr die Besitzer, sondern die »Kontrolleure« der Produktionsmittel. Dieser Anonymisierungsprozess setzt sich mit dem Aufkommen der Berater‑Branche im Neoliberalismus fort (vgl. Resch & Steinert, 2009, S. 249 & 284 f.; Willke, 2006, S. 52).

Im 19. Jahrhundert finden auch auf Arbeitnehmerseite korporative Prozesse statt, in denen sich nach einigem unternehmerischen wie auch politischen Widerstand die Gewerkschaftsbewegung durchsetzte. Damit war der Weg frei für die Aushandlung von Tarifverträgen, durch die gegen Ende des Jahrhunderts eine Anhebung der Löhne, verkürzte Arbeitszeiten und verbesserte Arbeitsbedingungen erkämpft werden konnten. Die Arbeitskraft erfuhr demzufolge eine stärkere soziale Einbettung, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass sie eine Ware blieb (vgl. Fülberth, 2006, S. 184 f.; Willke, 2006, S. 53).

Zwar beherrschte der Wirtschaftsliberalismus noch in den 1920er Jahren die ökonomische Ausrichtung, dennoch wurde das Kapital mehr und mehr organisiert (vgl. Fülberth, 2006, S. 211). Für den Hochkapitalismus lässt sich so auch nach obiger Darstellung eine „korporatistische Schließung der Gesellschaft“ (Willke, 2006, S. 54) festmachen, die sich einschränkend auf den marktwirtschaftlichen Wettbewerb auswirkte. Der Korporatismus trat demnach durch Übereinkünfte zwischen Unternehmen, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen an die Stelle der Marktwirtschaft, was, nach Willkes Interpretation von Hilferding, dem „sozialistische[n] Prinzip planmäßiger Produktion“ gleichkomme und von letzterem als Vorstufe auf dem Weg zum Sozialismus erachtet wurde; wenngleich sich ein Übergang zum Sozialismus nicht bewahrheiten sollte (vgl. ebd., S. 54 f.). Im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre brachte John Maynard Keynes (1936) ein Konzept[16] in die Diskussion um Herkunft und Beseitigung dieser Krise ein, das dem Staat entgegen vorherrschenden liberalen Vorstellungen einen erhöhten Einfluss zusprach. Im nächsten Abschnitt wird darauf noch explizit eingegangen. Vor dem Hintergrund einer durch Korporatismus und den Einfluss von Keynes zunehmend durchstaatlichten Wirtschaft, fand sich die alte Freihandelsbewegung im Neoliberalismus nun als oppositionelle Bewegung gegen eben diese Entwicklungen wieder (vgl. Fülberth, 2006, S. 232).

1.1.4 Globalisierter Kapitalismus (1945 – 1974)

Die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg war gekennzeichnet durch enormes wirtschaftliches Wachstum sowie einer deutlichen Zunahme außenwirtschaftlicher Handelsbeziehungen bei anhaltendem Frieden in Europa. Im Zuge dieser expandierenden Weltwirtschaft war ebenfalls eine deutliche Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus in den OECD Ländern zu verzeichnen, das zu einem historisch nie da gewesenen Massenwohlstand führte. In Kombination mit der individuellen Freiheit, sprachen diese Argumente klar für eine kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, oder anders formuliert: es war das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus (vgl. Fülberth, 2006, S. 234; Willke, 2006, S. 55).

Aufgrund des steigenden weltweiten Handels waren internationale Institutionen von besonderer Bedeutung für die Nachkriegszeit, da sie den globalen Güter- und Kapitalverkehr regulierten, sodass die bislang national geregelte kapitalistische Wirtschaft fortan einen internationalen Rahmen erhielt. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (1930), das Währungssystem fester Wechselkurse von Bretton Woods (1944), die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (1945), die OECD (1961) sowie das Allgemeine Zoll und Handelsabkommen (GATT, 1948) – ab 1995 Welthandelsorganisation – hatten den Zweck, Handelsbarrieren abzubauen, den weltweiten Zahlungsverkehr zu erleichtern sowie bei Handelskonflikten als Vermittler zu fungieren. Gleiches galt für die Europäische Gemeinschaft, die sich im Jahr 1957 zunächst als Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) formierte und ab 2001 als Europäische Union (EU) die stetig erweiterte wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit vertraglich[17] berücksichtigte. Auch aufgrund der mehrmaligen Erweiterung der EU (auf heute 27 Staaten) spielt diese eine bedeutende Rolle für die Verbreitung der marktkapitalistischen Wirtschaftsform (vgl. Fülberth, 2006, S. 240 f.; Willke, 2006, S. 57).

Von den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nun zu dem kapitalistischen Modell, das in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das wirtschaftsbezogene Handeln der Staaten bestimmte und als Basis des Massenwohlstands dieser Zeit gilt. Der Keynesianismus [18] sprach den Regierungen zu, Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung nehmen zu können, um Krisen zu vermeiden, indem durch die Aufnahme von Krediten (Staatsverschuldung) investiert und somit Nachfrage erzeugt werden könne. Gemeinsam mit einem in diesen Jahrzehnten herrschenden nationalen wie internationalen Aufschwung[19] sowie der ideologischen Festigung durch den Ost-West-Konflikt, wurde die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Westens konsolidiert. Die treibenden Kräfte, die nach 1945 zunächst eine Rekonstruktions- und auf diese folgend eine Expansionsphase entrierten, beruhten erstens auf den Wiederaufbaubemühungen nach dem Krieg, zweitens auf der durch Migration ausgelösten Mobilisierung von Arbeitskräften, drittens auf Investitionen, die durch Kredite ermöglicht wurden und viertens auf der Rüstungsindustrie (Wettrüsten). Aus dieser keynesianistischen Periode entwickelte sich in Teilen Europas eine gesteuerte Marktwirtschaft, die sich durch freien Wettbewerb an den Märkten bei gleichzeitiger Rahmengebung[20] durch den Staat auszeichnete. Dieses Modell führte zu einer hohen Beschäftigungsquote und zu gewerkschaftlich durchgesetzten Verbesserungen für die Arbeitnehmer, deren Kosten von den Unternehmen durch eine Produktivitäts- sowie auch Preissteigerung wieder aufzufangen versucht wurden. In dieser Zeit schien der nachfrageorientierte Kapitalismus für andauernden Wohlstand breiter Gesellschaftsteile zu sorgen. Die dafür verantwortliche Massennachfrage in dieser Periode entsprang vermehrter industrieller Warenproduktion, neu geweckten Bedürfnissen unter anderem in der Unterhaltungs- und Tourismusbranche, der Massenmotorisierung sowie dem vereinfachten Zugang zu Leistungen der Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitsbranche (vgl. Fülberth, 2006, S. 236 ff.; Willke, 2006, S. 58 f.).

Das Zusammenspiel von Kapital und Arbeit erlebte mit dem Ende der 1950er Jahre eine korporatistische Prägung, die sich deutlich positiv auf die Situation der Lohnarbeiter[21] auswirkte. Diese sozialpartnerschaftlichen Beziehungen stärkten damit auch die Gewerkschaften, da damals zum einen Vollbeschäftigung herrschte und zum anderen die Unternehmer darauf bedacht waren, die Loyalität der Arbeiter zu dem kapitalistischen System entgegen dem Kommunismus aufrechtzuerhalten und daher zu Zugeständnissen zugunsten der Arbeitnehmer bereit waren, welche in anhaltenden Sozialreformen ihren Ausdruck fanden. Gegen Ende der 1960er Jahre schien die Phase des Konsenskorporatismus in vielen Ländern jedoch zu Ende zu gehen, was wirtschaftlich mit einem weltweiten Anstieg der Inflationsrate in den 1970er Jahren einherging. Im weiteren Verlauf kam es dann zunächst zur Krise durch einen stark gestiegenen Ölpreis („Ölpreisschock“, 1973/74) und schließlich gelangte die fordistische Rationalisierung in Form von Überproduktion und fehlender Nachfrage an ihre Grenzen; es kam zur Stagflation[22], die vorerst das Ende keynesianistischer, wohlfahrtsstaatlicher Wirtschaftspolitik einläutete. Von nun an bewegten sich die kapitalistischen Länder deutlich stärker als zuvor in eine (neo)liberale[23] Richtung, die ihren Ursprung in einer Gegenbewegung von intellektuellen Kritikern (Ökonomen) des Keynesianismus hatte (vgl. Fülberth, 2006, S. 246 f. & 259; Resch & Steinert, 2009, S. 274 f.).

