Die probabilistische Revolution in der Literatur

Untersuchungen zu Defoe, Voltaire und Kleist


Magisterarbeit, 2013

92 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Das Thema.
1.1 Etymologische Erschließung des begrifflichen Umfeldes
1.2 Leitgedanken, Thesen und Meinungen zur probabilistischen Revolution und seinen Auswirkungen auf die Literatur

2 Untersuchungen zur Schicksalssemantik
2.1 Die Schicksalssemantik der Antike im Rahmen einer metaphysischen Ordnung
2.1.1 Das Orakel von Delphi
2.1.2 Wesensbestimmung und Eingrenzung der Begriffe Zufall Wahrscheinlichkeit und Zukunft bei Aristoteles, Platon und Cicero
2.1.2.1 Die Rolle des Zufalls in der aristotelischen Philosophie
2.1.2.2 Die Rolle der Wahrscheinlichkeit in der Rhetorik von Aristoteles und von Cicero
2.1.2.3 Die Rolle der Wahrscheinlichkeit in der Poetik von Aristoteles und Platon
2.1.2.4 Der Begriff der Zukunft in der Philosophie von Aristoteles
2.2 Die Schicksalssemantik des Mittelalters im Rahmen einer providentiellen Ordnung
2.2.1 Die Doktrin des Augustinus
2.2.2 Die Doktrin von Thomas von Aquin
2.2.3 Die neue Doktrin der providentiellen Ordnung bei Calvin
2.2.4 Aleatorische Praktiken als sakrale Entscheidungsinstanz
2.2.5 Die Verbannung des Glückspiels und der astrologischen Schicksalsbefragung
2.3 Die Sprengung der Schicksalssemantik und der Ordnung durch die mathematische Analyse des Zufalls und der Wahrscheinlichkeit
2.3.1 Pascal und Fermat: Dialog zum unvollendeten Spiel
2.3.2 Der Brückenschlag von der Wahrscheinlichkeit der antiken Rhetorik zur neuen Wahrscheinlichkeit der Mathematiker
2.3.2.1 Die Logik von Port Royal
2.3.2.2 Leibniz und die neue Rhetorik der Wahrscheinlichkeit
2.4 Das Erdbeben von Lissabon
2.4.1 Das Erdbeben von Lissabon und seine Auswirkungen auf die Schicksalssemantik und die Doktrin der providentiellen Ordnung
2.4.2 Der Theodizeebegriff bei Leibniz
2.4.3 Poème sur le Dèsastre de Lisbonne
2.4.4 Die Antwort Rousseaus auf das Gedicht von Voltaire

3 Die neue Leitsemantik der Aufklärung im Spiegel der Literatur Voltaire - Defoe - Kleist
3.1 Voltaires satirische Antwort auf eine neue vernunftorientierte Schicksalssemantik
3.1.1 Candide, ou l`Optimisme
3.1.2 Charakteristika des Romanerzählens bei Voltaire
3.2 Daniel Defoes: Unkalkulierbares Abenteuer oder abschätzbares Risiko
3.2.1 Of Listening to the Voice of Providence
3.2.2 Defoes Auseinandersetzung mit Glücksspiel, Wette und Empirismus aus der Perspektive eines Ökonomen
3.2.3 Robinson Crusoes Güterabwägung von Chancen und Risiken
3.2.4 Charakteristika des Romanerzählens bei Daniel Defoe
3.3 Heinrich von Kleist: Eruptive Gewalt als unkalkulierbare Variable des Lebens
3.3.1 Heinrich von Kleists Auseinandersetzung mit dem sich etablierenden Paradigma des Empirismus
3.3.2 Zufall und Ordnung in der Ästhetik Heinrich von Kleists
3.3.3 Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten
3.3.4 Das Erdbeben von Chili
3.3.5 Charakteristika des Romanerzählens bei Heinrich von Kleist

4 Schlussbetrachtungen
4.1 Reflektion der wichtigsten Thesen
4.2 Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Webseiten

1 Das Thema

Die probabilistische Revolution (1650-1850) steht im Zentrum des Wandels, den die Aufklärung vollzogen hat, vom klerikalen und absolutistischen Staat hin zu einem Gesellschaftssystem, welches sich sowohl der Wissenschaftlichkeit als auch einem System hinterfragter Vernunft verschrieben hat. Der Mathematik kommt dabei eine Brückenkopffunktion zu, indem sie den moraltheologischen Diskurs mit den kalkulierenden, spekulierenden und erkenntnistheoretischen Elementen der Philosophie verbunden hat. Als Geburtsstunde dieser revolutionären Entwicklung wird der wissenschaftstheoretische Diskurs von Fermat und Pascal zum unterbrochenen Spiel angesehen, der im Laufe von etwa zweihundert Jahren zu einer quantitativen Theorie der Wahrscheinlichkeit weiterentwickelt wurde. Parallel zu dem in der Symbolik der Mathematik gehaltenen Diskurs zur Wahrscheinlichkeitstheorie wurden die großen Fragen der Religion, der Philosophie und des Gesellschaftsverständnisses einer ganzen Epoche diskutiert. Nahezu zeitgleich entstand der moderne Roman, der sich signifikant von dem Erzählen vor der Aufklärung unterscheidet.

Eine zentrale These zu dem Zusammenhang von Wahrscheinlichkeits- und Romantheorie lautet:

„Der Roman ist diejenige literarische Gattung, die [] zum Medium der Kontingenzreflektion schlechthin geworden ist.“[1]

Ob dem tatsächlich so ist, wird eine der Fragen sein, die hier zu untersuchen sind. Vorher möchte ich jedoch die historische Entwicklung der zentralen Begrifflichkeiten, insbesondere die Begriffe Wahrscheinlichkeit, Probabilität, Kontingenz und Providenz etymologisch erhellen. Es hat sich gezeigt, dass diese „Worthülsen“ im Verlauf der Geschichte durchaus mit unterschiedlichen Wesensgehalten befrachtet wurden. Rüdiger Campe weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin:

„Die Wahrscheinlichkeit der mathematischen Probabilität siedelte gerade auf dem Gelände der alten Wahrscheinlichkeit der Dichter, Redner und Logiker. Sie zehrte von der alten Terminologie der Wahrscheinlichkeit.“[2]

