Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten

Eine entwicklungspsychologische Sicht auf die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas


Diploma Thesis, 2000

101 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Zur Definition des Begriffes „Sekte“

3. Mögliche Kriterien totalitärer Sekten

4. Die besondere Problematik bei Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten

5. Entwicklungspsychologische Aspekte
5.1 Erik H. Eriksons Theorie der Persönlichkeits- entwicklung
5.2 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
5.3 Die Identitätsbildung

6. Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK)
6.1 Lehre und Ziele der NAK
6.2 Die Persönlichkeitsbildung der NAK bei Kleinkindern (0-3 Jahre)
6.3 Die Sonntagsvorschule der NAK (3. bis 6. Lebensjahr)
6.4 Die Sonntagsschule der NAK (ab dem 6. Lebensjahr)
6.5 Religionsunterricht und Konfirmation (10. bis 14. Lebensjahr)
6.6 Die Jugendpflege in der NAK (10. bis 18. Lebensjahr)
6.7 Psychische Auswirkungen
6.8 Resümee zur NAK

7. Die Geschichte der Zeugen Jehovas
7.1 Weltanschauung der Zeugen Jehovas
7.2 Kindererziehung und die „nötige“ Zucht bei den Zeugen Jehovas
7.3 Die Schaffung von Phobien
7.4 Soziale Ausgrenzung
7.5 Sexualerziehung bei den Zeugen Jehovas
7.6 Exkurs: Bluttransfusion und ideologische Überzeugung
7.7 Psychische Auswirkungen
7.8 Beurteilung der Zeugen Jehovas

8. Resümee: Mögliche Nichtbewältigung von Entwicklungsaufgaben bei Kindern und Jugendlichen der NAK und der Zeugen Jehovas

9. Exkurs: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in anderen totalitären Sekten
9.1 Die Scientology-Organisation
9.2 Die Sant Thakar Singh-Bewegung
9.3 Das „Universelle Leben“

10. Grenzen der Religionsfreiheit und rechtsstaatliches Handeln

11. Professionalisierungsmöglichkeiten im Umgang mit totalitären Sekten als Aspekt der sozialen Arbeit
11.1 Die Professionalisierung von Sektenberatungsstellen
11.2 Bildung und Weiterbildung
11.3 Therapiemodell für Sektenaussteiger: Das Odenwälder Wohnhof-Projekt
11.4 Vernetzung verschiedener Einrichtungen
11.5 Förderung von Forschungsprojekten

Ausblick

Literaturverzeichnis

Vorwort

Als ich begann, mich mit der Thematik von Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen, welche in sogenannte Sekten hineingeboren wurden, bzw. in diesen aufgewachsen sind, stellte ich fest, wie umfangreich und komplex dieses Thema ist.

Bei meinen Recherchen habe ich Unmengen an Literatur zum Thema Sekten gefunden, welche die Problematik von den unterschiedlichsten Seiten beleuchteten. Darunter fanden sich Autoren, welche juristische Probleme im Umgang mit Sekten aufzeigten, oder ehemaligen Sektenmitglieder, welche ihre Erlebnisse in dieser Sekte nieder-geschrieben hatten, aber auch Bücher die sich mit den Strukturen in bestimmten Sekten auseinandersetzten, Ratgeber zum Ausstieg aus Sekten, usw.

Doch Literatur, die sich konkret mit Kindern und Jugendlichen beschäftigte, welche in sogenannte Sekten hineingeboren wurden, bzw. die in diesen aufgewachsen sind, ließ sich leider kaum finden. Ich mußte feststellen, wie unerforscht dieser Sachverhalt ist und wie schwierig es war, an Quellen zu gelangen, die verläßliche Informa-tionen zu diesem Themengebiet enthielten. Doch gelang es mir, u.a. mit Hilfe des Internets und mit Kontakten zu Selbsthilfegruppen, Informatio­nen zu diesem wenig bekannten Thema zusammenzutragen. Bei meiner Arbeit ging es mir um die Frage, ob Kinder, die in sogenannte Sekten hineingeboren wurden, bzw. in diesen Gruppen aufgewachsen sind, bestimmte Benachteiligungen bezüglich ihrer Entwicklungs-aufgaben haben und ob sie gegenüber „normal“ sozialisierten Kindern benachteiligt sind, welche in unserer Gesellschaft mit ganz anderen Werten konfrontiert werden.

1. Einleitung

Unsere Gesellschaft hat im Zuge der Industrialisierung und der Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften tiefgreifende Veränderungen erfahren.[1] Jahrhundertealte Traditionen wurden inner-halb weniger Jahrzehnte aufgelöst und durch neue Wert- und Moral-vorstellungen ersetzt oder ergänzt.

Es entwickelte sich eine Individualgesellschaft die, entgegen früheren Gesellschaftsstrukturen, ein hohes Maß an Leistung, Flexibilität, Mobilität und Entscheidungsbereitschaft forderte.[2]

Diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führten bei vielen Menschen in der Bevölkerung zu großer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. So entstanden in der Mitte des letzten Jahr-hunderts die ersten Fabriken und es konstituierte sich die neue Klasse der Arbeiterschaft. Maschinen bestimmten nun den Lebensrhythmus. Die Mobilität nahm durch die ersten Automobile und das immer weiter ausgebaute Schienennetz zu und ermöglichte somit ein Mehr an Produktivität, welches in geringerer Zeit erreicht werden konnte.[3]

Viele Menschen gerieten aufgrund der immer unüberschaubareren und komplexer werdenden Welt in eine ‚Bewußtseinskrise‘ und suchten Alternativen zur Kirche, die mit ihren jahrhundertealten Doktrinen keine Antworten mehr auf die Fragen geben konnte, die sich aus den neuen Entwicklungen ergaben. Die damit verbundenen gesellschafts-politischen Veränderungen mit ihren höheren Anforderungen an das Individuum, verstärkten das Gefühl der Unsicherheit. Lebten die Menschen früher in kollektiven Bezügen [z.B. als Knecht oder Magd in einer Bauernfamilie oder als Geselle in einem Handwerksbetrieb], so forderte die neu entstandene Industriegesellschaft einen leistungs-orientierten und anpassungsfähigen Menschen, der seine Arbeitskraft in Konkurrenz und nicht Kooperation zu anderen Menschen vermarktete.