Den endgültigen Wendepunkt zum Neoliberalismus stellte das Ende von Bretton Woods im März 1973 dar. Durch die Ablösung des US‑Dollars von dessen Goldbindung und die daran anschließende Lösung europäischer Währungen vom Kurs des US‑Dollars, verlor Geld seine Regulierungsfunktion und wurde zunehmend der Spekulation an internationalen Finanzmärkten preisgegeben; hierauf wird in Abschnitt 2.3.2 näher eingegangen. Ebenfalls zu Anfang der 1970er Jahre wurden vom Club of Rome (1972) erstmals „Die Grenzen des Wachstums“ in ökologischer und wirtschaftspolitischer Hinsicht thematisiert, jedoch nur wenig in die nationalen Planungen mit einbezogen (vgl. ebd., S. 261 f.), denn, wie nachfolgend aufgezeigt wird, entfaltete sich das (ökonomische) Wachstumsparadigma erst im Neoliberalismus zu dem kontinuierlich – nicht nur von Kapitalisten bzw. Unternehmern – verfolgten und propagierten Ziel kapitalistischer Gesellschaften.

1.1.5 Neoliberaler Kapitalismus (ab 1974)

Die ökonomietheoretischen Weichen[24] für eine wachstumsorientierte (neoliberale) Ausprägung des Kapitalismus wurden bereits im Rahmen der Großen Depression (1930er Jahre) in den USA sowie mit der Entstehung der Freiburger Schule in Deutschland gestellt. Dies geschah unter anderem auch mit Blick auf den zu dieser Zeit herrschenden ideologischen Wettbewerb zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Block, der insbesondere anhand der jeweiligen wirtschaftlichen Wachstumsraten ausgefochten wurde. Eine nicht nur wirtschaftliche, sondern auch staatliche bzw. politische Berufung auf (neoliberale) Wachstumskonzepte ist für europäische Staaten jedoch erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu verzeichnen[25], da sich in dieser Zeit eine auf konstantem Wirtschaftswachstum gegründete Hoffnung vom Massenwohlstand verfestigte (vgl. Welzer, 2011, S. 13). Seinen weltweiten »Durchbruch« erreichte der Neoliberalismus schließlich gegen Ende der 1970er Jahre, als der kapitalistische Westen, angetrieben vor allem von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA, begann, sich politisch zunehmend liberal zu reformieren und von der keynesianistischen Nachfragepolitik zur neoliberalen Angebotssteuerung überging (vgl. Altvater, 2008, S. 50; Crouch, 2011, S. 37 f.).

Die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der 1970/80er Jahre waren durch Liberalisierung, Flexibilisierung und Deregulierung[26] zunehmend auf einen internationalen (Standort‑)Wettbewerb ausgerichtet. Durch gesenkte Zölle und herabgesetzte Kontrollen für internationale Kapitalflüsse war es für Kapitalbesitzer fortan möglich, den Standort mit den günstigsten Bedingungen für ihre Investitionen zu wählen. Diese Exit-Option für das Kapital hatte also zur Folge, dass sich die einzelnen Staaten durch eine möglichst liberale Ausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik für die Investoren attraktiv machten und sich so gegen die übrigen Staaten durchsetzen mussten. Diese Entwicklung hatte ein monetäres, wirtschaftliches und demzufolge politisches Machtungleichgewicht zugunsten des »mobilen« Kapitals (z. B. Investitions- und Hedgefonds) gegenüber den Gewerkschaften und Lohnarbeitern als dem am wenigsten mobilen Produktionsfaktor sowie dem Staat zur Folge. Insbesondere für die sozialstaatlich geprägten Länder Europas schuf die Standortkonkurrenz Probleme, da der Sozialstaat in solch dynamischen Zeiten auf der einen Seite Sicherheit für die Menschen, auf der anderen Seite jedoch ein rigides Hindernis für eine flexible wirtschaftspolitische Gestaltung darstellt. Der unterschiedliche reformmäßige Umgang mit diesem Konflikt schlägt sich in der Diskussion um die Kapitalismusvarianten nieder, bei der sich zwei Idealtypen des Kapitalismus – der „rheinische“ und der „angelsächsische“ – als Wirtschafts- und Gesellschaftsform gegenüberstehen (vgl. Fülberth, 2006, S. 262 & 266; Willke, 2006, S. 59 f. & 178 f.). Die rheinische Variante (z. B. in Deutschland, Schweden, Japan) zeichnet sich durch eine koordinierte, die angelsächsische (z. B. in den USA, Großbritannien, Kanada) durch eine liberale Marktwirtschaft aus (vgl. Altvater, 2008, S. 57; Willke, 2006, S. 190 f.).

Am Ende setzte sich tendenziell die (neo)liberale Strömung durch, sodass sich selbst sozialdemokratische Parteien[27] dem Modell des Neoliberalismus annäherten bzw. annähern mussten, was im Abschnitt 1.2.3 näher beleuchtet wird. Dies, wie auch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, schwächten die Gewerkschaften und schufen ein Machtgefälle zugunsten der Unternehmer, die nun niedrigere Löhne (inklusive Lohnnebenkosten) und verlängerte bzw. verkürzte Arbeitszeiten (mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung) einfacher durchsetzen und die betriebliche Mitbestimmung für eigene Interessen instrumentalisieren konnten. Im Zuge dieses Prozesses begann sich auch das bisher vorherrschende »Normalarbeitsverhältnis« in andere, flexible Berufsbiographien zu wandeln, die bis heute durch Berufswechsel, Zeitarbeit und beschäftigungslose Phasen gekennzeichnet sind (vgl. Fülberth, 2006, S. 275 ff.).

Die soeben dargelegten dynamischen Entwicklungen, insbesondere die Produktivitätssteigerung nach dem Zweiten Weltkrieg, basierten auf einer fortwährenden Erneuerung der Produktionsprozesse und technischer Weiterentwicklung sowie unternehmensorganisatorischem und infrastrukturellem Ausbau. Für die Periode nach 1974 war der Einzug der Mikroelektronik sowie der Informationstechnologie in die Produktion und Kommunikation der entscheidende Faktor, weshalb dieser auch als Dritte Industrielle Revolution bezeichnet wird. Joseph Schumpeter hat diesen kontinuierlichen Entwicklungsgang als „schöpferische Zerstörung“ (vgl. Abschnitt 1.2.3) beschrieben, da fortwährend alte Wirtschaftsstrukturen durch neue ersetzt werden – eben dies sei der Motor des Kapitalismus. In der anhaltenden neoliberalen Periode sorgten die neuen Technologien zudem für eine flexibilisierte und individualisierte Arbeitsorganisation sowie für eine nachdrücklichere internationale Arbeitsteilung und auf diese Weise für einen verschärften Kosten- und Standortwettbewerb. Dass diese Veränderungen nicht nur die Wirtschaft berührten, sondern in Form von zurückhaltender Lohnentwicklung, Massenarbeitslosigkeit sowie folglich geschwächten Arbeitnehmer- und Gewerkschaftspositionen die gesamte Gesellschaft mit ihren Institutionen, Normen und der Kultur (vgl. Ptak, 2008a, S. 83; Willke, 2006, S. 60 f.), wird im zweiten Themenblock dieser Arbeit von Bedeutung sein.

In den 1980er Jahren führte dann ein stark angestiegener Ölpreis zur weitgehenden Verschuldung der »Dritten Welt« und in der Folge zur Unterweisung jener Schuldnerstaaten durch den IWF und die Weltbank, die als Kreditgeber Einfluss auf die jeweilige Wirtschaftspolitik nahmen. Dies hatte damals zur Folge, dass die neoliberalen Konzepte aufgrund der Weisungsbefugnis („Washington Consensus“, 1990) von IWF und Weltbank auch in eine Vielzahl der Entwicklungsländer Einzug hielten, da diese von den verschuldeten Staaten Deregulierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprozesse als Maßnahme zum Schuldenabbau einforderten (vgl. Altvater, 2008, S. 54 f.; Fülberth, 2006, S. 273 f.).

