Unsere Gesellschaft hat im Zuge der Industrialisierung und der
Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften tiefgreifende
Veränderungen erfahren.1 Jahrhundertealte Traditionen wurden innerhalb
weniger Jahrzehnte aufgelöst und durch neue Wert- und Moralvorstellungen
ersetzt oder ergänzt. Es entwickelte sich eine Individualgesellschaft die, entgegen früheren
Gesellschaftsstrukturen, ein hohes Maß an Leistung, Flexibilität,
Mobilität und Entscheidungsbereitschaft forderte.2 Diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führten bei
vielen Menschen in der Bevölkerung zu großer Unsicherheit und
Orientierungslosigkeit. So entstanden in der Mitte des letzten Jahrhunderts
die ersten Fabriken und es konstituierte sich die neue Klasse
der Arbeiterschaft. Maschinen bestimmten nun den Lebensrhythmus.
Die Mobilität nahm durch die ersten Automobile und das immer weiter
ausgebaute Schienennetz zu und ermöglichte somit ein Mehr an
Produktivität, welches in geringerer Zeit erreicht werden konnte.3
Viele Menschen gerieten aufgrund der immer unüberschaubareren und
komplexer werdenden Welt in eine ‚Bewußtseinskrise‘ und suchten
Alternativen zur Kirche, die mit ihren jahrhundertealten Doktrinen keine
Antworten mehr auf die Fragen geben konnte, die sich aus den neuen
Entwicklungen ergaben. Die damit verbundenen gesellschaftspolitischen
Veränderungen mit ihren höheren Anforderungen an das Individuum, verstärkten das Gefühl der Unsicherheit. Lebten die
Menschen früher in kollektiven Bezügen [z.B. als Knecht oder Magd in
einer Bauernfamilie oder als Geselle in einem Handwerksbetrieb], so
forderte die neu entstandene Industriegesellschaft einen leistungsorientierten
und anpassungsfähigen Menschen, der seine Arbeitskraft in Konkurrenz und nicht Kooperation zu anderen Menschen vermarktete.
Die Evolutionstheorie von Charles Darwin, der den Menschen von
seinem „Thron“ als „Krönung der Schöpfung“ stürzte, erschütterte das
Bewußtsein vieler Menschen. Sie suchten ihr Heil in den neu
aufkommenden religiösen Vorstellungen wie z.B. Okkultismus, Millenarismus,
Apokalyptik, Geistheilung und religiöser Erweckung. [...] 1 Vgl. Stoffel, Angeklagt: Die neuapostolische Kirche, 1999, S.9.
2 Vgl. Schätzle, in: Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S.5. 3 Ebd.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zur Definition des Begriffes „Sekte“
- Mögliche Kriterien totalitärer Sekten
- Die besondere Problematik bei Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten
- Entwicklungspsychologische Aspekte
- Erik H. Eriksons Theorie der Persönlichkeitsentwicklung
- Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
- Die Identitätsbildung
- Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK)
- Lehre und Ziele der NAK
- Die Persönlichkeitsbildung der NAK bei Kleinkindern (0-3 Jahre)
- Die Sonntagsvorschule der NAK (3. bis 6. Lebensjahr)
- Die Sonntagsschule der NAK (ab dem 6. Lebensjahr)
- Religionsunterricht und Konfirmation (10. bis 14. Lebensjahr)
- Die Jugendpflege in der NAK (10. bis 18. Lebensjahr)
- Psychische Auswirkungen
- Resümee zur NAK
- Die Geschichte der Zeugen Jehovas
- Weltanschauung der Zeugen Jehovas
- Kindererziehung und die „nötige“ Zucht bei den Zeugen Jehovas
- Die Schaffung von Phobien
- Soziale Ausgrenzung
- Sexualerziehung bei den Zeugen Jehovas
- Exkurs: Bluttransfusion und ideologische Überzeugung
- Psychische Auswirkungen
- Beurteilung der Zeugen Jehovas
- Resümee: Mögliche Nichtbewältigung von Entwicklungsaufgaben bei Kindern und Jugendlichen der NAK und der Zeugen Jehovas
- Exkurs: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in anderen totalitären Sekten
- Die Scientology-Organisation
- Die Sant Thakar Singh-Bewegung
- Das „Universelle Leben“
- Grenzen der Religionsfreiheit und rechtsstaatliches Handeln
- Professionalisierungsmöglichkeiten im Umgang mit totalitären Sekten als Aspekt der sozialen Arbeit
- Die Professionalisierung von Sektenberatungsstellen
- Bildung und Weiterbildung
- Therapiemodell für Sektenaussteiger: Das Odenwälder Wohnhof-Projekt
- Vernetzung verschiedener Einrichtungen
- Förderung von Forschungsprojekten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Diplomarbeit untersucht die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten, insbesondere in der Neuapostolischen Kirche und bei den Zeugen Jehovas. Ziel ist es, die entwicklungspsychologischen Auswirkungen dieser Sozialisation zu analysieren und die politischen Rahmenbedingungen für Beratung, Ausstiegshilfen und Betreuung ehemaliger Sektenmitglieder im Kontext sozialer Arbeit zu beleuchten.
