Sachunterricht als Beitrag zur Identitätsstiftung bei Kindern nichtdeutscher Herkunft?

Eine Untersuchung im Rahmen der Unterrichtseinheit "Interkulturelles Lernen" in einer vierten Klasse


Examination Thesis, 2012

41 Pages, Grade: 3,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Migration und Schule
1.1 Migration und Multikulturalität in Deutschland
1.2 Migrantenkinder in der Schule
1.3 Interkulturelles Lernen

2 Migration und Identität
2.1 Ausbildung eines Identitätsgefühls bei Kinder und Jugendlichen
2.2 Identität bei Migrantenkindern
2.3 Interkulturelles Lernen und Identität im Sachunterricht

3 Unterrichtseinheit und Unterrichtsbedingungen
3.1 Klasse, Schule, Familienherkunft und Wohnumgebung der befragten Schüler und Schülerinnen
3.2 Exkurs: Kasachstandeutsche Aussiedler: Heterogenität innerhalb einer Migrantengruppe
3.3 Ein Buch zu den Herkunftsländern unserer Familien

4 Die Untersuchung
4.1 Der Fragebogen
4.2 Ergebnisse
4.3 Schlüsse

Fazit

Literatur

Einleitung

Das Phänomen der Migration hat die Schule in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vor neue Herausforderungen gestellt, denen unter anderem mit Interkulturellem Lernen begegnet wird. Es richtet sich an alle Schüler, nicht nur solche aus Migrantenfamilien, und sieht seine augenfälligste Aufgabe darin, zu einem toleranten Umgang mit ethnischer, sprachlicher und kultureller Vielfalt zu befähigen. Interkulturelles Lernen muss nach übereinstimmenden Aussagen der Literatur dazu aber auch einen Beitrag zur kulturellen Standortbestimmung bei Schülerinnen und Schülern leisten. Dies gilt besonders für Kinder aus Familien mit nichtdeutschem Hintergrund, die aufgrund komplizierterer Gemengelagen kultureller Einflüsse auf besondere Schwierigkeiten beim Ausbilden ihrer kulturellen Identität stoßen. Diese Arbeit will anhand der Konzeption und Durchführung einer Unterrichtseinheit überprüfen, inwieweit das Thematisieren von Herkunftsländern der Familien von Kindern in einer multikulturellen Grundschulklasse von den Schülern und Schülerinnen begrüßt und als identitätsstiftendes Angebot akzeptiert wird.

Dazu wird zunächst im ersten Teil der Arbeit der Sachverhalt der Migration in Deutschland skizziert. Besondere Schwierigkeiten von Schülern und Schülerinnen mit familiärem Migrationshintergrund werden benannt. Abschließend werden Konzepte zum Umgang mit kultureller Vielfalt in deutschen Schulen aufgezeigt. Merkmale der Interkulturellen Pädagogik werden beschrieben.

Im zweiten Teil der Arbeit wird der Prozess der Identitätsbildung bei Kindern und Jugendlichen beschrieben. Besondere Schwierigkeiten und Möglichkeiten zum Unterstützen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund werden aufgezeigt. Dann wird überprüft, ob Interkulturelles Lernen ein solches Unterstützen als Aufgabe betrachtet, welche Rolle dabei in Grundschulen der Sachunterricht spielt und was zu beachten ist, wenn Sachunterricht durch das Thematisieren von Herkunftsländern positiv zur Identitätsbildung von Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunft beitragen möchte.

Im dritten Teil der Arbeit wird die Klasse vorgestellt, in der die Unterrichtseinheit durchgeführt wurde, die die Grundlage der Arbeit bildet. Nach einem Exkurs zu Kasachstandeutschen, zu denen die größte Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund in der Klasse gehört, wird die Unterrichtseinheit beschrieben.

Im vierten Teil wird der Fragebogen vorgestellt, mit dem der Unterricht durch eine Befragung der Schüler und Schülerinnen überprüft wurde. Die Ergebnisse werden genannt und gewertet.

1 Migration und Schule

1.1 Migration und Multikulturalität in Deutschland

Migration ist ein wesentliches Merkmal der deutschen Geschichte. Seit man im frühen Mittelalter erstmals von einem deutschen Volk sprach, meinte man damit eine germanisch-keltisch-romanische Mischbevölkerung, die aus Wanderungsbewegungen hervorgegangen war. Deren Mitglieder leiteten ihre gemeinsame Identität aus einer in zahlreiche Dialekte unterteilten gemeinsamen Sprache ab.[1] Slawen, Balten, Juden, Sinti und französische Hugenotten sollten diese bunte Mischung in den folgenden Jahrhunderten weiter bereichern. Schließlich brachte die Industrialisierung erste Gastarbeiter, die vor allem aus Polen kamen.