Die Globalisierung im Nachgang des bipolaren Systems hat die Entwicklung des (neoliberalen) Kapitalismus letztlich auf die nächste bzw. bislang höchste Stufe gehoben. Kapital kann nun ungehindert in alle Märkte der Welt fließen und die Produktivität kann durch internationale Arbeitsteilung und das Erschließen neuer, vor allem ausländischer Märkte (z. B. Beteiligung an Unternehmen, Aufbau bzw. Verlagerung von Produktionsstätten, Outsourcing) weiter angehoben werden. Dies bedeutet eine zunehmende Verflechtung der globalen Wirtschaft, die durch Liberalisierung sowie technische Fortschritte und Schaffung von globalen Infrastrukturen im Logistik- und Kommunikationsbereich vorangetrieben wird (vgl. Willke, 2006, S. 61 f.). Ebenso findet eine Veränderung der Unternehmensführung dahingehend statt, dass das Hauptziel einer Aktiengesellschaft – und auch der Aktionäre selbst – nicht mehr dessen (langfristig) steigender Gewinn, sondern ein (oftmals kurzfristig angestrebter) hoher Börsenwert („shareholder value“) ist, um auf dieser Grundlage einen Gewinn aus (teilweisem) Kauf und Verkauf eines Unternehmens selbst ziehen zu können. Das Unternehmen wird selbst zur Ware (vgl. Fülberth, 2006, S. 273 f.; Resch & Steinert, 2009, S. 283 & 288). In dieselbe Richtung deutet die Bedeutungszunahme der Finanzmärkte, die nunmehr eine zentrale Position einnehmen. Geld wurde selbst zur handelbaren Ware an den Börsen und weitere Finanzinstrumente wie Derivate erlebten eine zunehmende Nachfrage, in dessen Zusammenhang auch immer mehr (virtuelle) Finanz produkte geschaffen und gehandelt wurden (vgl. ebd., S. 271).

Ob der globalisierte Kapitalismus letztlich endgültig in einen „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ („Kasino-/Raubtier-Kapitalismus“) übergeht, lässt Willke offen, auch wenn er bereits den Zerfall von Bretton Woods im Jahr 1971 und damit das Ende der Bindung an feste Wechselkurse als erstes Indiz dafür festmacht. Denn hierdurch könnten transnationale Unternehmen (wie auch Finanzunternehmen und Investmentfonds) weltweit ungehindert an den Kapitalmärkten operieren und vor allem spekulieren, ohne für die lediglich national existierenden Rechts- und Aufsichtsinstrumente direkt greifbar zu sein (vgl. Ptak, 2008a, S. 84; Willke, 2006, S. 63 f.). Welche politischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen diese Machtverschiebung zugunsten großer Unternehmen und Konzerne hat, wird im weiteren Verlauf dieses ersten Teils, auch mit Blick auf den zweiten Teil, eine wichtige Rolle spielen. Bereits an diesem Punkt lässt sich jedoch mit Ralf Ptak festhalten:

„Am Ende des 20. Jahrhunderts avancierte der Neoliberalismus zur dominanten Ideologie des Kapitalismus, deren Leitsätze international den Referenzrahmen für die Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik vorgeben. Dabei ist der Machtanspruch des Neoliberalismus total und universell – total im Sinne einer umfassenden Entpolitisierung des Gesellschaftlichen und universell im Hinblick auf seinen globalen Geltungsanspruch.“ (Ptak, 2008a, S. 14)

Eine Prognose über die zukünftige (Weiter-)Entwicklung des (neoliberalen) Kapitalismus als momentane Wirtschafts- und Gesellschaftsform vor allem der westlichen Welt, die in jedem Falle doch ihrer Begründung schuldig bleiben müsse, soll hier nicht gegeben werden. Im Hinblick auf Zukunftsprognosen der Vergangenheit, seien sie von Lenin (1961), Marx (1969), Luxemburg (1913) oder Kurz (1999), die alle ein Ende des Kapitalismus voraussagten, ist allerdings festzustellen, dass sich jede von diesen (bis heute) als falsch erwies. Fülberth wirft ihren Urhebern vor, Übergangsphasen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Kapitalismusformen als Zusammenbruch des kapitalistischen Systems missdeutet zu haben (vgl. Fülberth, 2006, S. 293 ff.). In dieser Arbeit soll es daher bei einer Bestandsaufnahme belassen werden, die ihren Abschluss in einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Kapitalismusform des Neoliberalismus findet.

Im Anschluss an Abschnitt 1.2 zur kapitalistischen (Entwicklungs-)Theorie folgt, mit dem Zwischenfazit eine kurze Zusammenfassung der bis dahin erlangten Erkenntnisse zur Entwicklung des Kapitalismus sowie des Wachstumsparadigmas auch mit Blick auf das Kapitel zur Geldtheorie sowie zum subjektiven Wachstum. Außerdem wird dort auch eine kritische Beurteilung des Status quo, also der heutigen neoliberalen Kapitalismusform, vorgenommen, die an dieser Stelle noch keinen Platz findet.

1.2 Überblick über die Kapitalismustheorie

Die nächsten Teilabschnitte zeigen zunächst – und in aller gebotenen Kürze – einige der bedeutendsten Kapitalismustheoretiker und ihre, teils aufeinander aufbauenden bzw. bezogenen, Analysen und Grundgedanken zur kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform auf. Die hier dargestellten Ergebnisse widmen sich in den meisten Fällen den von ihnen beschriebenen Kernelementen des Kapitalismus und dienen der theoretischen Heranführung an die (Wachstums‑)Thematik sowie dem besseren Verständnis der im Abschnitt 1.1 nachgezeichneten Entstehung und Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus. Beginnend mit Adam Smith und Karl Marx, wird mit dem freien Marktwettbewerb bzw. der Mehrwertproduktion und der Arbeiterausbeutung auf wirtschaftswissenschaftliche Ansätze eingegangen. Mit Sombart (Unternehmertum und kapitalistischer Geist) und Weber (protestantische Prägung des kapitalistischen Geistes) rückt dann die Entstehung des okzidentalen Kapitalismus in den Fokus. Zuletzt sollen mit Schumpeter sowie den Schulen des Neoliberalismus moderne Ansätze aufgegriffen werden, die einmal „Schöpferische Zerstörung“ durch Innovationen und auf der anderen Seite eine Wiederbelebung des freien Marktes bei staatlicher Rahmengebung beschreiben.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit dienen die Ausführungen als Anknüpfungspunkt für die Untersuchungen hinsichtlich des heutzutage allgegenwärtigen und dem Kapitalismus inhärenten Wachstumsparadigmas. Dies vor allem mit Blick auf die heutige neoliberale Ordnung des kapitalistischen Westens, die dieses Kapitel abschließen und zugleich eine Überleitung zum Abschnitt 1.3 schafft, in dem der Neoliberalismus sowie die Forderung nach unbegrenztem Wachstum kritisch hinterfragt wird.

1.2.1 Beiträge zur Ökonomik: Die „unsichtbare Hand“, Mehrwert und Ausbeutung

Adam Smith (1723 – 1790): Klassische Wirtschaftstheorie (ökonomischer Liberalismus)

Der Grundsatz von Adam Smiths Ansatz aus seiner Abhandlung „Über den Wohlstand der Nationen“ (1776) war freiheitliches wirtschaftliches Handeln, welches ausschließlich durch den Markt und den Wettbewerb geleitet werden sollte. Der Staat habe von seiner Führungsrolle, die er im Merkantilismus innehatte, zurückzutreten und der Wirtschaft die Freiheit zur Selbststeuerung zu überlassen. Der regulierende Faktor in der freien Wirtschaft ist nach Smith das individuelle Eigeninteresse, das jedes Wirtschaftssubjekt auch zur Auseinandersetzung mit dem Handelspartner – der Marktgegenseite – zwinge, damit eine Tauschtransaktion mit einer beiderseitigen Besserstellung bzw. einem beiderseitigen Nutzen („gains from trade“) überhaupt möglich werde. Smith nennt diese Steuerung durch das eigene Vorteilsstreben die „invisible Hand“, die im Rahmen des allseitigen wirtschaftlichen Handelns – für den Einzelnen unbewusst – zur Erreichung des Gemeinwohls führe (vgl. Willke, 2006, S. 76 ff.).