Die Evolutionstheorie von Charles Darwin, der den Menschen von seinem „Thron“ als „Krönung der Schöpfung“ stürzte, erschütterte das Bewußtsein vieler Menschen. Sie suchten ihr Heil in den neu aufkommenden religiösen Vorstellungen wie z.B. Okkultismus, Millena-rismus, Apokalyptik, Geistheilung und religiöser Erweckung.

Die Menschen suchten Zuflucht und Geborgenheit bei neuen „Heilsbringern“, die einen Gegenpol zur der ‚Welt da draußen‘ darstellen sollten.[4] Diese neu entstandenen Sondergemeinschaften und Sekten vermittelten den Menschen ein Gefühl der Sicherheit und der Gemeinschaft, in der jeder seinen Platz hatte und sich geborgen fühlen konnte. Sie füllten somit jenes Vakuum, welches die Kirche nicht mehr schließen konnte. Es entstanden mit der Zeit immer mehr solcher Gruppierungen und Gemeinschaften, die behaupteten ‚ein rettendes Rezept‘ zu haben, mit dem sie ‚jetzt und hier‘ individuelle, als auch die Probleme der Menschheit lösen könnten. Diese Gruppen versprachen ‚absolutes‘ Glück, ‚vollkommene‘ Gesundheit, ‚totale‘ Freiheit, ‚wahren‘ Frieden usw. und stellten somit einen Absolutheitsanspruch.[5]

Dieser Trend setzte sich fort. Während sich immer mehr Menschen von den traditionellen Kirchen abwendeten, hatten gerade diese Sonder-gemeinschaften in den letzten zwanzig Jahren einen enormen Zulauf erlebt. Sekten sind ‚in‘. Es gibt hunderte von Gruppierungen, die allein im deutschen Sprachraum aktiv sind.[6]

Gerade durch die zunehmende Verstädterung und der damit verbundenen Anonymität in der Gesellschaft nehmen zwischen-menschliche Beziehungen ab. Diese Gemeinschaften bieten durch ihre konkrete Zuwendung ein Stück Heimat an.[7]

2. Zur Definition des Begriffes der „Sekte“

Der in der Öffentlichkeit verwandte Sektenbegriff ist eher schwammig und unscharf.[8] So wird der Begriff „Sekte“ im umgangssprachlichen Gebrauch eher negativ etikettiert. Dieses hängt u.U. mit der großen Kritik durch Öffentlichkeit und Medien zusammen, welche sich in den letzten Jahren verstärkt mit Sekten auseinandergesetzt haben und durch spektakuläre Einzelfälle sensibilisiert wurden.

Doch wird man dem „Phänomen Sekte“ durch solch eine diffamierend wirkende Etikettierung nicht gerecht: zu vielschichtig und komplex sind sie strukturiert und zu unterschiedlich sind ihre Vorgehensweisen und Angebote. Nach Schätzungen von verschiedenen Experten existieren in der Bundesrepublik zur Zeit etwa 1000-1500 Sekten oder religiöse Sondergruppen mit sektenähnlichem Charakter.[9]

Unter dem Begriff „Sekte“ werden heutzutage die verschiedensten Gruppen, Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen zusam-menge­faßt. Der Sektenbegriff hat einen gesellschaftlichen Wandel erfahren: während Sekten im historischen Sinne die Abspaltung einer Gruppe von einer größeren Religion bedeutete [was nicht negativ sein mußte, da viele der heutigen Glaubensrichtungen aus Sekten entstanden sind, bzw. durch diese „reformiert“ wurden], ist der Sektenbegriff im heutigen umgangssprachlichen Sinne ganz anders definiert. So beruht unsere Kultur nicht mehr auf einem religiösen, sondern ethisch begründeten Humanismus, d.h. auf starken Über-zeugungen, die festlegen, wie menschlich mit anderen Menschen umzugehen ist und wie ein „gutes Leben“ für einen Menschen aussehen sollte. Begriffe wie Menschenwürde, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung bezeichnen die Orientierungs-punkte, an denen menschliches Handeln gemessen wird. Aus diesem Grund bezieht sich der Begriff „Sekte“ in der Umgangssprache immer mehr auf die Gruppen, die gegen diese ethischen Vorstellungen verstoßen, die Abhängigkeiten statt freie Entscheidungsmöglichkeit hervorrufen, die Menschen entwürdigen und zur Intoleranz anleiten usw.[10]

So kann man sich Wolfram Mirbach anschließen, der zu der Komplexität dieses Begriffes schreibt: „Ich spreche im folgenden dennoch von Sekten, weil jeder andere Begriff mindestens ebenso unzureichend ist.“[11]

Mirbach faßt den Begriff „Sekte“, als eine deutlich abgegrenzte Gruppe mit einer Lehre und Praxis, die die Entfaltung des einzelnen und/oder seine Integration in die gesamte Gesellschaft aus religiösen oder weltanschaulichen Motiven heraus hemmt.[12]

3. Mögliche Kriterien totalitärer Sekten

Der „Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.“ hat eine Checkliste herausgegeben, die in Auszügen in „Psychologie Heute“ veröffentlicht wurde. Da diese Checkliste die signifikantesten Problemfelder totalitärer Sekten verdeutlicht, bezieht sich diese Arbeit in dem nun folgenden Abschnitt auf diese Liste.

So wären als Problemfelder in Auszügen zu nennen:

1. Ideologie, Theorie, Glauben und Ziele

Den Menschen wird in der Sekte das Paradies auf Erden verkündet, welches mit Hilfe ihrer Lehre kurzfristig erreicht werden kann. Die Sekte hat ein Wahrheitsmonopol, d.h. alles was sie sagt ist als richtig einzustufen und darf von den Mitgliedern nicht kritisiert werden. Die Sekte denkt in einfachen Gut-Böse und Richtig-Falsch - Kategorien und verhindert somit Kritikfähigkeit und ein differenziertes Denken ihrer Mitglieder. Viele Sekten beinhalten in ihrer Ideologie auch Endzeitvisionen, wie beispielsweise die Zeugen Jehovas, die als einzig Auserwählte das Paradies erreichen werden.