- Entwicklungspsychologische Auswirkungen totalitärer Sekten auf Kinder und Jugendliche
- Vergleichende Analyse der Sozialisationspraktiken in der Neuapostolischen Kirche und bei den Zeugen Jehovas
- Identifizierung von Benachteiligungen in der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
- Politische Rahmenbedingungen für die Unterstützung von Aussteigern
- Professionalisierungsmöglichkeiten der sozialen Arbeit im Umgang mit Sekten
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung: Die Einleitung beschreibt den Kontext der Arbeit, indem sie den Wandel der Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung und die daraus resultierende Orientierungslosigkeit vieler Menschen beleuchtet. Sie führt in die Thematik der Sekten ein und skizziert die Forschungslücke bezüglich der spezifischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
Zur Definition des Begriffes „Sekte“: Dieses Kapitel widmet sich der schwierigen Aufgabe, den Begriff „Sekte“ präzise zu definieren. Es werden verschiedene Ansätze diskutiert und die Ambivalenz des Begriffs hervorgehoben, um ein differenziertes Verständnis zu ermöglichen und die Grenzen der Definition zu klären. Dies bildet die Grundlage für die spätere Untersuchung spezifischer Sekten.
Mögliche Kriterien totalitärer Sekten: Hier werden Kriterien vorgestellt, anhand derer totalitäre Sekten identifiziert werden können. Die Beschreibung dieser Kriterien dient als analytisches Werkzeug für die spätere Betrachtung der Fallbeispiele der Neuapostolischen Kirche und der Zeugen Jehovas, um ihre jeweiligen Merkmale und Ausprägungen im Kontext der Kriterien zu beleuchten.
Die besondere Problematik bei Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten: Dieses Kapitel beleuchtet die spezifischen Herausforderungen und Risiken, denen Kinder und Jugendliche in totalitären Sekten ausgesetzt sind. Es werden die besonderen Vulnerabilitäten dieser Altersgruppen im Kontext der sekteninternen Strukturen und Praktiken herausgestellt. Die Ausführungen bilden die Basis für die anschließende Betrachtung entwicklungspsychologischer Aspekte.
Entwicklungspsychologische Aspekte: Dieses Kapitel liefert den entwicklungspsychologischen Rahmen für die Analyse. Es stellt verschiedene Theorien vor, darunter Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung und das Konzept der Entwicklungsaufgaben, um ein Verständnis der möglichen Auswirkungen der Sektenzugehörigkeit auf die psychosoziale Entwicklung zu schaffen. Die Identitätsbildung als zentrale Entwicklungsaufgabe im Jugendalter wird speziell hervorgehoben.
Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK): Dieses Kapitel bietet einen historischen Überblick über die Neuapostolische Kirche, ihre Lehren, Ziele und Organisationsstrukturen. Es analysiert die Sozialisationsprozesse innerhalb der NAK, die von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter reichen, und betrachtet die damit verbundenen Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Kapitel-Teile beleuchten unterschiedliche Phasen und Methoden der Sozialisation.
Die Geschichte der Zeugen Jehovas: Ähnlich dem vorherigen Kapitel wird hier die Geschichte, die Weltanschauung und die Sozialisationspraktiken der Zeugen Jehovas dargestellt. Der Fokus liegt auf den Aspekten der Kindererziehung, den Methoden der sozialen Kontrolle und den Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung der Mitgliederkinder. Die Analyse beleuchtet kritische Punkte wie die Schaffung von Phobien oder soziale Ausgrenzung.
Resümee: Mögliche Nichtbewältigung von Entwicklungsaufgaben bei Kindern und Jugendlichen der NAK und der Zeugen Jehovas: Dieses Kapitel fasst die Ergebnisse der Analyse der beiden Sekten zusammen und diskutiert die möglichen Folgen für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Es zieht Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Gruppen und stellt die zentralen Erkenntnisse der Studie dar.
Exkurs: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in anderen totalitären Sekten: Dieser Exkurs erweitert den Blick auf weitere totalitäre Sekten und beleuchtet deren Sozialisationspraktiken im Vergleich zu den zuvor untersuchten Fällen. Dies dient dazu, die Ergebnisse zu generalisieren und den Kontext zu erweitern.