Bei der Suche nach dem „alten“ Sinn dieser Begrifflichkeiten kommt man nicht umhin bis zu den großen Philosophen der Antike zurückzugehen und die Interpretation ihrer Vorgaben durch die klerikalen Scholastiker des Mittelalters nachzuvollziehen. Erst dann macht es Sinn, sich den Philosophen der Aufklärung zuzuwenden, um deren Neuinterpretation des Begriffes Wahrscheinlichkeit zu verstehen. Am Ende dieses etymologischen Forschungsprozesses offenbart sich nicht nur eine Neubewertung der Begriffe Wahrscheinlichkeit, Kontingenz, Probabilität, Zufall und Providenz, sondern damit einhergehend ein Paradigmenwechsel, der mehr oder weniger eine Abkehr von der kirchlichen Dogmatik der göttlichen Vorsehung beinhaltete und zu einer neuen Beziehung jedes einzelnen zu seinem Schicksal führte. Bei der Untersuchung dieses Paradigmenwechsels lassen sich durchaus unterschiedliche Akzente setzen, die in dieser Arbeit schwerpunktmäßig anhand der Forschungen von Rüdiger Campe[3], Peter Schnyder[4] und Werner Frick[5] nachvollzogen werden sollen.

Die etymologischen Betrachtungen sollen um die englischsprachige Analyse des Begriffes probability von Ian Hacking[6] erweitert werden. Darauf aufbauend wird es darum gehen, zu untersuchen, inwieweit die mathematische Analyse zum Glücksspiel einen Einfluss auf den skizzierten Bewusstseinswandel hatte. Exemplarisch soll dies am Beispiel von Voltaires `Candide, oder der Optimimus`[7], Daniel Defoes `Robinson Crusoe`[8] und an Heinrich von Kleists `Erdbeben von Chili`[9] geschehen. Auch andere Texte dieser drei Autoren werden hinzugezogen um, bezogen auf die Thematik, deren Selbstverständnis zu erhellen.

1.1 Etymologische Erschließung des begrifflichen Umfeldes

Der wichtigste Begriff im Zusammenhang mit der probabilistischen Revolution ist der der Wahrheit selbst.

Es ist festzuhalten, dass Aussagen über die Wahrheit bez. Unwahrheit einer Sache Tatsachenfeststellungen sind, also Aussagen die sich auf die Realwelt beziehen und nicht auf Kunstwerke. Je nach weltanschaulicher Ausrichtung mag es auch transzendentale Wahrheiten geben. Ein Kunstwerk, und damit auch ein literarisches Werk basiert, auf ästhetischen Werten, nicht auf Tatsachenfeststellungen. Die Frage der Wahrheit stellt sich damit nicht. Dennoch ergeben sich für die literaturwissenschaftliche Forschung drei Aspekte der Wahrheit in einem literarischen Werk:

1. persönliche Wahrheit als Übereinstimmung mit der ernsthaften Überzeugung des Autors (bzw. mit der Meinung des Lesers)
2. äußere Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität des Lebens entsprechend der Nachahmungstheorie
3. innere Wahrheit des Werkes in sich, d.h. die Einheit, Einheitlichkeit und Integration der Bestandteile des Werkes zu einem großen, in sich geschlossenen Ganzen jenseits aller äußeren Wahrheit.[10]

Ein Begriff, der im Umfeld der Wahrheit angesiedelt ist, ist der der Wirklichkeit. In einer literaturwissenschaftlichen Arbeit kann und soll es nur um die dichterische Wirklichkeit gehen, die erst durch die Sprache der Dichtung geschaffen wird. Diese braucht nicht mit der äußeren Wirklichkeit der Natur oder der Geschichte übereinstimmen. Es ist hinreichend, wenn sie in sich stimmig ist. In das synonymische Umfeld von Wahrheit und Wirklichkeit gehört auch der Begriff der Realität.

Dieser Begriff ist sehr komplex, da sich diverse literarische Gattungen über ihr Verhältnis zur Realität definieren. Etymologisch lässt sich der Begriff auf das lateinische Wort realis zurückführen, der mit wirklich oder sachlich übersetzt wird. Spiegelt man dieses Adjektiv auf das Subjektiv res zurück offenbart sich die ganze Komplexität, die mit diesem Begriff verbunden ist, denn der Begriff res bedeutet nicht nur `eine Sache`, sondern auch:

I. 1. Besitz, Habe, Gut, Vermögen
2. metonymisch: Vorteil, Nutzen, Interesse occasionell:
Ursache, Grund
3. Speziell a. Geschäft, Unternehmen, Angelegenheit
b. Rechtshandel;
c. Tun, Beschäftigung
II. (allgemein) Ding, Sache, Gegenstand []
III. 1. Tat, Handlung
2. Geschehnis, Begebenheit, Ereignis []
IV. res (publica) Staat.[11]

Da es an dieser Stelle nur um eine etymologische bzw. lexikalische Verortung der Begriffe geht, kann und soll der komplexe philosophische Überbau, der sich um die Begriffe Wahrheit, Wirklichkeit und Realität rankt, hier nicht zur Darstellung kommen.

Im Rahmen der vorgegebenen Fragestellung ist es allerdings notwendig, den Begriff der Wahrscheinlichkeit genauer zu betrachten.

Paradoxerweise bietet nahezu jedes Lexikon eine andere Definition dieses Begriffes. Eine kleine Auswahl der Definitionsversuche mag verdeutlichen, wie schwierig es ist, die Wahrscheinlichkeit begrifflich präzise zu erfassen:

Die Wahrscheinlichkeit ist eine Einstufung von Aussagen und Urteilen nach dem Grad der Gewissheit (Sicherheit).[12]

Der Begriff der Wahrscheinlichkeit ist zentral für die Beschreibung von Phänomenen, die dem Zufall unterliegen.[13]

[Wahrscheinlichkeit ist ein] Maß zur Quantifizierung der Sicherheit bzw. Unsicherheit des Eintretens eines zukünftigen Ereignisses oder Zustandes.[14] Wahrscheinlichkeit ist ein Begriff zur klassifikatorischen, komparativen oder quantitativen Einstufung von Aussagen oder Urteilen nach dem Grad ihres Geltungsanspruchs zwischen Möglichkeit und Gewissheit; insbesondere in der Mathematik der Grad der Möglichkeit bzw. Voraussagbarkeit.[15] All diese „modernen“ Definitionen haben eines gemeinsam. Sie beinhalten bereits eine quantitative Komponente. Leitet man dem Begriff der Wahrscheinlichkeit jedoch von seinem lateinischen Ursprung ab, so setzt er sich aus den beiden Substantiven Veritas (Wahrheit) und Similitudo (Ähnlichkeit) zusammen. Demnach ist Wahrscheinlichkeit etwas, das der Wahrheit ähnlich ist. Dieser semantische Zusammenhang spiegelt sich jedoch bereits in der griechischen Antike wider und zwar in dem Begriff der hippokratischen Wahrscheinlichkeit bzw. dem der Stochastik. Emanuele Sgherri definiert diese wie folgt:

„Die hippokratische Wahrscheinlichkeit entspringt aus dem beruflichen Zwang zum therapeutischen Erfolg: Um die Eigentümlichkeit der Patienten zu erfassen, muss die hippokratische Medizin zwischen individueller Variation und allgemeiner Regel unterscheiden können. Sie verzichtet daher nicht auf die Leistungen der Generalisierungen und verfällt auch nicht auf eine fragmentierte Kasuistik. Sie bildet hingegen eine anwendungsorientierte Theorie, die die Fehlbarkeit nicht ablehnt, sondern durch Annäherungsstrategien (Stochastik) minimiert.“[16]

Diese hier rein sprachlich thematisierte Idee einer Approximationsstrategie wurde in den Jahren 1650-1850 durch umfangreiche quantitative Verfahren zu einem mathematischen Kalkül weiterentwickelt. Paradoxerweise findet sich die Strategie, die Wahrheit durch Annäherung zu erschließen, nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene, sondern auch auf der poetischen. Der Schlüsselbegriff dazu heißt allerdings nicht Stochastik sondern Mimesis.

Zerlegt man hingegen das deutsche Wort, so gelangt man zu zwei Wurzeln der Wahrscheinlichkeit, nämlich Wahrheit und Schein. Diese Ableitung suggeriert weniger eine Ähnlichkeit, sondern eher, dass die Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen Wahrheit und Schein angesiedelt ist. Aber auch diese Ebene war bereits in der Antike ein bekanntes Phänomen, welche allerdings mit einer negativen Bedeutung behaftet war, die man als Sophismus bezeichnet. In Eislers Wörterbuch der Philosophie heißt es dazu:

„Die Sophisten begründen eine Dialektik im schlechten Sinne, die darauf ausgeht, [] durch Scheinbeweise, Sophismen [] den Schein der Wahrheit zu erzeugen.[17]

Diese Definition wiederum verweist in die Rhetorik. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man, wenn man das englische Wort probability hinzuzieht und in seiner historischen Entwicklung betrachtet.

Die lateinische Wurzel dieses Begriffes ist probabilis. Dieses Adverb wird übersetzt mit:

„1. lobenswert, gut tauglich

2. annehmbar, wahrscheinlich, glaubhaft“[18]

Ian Hacking weist darauf hin, dass mit dem englischen Wort probability ein weiterer Sinnzusammenhang sichtbar wird und konstatiert:

“Undoubtedly the Latin word probabilis did mean, among other things,

something like `worthy of approbation`”[19] und führt weiter aus:

“Probability chiefly meant the approvability of an opinion.”[20] Diese aus dem lateinischen abgeleitete semantische Ebene verweist auf eine Zeit, als der Begriff probability noch nicht mit quantitativen Konnotationen behaftet war, sondern in den Bereich der Rhetorik gehörte, also Bestandteil der opinio war und nicht der Sphäre der scientia zugeordnet wurde.

Um ein wenig Ordnung in die oszilliernde Vielfalt der Deutungsebenen zu bringen, soll der rhetorische und der poetische Aspekt der Wahrscheinlichkeit gesondert unter dem Gliederungspunkt <2.1.2> in Zusammenhang mit der Philosophie von Aristoteles diskutiert werden.

Ein weiterer wichtiger Begriff, der im Zusammenhang mit der probabilistischen Revolution lexikalisch erschlossen werden muss, ist der der Kontingenz. Auch hier bieten diverse Lexika eine beeindruckende Vielfalt an Definitionen an. Eine kleine Auswahl soll dies verdeutlichen:

Kontingenz: (spätlateinisch: Möglichkeit), in der Philosophie und Soziologie, hier vor allem in der Systemtheorie: [] Bezeichnung für das Zufällige und Mögliche, das, so wie es ist, auch anders sein kann, also nicht wesensnotwendig ist.[21]

Kontingenz, (von lat. Contingere: sich ereignen), in der Philosophie Bezeichnung des Zufälligen als das, was weder den Gesetzen der Notwendigkeit unterliegt noch unmöglich ist. Die Untersuchung zwischen notwendigem und kontingentem stammt von Aristoteles.[22]

Das Wort Kontingenz mit dem Adjektiv kontingent (grich (endec: τὰ ἐνδεχόμεν (endechómena), „etwas, was möglich ist“; mlat. Contingentia, „Möglichkeit, Zufall“) ist ein philosophischer Terminus, der u.a. in der Modallogik und Ontologie gebräuchlich ist.[23]

In der Formalsprache der Modallogik ist es erlaubt, formal über Möglichkeit ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) und Notwendigkeit ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) zu sprechen.

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]drückt aus, dass[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] möglicherweise wahr ist.

A heißt demzufolge kontingent, wenn sowohl [ A ] als auch [ nicht A ] möglich ist

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten][24]

Kontingenz kann damit als eine besonders offene Form der Möglichkeit

angesehen werden. Zu unterscheiden von der Kontingenz ist der Zufall. Auch hier einige Definitionen, wie sie von verschiedenen Lexika angeboten werden:

Als Zufall bezeichnet man das Eintreten unvorhergesehener und unbeabsichtigter Ereignisse, das Eintreten von Ereignissen für die keine Ursache und keine Gesetzmäßigkeit erkennbar sind.[25] Von Zufall spricht man dann, wenn für ein einzelnes Ereignis oder das Zusammentreffen von mehreren Ereignissen keine kausale Erklärung gegeben werden kann. Als kausale Erklärungen für Ereignisse kommen in erster Linie allgemeine Gesetzmäßigkeiten oder Absichten handelnder Personen in Frage.[26]

Zufall (lat. Casus), im gewöhnlichen Leben alles, was uns nicht als notwendig oder beabsichtigt erscheint, oder für dessen Eintreten wir einen Grund nicht nachweisen können, oder was ebenso gut in anderer Weise und zu anderer Zeit hätte geschehen können.[27]