2.Die zentrale Figur eines Führers, Gurus oder Meisters

Fast alle Sekten sind streng hierarchisch strukturiert, d.h. sie werden von einem Führer o.ä. geleitet, der als Heiliger, Gott oder „Channel“ verehrt wird und kritiklose Loyalität und einen alleinigen Wahrheits-anspruch für sich in Anspruch nimmt.

3. Gruppenstruktur

Die Gruppe schottet sich stark von der Gesellschaft ab und besitzt eine hohe Gruppenkohäsion. Die Mitglieder der Gruppe überwachen und kontrollieren sich gegenseitig. Auch herrscht in Sekten meist eine steile Hierarchie die eine Befehlsgewalt der Oberen und gestaffeltem Informationsfluß beinhaltet. Die Mitglieder in destruktiven Sekten werden oftmals psychisch und finanziell als Arbeitskräfte ausgebeutet und somit von der Sekte abhängig gemacht. Viele Sekten machen die Mitgliedern glauben, daß sie über dem Gesetz steht und verleitet deren Mitglieder zu illegalen Tätigkeiten und macht sie somit erpreßbar.

4. Ausübung von Bewußtseinskontrolle über das Mitglied

Die Mitglieder werden entindividualisiert, d.h. die totale Hingabe wird gefor-dert. Die Gruppe und das gemeinsame Ziel ist wichtiger als der einzelne. Die Sekte nimmt Einfluß auf die alltägliche Lebensgestaltung: So werden Vorschriften für Essen, Kleidung, Körperpflege, Tages-gestaltung, Ausgangs- und Kontaktsperren aufgestellt. Totalitäre Sekten nehmen aber auch großen Einfluß auf die Sexualität und die Beziehungen ihrer Mitglieder.

Die Sektenmitglieder haben kein Privateigentum und/oder Geld und sind somit materiell von der Sekte abhängig. Sie bekommen meist keine Bezahlung für ihre Tätigkeit und sind weder unfall-, kranken oder rentenversichert. Oftmals werden Paß und Führerschein von der Sektenführung gemeinsam aufbewahrt.

Die Mitglieder brechen mit ihrer früheren Lebensgeschichte: So werden Beziehungen zur Herkunftsfamilie, zu Freunden und Partnern abge-brochen. Schule, Studium und Beruf werden aufgegeben. Die Mitglieder deuten ihre bisherige Lebensgeschichte um.

Systematischer Aufbau einer Sektenidentität: Die Gruppenmitglieder bekommen einen neuen Namen, sie bewegen sich ausschließlich in der Gruppe und unterliegen einer „Umwertung aller Werte“. Damit ver-bunden sind Verlust von Realität und von Tauglichkeit für ein Leben außerhalb der Gruppe. Somit wird neben der materiellen Abhängigkeit auch eine psychische Abhängigkeit vollzogen.

Durch schicksalhaftes Denken wie „Alles ist vorherbestimmt“, oder „Gott will es so“ wird ein magisches Denken herbeigeführt.

5. Techniken zur Persönlichkeitsveränderung

Zur Veränderung der Persönlichkeit werden euphorisierende, stimu-lierende und bewußtseinsverändernde Techniken, wie z.B. Hyper-ventilation, Chanten, Zungenreden, exzessive Meditation usw., eingesetzt.

Durch Fasten, Schlafentzug, körperliche und psychische Über-forderung, sensorische Deprivation und ähnliche Techniken, wird der eventuelle Widerstand der Mitglieder gebrochen und gleichzeitig eine „Sektenpersönlichkeit“ geschaffen.

6. Kontakte zur Umwelt und Umgang mit ehemaligen Mitgliedern und Kritikern

Durch manipulative Anwerbemethoden und unrealistische Ver-sprechungen werden Menschen geködert.

Durch eine ‚Bunkermentalität‘ kapselt sich die Gruppe extrem nach außen ab (‚Innen der Himmel, außen die Hölle‘). So existieren in diesen Gruppen oftmals Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn, bei denen sich diese Gruppe von ‚außen‘ bedroht und angegriffen fühlt.

Für die Gruppe gibt es keinen legitimen Grund dafür, daß Gruppenmitglieder aussteigen; somit werden Aussteiger zu Unpersonen erklärt (‚Vogelfrei‘, Kontaktabbruch). Mitunter werden diese Personen von der Gruppe erpreßt.

Kritiker werden eingeschüchtert und es wird versucht mit Drohungen, Diffamierungen, Telephonterror, Gerichtsprozessen, oder körperlichen Attacken, diese mundtot zu machen.[13]

Hugo Stamm erweitert die Merkmale totalitärer Gruppen um die Tatsache, daß diese Gruppen oftmals Unterorganisationen gründen, mit dem Ziel, daß diese mit der ‚Mutterorganisation‘ meist nicht in Verbindung gebracht werden und der Sekte die Möglichkeit geben, sich hinter dieser zu verstecken.[14]

4. Die besondere Problematik bei Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten

Kinder, die in Sekten aufwachsen – dieses ist ein weitgehend uner-forschtes Gebiet, obwohl es allein in Deutschland ca. 80.000 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre gibt, die bei den Zeugen Jehovas aufwachsen oder etwa 2.000 Kinder und Jugendliche in der Vereinigungskirche ihre Kindheit verbringen.[15]

Die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ gibt in ihrem Endbericht an, daß Experten nach vorsichtigen Schätzungen von etwa 100.000 bis 200.000 Kindern und Jugendlichen ausgehen, die in der BRD in sogenannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen. Allerdings fehlen auch hier statistisch verläßliche Zahlen[16]. Durch die große Differenz bei diesen Schätzungen läßt sich erahnen, wie wenig über diesen Sachverhalt auch von Expertenseite bisher bekannt ist.