Das romantische Denken des 19. Jahrhunderts hatte die so aus einer bunten Mischung entstandene Bevölkerung zu einem Volk homogenen germanischen Ursprungs verklärt. Jedes Festhalten an nicht-germanisch-deutschen Traditionen, vor allem bei Juden und Sinti, konnte so als Bedrohung wahrgenommen werden. Auschwitz sollte später eine institutionalisierte Praxis dieses Denkens liefern.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland und Westberlin Arbeitskräfte gebraucht wurden, um das Fortlaufen des deutschen Wirtschaftswachstums zu gewährleisten, wurden ab 1955 Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum angeworben. Großflächig über das ganze Land verteilt, lebten diese zunächst vorwiegend in geschlossenen Wohnheimen. Dabei bestand die Erwartung, dass sie in ihre Heimat zurückkehren würden, sobald sie hier genug Geld verdient hätten oder der heimische Arbeitsmarkt wieder in der Lage sein würde, seinen Bedarf aus der einheimischen Bevölkerung zu speisen. Diese Erwartung einer baldigen Rückkehr erwies sich als Trugschluss. Viele Gastarbeiter blieben dauerhaft in Deutschland, gründeten hier Familien oder holten sie aus der Heimat nach und definierten ihren über Generationen fortlaufenden Lebensschwerpunkt in Deutschland. Hinzu kamen Aussiedler aus Osteuropa und Asylanten. In der DDR siedelten sich vor allem Arbeitsmigranten aus Vietnam an. Schließlich kam es nach dem Fall des eisernen Vorhangs zu einer neuen Welle der Arbeitsmigration aus Richtung Osteuropa.

„Migration ist kein einheitlicher sozialer Sachverhalt, birgt vielmehr eine starke Heterogenität von Zuwanderungskonstellationen und kulturellen Identitäten in sich, die vor allem für die Bildungsintegration relevant sind.“[2] Die kulturelle Verortung der Migranten deckt eine Bandbreite von Menschen ab, die einen ganz überwiegend westlichen Lebensstil pflegen, sich dabei aber Traditionen ihrer Familienherkunft bewusst bleiben, zum Beispiel in religiöser Praxis, deren kulturelle Traditionen vielleicht aber auch gar nicht sehr unterschiedlich zu den deutschen sind, bis hin zu solchen, die fest an Traditionen halten, die im Herkunftsland der Familie vielleicht schon als überlebt gelten, Unterschiede betont sehen möchten und zur Sprache der deutschen Mehrheitsbevölkerung auf Distanz gehen. Hinzu kommt das von keiner Migrantenstatistik erfasste Kind mit je einem deutschen und nicht-deutschen Elternteil, in dessen Familie aber auch verschiedene Traditionen lebendig sind.

„Deutschland ist das Land mit der stärksten Zuwanderung von Migranten in Europa“.[3] Für das Jahr 2005 wurde festgestellt, dass 30% der nachwachsenden Generation in Deutschland einen Migrationshintergrund haben.[4] Der Anteil von Mitbürgern mit Migrationshintergrund schwankt dabei beträchtlich, je nachdem, ob man die Bevölkerung in städtischen oder ländlichen Gebieten, in Ost- oder Westdeutschland betrachtet. Erstaunlicherweise wird die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, offiziell oft noch geleugnet.[5]

1.2 Migrantenkinder in der Schule

Für das Schuljahr 2009/2010 wurden rund 50.000 ausländische Schüler an allgemeinbildenden Berliner Schulen angegeben. Das entspricht einem Anteil von 14,6% aller Schüler.[6] In den letzten fünf Jahren ist der Anteil – nach einem kräftigen Zuwachs in den Jahren zuvor – leicht rückläufig.[7]

Auffallend ist der überproportional hohe Anteil ausländischer Schüler an Berliner Hauptschulen, der bei rund 30% liegt.[8] „Bundesweit schlossen 2009 38,9% aller ausländischen Abgängerinnen und Abgänger mit einem Hauptschulabschluss ab.“[9] An Gymnasien stellen ausländische Schüler dagegen in Berlin einen Anteil von nur rund 11%.[10] Der Anteil der ausländischen Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist in Berlin mit rund 15% etwa doppelt so hoch wie bei den deutschen Schülern.[11]