In diesem Zustand bilde sich dann laut Smith aus Arbeitsteilung und Spezialisierung eine allgemeine Produktivitätssteigerung heraus, die dafür sorge, dass der (Waren-)Tausch immer mehr Individuen von Nutzen sei. Denn da sich der eigene Vorteil nur durch die gleichzeitige Bedürfnisbefriedigung von möglichen Tauschpartnern erreichen lässt, verbreitert sich das Warenangebot auf dem Markt um eben all jene nutzenfördernde Waren, die zu einer Tauschtransaktion und damit zu individuellem Gewinn führen. Die Bedürfnisse der Menschen wirken sich demnach auf das Warenangebot am Markt aus (vgl. ebd., S. 79 ff.).

Produktivitätssteigerung sowie das aus den Tauschvorgängen akkumulierte Kapital höben, sofern der Staat gut und gerecht regiert werde (s. dazu auch Fußnote 47), die Wertschöpfung, das Einkommen und die Beschäftigung an und führten zu Wohlstand in allen Bevölkerungsschichten. Gleiches gelte für den internationalen Handel. Auch hier sei von einem Positivsummenspiel zu sprechen, da der Wohlstand beider am Handel beteiligten Nationen vermehrt werde (vgl. ebd., S. 84). Dennoch sei an dieser Stelle an die Kritik von John Maynard Keynes am Liberalismus und der unsichtbaren Hand Smiths erinnert, „dass privates Interesse und Gemeinwohl nicht immer Zusammenfallen müssen“ (ebd., S. 88).

Karl Marx (1818 – 1883): Sozial(istisch)e Kritik der politischen Ökonomie

Der von Smith beschriebene Wohlstand, der sich durch eine liberale Marktwirtschaft schichtenübergreifend einstellen sollte, war ein halbes Jahrhundert nach seiner Schrift nicht eingetreten. Karl Marx, als Kopf der sozialistischen Bewegung, lehnt die Produktionsverhältnisse des Kapitalismus ab, da er in ihnen die Klassen- und Herrschaftsstrukturen begründet sieht, welche er für die armseligen Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse verantwortlich hält. Im Gegensatz zu Smith verlagert Marx seinen Fokus vom Handeln einzelner Personen bzw. Kapitalisten auf das Kapital selbst als gesellschaftlichen Machtfaktor, das vom Kapitalisten aufgrund von Konkurrenzdruck verwertet werden muss und auf diesem Wege seinen Einfluss permanent entfaltet (vgl. Willke, 2006, S. 88 ff.).

Fernand Braudel sieht ähnlich wie Marx, dass der Kapitalismus nur eine Minderheit privilegiert, da bei einem Tausch nur auf Seite der Anbieter bzw. Unternehmer ein Profit erlangt werde. Der Kapitalist tauscht gewissermaßen nur, wenn ihm die Transaktion mehr einbringt, als er – unter Einberechnung aller (Produktions-)Kosten – in Form eines Gutes hergibt. Für Marx und Braudel beruht die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung daher auf dem Prinzip des ungleichen Tausches (vgl. Fülberth, 2006, S. 29 f. & 46).

Die Analyse von Marx entspringt der Annahme, dass der Kapitalismus historisch entstanden ist, und dass, sollte die Gesetzmäßigkeit seiner bisherigen Entwicklung („Bewegungsgesetz“) bestimmt werden können, daraus auch dessen zukünftiger Wandel (zum Sozialismus) gefolgert werden kann. Für Marx besteht die Zukunft des Kapitalismus in seinem selbstverursachten Untergang, dem Klassenkampf. Ursache für den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ist für Marx die Produktion eines Mehrwertes durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft (variables Kapital) und die damit verbundene Senkung der Profitrate[28] bei steigendem Einsatz von Maschinen (konstantem Kapital) (vgl. Resch & Steinert, 2009, S. 72; Willke, 2006, S. 90 f.).

Abgesehen von theoretischer Kritik an der Marxschen Mehrwerttheorie, sind doch auch der prognostizierte Niedergang des Kapitalismus am Elend der ausgebeuteten Arbeiterklasse sowie der Übergang in eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform ausgeblieben. Schumpeter erkennt vielmehr eine konträre Entwicklung durch den Kapitalismus hin zu einem Wohlstand der Massen, der unter anderem auch durch ein steigendes Qualifikationsniveau sowie den Lohnarbeitern zugesprochene Rechte zur gewerkschaftlichen Mitbestimmung erreicht wurde (vgl. ebd., S. 94 ff.). Richard Swedberg sieht Marx´ Theorie ebenfalls nur für das Europa des 19. Jahrhunderts relevant und spricht ihr jegliche Bedeutung für heutige Kapitalismusanalysen ab, weshalb Swedberg auch nicht von dem einen Kapitalismus, sondern von verschiedenen historisch bedingten Typen dieser Wirtschaftsform spricht (vgl. Swedberg, 2005, S. 27). Dennoch wird in der vorliegenden Arbeit – und im Abschnitt zur Theorie des Geldes insbesondere hinsichtlich der Produktion und Abschöpfung eines Mehrwertes – auf die Werke von Marx zurückgegriffen, da diese noch immer eine untrügliche inhaltliche Aktualität aufweisen. Zudem liefern sie eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, die dabei helfen, die Entwicklungsgeschichte des kapitalistischen Wachstums nachzuzeichnen und im Anschluss auf das Subjekt zu übertragen.

1.2.2 Entstehung des okzidentalen Kapitalismus: Der kapitalistische Geist und der Protestantismus

Werner Sombart (1863 – 1941): Entstehung und Logik des Kapitalismus

Werner Sombart analysiert, auf Marx aufbauend, die Logik des Kapitalismus ebenfalls aus historischer Perspektive. Im Verlauf seiner Arbeit weicht er jedoch von der Bestimmung kapitalistischer „Naturgesetze“ ab und widmet sich den (kulturellen) Beweggründen, die für das Handeln von Wirtschaftssubjekten verantwortlich sind – dem „kapitalistischen Geist“. Diese Gesinnung drückt sich in kulturell bedingten kapitalistischen Bestrebungen, namentlich der doppelten Buchführung, dem Erwerbsstreben, der Unternehmerpersönlichkeit sowie dem wissenschaftlichen Einsatz bei Produktionsverfahren aus. Außerdem verlagert sich seine zentrale Analyse von den Produktionsverhältnissen (Marx) auf das „Wirtschaftssystem“, das eine Kombination aus Institutionen, Produktionstechnologien und Mentalitäten in sich vereint (vgl. Willke, 2006, S. 97 f.).

Im Vergleich zu Marx wird die unterschiedliche Fokussierung Sombarts bei der Erklärung der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten bzw. der Akkumulation von Kapital deutlich. Wie schon beschrieben, herrscht bei Marx ein durch Konkurrenzdruck bedingter Zwang zur Kapitalverwertung und -akkumulation, während Sombart dies durch die Motive der Unternehmer selbst erklärt (vgl. ebd., S. 100).

Sombart unterscheidet zudem – abgesehen von einem soliden kapitalistischen Kern – in seiner Untersuchung zwischen Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus. Stehe im Frühkapitalismus noch ausschließlich die Deckung des persönlichen Bedarfs im Vordergrund wirtschaftlichen Handelns, entwickle sich im Hochkapitalismus zunächst das Erwerbsprinzip, das im Spätkapitalismus eine Wandlung zum sich selbst bezweckenden Gewinnstreben erfährt. Der Gewinn wird, wie bereits weiter oben festgestellt, durch Investition und Re-Investition akkumulierten Kapitals (Geldsumme) in Form wirtschaftlicher Verwertung (= Wachstum) erzielt. Dass sich nach Max Weber hinter der Reproduktion von Kapitalanlagen plus Gewinn kein systemischer Sinn verbirgt, sondern die Sinnhaftigkeit eines Systems nur vom Menschen verliehen werden kann, stellt erneut den kulturellen Aspekt heraus, der nachfolgend bei Weber eine noch elementarere Rolle spielen wird als bei Sombart. Abschließend sei auf Sombarts Prognose bezüglich der spätkapitalistischen Epoche hingewiesen, die für ihn, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, in einer streng regulierten und bürokratisierten „kapitalistischen Planwirtschaft“ enden werde (vgl. ebd., S. 101 ff.). Heute können zum Teil derlei Tendenzen festgestellt werden, wenn die weitreichende wirtschaftliche, politische sowie gesellschaftliche Macht von einigen wenigen transnationalen Großkonzernen betrachtet wird, die ihrerseits kaum einem marktwirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt sind. Auf diesen Aspekt wird bei der Betrachtung des neoliberalen Kapitalismus der heutigen Zeit zurückzukommen sein.