So liegt im deutschsprachigen Raum bisher nur eine einzige systematische Untersuchung zu diesem Thema von Kurt-Helmuth Eimuth vor. Doch gerade die Situation von Kindern und Jugendlichen, die in solchen Gruppen aufwachsen, verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Dies liegt vor allem an dem natürlichen Abhängig-keitsverhältnis zwischen ihnen und ihren Eltern, oder Erziehungs-berechtigten, d.h. an ihrer nicht gegebenen oder stark eingeschränkten Entscheidungsfreiheit und -möglichkeit zur individuellen Lebensge-staltung. Dies ist zunächst völlig unbedenklich – im Gegenteil, so ist doch die Familie (oder eine familienähnliche Lebensform) jener Ort, bei der die Erziehung und die Pflege der Kinder auf der Grundlage von Vertrauen zu einer grundlegenden emotionalen Eltern-Kind-Bindung führt.[17]

Die Übermittlung und die Weitergabe von Werten, Glaubens-überzeugungen und auch religiösen Vorstellungen an die nach-folgenden Generation hat eine zentrale Funktion in der Familie, bzw. einer familienanalogen Lebensform. Hierzu zählt auch die Vermittlung von religiösen Anschauungen, die von den großen Volkskirchen abweichen. Diese darf angesichts der Pluralisierung von religiösen und areligiösen Weltanschauungen nicht als problematisch verstanden werden.[18] Die Enquete-Kommission kommt in ihrem Endbericht zu dem Schluß, daß gerade die Achtung und Anerkennung pluraler und kulturell heterogener Lebensformen und Weltanschauungen ein unhinter-gehbarer Bestandteil einer posttraditionellen Ethik [in unserer heutigen Gesellschaft] ist.[19]

Doch ändert sich die Situation schlagartig, wenn erziehungsrelevante Entscheidungen der Eltern oder Erziehungsberechtigten problem-behaftet sind, wie beispielsweise die Mitgliedschaft in einer konflikt-trächtigen, totalitären neuen religiösen Gemeinschaft oder Psychogruppe.[20]

Das Konfliktpotential welches sich aus einer religiös und welt-anschaulich geprägten Erziehung ergibt, kann sich nur aufgrund ihrer spezifischen Normen und Werte, des in der religiösen Anschauung geforderten Umgangs mit Kindern und Jugendlichen ergeben. Diese Problematik bezieht sich auf die im Rahmen der religiösen Erziehung begangenen Übergriffe, Schädigungen, Mißhandlungen und Miß-bräuche [beispielsweise in sexueller Hinsicht].[21]

Die sich hieraus ergebende Problematik bei den klassischen Sekten wie den Zeugen Jehovas ist keineswegs neu. So berichten Lehrer und Lehrerinnen immer wieder von Schwierigkeiten mit Kindern aus diesen Gruppen. Neu hingegen ist, daß in den neuen religiösen Gruppierungen, die seit den siebziger Jahren in Deutschland anzutreffen sind, mittlerweile eine zweite Generation von Kindern in den Sekten heranwächst, bzw. herangewachsen ist. Für diese Kinder versuchen die verschiedenen Gruppen wie etwa das Universelle Leben oder Scientology eigene Erziehungseinrichtungen zu betreiben.[22] Von den Gruppen werden diese Einrichtungen genutzt, um die Kinder und Jugendlichen in ihrem Sinne zu beeinflussen und mit ihrer Ideologie zu indoktrinieren.

Der Sektenspezialist Hugo Stamm beschreibt, warum gerade die Lebenssituation von Kindern, die in Sekten leben, eine andere Problematik aufweist, als die von Erwachsenen, die in solchen Gruppierungen leben. Stamm schreibt, daß Kinder, die in Kulte oder totalitäre Systeme hineingeboren werden, aufgrund des Schicksals in einem doktrinären System aufwachsen. Eine andere Wahl haben diese Kinder nicht. Sie sind hundertprozentige Opfer, auch wenn sie später selbst zu ‚Tätern‘ werden und bei der Anwerbung neuer Mitglieder im Namen der Sekte andere in die Abhängigkeit ziehen.[23] Er sieht das Hauptproblem darin, daß die Mitglieder, die in eine Gruppe hineingeboren wurden, in einem geschlossenen sozialen System aufwachsen, welches für sie die ‚reine‘ Form des Zusammenlebens in einer religiös oder spirituell unantastbaren Gemeinschaft verkörpert. Die komplexe Realität schrumpft auf eine simple Heilslehre, die ihnen als unumstößliche Wahrheit präsentiert wird. Sie nehmen die Welt aus der engen Perspektive einer dogmatischen und isolierten Gruppe wahr. Durch die verzerrte, einseitige Wahrnehmung bleibt ihr Bewußtsein in verschiedenen Lebensbereichen auf einem infantilen Niveau stehen.[24] Hierzu schreibt Stamm weiter, daß die Identität von Kindern geprägt ist durch die Ideologie in solchen Gruppierungen. Ihre Welt besteht aus Feindbildern, und sie laufen Gefahr, soziale oder psychische Auffälligkeiten zu entwickeln. Die von den meisten totalitären Gruppen kultivierten Verfolgungsängste wachsen sich vor allem bei Mitgliedern der zweiten Generation zu Wahnideen aus. Diese Kinder leben in einer Bewußtseinsfalle, ihre Erziehung ist eine einzige Indoktrination.[25]

Mirbach ergänzt Stamms Ausführungen bezüglich der Gefahren, mit denen Kinder in solchen Gruppierungen konfrontiert werden. Sie [die Kinder] laufen Gefahr, die Umwelt als negativ oder zumindest geringwertig abzuqualifizieren. Sie laufen Gefahr, sich selbst als etwas Besseres als die Umwelt vorzukommen. Und sie laufen Gefahr, Anweisungen und Vorschriften, die von außen betrachtet absurd erscheinen, für etwas völlig Selbstverständliches, für die Scheidelinie von Gut und Böse zu halten.[26]