„Schülerinnen und Schüler in deutschen Grundschulen, die selbst im Ausland geboren worden und mit ihren Eltern eingewandert sind, zeigen sehr schwache Leseleistungen, und die Differenz zu den Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund ist größer als in anderen Staaten.“[12] Während in anderen Ländern die Kinder der zweiten Migrantengeneration gegenüber den Kindern ohne Migrationshintergrund meist aufholen können, zeigen Kinder der zweiten Generation in Deutschland oft noch schwächere Schulleistungen als die der ersten Generation.[13]

Etwa ein Drittel der im Schuljahr 2010/2011 neu eingeschulten Schüler hat eine nicht-deutsche Herkunftssprache.[14] Dieser Anteil übertrifft den Anteil ausländischer Schüler insgesamt, weil hier neben Ausländern auch Kinder von Aussiedlern und Kindern aus Familien nicht-deutscher Herkunft, die einen deutschen Pass haben, somit nicht als Ausländer gelten, aber eine andere Muttersprache als Deutsch haben, eingerechnet sind. Die Zahl der Ausländer entspricht nämlich nicht der Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund. Möchte man deren Zahl ermitteln, so muss etwa zur Zahl der ungefähr 400.000 in Berlin lebenden Ausländer die fast ebenso große Zahl der rund 395.000 Deutschen mit Migrationshintergrund hinzu addiert werden.[15]

Diese Zahlen lassen vor allem zwei Schlüsse zu. Zuerst belegen sie, dass Schüler und Schülerinnen mit familiärem Migrationshintergrund einen beträchtlichen Teil der Gesamtschülerzahl ausmachen. Den Besonderheiten dieser Kinder muss der Unterricht Rechnung tragen.

Zweitens sind diese Schüler und Schülerinnen offensichtlich benachteiligt, wenn es um das Erreichen guter Abschlüsse geht, und das obwohl sie „besonders motiviert und der Schule gegenüber aufgeschlossen“[16] sind.

1.3 Interkulturelles Lernen

„Die Anwerbung der so genannten Gastarbeiter war zunächst kein Thema der Pädagogik.“[17] Schließlich war der typische Gastarbeiter in Westdeutschland kinderlos und jung, aber nicht schulpflichtig. Das Auftauchen erster Gastarbeiterkinder traf die Schulen unvorbereitet. Für das Integrieren dieser Kinder in den Unterricht waren keine Vorbereitungen getroffen worden. Außerdem fußte auch der Unterricht für deutsche Kinder auf der Annahme einer relativen geografischen Immobilität über die gesamte Biografie hinweg. So kreiste der heimatkundliche Sachunterricht um das direkt erfahrbare Heimatliche, um von dort aus in immer weiteren Kreisen den Rest der Welt zu erschließen.[18] Ethnisch heterogene Klassen mit Kindern, deren Schulort nicht als ihre Heimat angesehen wurde, waren mit diesem Konzept schwer vereinbar. Vor allem aber auch wegen ihrer Schwierigkeiten beim Umgang mit der deutschen Unterrichtssprache wurden Gastarbeiterkinder primär defizitär als Problemkinder wahrgenommen.

Der Ausländerunterricht sollte diesem Problem begegnen. Dabei wurden eigene Klassen mit muttersprachlichem Unterricht und Deutsch als Fremdsprache eingerichtet. Lehrpersonal wurde sogar in den Herkunftsländern der Kinder rekrutiert. Zwei Ziele verfolgte der Ausländerunterricht. Zunächst sollten die Kinder sprachlich fit für Regelklassen gemacht werden. Sie sollten aber zusätzlich auch auf ein Leben nach der Rückkehr in ihre Heimatländer vorbereitet werden. „Durch diese Abkopplung, diesen Sondergruppenmodus wirkt die Ausländerpädagogik diskriminierend und ist kein Bestandteil des gesamtpädagogischen Prinzips der Bundesrepublik Deutschland“[19] gewesen. Es ging darum, Gastarbeiterkinder „so weit wie nötig einzugliedern, sie aber so weit wie möglich ihrer heimatlichen Sprache, Kultur und Zivilisation zu erhalten.“[20]