Oder etwas präziser:

Casus (von cadere) heißt ursprünglich der Fall im Raume [] dann das Sinken, Stürzen, aber auch der Fall im Sinne von Ereignis, Vorfall, also Zufall. []. Das Präfix zu, das doch nicht zufällig sein kann, mag in mancher Verwendung an occasio anklingen [], ist aber doch silbengemäße Lehnübersetzung von accidens. Dieses hat nun schon den ganzen Begriffsinhalt, der uns bei unserem Zufallsbegriff beschäftigen wird: der Zufall im Gegensatz zur Kausalität , per accidens, ex accidenti, der Zufall als das logisch Nebensächliche[28]

1.2 Leitgedanken, Thesen und Meinungen zur probabilistischen Revolution und seinen Auswirkungen auf die Literatur

Die zentrale These lautet:

Der Roman ist diejenige literarische Gattung, die [] zum Medium

der Kontingenzreflektion schlechthin geworden ist.“[29]

Diese These von Peter Schnyder wirft eine Reihe weiterer Fragen auf. Denn vorausgesetzt man akzeptiert dieses Statement, zwingt sich die Frage auf, warum dem so ist und wie es kommt, dass der Roman seit dem 18. Jahrhundert zum Medium der Kontingenzreflektion geworden ist und welche theoretischen und ästhetischen Konsequenzen das hat.

Rüdiger Campe befasst sich ebenfalls mit diesem Aspekt der probabilistischen Revolution. Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass sich die Dichter und Philosophen bereits seit der Antike mit dem Thema beschäftigten und stellt die Behauptung auf:

„Die Wahrscheinlichkeit der mathematischen Probabilität siedelte gerade auf dem Gelände der alten Wahrscheinlichkeit der Dichter, Redner und Logiker.“[30]

Dieser Gedanke wird sowohl bei der Untersuchung der Schicksalssemantik der Antike als auch bei der Betrachtung der Sprengung dieser Schicksalssemantik durch die Mathematiker wieder auftauchen. Eine weitere These von Rüdiger Campe lautet: „[] die Dichter beginnen [] in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, die alte Terminologie der Wirklichkeit so zu wenden, dass Wahrscheinlichkeit zum Schein der Wahrheit wurde.“[31]

Ähnlich sieht das Elena Esposito[32], die in diesem Zusammenhang von einer Realitätsverdoppelung spricht. Dieser Gedanke soll unter dem Gliederungspunkt <4.1> wieder aufgegriffen werden.

Auch die weitergehende und umfassendere Hypothese von Werner Frick, der sich insbesondere mit der veränderten Schicksalssemantik veränderten Schicksalssemantik und ihren Auswirkungen auf den Roman auseinandersetzt, soll unter dem Gliederungspunkten <2> und <4.1.> thematisiert werden. Er formuliert seine zentrale Aussage wie folgt:

„Es ist unsere am historischen Material zu konkretisierende und zu überprüfende These, dass gerade der offenste, am wenigsten von poetologischen Reglementierungen und kanonisierten Traditionsvorgaben eingeengte (und darum in der zeitgenössischen Gattungshierachie auch nur als inferior behandelte) literarische Genre, dass eben der Roman in besonderer Weise geeignet war, in seiner Form und in seinen Gehalten auf die epochalen Umbrüche zu reagieren, die, um und nach 1700, zugleich mit der politisch - sozialen Struktur der Gesellschaft auch ihre Leitsemantik und die Grundkategorien der Weltauslegung tief greifend veränderten.“[33]

Einen etwas anders gearteten Akzent setzt Peter Schnyder. Er fokussiert die probabilistische Revolution auf ihren eigentlichen Kern, die Glücksspielanalyse, und leitet daraus folgende Hypothese ab:

„Es wird also darum gehen, die Zusammenhänge zwischen der Kulturgeschichte des Glücksspiels, der metaphorischen Konzeptualisierung des Lebens als eines solchen Spiels und den narratologischen Implikationen dieser glücksspielförmigen Zurichtung des Lebens näher zu untersuchen.“[34]

Historisch belegt ist, dass das Glücksspiel von den kirchlichen Scholastikern als auch von den weltlichen Ordnungsmächten im Mittelalter scharf sanktioniert wurde. Deshalb soll diese Hypothese besonders im Zusammenhang mit den Gliederungspunkten <2.2> und <2.3> diskutiert werden.

Die hier skizzierten Fragen der veränderten Kontingenzreflektion, des gewandelten Verständnisses von Wahrscheinlichkeit und einer im Wandel begriffenen Schicksalssemantik sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht nur theoretisch, sondern am Beispiel der in der Überschrift aufgeführten Autoren Voltaire, Defoe und Kleist überprüft und thematisiert werden. Da sowohl Voltaire als auch Heinrich von Kleist die zentralen Begrifflichkeiten Kontingenz, Providenz und Wahrscheinlichkeit in den zu besprechenden Erzählungen in Zusammenhang mit dem Erdbeben von Lisabon thematisieren, ist es erforderlich, die Theodizeeproblematik in den Zusammenhang der veränderten Schicksalssemantik mit einzubinden. Dies wird in Kapitel 2.4. geschehen.

2 Untersuchungen zur Schicksalssemantik

2.1 Die Schicksalssemantik der Antike im Rahmen einer metaphysischen Ordnung

Die metaphysische Ordnung der Antike zeichnete sich durch eine polytheistische Welt aus, die dem irdischen Dasein gegenüberstand. Den verschiedenen Gottheiten oder Halbgöttern (Hermes, Aphrodite, Dionysos usw.) wurden bestimmte Eigenschaften oder Funktionen zugeordnet. Der Mythologie folgend wirkten diese Götter und Halbgötter oft in verwandelten Erscheinungen durch Handlungen und manchmal auch Zornesausbrüche auf das irdische Leben der Menschen ein. Auf der anderen Seite entwickelte sich mit Platon, Aristoteles und Sokrates eine Logik des Daseins, die sich der Sagen- und Mythenwelt entzog. Doch bevor diese großen Philosophen ihre Wirkungsmacht entfalten konnten, bestimmte eine andere Institution über Jahrhunderte das metaphysische Leitbild des griechischen Kulturraumes, nämlich das Orakel von Delphi.