Auch er differenziert zwischen Kindern und Erwachsenen, die durch Sekten indoktriniert wurden. Er schreibt hierzu, daß es einleuchtet, daß die Haltungen [der Sektenideologie] bei Kindern leichter zu erzeugen sind als bei Menschen, die als Erwachsene in eine solche Gruppe gelangen. Erwachsene, die sich einer Sekte zuwenden, haben ihre Persönlichkeit in einem anderen Umfeld bilden und entwickeln können. Sie haben unterschiedlichste Erfahrungen gemacht. Aus diesem Hintergrund können sie ihre Erlebnisse in dieser Sekte bewerten und sich gegebenenfalls, auch wenn das oftmals sehr schwierig ist, wieder von der Sekte abwenden.[27]

Bevor sich diese Arbeit auf die Kinder bezieht, die in den betreffenden Sekten leben, werden im kurzen Entstehung, Ideologie und die Strukturen der betreffenden Gruppierungen erläutert, da diese Informationen von Relevanz sind für das Verständnis der Sekten, bezüglich des Umgangs und der Erziehung der Kinder und Jugendlichen, die in diesen aufwachsen.

Aufgrund der großen Vielzahl von unterschiedlichen Sekten bezieht sich diese Arbeit auf die als totalitär einzustufenden Sekten. Hierzu werden beispielhaft die „Neuapostolische Kirche“ und die „Zeugen Jehovas“ herangezogen, da über diese traditionellen und gesell-schaftlich etablierten Sekten genügend Informationen existieren.

5. Entwicklungspsychologische Aspekte

Im Rahmen einer Anhörung, kommt die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ in ihrem Zwischenbericht zu dem Schluß, daß die Auswirkungen der Praktiken von sogenannten Sekten und Psychogruppen“ nicht in den Bereich der Religions-psychologie, sondern in den Bereich der Entwicklungspsychologie gehören. Hierbei ging es um die Frage, ob es systematische oder entwicklungspsychologische Besonderheiten gibt, die systematisch durch das Aufwachsen in einer solchen Gruppierung ausgelöst werden.[28] Im weiteren schreibt die Kommission, daß dieser Bereich in keiner Weise erforscht und mit empirischen Methoden auch nur schwer erfaßbar ist. Entwicklung ist ein multivariables Geschehen, daß auch von Prädispositionen und Umgebungsvariablen abhängt.[29]

Doch sind in jedem Fall rigoristische Bewegungen problematisch, die Jugendlichen nicht erlauben, ihr Weltbild zu hinterfragen. Beharrt die Gruppe auf Anerkennung ihres Weltbildes [wie es bei klassischen Sekten i.d.R. der Fall ist], könnte dies nur durch Unterwerfung geschehen. Somit kann eine Entwicklung zur Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit nicht stattfinden.[30]

Diese Arbeit wird versuchen, die entwicklungspsychologischen Besonderheiten aufzuzeigen, welche bei Kindern und Jugendlichen in Sekten auftreten können. Hierbei soll u.a. untersucht werden, inwieweit Kinder und Jugendliche, die in diese Sekten hineingeboren wurden, bzw. darin aufgewachsen sind, u.U. nicht befähigt werden, eine eigene autonome Identität und Persönlichkeit zu entwickeln und bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Hierzu sollen einige entwick-lungspsychologische Modelle herangezogen werden, welche im folgenden auf die betreffenden Sekten angewendet werden sollen.

Da es zur Zeit nur sehr wenig Literatur gibt, die sich mit der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzt, welche in Sekten hineingeboren wurden, bzw. darin aufgewachsen sind, wird sich diese Arbeit bei der Beschreibung der Neuapostolischen Kirche hauptsächlich auf die Erfahrungen von Olaf Stoffel beziehen. Stoffel hat u.a. entwicklungspsychologische und sozialisatorische Aspekte bei den Kindern dieser Sekte in seine Arbeit mit einbezogen. Gleichzeitig liefert seine Arbeit die z.Z. umfangreichste und detaillierteste Beschreibung dieser Sekte.

Das darauffolgende Kapitel, welches sich mit Kindern und Jugendlichen der Zeugen Jehovas beschäftigt, untersucht entwicklungspsy-chologische Parallelen, die u.U. zwischen den beiden Sekten bestehen könnten.

5.1 Erik H. Eriksons Theorie der Persönlichkeitsentwicklung

Erikson hat Freuds Phasentheorie übernommen und weiter ausgebaut; er bezeichnet sie aber als Stufen. Sein Modell ist in acht Stufen eingeteilt, welche bis in das späte Erwachsenenalter reichen. Er bezog die soziale Dimension auf die individuelle Biographie mit in sein Modell ein. Seine Theorie beruht darauf, daß jede Stufe ein gewisses Konfliktpotential aufweist, welches es zu bewältigen gilt. Von der Bewältigung dieser Konflikte hängt der Verlauf der weiteren Entwicklung ab.[31] Wenn eine Bewältigung der stadientypischen Krisen nicht gelingt, endet das in bleibenden Persönlichkeitsstörungen.[32]

Die Stufen sind wie folgt aufgebaut:

(1) Vertrauen vs. Mißtrauen (1. Lebensjahr)

In dieser Stufe geht es um ein günstiges Verhältnis zwischen Vertrauen und Mißtrauen. Die Verläßlichkeit und Zuwendung der Pflegeperson nimmt Ängste. Selbstvertrauen und Sicherheit entwickelt sich, wenn dieses Vertrauen bestätigt wird. Ein gewisses Maß an Mißtrauen ist nützlich, um nicht vertrauenswürdigen Personen angemessen zu begegnen und Gefahren zu erkennen. Mißtrauen ist hier im Sinne von Vorsicht und nicht als generalisierten Zweifeln in der Vertrauens-würdigkeit anderer, welche eine soziale Isolation zur Folge hätte.