Grenzen der Religionsfreiheit und rechtsstaatliches Handeln: Dieses Kapitel befasst sich mit den rechtlichen Aspekten im Umgang mit totalitären Sekten und diskutiert die Spannungsfelder zwischen Religionsfreiheit und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Es analysiert die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns.
Professionalisierungsmöglichkeiten im Umgang mit totalitären Sekten als Aspekt der sozialen Arbeit: Dieses Kapitel widmet sich der Professionalisierung der sozialen Arbeit im Umgang mit Sekten. Es werden verschiedene Strategien und Maßnahmen vorgestellt, wie z.B. die Professionalisierung von Beratungsstellen, Weiterbildungsmaßnahmen und die Förderung von Forschungsprojekten, um den Betroffenen effektiv zu helfen.
Schlüsselwörter
Sozialisation, Kinder, Jugendliche, totalitäre Sekten, Neuapostolische Kirche, Zeugen Jehovas, Entwicklungspsychologie, Identitätsbildung, Entwicklungsaufgaben, Religionsfreiheit, Sektenberatung, Soziale Arbeit, Ausstiegshilfe.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur Diplomarbeit: Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten
Was ist der Gegenstand dieser Diplomarbeit?
Die Diplomarbeit untersucht die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten, insbesondere in der Neuapostolischen Kirche (NAK) und bei den Zeugen Jehovas. Sie analysiert die entwicklungspsychologischen Auswirkungen dieser Sozialisation und beleuchtet die politischen Rahmenbedingungen für Beratung, Ausstiegshilfen und Betreuung ehemaliger Sektenmitglieder im Kontext sozialer Arbeit.
Welche Sekten werden im Detail untersucht?
Die Arbeit konzentriert sich auf die Neuapostolische Kirche (NAK) und die Zeugen Jehovas. Es werden deren Geschichte, Lehren, Sozialisationspraktiken und die Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verglichen und analysiert.
Welche entwicklungspsychologischen Aspekte werden berücksichtigt?
Die Arbeit bezieht sich auf Theorien wie Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung und das Konzept der Entwicklungsaufgaben. Der Fokus liegt auf der Identitätsbildung als zentrale Entwicklungsaufgabe im Jugendalter und wie diese durch die Zugehörigkeit zu totalitären Sekten beeinflusst wird.
Welche Kriterien werden zur Identifizierung totalitärer Sekten verwendet?
Die Arbeit beschreibt Kriterien zur Identifizierung totalitärer Sekten. Diese Kriterien dienen als analytisches Werkzeug zur Untersuchung der NAK und der Zeugen Jehovas und ermöglichen einen Vergleich ihrer Merkmale und Ausprägungen.
Welche Probleme ergeben sich für Kinder und Jugendliche in totalitären Sekten?
Die Arbeit beleuchtet die spezifischen Herausforderungen und Risiken für Kinder und Jugendliche in totalitären Sekten. Es werden die besonderen Vulnerabilitäten dieser Altersgruppen im Kontext der sekteninternen Strukturen und Praktiken herausgestellt.
Wie werden die Ergebnisse der Analyse der NAK und der Zeugen Jehovas zusammengefasst?
Die Arbeit fasst die Ergebnisse der Analyse beider Sekten zusammen und diskutiert die möglichen Folgen für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Parallelen und Unterschiede zwischen den Gruppen werden aufgezeigt.
Werden auch andere totalitäre Sekten betrachtet?
Ja, die Arbeit enthält einen Exkurs, der die Sozialisationspraktiken in weiteren totalitären Sekten wie Scientology, der Sant Thakar Singh-Bewegung und dem „Universellen Leben“ beleuchtet und vergleicht.
Welche rechtlichen Aspekte werden behandelt?
Die Arbeit diskutiert die rechtlichen Aspekte im Umgang mit totalitären Sekten und die Spannungsfelder zwischen Religionsfreiheit und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns werden analysiert.
Wie können soziale Arbeit und Sektenberatung professionalisiert werden?
Die Arbeit widmet sich der Professionalisierung der sozialen Arbeit im Umgang mit Sekten. Es werden Strategien und Maßnahmen wie die Professionalisierung von Beratungsstellen, Weiterbildungsmaßnahmen und die Förderung von Forschungsprojekten vorgestellt.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit am besten?
Schlüsselwörter sind: Sozialisation, Kinder, Jugendliche, totalitäre Sekten, Neuapostolische Kirche, Zeugen Jehovas, Entwicklungspsychologie, Identitätsbildung, Entwicklungsaufgaben, Religionsfreiheit, Sektenberatung, Soziale Arbeit, Ausstiegshilfe.
- Quote paper
- Torsten Graef (Author), 2000, Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26661