Bald tauchten auch erste Ansätze auf, Migration zum Unterrichtsthema zu machen. So enthielt das 1976 veröffentlichte Materialpaket Soziale Erziehung in der Grundschule[21] das Thema Gastarbeiterkinder, das dem Rahmenthema Kinder in der Dritten Welt zugeordnet war. Ausschließlich deutsche Kinder, waren hier die Zielgruppe. Sie sollten Solidarität aufbauen mit Gastarbeiterkindern durch Schilderungen von Armut in den Herkunftsländern und sozialen Problemen in Deutschland. Edith Glumpler arbeitete mit dem Paket in einer ethnisch gemischten Grundschulklasse, in der die Gastarbeiterkinder, die nur Unterrichtsgegenstand, nicht aber Adressat des Unterrichts sein sollten, sich selbst als sozial gut in der Klasse integriert und nicht als arm ansahen. Diese Kinder lebten auch nicht in Gastarbeiterheimen, wie es das Unterrichtsmaterial pauschal annahm. Natürlich erkannten sie sich nicht wieder in einem Unterricht, der Mitleid für ihre eigenen, vermeintlich ärmlichen Lebensumstände erzeugen wollte.[22]

Um 1980 siegte in der Bundesrepublik die Einsicht, dass Kinder ausländischer Eltern hier nicht nur vorübergehend leben würden und eine Sonderbeschulung nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden konnte. Die zunehmende Globalisierung der Kultur ließ die bis dahin gültigen Ideen zum Umgang mit ethnischen Minderheiten zusätzlich veraltet erscheinen. „Mitte der 1980er Jahre zeichnen sich erste Versuche ab, die Idee einer ‚interkulturellen’ Erziehung im Sachunterricht zu etablieren.“[23]

Mit dem Konzept der Interkulturellen Pädagogik sollte fortan eine curriculare Anpassung an die veränderte gesellschaftliche Situation bewirkt werden. Unter dem Begriff interkulturell versteht man „Austauschprozesse zwischen Kulturen, genauer gesagt: zwischen Personen oder Gruppen mit unterschiedlichem Kulturhintergrund.“[24] Interkulturelle Pädagogik zielt auf interkulturelle Kompetenz oder interkulturelle Bildung ab. „Interkulturelle Bildung bedeutet [...] die Entfaltung eigener Orientierungen angesichts der Unübersichtlichkeit milieupluraler Gesellschaften.“[25] Der entsprechende Lernprozess wird als interkulturelles Lernen bezeichnet.

Als Grundprinzipien interkulturellen Lernens benennt der Deutsche Kulturrat die Folgenden:

- Interkulturelles Lernen orientiert sich an den Alltags- und Lebenswelten;
- Interkulturelles Lernen thematisiert die Vielfalt an Lebensentwürfen und vermittelt Wissen über unterschiedliche Herkunftskulturen;
- Interkulturelles Lernen begreift die eigene Perspektive als eine unter vielen;
- Interkulturelles Lernen betont Gemeinsamkeiten, ohne vorhandene Unterschiede zu ignorieren. Es schärft auch den Blick für Differenzen;
- Interkulturelles Lernen vermittelt ein Bild von kultureller Identität, das Widersprüche zulässt;
- Interkulturelles Lernen begreift Mehrsprachigkeit als Normalfall und stellt entsprechende Angebote zur Verfügung;
- Interkulturelles Lernen beugt der Abwertung einzelner Gruppen vor;
- Interkulturelles Lernen wendet sich an alle und ist keine sonderpädagogische Maßnahme für Migranten;
- Interkulturelles Lernen fordert auf, die eigenen kulturellen Hintergründe besser verstehen zu lernen.[26]

Interkulturelle Erziehung will also dabei helfen, ein Verständnis für die Unterschiedlichkeit und gleichzeitig das Verbindende und Vernetzte zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur, sowie zwischen verschiedenen Minderheitskulturen zu entwickeln. Sie will Vorurteile und Diskriminierung bekämpfen, zwischen Kulturen vermitteln und anregen, die eigene Kultur besser zu verstehen, dabei die kulturelle Vielgestaltigkeit, die der Alltag bietet, produktiv zu nutzen. „Sie geht von einer gemeinsamen interkulturellen Bildung und Erziehung aller Schülerinnen und Schüler aus, richtet sich also sowohl an die Angehörigen der Majorität als auch an diejenigen der Minorität und zielt auf ein konstruktives Miteinander.“[27]