(2) Autonomie vs. Scham und Zweifel (3 Lebensjahr)

Autonomiebestrebungen werden durch Vertrauen erleichtert, durch angemessene Unterstützung und Gewährenlassen gefördert und durch autoritäre Gehorsamsforderung gestört. Autonomie bedeutet Ver-folgung der eigenen Ziele. Diese können in Konflikt mit vorgegebenen Regeln geraten. Als Beispiel zieht Erikson die Sauberkeitserziehung heran, welche an Freuds anale Phase angelehnt ist. Scham entsteht, wenn die Regeln des Anstands nicht eingehalten werden können oder eigene Vorhaben mißlingen. Zweifel tauchen auf, ob die Vorhaben gelingen, ob die Regeln eingehalten werden können, bzw. ob die Vorhaben gestattet werden. In dieser Phase sieht Erikson die grundlegende Problemstellung, ob wir die Regeln beherrschen, die uns die Welt und das Leben einfacher machen können, oder ob wir von den Regeln beherrscht werden.

(3) Initiative vs. Schuld (4. und 5. Lebensjahr)

Die Kinder haben bereits ein Ich-Bewußtsein entwickelt. In dieser Stufe geht es um die Frage, welches Ich sie sein wollen. Normalerweise werden die Eltern als erste Ideale angesehen. Diese werden mächtig, wissend und schön wahrgenommen. In dieser Phase findet die Gewissensbildung über die Identifikation mit den Eltern und den geschlechtsspezifischen Präferenzen statt. Die Übernahme von Einstellungen ist ein weiteres Entwicklungsthema dieser Phase. Das Kind orientiert sich u.a. an weiteren „Helden“ des realen Lebens und der Phantasie, welche es in Spielen darstellt.

Das Kind erkundet die Welt mit unersättlicher Wißbegier und bildet soziale Kontakte außerhalb der Familie. Die Gefahren dieses Stadiums liegen in zwei Bereichen: Der Herausbildung eines ängstlichen, rigiden, heteronomen Gewissens und eines unrealistischen Ich-Ideals. Beides kann mit Initiativen zu Erlebnissen und angemessenen Erfahrungen des Ich in der Welt interferieren.

(4) Wertsinn vs. Minderwertigkeit (mittlere Kindheit)

Dieses Stadium ist von der Schule geprägt, durch systematische Einführung in die Kultur und Zivilisation, durch Lernanforderungen und Leistungsbewertung. Das zentrale Entwicklungsthema ist Sach-interesse und Leistungsvertrauen oder Mißerfolgsängstlichkeit und Minderwertigkeitsgefühle.

(5) Identität vs. Rollendiffusion (Adoleszenz)

In dieser Phase hat der Jugendliche Facetten eines Selbstkonzeptes aufzubauen im Hinblick auf sein Geschlecht, seine Familienherkunft, auf eine Religion, auf moralische Werte, Bildungs- und Berufsaspiration und entsprechende eigene Fähigkeiten, politische Haltungen usw. Diese Facetten muß der Jugendliche in ein konsistentes Selbstbild integrieren, das seine persönliche Identität ausmacht. Wenn der Jugendliche bei dieser Aufgabe versagt, resultiert daraus eine Rollendiffusion, die durch Unverträglichkeiten und Unausgewogen-heiten zwischen Haltungen und Werten, zwischen Aspiration und Möglichkeiten, durch Instabilität von Zielen, gelegentlich zu ideologischer Einseitigkeit, häufiger zu oberflächlichen und instabilen Engagements und nicht selten zu abweichendem Verhalten führen.

(6) Intimität vs. Isolation (Beginn des Erwachsenenalter)

Intimität mit anderen setzt eine gute integrierte Identität voraus. Unter Intimität ist sind nicht nur sexuelle Beziehungen, sondern der Aufbau von Solidarität in einer Wir-Gruppe und gleichzeitig die Abwehr von Einflüssen und Menschen, die das eigene Wesen gefährden können. Die Identität wird durch Intimität gefördert und gefestigt. Isolation ist die Folge, wenn das Aufbauen von Intimität nicht gelingt.

(7) Generation vs. Stagnation (mittleres Erwachsenenalter)

Das Entwicklungsziel dieser Phase ist die Förderung der Entwicklung der nächsten Generation, der eigenen Kinder und/oder anderer junger Menschen; darüber hinaus berufliches, soziales, politisches Engage-ment. Wenn dieses fehlt sind Stagnation, Selbstabsorbtion und/oder Langeweile zu erwarten.

(8) Ich-Integrität vs. Verzweiflung (spätes Erwachsenenalter)

Im Alter reflektiert der Mensch sein Leben, seine Biographie in ihren Bezügen zu anderen, zur Gemeinschaft. Gleichzeitig ist die Begrenztheit des Lebens zu akzeptieren. Zufriedenheit mit dem Leben ermöglicht Integrität. Wird Integrität nicht erreicht, droht Verzweiflung im Sinne von Trauer um das, was man mit dem Leben getan hat, drohen Furcht vor dem Tod und Vorwürfe gegen sich selbst.[33]

5.2 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben

Zur Definition von Entwicklungsaufgaben schreibt Havighurst: „Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg, während Versagen das Individuum unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben führt.“[34]

Havighurst unterscheidet drei Quellen von Entwicklungsaufgaben: physische Reife, kultureller Druck (Erwartungen der Gesellschaft) und individuelle Zielsetzungen oder Werte.[35]

Oerter faßt diese Begriffe zusammen als:

- „individuelle Leistungsfähigkeit,
- soziokulturelle Entwicklungsnorm und
- individuelle Zielsetzung in einzelnen Lebensregionen“.[36]

Um diese Aufgaben erfüllen zu können, sind individuelle und soziale Gegebenheiten und Ressourcen von Bedeutung. Die Entwicklung ist somit von verschiedenen Faktoren abhängig, wie beispielsweise geistiger und physischer Gesundheit, sozialen Kontextfaktoren wie Herkunftsfamilie und Berufsaspiration, Bildungsvoraussetzungen, mögliche Diskriminierungen von Teilpopulationen, von kulturellen Faktoren, wie genereller Wertschätzung des sozialen Aufstiegs. Die Chancen für eine optimale Entwicklung können zwischen Geburts-kohorten, Familien und Individuum beträchtlich variieren.[37]

„Dieses Modell verbindet Individuum und Umwelt, indem sie kulturelle Anforderungen mit individueller Leistungsfähigkeit verbindet. Gleichzeitig räumt es dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung der eigenen Entwicklung ein.“[38]

Dreher und Dreher haben die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst, unter der Perspektive des Übergangs zwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter dargestellt.

