In seiner Theorie des Romans bezeichnet Georg Lukács die „Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst“ als essentielles, die Gattung des Romans bestimmendes Merkmal. Demzufolge stehe im Zentrum der Handlung der „Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis“, den der Protagonist beschreitet. Zwar ist die Kritik, die Lukács für diese Definition über Jahrzehnte erfuhr, nicht von der Hand zu weisen, jedoch erscheint sie insbesondere dem modernen Roman wie auf den Leib geschneidert, da sie den Protagonisten von seiner statischen Rolle des Handelnden befreit und ihn viel mehr als Träger eines individuellen inneren Prozess begreift.
Eben diese Dissonanz zwischen dem modernen, nach Selbsterkenntnis strebenden Protagonisten und der „sinnlosen Wirklichkeit“ konstituiert den Ausgangspunkt dieser Arbeit: Anhand zweier bekannter Protagonisten der Weltliteratur, nämlich Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge und Marcel Prousts Ich-Erzähler der Recherche, den wir im weiteren Verlauf der Arbeit Marcel nennen werden , wollen wir diesen existentiellen Konflikt zunächst in seinem Ursprung und seinen Auswirkungen aufarbeiten und ergründen.
Im Fokus dieser Arbeit wird jedoch die von Lukács beschriebene „Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst“ stehen, d.h. das Vorgehen der Protagonisten gegen den Verlust ihrer Identität in einer zunehmend entfremdeten Welt. Hierbei soll insbesondere die Erinnerung als Schlüsselelement zur Rekonstitution des Ichs beleuchtet werden, da sie trotz verschiedener Funktionsweisen die beiden Protagonisten miteinander verbindet und somit neben dem Identitätsverlust eine weitere Parallele der untersuchten Romane darstellt. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich auch die Frage, ob das Vertrauen in die Kraft der zeitlosen Erinnerung eine erfolgreiche Methode zur Gegenwartsbewältigung darstellt oder ob die Protagonisten sich letztendlich wieder am Ausgangspunkt ihrer Krise befinden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Sich wiederfinden in der Bezugslosigkeit der Gegenwart: Der Identitätsverlust als existentielle Not der Moderne
- Marcels Gefangensein im néant des Erwachens als Gefühl temporärer Existenzlosigkeit
- Maltes Sehen-Lernen in der Pariser Großstadt als Ausgangspunkt der Ich-Krise
- Der Ich-Verlust: Eine chaotische Bezugslosigkeit des Halbschlafs oder eine Überflutung des Inneren durch die Außenwelt?
- Die Erinnerung als sinnstiftendes Element zur Rekonstitution des sich auflösenden Ichs
- Die Magie des Zufalls: Marcels mémoire involontaire als hierarchisches Konstrukt der Zeitlosigkeit
- Mémoire du rêve und mémoire du corps
- Mémoire du cœur
- Mémoire involontaire
- Maltes Konzept vom erneuten Leisten der Vergangenheit
- Die Erinnerung zwischen Zufall und Vorhaben als rekonstituierende Instanz des Ichs
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht den Identitätsverlust als existentielle Not der Moderne, indem sie die Erfahrung von Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge und Marcel Prousts Ich-Erzähler in der Recherche gegenüberstellt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Protagonisten mit dem Gefühl der Entfremdung und der Auflösung ihrer Identität umgehen und welche Rolle die Erinnerung in diesem Prozess spielt.
- Identitätsverlust als Ausdruck der Entfremdung in der modernen Welt
- Die Erinnerung als Instrument der Selbstfindung und Rekonstitution des Ichs
- Verschiedene Formen der Erinnerung und ihre jeweilige Bedeutung für die Protagonisten
- Die Frage nach der Effektivität der Erinnerung als Methode der Gegenwartsbewältigung
- Parallelen und Unterschiede zwischen der Erfahrung von Rilkes und Prousts Protagonisten
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel behandelt den Identitätsverlust der beiden Protagonisten, Malte und Marcel, getrennt voneinander. Es analysiert die Ursachen des bedrohlichen Zustands und dessen Auswirkungen auf ihre jeweilige Identität. Die Einleitung analysiert die Situation der beiden Protagonisten, die sich in einem Zustand der Desorientierung und des Verlusts ihrer Identität befinden. Sie untersucht die Gründe für diese Erfahrung und die Auswirkungen auf ihre Lebenswelten.
Kapitel zwei beschäftigt sich mit dem Identitätsverlust von Marcel Proust, der in der Eingangsszene der Recherche den Moment des Erwachens als einen Moment enormer innerer Leere beschreibt. Die Szene verdeutlicht sein Bedürfnis nach einer stabilen Identität, die der Vergänglichkeit der Zeit widersteht.
Schlüsselwörter
Die zentralen Themen der Arbeit sind der Identitätsverlust, die Erinnerung, die Selbstfindung und die Rekonstitution des Ichs. Weitere wichtige Begriffe sind Entfremdung, Modernität, zeitlose Erinnerung, mémoire involontaire und die "sinnlose Wirklichkeit".
- Citar trabajo
- Bachelor of Arts David Schumann (Autor), 2013, Das Verhältnis von Identitätsverlust und Erinnerung in Marcel Prousts "Recherche" und Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266029