Die Perspektive auf das ausländische Kind als Lerngegenstand in einem Unterricht, der sich an deutsche Kinder richtet, wurde in der Folge aber nicht immer verlassen. So enthält das Materialpaket Ausländer, meine Freunde[28] von 1994 noch immer Arbeitsanweisungen wie „Ausländische Kinder können besonders gut tanzen. Fordert sie auf, mitzumachen.“[29] Man stelle sich solche Aufgabenstellungen in einer Neuköllner Grundschulklasse vor, die mehrheitlich von Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Hier würde sich die Aufgabenstellung ausschließlich an eine Minderheit in der Klasse – so diese überhaupt vorhanden ist – richten. Die Mehrheit würde nicht als lernende Subjekte, sondern als Objekte, als Unterrichtsgegenstand, wahrgenommen. Zusätzlich bedient die Aufgabe genau die stereotypen Vorstellungen, denen der Unterricht doch eigentlich entgegenwirken sollte: Ausländer als homogene Masse andersartiger Menschen, deren Andersartigkeit exotisch-folkloristischen Klischees entspricht. Warum sollte ein in Berlin aufgewachsenes Kind türkischer Abstammung besser tanzen können als sein deutscher Klassenkamerad? Die didaktische Überreduzierung schießt hier im Verein mit einer eigenzentristischen Perspektive des Autors ein Eigentor.

Glumpler kam 1996 nach der Sichtung von Schulbuchabschnitten zum Interkulturellen Lernen zum Ergebnis: „Die Mehrzahl der ausländischen Kinder wird ihre eigene Situation im Sachbuch nicht angemessen repräsentiert finden.“[30] Und: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass wir bis heute insgesamt nur wenige Schulbücher finden, die auf die kulturelle Heterogenität an deutschen Grundschulen angemessen Bezug nehmen.“[31] Schulbücher stellen in der Regel einen Modellausländer dar, meist einen Türken[32], der sich auch in Klassen mit vielen Kindern aus Migrantenfamilien vielleicht gar nicht finden lässt. Auch in Klassen mit überwiegend türkischen Kindern dürften diese so unterschiedlich sein, dass der Modelltürke aus dem Schulbuch Vorurteile eher aufbauen als bekämpfen hilft.[33]

Ein positives Beispiel hingegen ist die Materialsammlung Interkulturelles Lernen[34] aus dem Jahr 2006. Hier wird der Verschiedenheit von Biografien und Lebensumständen Tribut gezollt. So wird eine deutsche Auswandererfamilie auf dem Weg nach Amerika vorgestellt. Ein Interview mit einem Asylbewerber aus Angola ist zu finden. Bewohner verschiedener Nationalitäten mit sehr verschiedenen Biografien in einem Mietshaus werden vorgestellt. Die Kinder lernen verschiedene fremde Schriften und Sprachen kennen. Ein Junge, der aus einem norddeutschen Dorf nach München gezogen ist, berichtet über seine Erfahrungen und Schwierigkeiten in der neuen Umgebung. Über Aussagen von Migrantenkindern über ihre Heimatländer werden diese landeskundlich erschlossen. Familiengeschichten in der Klasse sollen erforscht werden. Die Sammlung richtet sich an deutsche und Ausländerkinder gleichermaßen. Insgesamt wird frei von Exotik und Folklore ein sehr differenziertes Bild von Migration aufgezeigt, bei dem eine bikulturelle Sozialisation als Normalfall bei Migrantenkindern präsentiert wird. Der klassische Gastarbeiter taucht nur ganz am Rand auf.

Diese Entwicklung hin zu einem interkulturellen Verständnis von Unterricht fand bis 1990 nur in Westdeutschland und Westberlin statt, nicht in der DDR. „Interkulturelle Bildung und Erziehung ist für die Neuen Bundesländer kein Resultat einer gewachsenen Entwicklung, sondern eine seit der Wiedervereinigung grundsätzlich neue Dimension der Pädagogik:“[35]

[...]


[1] siehe: Jürgen Mirow: Geschichte des deutschen Volkes: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band 1. Gernsbach 1996. S. 39.

[2] Hermann Avenarius: Migration in Deutschland. In: Hermann Avenarius, Martin Baethge, Hans Döbert und andere: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse von Bildung und Migration. Bielefeld 2006. S.139-149. S.139.

[3] Hermann Avenarius: Migration und Kompetenzerwerb im internationalen Vergleich. In: Hermann Avenarius, Martin Baethge, Hans Döbert und andere: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse von Bildung und Migration. Bielefeld 2006. S.171-177. S. 171.