Mittlere Kindheit (6- 12 Jahre)

- Erlernen körperlicher Geschicklichkeit, die für gewöhnliche Spiele notwendig sind
- Aufbau einer positiven Einstellung zu sich selbst als einem wachsendem Organismus
- Lernen, mit Altersgenossen zurechtzukommen
- Entwicklung von Konzepten und Denkschemata, die für das Alltagsleben notwendig sind
- Entwicklung von Gewissen, Moral und einer Wertskala
- Erreichen persönlicher Unabhängigkeit
- Entwicklung von Einstellungen gegenüber sozialen Einrichtungen und Institutionen

Adoleszenz

- Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen
- Übernahme geschlechtsspezifischer Rollen
- Akzeptieren der eigenen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers
- Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Er-wachsenen
- Vorbereitung auf Ehe und Familienleben
- Vorbereiten auf berufliche Karriere
- Werte und ein ethisches System erlangen, Entwicklung einer Ideologie
- Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen
Frühes Erwachsenenalter (18-30 Jahre)
- Auswahl eines Partners
- Mit dem Partner leben lernen
- Verantwortung als Staatsbürger ausüben
- Eine angemessene soziale Gruppe finden[39]

5.3 Die Identitätsbildung

Die Identitätsbildung ist ein zentrales Thema der Adoleszenz. Der Begriff Identität bezieht sich zunächst auf die einzigartige Kombination von persönlichen, unverwechselbaren Daten des Individuums wie Name, Alter, Geschlecht und Beruf, durch welche das Individuum gekennzeichnet ist. Im psychologischen Sinn ist Identität die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit dem Bild, das andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben. Für das Verständnis von Entwicklung im Jugendalter ist noch eine dritte Komponente wichtig, nämlich das eigene Verständnis von Identität, die Selbsterkenntnis und der Sinn für das, was man ist, bzw. sein will.

Meist wird zwischen zwei Komponenten des Selbstkonzeptes differenziert. Die affektive Komponente des Selbstkonzeptes erfaßt das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen. Die kognitive Komponente beinhaltet das Wissen, das man von sich hat und die Selbstwahrnehmung.[40]

Im Zentrum der Identitätsbildung steht die bewußte argumentative und nach relevanter Information suchende Persönlichkeit. Erst die Fähigkeit zur Selbstreflexion setzt das Ringen um Identität in Gang. Die Selbsterkenntnis führt aber auch zu Unstimmigkeiten und Widersprüchen. Die Diskrepanz besteht zwischen dem aktuellen Zustand der Identität und der angestrebten Identität (Real-Ideal-Diskrepanz). Die Bewußtheit über diese Diskrepanz wird als unangenehm und schmerzvoll erfahren.[41]

6. Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche

Die Geburtsstunde der Neuapostolischen Kirche (NAK) geht mit vielen Verwirrungen, Ungereimtheiten und menschlichen Unzulänglichkeiten einher. Kaum eine andere Sekte hat in den Jahren ihres Bestehens so viele Spaltungen und Abspaltungen erlebt wie die NAK. Ihre Geschichte beginnt 1826 in England mit dem ‚Albury-Kreis‘. In diesem Kreis erlebte man Zungenrede, Prophetie und Glaubensheilungen. Die Teilnehmer dieses Kreises waren geprägt von einer Endzeitstimmung und hofften auf eine Erneuerung der Kirche. 1835 sandten sie ‚12 Apostel der Neuzeit‘ in die christliche Welt.[42]

1860 spaltete sich in Deutschland eine Gruppe ab, um eigene Apostel zu berufen. Daraus entstand die NAK mit einer Ämterhierarchie, an deren Spitze seit 1898 der Stammapostel steht.[43]

Unter der Amtszeit des späteren Stammapostels Hermann Niehaus wurde 1930 die Bezeichnung ‚Neuapostolische Kirche‘ eingeführt. Sein Nachfolger Johann Gottfried Bischoff stürzte Sektenmitglieder in große Verwirrung, als er 1951 öffentlich die Niederkunft Christi mit den Worten ankündigte: ‚Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr‘. Nach dessen Tod reagierten viele Anhänger mit Unverständnis, so daß es wieder zu Abspaltungen kam. Doch die meisten hielten auch dem neuen Stammapostel Walter Schmidt die Treue. Seit 1975 ist das Stammapostelamt in den Händen von Schweizern und der Hauptsitz wurde von Dortmund nach Zürich verlegt. Schätzungen zufolge, soll es vier Millionen Anhänger geben, welche in 25.000 Gemeinden organisiert sind. Diese werden von 200 Aposteln geleitet und vom derzeitigen Stammapostelführer Richard Fehr geführt. Die offizielle Bezeichnung der Sekte lautet ‚Neuapostolische Kirche – Internationaler Apostelbund‘. In der Bundesrepublik Deutschland hat die NAK den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.[44]

6.1 Lehre und Ziele der NAK

Die NAK versteht sich als göttliches Gnaden- und Erlösungswerk, in dem die von Jesus begonnene Erlösung vollendet werden soll. Gott bedient sich nach Meinung der NAK des wiederhergestellten Apstelamtes, um seinen Heilsplan mit den Menschen in die Tat umzusetzen. Über den Aposteln steht der Stammapostel, welcher als ‚Repräsentant des Herrn‘ gilt und ihn ‚in vollkommenem Maße verkörpert‘.[45]

Die Schöpfungsgeschichte der Bibel wird wörtlich genommen wie – aufgrund der fundamentalistischen Grundhaltung – alles biblische Ge-schehen generell. Nach der Lehre der NAK kann ohne das wiederaufgerichtete Apostelamt kein Mensch den heiligen Geist empfangen und damit ein Gotteskind werden. Durch die Heilsnot-wendigkeit des Apostelamtes, welches nur in der NAK existiert, sind alle anderen Kirchen abqualifiziert.[46]

Die NAK steht in der Tradition der ‚christlichen‘ Endzeit-gemeinschaften[47], die sich für Gottes Elite halten, welche darauf warten, daß Jesus wiederkommen wird, um die Seinen [die NAK-Gläubigen] zu holen.[48]

[...]