2.1.1 Das Orakel von Delphi

Das Orakel von Delphi war eine griechische Pilger - und Weissagungsstätte des antiken Griechenlands und befand sich am Hang des Parnass in der Nähe der Stadt Delphi. Es war die wichtigste Kultstätte der hellenistischen Welt. Sie galt lange Zeit sogar als Mittelpunkt der Welt. Die Wurzeln dieser Weissagungsstätte, die von Priestern geleitet wurde, sind auf das Engste verbunden mit der Welt der Götter und Halbgötter, die die Vorstellungswelt der griechischen Antike bestimmten. Der Sage nach vereinigte sich die Erdmutter Gaia mit dem Schlamm, der nach dem Ende des goldenen Zeitalters übrig blieb und gebar die geflügelte Schlange Python, welcher hellseherischen Fähigkeiten nachgesagt wurden. Diese Schlange lebte an dem Ort, der später Delphi genannt wurde, bis Apollon Python eines Tages in einem Racheakt tötete. Durch das vergossene Blut übertrugen sich deren hellseherische Fähigkeiten auf den Ort. So wurde Delphi der Kontrolle Gaias entrissen und befand sich fortan unter dem Schutze Apollons.

Unabhängig von dem Gründungsmythos übten die Priester des Orakels mit ihren Weissagungen über mehrere Jahrhunderte einen erheblichen Einfluss auf Politik und Gesellschaft aus. Allerdings wurden nur die begüterten Klienten individuell beraten und bekamen ausführliche, oft als Rätsel oder als Allegorie formulierte Antworten. Die Ärmeren mussten sich mit einem Ja-Nein-Orakel begnügen. Zu den bekanntesten Orakeln gehört das Ödipus-Orakel, welches Eingang gefunden hat in die gleichnamige Tragödie von Sophokles. Berühmt wurden auch die Befragungen des Orakels zu den Perserkriegen (Themistokles-Orakel) und zu den Kriegen mit den Römern (Pyrrhusorakel). Der Niedergang der Weissagungen von Delphi wurde eingeleitet durch den Aristoteles-Schüler Alexander der Große. Der Legende nach soll Alexander das Orakel nach dem Ausgang seines Perserfeldzuges befragt haben. Als er mit der Antwort vertröstet wurde, dass das Orakel nur zu den von den Göttern vorgesehenen Zeiten stattfinden würde, soll er eine Priesterin mit Gewalt an den Haaren aus dem Tempel gezerrt haben, woraufhin diese mit einem schmerzhaften Aufschrei verkündet haben soll: „ Du bist unbesiegbar.“ Darauf wiederum reagierte Alexander mit den Worten: „Jetzt habe ich meine Antwort.“ Diese wenigen Beispiele mögen verdeutlichen, wie sehr Sagenwelt und Realwelt in der Antike miteinander verwoben waren, bevor die großen Philosophen in Erscheinung traten.

2.1.2 Wesensbestimmung und Eingrenzung der Begriffe Zufall Wahrscheinlichkeit und Zukunft bei Aristoteles, Platon und Cicero

2.1.2.1 Die Rolle des Zufalls in der aristotelischen Philosophie

Für Aristoteles war es unbezweifelbar, „dass Schicksalsfügung und Zufall wirklich etwas sind.“[35]

Diese Aussage ist nicht selbstverständlich. Denn betrachtet man die Dramen und Epen der Antike, so wird deutlich, dass der Zufall als ein mythisches, übernatürliches Phänomen galt, welcher in der Welt der Götter oder Halbgötter angesiedelt war und kein kalkulierbarer Bestandteil menschlichen Handelns sein konnte. Das Homer zugeschriebene Epos `Odyssee ` verkörpert geradezu diese mystische Welt von Geschehnissen, die durch übermächtige Figuren und Halbgötter ausgelöst und bestimmt wurden.

Zu Beginn seiner Reflexionen zur „Schicksalsfügung“ (tyche als Zufall im Bereich des menschlichen Handlungen) und zum Zufall (automaton als Zufall im Bereich der Natur)[36] kritisiert der griechische Philosoph diejenigen theoretischen Positionen, die seiner Meinung nach unzureichend sind, um ein Phänomen wie den Zufall zu verstehen:

„Nicht die Leugnung des Zufalls oder die unterlassene Behandlung des Phänomens trotz Anerkennung seiner Existenz , auch nicht die Überhöhung als kosmologisches Urprinzip oder als etwas göttliches und Übernatürliches lässt Aristoteles als wirkliche Erkenntnisleistung der Vernunft gelten.“[37]

„Nicht die Leugnung des Zufalls oder die unterlassene Behandlung des Phänomens trotz Anerkennung seiner Existenz , auch nicht die Überhöhung als kosmologisches Urprinzip oder als etwas göttliches und Übernatürliches lässt Aristoteles als wirkliche Erkenntnisleistung der Vernunft gelten.“[37]

Stattdessen ordnet er das Problem dem Bereich der Ursachen zu und verortet Zufälle in Ordnungen, in denen diese ontisch und der Erfahrung nach stattfinden, nämlich „dort, wo etwas auch anders sein kann.“[38] Trotzdem gibt es nach Aristoteles keine Wissenschaft vom Zufall, da dieser sich durch seine Unbeständigkeit, Unbestimmtheit und Nebensächlichkeit auszeichnet.

Mit diesen wenigen Sätzen hat der griechische Philosoph zwei wichtige Erkenntnisleistungen erbracht. Zum einen hat er mit der Unterscheidung von „tyche“ und „automaton“ das Universum möglicher Zufälle sinnvoll in die Bereiche aufgeteilt, die dem menschlichen Handeln zugeordnet werden können und solchen, die er als Zufälle im Bereich der Natur definiert. Andererseits hat er mit der schlichten Aussage, dass `Schicksalsfügung und Zufall wirklich etwas sind`, den Zufall entmythologisiert.