Max Weber (1864 – 1920): Kapitalismus als „Schicksalsmacht“

In seinem bekanntesten Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905) greift Max Weber den von Sombart formulierten „kapitalistischen Geist“ auf und nimmt mit seiner kultursoziologischen Herangehensweise an die Entstehung des Kapitalismus eine Gegenposition zu Marx historischer Herleitung ein. Es geht Weber um die kulturellen Bedingungen, aus denen heraus sich eine kapitalistische Gesinnung entwickeln konnte. Im Zuge seiner Untersuchung der kulturellen europäischen Modernisierung steht für ihn der Rationalisierungsprozess dieser Zeit im Mittelpunkt, den er schließlich mit der Reformation des 16. und 17. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Weber stellt fest, dass sich religiöser bzw. protestantischer Glaube – wenn auch von der Reformationsbewegung gänzlich unbeabsichtigt (vgl. Weber, 1988, S. 82) – auch auf das ökonomische Handeln auszuwirken vermag, sofern eben dieses weltliche Handeln mit den jenseitigen Hoffnungen durch ein beiderseitiges „Belohnungssystem“ verbunden ist (vgl. Willke, 2006, S. 105 ff.).

In der calvinistischen Ausprägung des Protestantismus stellte sich die Verbindung zwischen Religion und weltlichem Leben durch eine innerweltliche Askese sowie eine wirtschaftlich rationale Lebensführung dar, die als Hingabe im Sinne des christlichen Glaubens angesehen wurde. Hieraus entstandene berufsethische Normen wie beispielsweise Bescheidenheit, Arbeitseifer, Pflichterfüllung (Beruf ist von Gott verschrieben!) und Zuverlässigkeit, welche die Grundlage für den modernen Wirtschaftsmenschen des Okzidents schufen. Dieser zeichnete sich schließlich dadurch aus, dass ihm der Konsum des erlangten Besitzes im Namen der Religion untersagt wurde, weshalb die asketische Lebensführung des Protestantismus zur Akkumulation von Kapital führte; erfolgreiches Wirtschaften wurde demnach als erstrebenswerte göttliche Gnade – vor allem hinsichtlich des Jenseits – begriffen. Die Rationalisierung der Lebensführung schuf damit auch eine rationale Organisation von Unternehmen, die sich formal in der Kapitalrechnung wiederfand. Diese Form der betrieblichen Kalkulation von Rentabilität und die ausschließliche Orientierung am Profit – als Basis für Kapitalakkumulation – entwickelte sich nur im Okzident (vgl. ebd., S. 108 ff.).

Die Entstehung des Kapitalismus ist bei Weber jedoch ein emergenter Prozess, der sich nicht allein auf die benannten kulturellen bzw. religiösen Bedingungen zurückführen lasse, sondern immer auch mit materiell‑gesellschaftlichen Voraussetzungen verknüpft sei. Für die Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus führt er diesbezüglich die Trennung von Heim und Arbeit, die kaufmännische Buchführung sowie technologische Neuerungen an. Die kulturellen Bedingungen im Zusammenspiel mit den materiell‑gesellschaftlichen leisteten den grundlegenden Beitrag zum Übergang von kapitalistischen Bestrebungen vereinzelter Unternehmer zu einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung (vgl. Fülberth, 2006, S. 24).

Für Weber ist in diesem Zusammenhang die Entstehung der Wirtschaft als eigenes System, mit der Logik des Profiterzielens, das Spezifikum der westlichen Wirtschaftsweise. Nach Weber entwickelte sich das Gewinnstreben allerdings bei zunehmendem Erfolg zum Selbstzweck und die asketische Lebensweise sowie das Erwerbsstreben entledigten sich ihrer religiösen Grundlage; neben der in dieser Zeit voranschreitenden Rationalisierung, wirkte also auch der Wohlstand selbst säkularisierend. Die Folge ist, dass sich die ehemals in der calvinistischen Berufsethik fundierten Normen sowie die Akkumulation durch puritanischen Sparzwang fortan unter dem Prinzip des kapitalistischen Geistes versammeln. Die kapitalistische Wirtschaftsform konnte sich daher als selbstreferentielles System herausbilden: Es „belohnt kapitalistisches Verhalten durch materiellen Erfolg und bestraft davon abweichendes Verhalten mit Verlusten und Ausscheiden aus dem Markt“ (Willke, 2006, S. 114). Galt (materieller) Besitz zuvor noch als göttliche Erwählung, dem selbst keine (diesseitig gerichtete) Wertschätzung von den Menschen entgegengebracht wurde, verleiht er dem Menschen nun den Status weltlichen Erfolgs und führt auf diese Weise auch zu Ansehen unter seinesgleichen (vgl. ebd., S. 112 ff.).

1.2.3 Moderne Ansätze: „Schöpferische Zerstörung“ und Wiederbelebung des freien Marktes

Joseph Alois Schumpeter (1883 – 1950): Kapitalismus als „Schöpferische Zerstörung“

Joseph Schumpeter unterscheidet zwischen einer Kreislaufwirtschaft, in der beim Tausch nur die Kosten gedeckt, also keine Gewinne erzielt werden und einer kapitalistischen Wirtschaftsform. Der zentrale Begriff Schumpeters bei der Beschreibung letzterer ist Innovation. Für ihn besteht die beständige Triebkraft des Kapitalismus in der Entwicklung neuer Produktions- und Transportmethoden, dem Öffnen neuer Märkte sowie der Neugestaltung industrieller Organisation. All dies gehe vom kapitalistischen Unternehmer[29] bzw. von kapitalistischen Unternehmen aus und zerstöre auf diese Weise das Gleichgewicht der Kreislaufwirtschaft – dies drückt sich in Preisen, die oberhalb der Gleichgewichtspreise[30] liegen, aus. Das ökonomische Ungleichgewicht entsteht – immerzu (!)[31] – durch den Wettbewerbsvorteil, den sich der „Pionierunternehmer“[32] durch Prozess-, Produkt-, Markt- und/oder Ressourceninnovation(en) verschafft und durch den er Konkurrenzprodukte, -verfahren und -betriebe vom Markt verdrängen kann. Diesen, für Schumpeter spezifisch kapitalistischen, Prozess nennt er „schöpferische Zerstörung“ (vgl. Schumpeter, 1942, S. 136 f.). Aus dem Vorsprung des Pionierunternehmers, welcher Art auch immer, ergibt sich eine Monopolstellung, die auf dem Markt so lange zusätzliche Profite für den Unternehmer hervorbringt, bis dessen Innovation(en) von Wettbewerbern – die so handeln müssen – übernommen werden und sich die Monopol- bzw. Pioniergewinne durch ein verbreitertes Angebot und sinkende Preise (als neues Gleichgewicht) einstellen. Die Schumpetersche Erklärung eines regelmäßigen Profits setzt die kapitalistische Wirtschaftsform somit als eine sich permanent im Zustand des Ungleichgewichts befindliche Ökonomie voraus (vgl. Fülberth, S. 64 ff.; Willke, 2006, S. 115 ff.).

Schumpeter formulierte des Weiteren auch Thesen, die sich auf das Ende des Kapitalismus beziehen, sich jedoch (bisher) nicht bewahrheitet haben. Unter anderem besagt eine dieser Thesen, dass Innovationsprozesse in der kapitalistischen Ökonomie zunehmend routinisiert werden und es daher keiner Pionierunternehmer mehr bedürfe. Dem hält Willke jedoch entgegen, dass Innovationen, egal in welchem der oben genannten Bereiche, heute mehr denn je eine bedeutende Rolle für den unternehmerischen Wettbewerb spielen, auch wenn sich in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen eine gewisse Routine der Innovationsproduktion eingestellt habe. Auch Schumpeters auf den Pionierunternehmer selbst fixierte Argumentation wird von Willke – mit Blick auf die heutige Gesellschaft – in Frage gestellt, indem er die kapitalistische Wirtschaft ebenso gut durch Betriebswirte am Laufen gehalten sieht, die vom Wettbewerb zur Schaffung von Innovationen angetrieben werden (vgl. Willke, 2006, S. 125 ff.).