[1] Vgl. Stoffel, Angeklagt: Die neuapostolische Kirche, 1999, S.9.

[2] Vgl. Schätzle, in: Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psycho-gruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S.5.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Stoffel, Angeklagt: Die neuapostolische Kirche, 1999, S.9f.

[5] Vgl. Haack, Jugendsekten, 1991, S.11.

[6] Vgl. Valentin, Sekten, Nagelprobe der Kirche,1997, S.5.

[7] Vgl. Ebd., S.12.

[8] Vgl. Bitter, Sektenreader, http://www.kirchegt.de/kwbitter/sekten.htm, 24.09.1999, S.2.

[9] Vgl. Ebd., S.1.

[10] Vgl. Hemminger, Was ist eine Sekte?, 1995, S.64f.

[11] Mirbach, in: Brinkmann, Krüger (Hrsg.), Kinder und Jugendschutz, Praxisratgeber für Schulleiter, Pädagogen und Eltern, 1998, S.341.

[12] Vgl. Ebd., S.341.

[13] Vgl. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., in: Psychologie Heute, September 1997, S.12ff.

[14] Vgl. Stamm, Sekten, Im Bann von Sucht und Macht, 1997, S.128.

[15] Vgl. Eimuth, Die Sekten-Kinder, 1996, S.9.

[16] Vgl. Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S.164.

[17] Vgl. Rennebach, in: Das Parlament, Nr. 34-35, 14./21. August 1998, S.11.

[18] Vgl. Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S.157ff.

[19] Vgl. Ebd., S.158.

[20] Vgl. Rennebach, in: Das Parlament, Nr. 34-35, 14./21. August 1998, S.11.

[21] Vgl. Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S.158.

[22] Vgl. Eimuth, Die Sekten-Kinder, 1996, S.9.

[23] Vgl. Stamm, Sekten, Im Bann von Sucht und Macht, 1996, S.167.

[24] Ebd.

[25] Ebd., S.167f.

[26] Vgl. Mirbach, in: Brinkmann, Krüger (Hrsg.), Kinder und Jugendschutz, Praxisratgeber für Schulleiter, Pädagogen und Eltern, 1998, S.342f.

[27] Vgl. Ebd.

[28] Vgl. Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ 1996, S.23.

[29] Vgl. Ebd.

[30] Vgl. Ebd.

[31] Vgl. Flammer, Entwicklungstheorien, Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung, 1996, S.85.

[32] Vgl. Erikson, Identität und Lebenszyklus, 1973, (Kap.1,9), in: Montada: Fragen, Konzepte, Perspektiven, in: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie 1995, S.64.

[33] Vgl. Ebd. S.64f.

[34] Havighurst, Developmental tasks and education, 1982, S.2, in: Oerter, Kultur, Ökologie und Entwicklung, in: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie 1995, S.121.

[35] Vgl. Havighurst, Research on a developmental task concept, School review. A journal of secondary education, 1956, S.215, in: Oerter, Kultur, Ökologie und Entwicklung, in: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie 1995, S.121.

[36] Oerter, Kultur, Ökologie und Entwicklung, in: Oerter/Montada (Hrsg.) Entwicklungs-psychologie 1995, S.121.

[37] Vgl. Montada, Fragen, Konzepte, Perspektiven, in: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungs-psychologie 1995, S.67.

[38] Oerter, Kultur, Ökologie und Entwicklung, in: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungs-psychologie 1995, S.121.

[39] Vgl. Dreher & Dreher, Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: Bedeutsamkeit und Bewältigungskonzepte, in: Liepmann & Stiksrud (Hrsg.), Entwicklungsaufgaben und Bewältigungsprobleme in der Adoleszenz, S.56-70, in: Oerter/Dreher, Jugendalter, in: Oerter/Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie 1995, S.328.

[40] Vgl. Oerter/Dreher, Jugendalter, in: Oerter/Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie 1995, S.346.

[41] Vgl. Higgins, Self discrepancy: A theory relating self and affect, Psychological review, 94, 319-340, (Kap.6), in: Oerter/Dreher, Jugendalter, in: Oerter/Montada (Hrsg.), Entwicklungs-psychologie 1995, S.355.

[42] Vgl. Keden, Gehentges, Hemminger, Schmidt-Dominé, Sekten, Geister, Wunderheiler, 1995, S.104.

[43] Vgl. http.\\www.wahle.de/sekten.nak/index.htm, 02.09.1999, S.1.

[44] Vgl. Keden, Gehentges, Hemminger, Schmidt-Dominé, Sekten, Geister, Wunderheiler, 1995, S.105.

[45] Vgl. Ebd., S.105f.

[46] Vgl. Stoffel, Angeklagt: Die Neuapostolische Kirche 1999, S.27.

[47] Vgl. Ebd., S.32.

[48] Vgl. http://www.wahle.de/sekten.nak/index.htm, 02.09.1999, S.11.

Excerpt out of 101 pages

Details

Title
Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten
Subtitle
Eine entwicklungspsychologische Sicht auf die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas
College
University of Applied Sciences Koblenz  (Fachbereich Sozialarbeit)
Grade
1,7
Author
Year
2000
Pages
101
Catalog Number
V26661
ISBN (eBook)
9783638289313
ISBN (Book)
9783656519836
File size
842 KB
Language
German
Keywords
Sozialisation, Kindern, Jugendlichen, Sekten, Sicht, Beispiel, Neuapostolischen, Kirche, Zeugen, Jehovas
Quote paper
Torsten Graef (Author), 2000, Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in totalitären Sekten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26661

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