2.1.2.2 Die Rolle der Wahrscheinlichkeit in der Rhetorik von Aristoteles und von Cicero

Die Rhetorik von Aristoteles als auch von Platon ist eine Kunst, die in Abgrenzung zur damals gängigen Überredungs- und Redekunst der Sophisten entwickelt wurde. In seinem ersten Buch zur Rhetorik konstatiert Aristoteles, „dass es nicht ihre Aufgabe ist, zu überreden, sondern zu erkennen, was, wie in allen übrigen Wissenschaften, jeder Sache an Überzeugendem zugrunde liegt.[39] Positiv definiert er sein Verständnis von Rhetorik dementsprechend wie folgt: „Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.“[40]

Der wichtigste Begriff, der im weiteren Verlauf zur Geltung kommt, ist das `Wahrscheinliche` (eikós) oder `Glaubwürdige` (pithanón). Wörtlich heißt es: "Das Wahrscheinliche zu treffen heißt in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen"[41], wobei dieser Aussage innewohnt, dass es nicht immer gelingt, diese auch tatsächlich zu erreichen. Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, die richtigen Argumente zu finden. Dieser Aspekt wird in dem Werk von Aristoteles sowohl in der Topik als auch in der Rhetorik thematisiert. Er definiert das Auffinden der richtigen Argumente über den Begriff der Enthymeme und konstatiert, dass die Enthymeme Grundlage der Beweisführung seien. Charakteristisch wiederum für das Enthymem sei, dass die Prämissen dieser Beweisführung aus Sätzen bestehen, die allgemein anerkannte Meinungen (endoxa) sind, d.h. solche, die von allen oder den meisten Menschen für wahr gehalten werden. Präzisierend heißt es: „Anerkannte Meinungen sind dagegen diejenigen, die entweder von allen oder den meisten oder den Weisen und Anerkanntesten für richtig gehalten werden.“[42] Diese Aussage ist in gewisser Weise ambivalent, denn einerseits wird ein Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben, anderseits werden aber Aussagen zugelassen, die keiner weiteren Untersuchung bedürfen, weil sie allgemein anerkannt sind. Rüdiger Campe betont, dass es für die Verständigung und Verlässlichkeit in Geschäften des Alltags, der politischen Auseinandersetzung und der Gerichtsrede nicht erforderlich war, die Wahrheit zu treffen. „Aber die Wahrscheinlichkeit sollte dafür den Fonds eines Verständnisses und einer Verlässlichkeit mit sich bringen, der sich nicht erst den Anstrengungen verdankte, Kriterien des wahren Wissens zu formulieren und ihnen zu entsprechen.“[43] In seinen weiteren Ausführungen modifiziert Rüdiger Campe die aristotelischen Begrifflichkeiten und stellt die Wahrscheinlichkeit nicht in Beziehung zur Wahrheit, sondern zur Wirklichkeit. Wörtlich heißt es bei ihm: „Die Wahrscheinlichkeit ist eine Figur – eine technische Geste, die von Wirklichkeit Gebrauch macht.“[44] Mit dieser Umstrukturierung der Begrifflichkeiten wird es Rüdiger Campe möglich, seine These bezogen auf den Wandel des Verständnisses von Wahrscheinlichkeit wie folgt zu formulieren: „ Und die Dichter beginnen [] - in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts-, die alte Terminologie der Wirklichkeit so zu wenden, daß Wahrscheinlichkeit zum Schein der Wahrheit wird.“[45] Mit dieser Feststellung behauptet er allerdings nicht mehr und nicht weniger, als dass die Dichter des 18. Jahrhunderts dort angekommen sind, wo sie bereits vor Aristoteles waren, nämlich in der Welt der Sophisten, also derer, die durch Überredungskunst nur den Schein der Wahrheit zu erzeugen vermögen. Problematischer ist jedoch, dass Campe hier den Begriff der Wahrscheinlichkeit, wie er in der Rhetorik von Aristoteles formuliert wurde, um Politikern und vor allem Juristen ein Rüstzeug zu vermitteln, vermengt mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit, den dieser als Maxime für die Dichtkunst formulierte. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit, wie ihn Aristoteles für den Bereich der Dichtung operationalisierte, muss deshalb gesondert betrachtet werden. Cicero betrachtete die Wahrscheinlichkeit weniger philosophisch als Aristoteles. Für ihn ging es vor allem um pragmatische Aspekte der rhetorischen Beweisführung, wie sie insbesondere in einem Gerichtsverfahren praktiziert wurden. Exemplarisch vorgeführt hat er dieses Verfahren beispielsweise in seiner Anwaltsrede `Pro Quinctio`.

Aus dieser Rede lässt sich ableiten, wie Cicero die in seinem Werk `De oratore`[46] niedergelegten Gedanken zur Rhetorik umsetzte. Im Aufbau seiner Verteidigungsrede unterschied er pedantisch notwendige und wahrscheinliche Argumente. Als notwendige Argumente bezeichnete er Zeugnisse und Zeugenaussagen. Diese lässt der Redner im Rahmen der arguemtatio in seine Verteidigungs- oder Anklagerede einfließen. Doch mindestens genauso wichtig sind die in der inventio zu findenden Beweismittel, die Topoi, die nicht den materiellen Beweismitteln zuzuordnen sind, also jene, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit nahe legen, dass die gemachten Darlegungen der Wahrheit oder Wirklichkeit entsprechen. Cicero unterschied in diesem Zusammenhang drei Arten der Wahrscheinlichkeit:

1. das, was in der Regel geschieht (id quod fere solet fieri)
2. das, was sich im Bewusstsein der Menschen befindet
(id quod in opinione positum est)
3. das, was eine Ähnlichkeit mit den vorliegenden Ereignissen hat und allgemein für wahr gehalten wird (id quod habet ad haec quandum similitudem)[47]

Die Wahrscheinlichkeit ist also im Gegensatz zu Aristoteles nicht ausschließlich an anerkannte Meinungen geknüpft, also dem zugeordnet, was man als `opinio` bezeichnet, sondern auch daran ausgerichtet, womit man im Regelfall rechnen kann und an das, was bei ähnlich gelagerten Fällen aus der Erfahrung heraus zu erwarten ist. Die `probilitas` ist bei Cicero daher ganz eindeutig ein `terminus technicus`, um als Jurist optimal seine `argumentatio` aufzubauen. Rüdiger Campe glaubt an dieser Stelle, wie später aus seiner Darlegungen zur Logik von Port Royal deutlich wird, eine entscheidende Schwachstelle der römischen Rhetorik ausgemacht zu haben. Er konstatiert, dass Cicero ein breit gefächertes Instrumentarium zum Auffinden wahrscheinlicher Argumente, die `ars inveniendi`, entwickelt habe, dass aber das Werkzeug, um diese Argumente zu beurteilen, die `ars iudicandi` dem gegenüber deutlich unterentwickelt sei. Wörtlich heißt es bei ihm: „Wie immer man sich eine solche Urteilslehre des Wahrscheinlichen denkt, in der Topic Ciceros bleibt sie aus.“[48] In dieser Absolutheit kann man diese Aussage sicherlich nicht stehen lassen. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Wahrscheinlichkeit der griechischen und römischen Rhetoriker in ein Narrativ eingebunden bleibt. Eine systematische Verknüpfung juristischer Argumente mit der Aussagenlogik oder gar einem quantitativen Kalkül war zu dieser Zeit noch nicht geleistet worden.