Chicagoer und Freiburger Schule: Neoliberale Wirtschaftstheorie (Neoliberalismus)

Die neoliberale Ausrichtung heutiger kapitalistischer Gesellschaften beruht grundsätzlich auf der oben dargestellten Klassischen Wirtschaftslehre (Liberalismus) von Adam Smith. Im Gegensatz zum „Laissez-faire-Liberalismus“ von Smith[33] räumen die Vertreter neoliberaler Schulen[34] dem Staat zumindest die Rolle eines neutralen gesetzlichen Rahmengebers, im Sinne einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik[35], ein (vgl. Eucken, 1955, S. 334; Röpke, 1950, S. 142). Prinzipiell sollte dieser sich aber soweit es geht aus dem Wirtschaftsgeschehen zurücknehmen, da das nachfrageorientierte keynesianistische Modell eines aktiv eingreifenden Staates für die Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre verantwortlich[36] gemacht wurde. Demzufolge stellte sich das grundlegende Ziel der neoliberalen Vertreter in der Schaffung von verbesserten Angebotsbedingungen für Unternehmen[37], ja in der „Zerstörung der alten Ordnung“ (Ptak, 2008a, S. 83) dar. Auf dieser Grundlage basierend, besteht das dynamisierende Wesen des Neoliberalismus – ohne hier genauer auf die Besonderheiten der einzelnen Schulen einzugehen – aus den konzeptionellen Aspekten Deregulierung, Liberalisierung, freier Welthandel, Privatisierung, Abkehr vom Wohlfahrtsstaat und Flexibilisierung. Mittels dieser Konzepte wird das Ziel einer effizienten (globalen) Marktwirtschaft angestrebt, die nicht durch Eingriffe des Staates bzw. der Staaten ausgebremst wird[38] (vgl. Ptak, 2008a, S. 13 & 83; Virchow, 2008, S. 224).

Die Forderung nach einer Abschaffung staatlicher Regulierung, bezieht sich vor allem auf Gesetze, Verordnungen und Richtlinien, die direkt auf den Wirtschafts- und Marktprozess einwirken und diesen an seiner freien Entfaltung hindern; zum Beispiel Schutzrechte und Marktbeschränkungen. Durch eine liberalere Wirtschaft werden vor allem die Ziele verfolgt, ein besseres Fundament für die Innovationsproduktion im Schumpeterschen Sinne zu schaffen sowie wirtschaftliche Entscheidungsprozesse zu beschleunigen; unter anderem durch Bürokratieabbau, der dem Neoliberalismus faktisch jedoch nicht belegt werden kann (vgl. Resch & Steinert, 2009, S. 281; Schubert & Klein, 2007, S. 73). Auf die klassische Wirtschaftstheorie aufbauend, soll auch im Neoliberalismus die „unsichtbare Hand“ für eine Selbststeuerung des Marktes sorgen. Die neoliberale Ausrichtung spricht dem Staat jedoch zu, Monopol- und Kartellbildung zu verhindern, um den marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu ermöglichen und zu schützen (vgl. Eucken, 1955, S. 334). Im Namen von Liberalisierung und Freihandel wird eine Ausweitung des neoliberalen Konzepts durch die beständige Schaffung neuer Märkte vorangetrieben. Dies betrifft sowohl die Möglichkeit des unternehmerischen Vordringens in alle (Marktwirtschafts‑)Gebiete der Welt, als auch die Aussicht auf die Platzierung von Produktinnovationen auf dem Markt bzw. allen Märkten. Die neoliberale Forderung nach freiem Handel beruft sich diesbezüglich vornehmlich auf den Abbau von Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen (Außenhandelsbeschränkungen), um neben der Schaffung neuer Märkte auch den freien Zugang zu ausländischen Märkten zu garantieren (vgl. Ptak, 2008a, S. 83 f.).

Des Weiteren sieht die neoliberale Theorie eine möglichst vollständige Übernahme des bisher öffentlichen Sektors durch die Privatwirtschaft vor. Diese kann beispielsweise das Erziehungswesen, das Gesundheitswesen, Verkehrsbetriebe, die Energieversorgung oder sogar das Bildungswesen betreffen, um diese marktgerecht umzustrukturieren und in einen Marktwettbewerb einzubinden. Ziel des Abbaus staatlicher Verantwortung ist die Steigerung ökonomischer Effizienz, die Schaffung von Synergien und die Umstrukturierung zu schlanken Organisationen. All dies lasse sich nach den neoliberalen Vertretern nur im Rahmen der kapitalistischen Marktgesetze auch für staatliche Betriebe und Verantwortungsbereiche erreichen[39] (vgl. Engartner, 2008, S. 88). Offiziell sind Liberalisierung und Privatisierung in den Regularien der WTO, die zudem über Sanktionsmacht bei protektionistischer Haltung von Staaten verfügt, festgeschrieben, denen sich die Mitgliedsstaaten unterordnen. Im Rahmen der GATS‑Bestimmungen ist es den Mitgliedsstaaten nicht erlaubt, ihren öffentlichen Sektor eigenmächtig zu gestalten sowie sie sich auch zu einer quantitativ und qualitativ fortschreitenden Liberalisierung verpflichtet haben. Damit wurde ebenfalls die Abkehr vom Wohlfahrtsstaat[40] vorangetrieben (vgl. Engartner, 2008, S. 121 f.; Fülberth, 2006, S. 274).

Von Vertretern des Neoliberalismus wird der wohlfahrtsstaatlichen Ausgestaltung vorgeworfen, den Einzelnen zu bevormunden und dessen Eigeninitiative und Verantwortung einzuschränken (vgl. Butterwegge, 2008, S. 136; Schubert & Klein, 2007, S. 332). Dies laufe der generellen Forderung nach individueller Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz entgegen (vgl. Friedman, 2002, S. 35), weshalb auf der anderen Seite auch keine Steuergelder für derartige Zwecke erhoben werden dürften, da diese – insbesondere bei progressiver Ausgestaltung – konträr zu den Gleichheitsforderungen stehen. Das Konzept des Neoliberalismus lehnt demnach (Um-)Verteilungsgerechtigkeit bzw. soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft ab. Es sieht hingegen die Gewährleistung der Chancengleichheit als wichtige Voraussetzung für freiheitliche Selbstbestimmung, die wiederum durch die Förderung menschlicher Marktfähigkeit – im Sinne eines ökonomischen Gerechtigkeitsbegriffs – erreicht werde. Die sich öffnende Schere von arm und reich zeigt, wie in der Theorie des Neoliberalismus, vor dem Hintergrund eines dominanten Marktes, auch neu interpretiert und gesellschaftlich legitimiert (!) wird, was gerecht ist (vgl. Lösch, 2008, S. 335; Reitzig, 2008, S. 132 & 140). Erneut ist der Rückbau staatlicher Macht auch im Rahmen der WTO festgehalten. Mit dem TRIPS-Abkommen wurden die WTO‑Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, immaterielle Güter (geistiges Eigentum) rechtlich zu schützen, was sich beispielsweise auch auf die Produktion und Versorgung mit rechtlich geschützten Medikamenten auswirkt; mehr dazu in Abschnitt 1.3.2.

All die zuvor genannten neoliberalen Forderungen belaufen sich zunächst auf eine institutionelle oder organisationale Ebene. Die Flexibilisierung der Individuen, also ihre „erzwungene Anpassung […] an den Marktmechanismus“ (Ptak, 2008a, S. 84) ist die logische und dabei durchaus gewollte Konsequenz neoliberaler Umstrukturierungsprozesse. Hinter dieser Logik steckt das Welt- und Menschenbild des Neoliberalismus, bei dem der Markt das Zentrum bildet, welches lediglich von der möglichst entpolitisierten wie unorganisierten Gesellschaft als dessen Rahmenbedingung umgeben wird. Für das Menschenbild bedeute dies nach Hayek, dass die Subjekte einer Gesellschaft die Sachzwänge der gegebenen Konstellation vergeistigen und sich den Bedingungen des Marktes ergeben sollen (vgl. ebd., S. 51 f.). Das Subjekt und seine mögliche Objektivierung durch die Hegemonie des auf Wachstum fußenden Marktes werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit erneut aufgegriffen und einer genaueren Prüfung unterzogen.

[...]


[1] Gabor Steingart, Chefredakteur des „Handelsblatt“, in dessen Newsletter „Morning Briefing“ vom 10. Mai 2012: „Vielleicht sollten wir in den Buchhandlungen die Berichte des Club of Rome von der Sachbuchabteilung in die Abteilung Fantasy überführen.“ (zitiert bei van Treeck, 2012, S. 33 Fn. 5)

[2] Erreichung bzw. Überschreitung des Fördermaximums beim klassischen Erdöl (vgl. Rempel, 2006).