[4] Gerlind Belke und Peter Conrady: Einwanderungsland Deutschland: Viele Sprachen in den Schulen. In: Grundschule. Heft 3/2005. S.30-31. S.30.

[5] siehe: Alfred Holzbrecher: Interkulturelle Pädagogik. Berlin 2004. S.50.

[6] siehe: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Statistischer Bericht B I 1 - j / 10. Allgemeinbildende Schulen im Land Berlin Schuljahr 2009/10. Potsdam 2010. S.5

[7] siehe: ebd.

[8] Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Statistischer Bericht B I 1 - j / 10. Allgemeinbildende Schulen im Land Berlin Schuljahr 2010/11. Potsdam 2011. S.13.

[9] Konferenz der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister/Senatorinnen und Senatoren der Länder (Hrsg.) Erster Bericht zum Integrationsmonitoring der Länder 2005 – 2009. Teil 1. Potsdam 2011. S.42.

[10] siehe: Amt für Statistik 2011. S.13.

[11] siehe: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Statistischer Bericht B I 5 - j / 10. Absolventen/Abgänger der allgemeinbildenden Schulen im Land Berlin 2010. Schülerbewegung. Potsdam 2011. S.20.

[12] ebd., S.173.

[13] siehe: ebd., S.174.

[14] siehe: Amt für Statistik 2011. S.17.

[15] siehe: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (Hrsg.): Berliner Integrationsmonitor 2009. Anhang I des Umsetzungsberichts zum Berliner Integrationskonzept 2007. Berlin 2009. S.2.

[16] Avenarius, Kompetenzerwerb, S.176.

[17] Holzbrecher, S.51.

[18] siehe: Elard Klewitz: Sachunterricht zwischen Wissenschaftsorientierung und Kindbezug. In: Öffentliche Vorlesungen der Humboldt Universität. Heft 58. Berlin 1996. S.6.

[19] Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport (Hrsg.): Interkulturelle Bildung und Erziehung. Berlin 2001. S.28.

[20] Holzbrecher, S.52.

[21] siehe: Rudolf Schmitt: Soziale Erziehung in der Grundschule. Toleranz – Kooperation – Solidarität. Frankfurt am Main 1976.

[22] Siehe: Edith Glumpler: Interkulturelles Lernen im Sachunterricht. Bad Heilbrunn 1996. S.35f.

[23] Katharina Stoklas: Interkulturelles Lernen im Sachunterricht. Historie und Perspektiven. Hamburg 2004. S.88.

[24] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Interkulturelles Lernen - Arbeitshilfen für die politische Bildung. Bonn 1998. S.356.

[25] Arnd-Michael Nohl: Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung. Bad Heilbrunn 2010. S.177.

[26] Deutscher Kulturrat (Hrsg.): Kulturelle Bildung: Aufgaben im Wandel. Berlin 2009. S.140.

[27] Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule". Berlin 1996. S.5.

[28] siehe: Hartmut Hoefs (Hrsg.): Durchblick. Freies Lernen in Projekten. Ausländer – meine Freunde. Klasse 3/4. Mülheim 1994.

[29] Zitiert nach: Glumpler, S. 38.

[30] Glumpler, S. 44.

[31] ebd., S. 46.

[32] siehe: ebd., S. 41.

[33] siehe: ebd.

[34] Siehe: Evelin Lubig-Fohsel: Interkulturelles Lernen. 3./4. Schuljahr. Kopiervorlagen und Materialien. Berlin 2006

[35] Senatsverwaltung, Interkulturelle Bildung, S. 31.

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Details

Title
Sachunterricht als Beitrag zur Identitätsstiftung bei Kindern nichtdeutscher Herkunft?
Subtitle
Eine Untersuchung im Rahmen der Unterrichtseinheit "Interkulturelles Lernen" in einer vierten Klasse
Grade
3,0
Author
Year
2012
Pages
41
Catalog Number
V266449
ISBN (eBook)
9783656565161
ISBN (Book)
9783656565154
File size
565 KB
Language
German
Keywords
interkulturelles Lernen, Migration, Deutsch als Zweitsprache, Identität, Kultur, Sachunterricht, Sachkunde, Minderheiten, Integration
Quote paper
Master of Education Dirk Kranz (Author), 2012, Sachunterricht als Beitrag zur Identitätsstiftung bei Kindern nichtdeutscher Herkunft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266449

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