2.1.2.3 Die Rolle der Wahrscheinlichkeit in der Poetik von Aristoteles und Platon.

Der erste der der drei großen griechischen Philosophen, der sich mit der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in der Poetik auseinandersetzte, war Platon. Sein Verhältnis zur Dichtkunst ist recht vielschichtig und zum Teil auch gegensätzlich. So lässt er beispielsweise Sokrates in einem fiktiven Dialog mit Ion sagen:

„Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn so lange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen.“[49]

Diese dionysische Freude an der Dichtung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, denn auf der anderen Seite steht sein weit bekannteres Zitat:

„[Hesiod, Homer und alle anderen Dichter] haben doch für die Menschen unwahre Erzählungen zusammengesetzt und vorgetragen und tragen sie auch noch vor.“[50] oder etwas volkstümlicher übersetzt: „Alle Dichter lügen.“

Um ein Verständnis für Platons Gedankengänge zu bekommen, muss man sowohl seine Ideenlehre als auch sein Werk zum Idealstaat die `politeia` hinzu- ziehen. In dieser Ideenlehre werden die Dinge der konkreten, materiellen Welt wegen ihrer Vergänglichkeit nur als Abbilder der ewigen, unveränderlichen Ideen oder Urbilder verstanden, welche schon vor der Geburt eines Menschen vorhanden sind. Gemeint sind damit so abstrakte Dinge wie die Idee des Schönen, die Idee der Gerechtigkeit oder die der Tugend. Für Platon waren die Ideen zeitlose, metaphysische Realien, die aus sich selbst heraus Evidenz besaßen, unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung und empirischer Erfahrung. Für den Künstler bedeutete dies, dass er nur reale Dinge nachahmen könne. Dessen Schöpfungen betrachtete Platon als bloße Nachbildungen. Sie stehen also in einem großen Abstand zu den Ideen.

Als Verbindungsglied zwischen den Ideen und den Schöpfungen der Künstler stand für Platon die Mimesis. Eine Erzählung, ein Kunstwerk der Malerei, der Bildhauerei oder der Musik war für Platon demnach kein genialer Schöpfungsakt, kein den Göttern gleicher promethischer Kraftakt, sondern eine Sache der Nachahmung, wobei Nachahmung sich im Sinne der Mimesis auf konkrete Handlungen, auf das Nachahmen oder Nacheifern von Vorbildern oder auf die Nachahmung von direkter Rede bezieht. Platon deutete das Hervorbringen von Kunstwerken als eine Ähnlichkeitsbeziehung. In den Bildern, Erzählungen oder Gegenständen von Kunstschaffenden wird Nichtseiendes mit Seiendem und Imaginäres mit Realem verflochten. Das Ergebnis ist die Erzeugung eines Scheins.

Im Rahmen der in dieser Arbeit aufgeworfenen Fragen ist es von Bedeutung, dass der Wahrheitsbegriff bei Platon von transzendentaler Natur ist und sich auf metaphysische Realien bezieht. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit taucht hingegen nicht explizit als `terminus technicus` auf, um eine Beziehung herzustellen zwischen der absoluten Wahrheit und dem von einem Künstler zu erschaffenen Schein.

Die Poetik des Aristoteles ist als eine Reaktion auf Platons Verbannung der Dichtung aus dem Idealstaat zu verstehen. Aristoteles vertrat die These, dass Nachahmung ein angeborenes Grundbedürfnis des Menschen sei. Für ihn war mit der Mimesis kein grundsätzliches Wahrheitsproblem verbunden, weil er die platonische Ideenlehre nicht anerkannte. Im siebten und achten Kapitel seiner Poetik behandelte Aristoteles die Konstruktion der Fabel in Kunstwerken der Dichtung und speziell in der Tragödie. Die Fabel, so führt er aus, soll ein Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende sein. Weiterhin fordert er, dass die Fabel Nachahmung einer in sich schlüssigen und geschlossenen Handlung sein soll. Er zieht daraus den Schluss, „dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anankaion) Mögliche.[51] Während es in der Rhetorik von Aristoteles um Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit ging und um das Ziel, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen, werden in seiner `Poetik` die Begriffe Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit eng geführt. Diese beiden Begriffe beziehen sich auf das Mögliche in Abgrenzung zu dem, was tatsächlich geschehen ist. Es soll also weder darum gehen, sich approximativ der Wahrheit zu nähern noch eine vergangene Wirklichkeit abzubilden. Der Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang heißt Mimesis. Es soll etwas nachgeahmt werden, d.h. es geht um Handlungen und nicht um das Erreichen von etwas Absolutem, also der Wahrheit selbst. Aristoteles definiert das folgendermaßen:

„Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse.“[52]

Er präzisiert weiter, dass es in der Tragödie nicht um die Nachahmung von Menschen, sondern explizit um die Nachahmung von Handlung und von Lebenswirklichkeit geht. Wahrscheinlichkeit bezieht sich also in der Poetik auf das Mögliche und das Mögliche wiederum auf die Wirklichkeit. Was Aristoteles mit diesen Begriffen meint, definiert er in Abgrenzung zu den Historikern. Im Kapitel Neun der Poetik heißt es:

„Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass sich der eine in Verse und der andere in Prosa miteilt, [] sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte.“[53] Aristoteles präzisiert diese Aussage in der Weise, dass der Dichter „das Allgemeine“, also ideale Handlungen darstelle, während der Geschichtsschreiber „das Besondere“ zur Geltung bringen würde. Da der Dichter aber im Gegensatz zum Historiker seinen Stoff nach den genannten Kriterien wählen, disponieren und gestalten muss und sich nicht auf das wirklich Geschehene beschränken könne, ist seine Tätigkeit die „philosophischere und ernsthaftere“.