[3] In den zehn Jahren zwischen 1990, dem Jahr, das als Vergleichsbasis für die, im Jahr 1997 durch das Kyoto‑Protokoll benannten, Verringerungen der Kohlendioxid‑Emissionen dient, und 2000 stiegen diese Ausstöße um 40 % (vgl. Jackson, 2009, S. 6).

[4] Dieses Programm wird auch als „New Green Deal“ bezeichnet, siehe dazu http://www.gruene‑europa.de/fileadmin/dam/Deutsche_Delegation/Broschueren/Green_New_Deal.pdf.

[5] In Fülberths „Eine kleine Geschichte des Kapitalismus“ (2006) findet sich eine ausführliche und chronologische Darstellung der historischen Entwicklungsphasen des Kapitalismus. Die einzelnen Perioden werden dabei hinsichtlich ihrer stofflichen und technologischen Grundlagen, ihrer Eigentums- bzw. Sozialstruktur, ihres Inter-Generationenverhältnisses, des institutionellen und politischen (= räumlichen) Arrangements der Gesellschaft(en) sowie gesellschaftlicher Gegenbewegungen untersucht.

[6] Die primäre oder auch ursprüngliche Akkumulation beschreibt nach Marx den Prozess, indem die direkten Produzenten bspw. durch Enteignung oder Entlassung aus feudaler Leibeigenschaft von den Produktionsmitteln getrennt wurden. Diese fanden sich nun als „doppelt freie“ Lohnarbeiter wieder, die sowohl vom Arbeitszwang befreit, als auch ohne eigene Produktionsmittel waren und somit einzig über ihre Arbeitskraft frei verfügen bzw. diese auf dem Arbeitsmarkt anbieten konnten (vgl. Resch & Steinert, 2009, S. 76 f.).

[7] Definition: „Handelskapitalismus ist die Funktionsweise von Gesellschaften, die im Wesentlichen auf der Erzielung von Gewinn und der Vermehrung (Akkumulation) der hierfür eingesetzten Mittel (= Kapital) durch Produktion, Kauf und Verkauf von solchen Waren beruhen, die durch abgabenpflichtige oder leibeigene Bauern, selbständige Handwerker, Zwangsarbeiter oder Sklaven sowie in Verlag und Manufaktur hergestellt werden.“ (Fülberth, 2006, S. 130)

[8] Für eine detaillierte Darstellung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen im feudalen Abendland (hier 500 bis 1500) sowie in der Übergangsphase zum Kapitalismus der Jahre 1200 bis ca. 1780 siehe (Fülberth, 2006, S. 85-129); eine auf verschiedenen Theorien basierende Beschreibung des Übergangs liefern (Resch & Steinert, 2009, S. 74-98).

[9] Als Merkantilismus wird die Wirtschaftspolitik des 16. bis 18. Jahrhunderts bezeichnet, die sich durch deutliche staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess mit dem Ziel einer gesteigerten nationalen Wirtschafts- und Handelskraft auszeichnete (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 2009).

[10] Eine ausführliche Beschreibung dieses Prozesses findet sich im dritten Band des Marx-Engels-Werkes „Das Kapital“ (MEW 25, 1983, S. 340 ff.).

[11] In dieser Arbeit werden die Begriffe „Gut“, „Produkt“ und „Ware“ in partieller Anlehnung an ihre wirtschaftswissenschaftlichen Definitionen verwendet: Güter können daher sowohl materieller (Produkte, Waren) als auch immaterieller (Dienstleistungen) Natur sein, wohingegen die Begriffe „Produkt“ und „Ware“ hier synonym für materielle Erzeugnisse verwendet werden, die für den Handel bestimmt sein können, aber nicht müssen.

[12] Die katholische (Wirtschafts-)Mentalität war vornehmlich durch traditionelle Werte wie Sicherheit und (moralischer) Genügsamkeit sowie das Verbot des Zinsnehmens geprägt. Zudem fand das asketische Leben der katholischen Mönche, deren Lebensideal bereits auf den Puritanismus getroffen war, vornehmlich innerhalb der Klostermauern statt, während sich die puritanischen Ideale des Calvinismus in der Welt verwirklichten (vgl. Schmitt, 2012, S. 89).

[13] Einen kurzen Überblick über die verschiedenen technischen Errungenschaften dieser Zeit bieten (Fülberth, 2006, S. 174 f.) und (Willke, Kapitalismus, 2006, S. 42).

[14] Siehe Matthäus 19,24: „eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt“ (zitiert bei Willke, 2006, S. 47).

[15] Willke sieht darin den Beleg, „dass im Oligopol nicht weniger, sondern mehr Konkurrenz herrscht als im schlafmützigen Polypol“ (Willke, 2006, S. 52).

[16] Geld- und Fiskalpolitik des Deficit-Spending (Nachfragesteuerung): Der Staat tritt als durch Schulden finanzierter Nachfrager auf und kurbelt so die Konjunktur bzw. Wirtschaft im Falle eines Abschwungs an (vgl. Bevc, 2007, S. 114, s. auch Fußnote 18).

[17] Der Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 stellt den ursprünglichen Vertrag über die Europäische Union dar, der im Jahr 2007 durch den Vertrag von Lissabon reformiert wurde und zusammen mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union die rechtliche Basis der EU bildet.

[18] John Maynard Keynes beschreibt im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre die Rolle des Staates als Impulsgeber, der, außerhalb des Marktes stehend, für produktions- und konsumfreundliche marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu sorgen habe. Die Aussicht auf unternehmerische Gewinne sei durch niedrige Zinsen zu erreichen, die einer erhöhten Nachfrage nach Krediten dienlich sei und somit die Investitionsbereitschaft anrege. Im Zusammenspiel mit staatlicher Nachfrage und der Steigerung des privaten Konsums durch staatliche Umverteilung wird laut Keynes die gesamtwirtschaftliche Produktivität wieder in Gang gebracht (vgl. Fülberth, 2006, S. 68 ff.). Grundlage des Keynesiansimus war die Überzeugung, dass das Angebot und damit auch die Höhe der Produktion sowie der Beschäftigung von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage abhängig seien, weshalb dieser auch als Nachfragepolitik bezeichnet wird (vgl. Bevc, 2007, S. 113).

[19] In der Zeit von 1950 bis 1970 stieg das Bruttoinlandsprodukt entwickelter Länder um 4 %, das von Kolonien, Halbkolonien und unabhängigen Entwicklungsländern um 3 %, was für den Zeitraum von 1830 bis 1990 jeweils einen deutlichen Höchststand darstellt (vgl. Fülberth, 2006, S. 235).

[20] In Deutschland bedeutete ein gelenkter Kapitalismus: die Regulierung von Wirtschaftsbereichen wie Post, Eisenbahn, Landwirtschaft, Wasser- und Energieversorgung etc.; die Sicherung von Wohlstand und Beschäftigung durch Wachstums-, Struktur- und Beschäftigungspolitik; den Ausbau des Sozialstaats (vgl. Willke, 2006, S. 58).

[21] Besserstellung der Arbeitnehmer durch: a) Arbeitszeit- sowie Lebensarbeitszeitverkürzung; b) Erhöhung der Reallöhne; c) verschiedene Formen der Mitbestimmung; d) staatliche Garantie der Tarifautonomie, Selbstbindung von Unternehmern und Gewerkschaften an Flächentarifverträge; e) institutionelle Regelungen zugunsten der Arbeitskraft, z. B. Kündigungsschutz; f) Ausbau staatlich garantierter Lohnersatzleistungen (vgl. Fülberth, 2006, S. 243 f.).

[22] Verlangsamtes Wirtschaftswachstum (volkswirtschaftliche Stagnation) bei gleichzeitig hoher Inflation.

[23] Im Neoliberalismus wird eine (liberalere) Neuordnung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft angestrebt, die ausschließlich ordnungspolitische Aufgaben für diesen vorsieht, ihn jedoch, nicht wie im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, vollkommen aus der Pflicht nimmt (vgl. Fülberth, 2006, S. 266 f.).