In einem gewissen Gegensatz dazu steht die Aussage:

„Bei der Tragödie halten sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben. Der Grund ist, dass das Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, dass es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, dass es möglich ist. – es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre.“[54] Soll sich der Dichter also doch über historische Fakten legitimieren? Verfolgt man die Textstelle weiter, so wird offenkundig, dass Aristoteles die gängige Praxis der antiken Dichter, mythologische, also historische Stoffe in ihren Dramen zu verwenden, als Glaubwürdigkeit stiftend anerkennt. Er bleibt aber bei seiner Feststellung:

„Er [der Tragödienschreiber] ist also, auch wenn er wirklich Geschehenes dichterisch behandelt, um nichts weniger Dichter.“[55]

Heinrich von Kleist reflektiert diesen Aspekt der poetischen Wahrscheinlichkeit, der sich sowohl auf das Mögliche als auch auf die Wirklichkeit bezieht, in seinen `Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten` und spiegelt das Paradigma auf Begebenheiten seines eigenen historischen Umfeldes. In dem Zusammenhang dieses Kapitels geht es aber zunächst um das antike Wahrscheinlichkeitsverständnis. Es darf deshalb nicht unerwähnt bleiben, dass Aristoteles mit seinen Ansichten zur Wahrscheinlichkeit in Dichtung und in der Rhetorik keineswegs unumstritten war.

2.1.2.4 Der Begriff der Zukunft in der Philosophie von Aristoteles

Aristoteles macht Aussagen über die Zukunft in seinem Buch „Logik der Aussagen“ (Peri hermeneias). Wörtlich heißt es dort:

[...]


[1] Schnyder, Peter: Alea, Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650 -1850, Göttingen 2009, S. 111.

[2] Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit, Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 9.

[3] Ebd.

[4] Schnyder, Peter: Alea. Göttingen 2009.

[5] Frick, Werner: Providenz und Kontingenz, Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Band 1 und Band 2, Tübingen 1988.

[6] Hacking, Ian: The Emergence of Probability, Cambridge 2006.

[7] Voltaire: Candide oder Der Optimismus, Stuttgart 2007.

[8] Defoe, Daniel: Robinson Crusoe, London 2010.

[9] Kleist, Heinrich von: Das Erdbeben von Chili, in: Sembdner: Heinrich von Kleist, Sämtliche

Werke und Briefe, München 2008.

[10] Von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 2001. S. 895.

[11] Stowasser, J.M., Petschenig,M, Skutsch, F.: Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München, 1994, S. 440-441.

[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrscheinlichkeit , (Stand: 30.05.2013).

[13] http://www.mathe-online.at/mathint/lexikon/w.html (Stand: 30.05.2013).

[14] http://www.gbt.ch/Lexikon/W/Wahrscheinlichkeit.html (Stand: 30.05.2013).

[15] http://www.enzyklo.de/lokal/42134 (Stand: 30.05.2013).

[16] http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_

S. 2 (Stand: 07.08.2013).

[17] http://www.zeno.org/Eisler-1904/A/Dialektik (Stand: 30.5.2013).

[18] Stowasser: Schulwörterbuch, S. 404.

[19] Hacking: Probability, S. 18.

[20] Ebd.: S. 18.

[21] http://www.enzyklo.de/lokal/40014 (Stand: 01.07.2013).

[22] http://www.enzyklo.de/lokal/40014 (Stand: 01.07.2013).

[23] http://de.wikipedia.org/wiki/Kontingenz_(Philosophie) (Stand: 01.07.2013).

[24] http://de.wikipedia.org/wiki/Kontingenz_(Philosophie ) (Stand: 01.07.2013).

[25] http://www.phillex.de/zufall.htm (Stand: 01.07.2013).

[26] http://de.wikipedia.org/wiki/Zufall (Stand: 01.07.2013).

[27] http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=

(Stand: 01.07.2013).

[28] http://www.zeno.org/Mauthner-1923/A/Zufall (Stand: 01.07.2013).

[29] Schnyder: Alea, 2009, S. 111.

[30] Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S.9.

[31] Ebd.: S. 9.

[32] Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität; Frankfurt am Main, 2007, S.7.

[33] Frick : Providenz und Kontingenz, Band 1, S 1.

[34] Schnyder: Alea, S. 9.

[35] Aristoteles, Physik, Buch 2,Kap 4 196b I5; zur Differenz zwischen tyche

und automaton . in: Aristoteles, Philosophische Schriften in 6 Bänden,

Hamburg 1995.

[36] Aristoteles: Physik, Buch 6, Kap 2, 1026b 10, auch 1027a 15-25.

[37] Ebd.

[38] Ebd.

[39] Aristotoeles: Rhetorik, übersetzt von Gernot Krapinger, Buch 1, Stuttgart 2003, S. 11.

[40] Ebd.: Buch 2, S. 11.

[41] Ebd.: Buch 1, S. 10.

[42] Aristoteles: Topik, übersetzt von Tim Wagner und Christof Rapp, Buch 1, Stuttgart 2004, S. 45.

[43] Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 7.

[44] Ebd.: S. 7.

[45] Ebd.: S. 9.

[46] Cicero, De oratore - Über den Redner. lat./dt., hg. v. Harald Merklin , Stuttgart 1997.

[47] Janka, Markus, Luther, Andreas, Schmitzer, Ulrich: Die Wahrscheinlichkeit in Ciceros Rede Pro Quinctio, in: Zeitschrift für Kultur, Antike und Humanistische Bildung Band 119 (2012) Heft 6, S. 523.

[48] Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 114.

[49] Platon: Ion Griech.-Dtsch. Übers. u. hrsg. v. Hellmut Flashar, München 1963,: 534b.

[50] Platon: Der Staat, (Politea), übertr. u. hrsg. v. Karl Vretska, Ditzingen 1982.

[51] Aristoteles: Poetik übers. und hg. Von Manfred Fuhrmann:, Stuttgart, 1994, S.29.

[52] Ebd.: S 19.

[53] Ebd.: S.29.

[54] Aristoteles: Poetik S. 31.

[55] Ebd.: S. 31.

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Die probabilistische Revolution in der Literatur
Untertitel
Untersuchungen zu Defoe, Voltaire und Kleist
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
2,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
92
Katalognummer
V265765
ISBN (eBook)
9783656553908
ISBN (Buch)
9783656554059
Dateigröße
800 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
revolution, literatur, untersuchungen, defoe, voltaire, kleist
Arbeit zitieren
Bernhard Kehler (Autor:in), 2013, Die probabilistische Revolution in der Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265765

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