[24] Die theoretische Ausrichtung war eine dem Keynesianismus (Nachfragepolitik) genau entgegengesetzte Wirtschaftspolitik, die Angebotspolitik. Diese beschrieb die Angebotsseite als zentralen Faktor, von dem der Beschäftigungsgrad und die Höhe des Wachstums einer Volkswirtschaft abhängig seien, weshalb für günstige Rahmen- und speziell Investitionsbedingungen gesorgt werden müsse.

[25] In die Nachkriegszeit Mitte des 19. Jahrhunderts fiel auch die Gründung des weltweit wichtigsten neoliberalen Elitenetzwerkes Mont Pèlerin Society, durch das neoliberale Forderungen Verbreitung fanden (vgl. Ptak, 2008a, S. 22).

[26] Die Wirtschaftspolitik (ausgehend von Thatcher und Reagan) verfolgte im Einzelnen Ziele, wie 1. die Senkung von Einkommens-, Unternehmens-, Kapitalertrags- und Vermögenssteuern und der Staatsausgaben; 2. die Privatisierung öffentlichen Eigentums; 3. die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen; 4. die Kürzung von Sozialausgaben und teilweise Übertragung sozialstaatlicher Sicherungsfunktion auf private Finanzdienstleister; 5. den Ersatz staatlicher Investitions- und Steuerungstätigkeit durch das freie Spiel der (internationalen Finanz-) Märkte; 6. die Priorität der Geldwertstabilität (vgl. Fülberth, 2006, S. 267). Eine detailliertere Darstellung erfolgt in Abschnitt 1.2.3.

[27] In Deutschland die SPD unter Schröder, die Labour-Partei in England unter Blair (vgl. Fülberth, 2006, S. 273).

[28] Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate : Nur Lohnarbeiter können einen Mehrwert erarbeiten, indem sie länger oder härter arbeiten und somit mehr Produkte herstellen, als ihr Lohn (zur Selbsterhaltung) wiedergibt. Steigt nun der Anteil an Maschinen oder Produktionsanlagen – deren Wert sich genau auf das Produkt überträgt –, in die alle (!) Kapitalisten mittels ihres akkumulierten Kapitals investieren, fällt die Profitrate, die sich aus dem Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital ergibt (vgl. Willke, 2006, S. 90 f.).

[29] Schumpeter unterscheidet zwischen Unternehmer und Kapitalist: Für ihn sind Kapitalisten lediglich die Träger des finanziellen Risikos, während der Unternehmer zumeist angestellter Manager ist und derweil nur in seltenen Fällen auch einen kreativen, innovativen und risikobereiten Pionier unternehmer darstellt (vgl. Willke, 2006, S. 118 f.).

[30] Der Gleichgewichtspreis deckt laut Schumpeter nur die Herstellungskosten eines Produktes, sodass nur ein höherer Preis auch Gewinn für den Unternehmer bedeutet.

[31] Mit dem Konzept immer wiederkehrender (zumeist naturwissenschaftlich-technologischer) Innovationsschübe folgt Schumpeter dem russischen Konjunkturforscher Nikolai Kondratieff, der den Wandel des Kapitalismus über einen langen Zeitraum untersucht hat und dabei einen Zyklus von 40 bis 60 Jahre dauernden Konjunkturphasen feststellte. Diesen „Kondratieffwellen“ liegen jeweils elementare technologische Innovationen wie die Eisenbahn, die Elektrizität, das Automobil, die Chemie und die Mikroelektronik zugrunde. Diese Welle teilt sich in jeweils ca. 20 bis 30 Jahre wirtschaftlichen Auf- und Abschwung nach Entdeckung/Einführung der neuen Technologie auf (vgl. Willke, 2006, S. 117 f.).

[32] Schumpeter bezeichnet einen Unternehmer, der keinen Profit erwirtschaftet, als „normalen Wirt“, der seine Produktionsmittel (nur) im wirtschaftlichen Gleichgewicht verwendet (vgl. Fülberth, 2006, S. 67).

[33] Der klassische Liberalismus nach Smith kannte jedoch staatliche Eingriffe im Sinne der Steuererhebung, die für Verwaltungszwecke, rechtsstaatliche Aufgaben, innere und äußere Sicherheit sowie Bildung erhoben werden mussten (vgl. Ptak, 2008a, S. 27).

[34] Es war vor allem die Chicagoer Schule (u. a. Milton Friedmann, Nobelpreis 1976) in den USA, die Freiburger Schule (u. a. Walter Eucken) in Deutschland sowie die Österreichische oder auch Wiener Schule (u. a. Friedrich von Hayek, Nobelpreis 1974), die prägend für die Entwicklung des Neoliberalismus waren. In Deutschland setzte sich jedoch der Begriff des Ordoliberalismus durch, der ferner die theoretische Basis des dortigen (sowie auch kontinentaleuropäischen) neoliberalen Sonderwegs der weniger deregulierten Sozialen Marktwirtschaft darstellt (vgl. Pätzold, 2008, S. 14 ff.; Ptak, 2008, S. 69 ff.; Ptak, 2008a, S. 23).

[35] Auf Basis der in den 1930er Jahren konzipierten Angebotspolitik (s. Fußnote 18) wurde in den 1960er und 1970er Jahren vornehmlich von Milton Friedman (Chicagoer Schule) das wirtschaftspolitische Konzept des Monetarismus entwickelt, welches die Geldpolitik als wirtschaftspolitisches Steuerungsmittel vorsieht. Das grundlegende Instrument zur Erreichung langfristig stabiler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ist dabei ein stabiles Preisniveau. Dieses werde durch eine konstant steigende Geldmenge erreicht, wobei der Grad des Wachstums durch eine staatliche Geldpolitik (Zentralbank) geregelt wird, die sich an dem Produktionspotenzial, dem Preisniveau und der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes einer Volkswirtschaft zu orientieren habe (vgl. Bevc, 2007, S. 122; Schubert & Klein, 2007, S. 200).

[36] Die Kritik neoliberaler Vertreter verwies auf übermäßige Bürokratie, fehlende Effizienz staatlicher Interventionen, Verschwendung öffentlicher Gelder sowie auf den zu ausgeprägten Wohlfahrtsstaat, der nicht in der Lage sei, Leistungsanreize zu schaffen (vgl. Ptak, 2008a, S. 68 f.).

[37] Forderungen sind z. B.: Steuersenkungen (vor allem auf Unternehmensgewinne), Aufhebung von Preiskontrollen, Minimierung von Produktionskosten, Abbau von Subventionen und vollständiger Freihandel.

[38] Hayek begründete dies anhand seines Konzeptes von einer spontanen Ordnung des Marktes: Moderne Gesellschaften hätten sich nicht bewusst für die (neoliberale) Marktwirtschaft entschieden, sondern diese habe sich historisch entwickelt, weshalb sie zwar nicht perfekt, unter den gegebenen Umständen aber dennoch das einzig mögliche und damit beste Modell darstelle. Daher wird aktives Eingreifen, abgesehen von Korrekturen innerhalb des Ordnungsrahmens, in Form von gesellschafts- bzw. sozialpolitischen Bestrebungen als konstruktivistische Zuwiderhandlung gegen diese logische Entwicklung bzw. gegen den Zivilisationsprozess verstanden (vgl. Ptak, 2008a, S. 46 ff.).

[39] So zum Beispiel auch von der Bundesregierung selbst vor dem Deutschen Bundestag 1992 begründet (vgl. Bundesregierung, S. 25).

[40] Als Wohlfahrtsstaat wird ein Staat bezeichnet, „der eine Anzahl unterschiedlicher (Fürsorge‑)Maßnahmen, Programme und Politiken anwendet, die der sozialen, materiellen und kulturellen Wohlfahrt der Bevölkerung dienen.“ (Schubert & Klein, S. 332)

Ende der Leseprobe aus 200 Seiten

Details

Titel
Dem Wachstum verfallen?!
Untertitel
Wie das kapitalistische Wachstumsparadigma zum »goldenen Kalb« westlicher Gegenwartsgesellschaften wurde.
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autoren
Jahr
2012
Seiten
200
Katalognummer
V265652
ISBN (eBook)
9783656553380
ISBN (Buch)
9783656553663
Dateigröße
1551 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wachstum, wachstumsparadigma, kalb«, gegenwartsgesellschaften
Arbeit zitieren
M. A. Matthias Hellmich (Autor:in)Hendrik Weinekötter (Autor:in), 2012, Dem Wachstum verfallen?!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265652

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