Zwischen den Kulturen: Crossover? Fusion? Third Stream? Zur Funktion des "Jazz" in Kompositionen des 20. Jahrhunderts


Essay, 2014

50 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Zur Fragestellung

2. Ortsbestimmungen

3. Welche Kulturen?

4. Kultur ist kein Objekt

5. Kulturelle Durchlässigkeit

6. Exkurs: Kultur im multikulturellen Raum – Perspektiven für Pluralität

7. Im Spannungsfeld des Normativen

8. Die eine Kultur: Jazz

9. Die andere Kultur: Kunstmusik

10. Rezeption

11. Produktion in der Kultur „dazwischen“ – eine neue Kultur?

12. Zusammenfassung

13. Ein komponierter Ausblick

Literaturverzeichnis

Vorwort

Diese Schrift ist das Ergebnis des Versuchs, wesentliche Aspekte meines vergriffenen Buches „Jazz“ in der Kunstmusik wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sinnvoll erscheint dies, weil darin schon seinerzeit im Bereich einer bestimmten musikalischen Rezeption und Produktion Probleme berührt wurden, die – wenn auch in anderen Kontexten – heute im Horizont von Themen diskutiert werden, die mit Globalisierung und Pluralität zusammenhängen.

Auf die ausführlichen Analysen der ursprünglichen Arbeit musste und konnte hier verzichtet werden; die entscheidenden Erkenntnisse und Einsichten werden in komprimierter Form an exemplarischen Fällen in aktualisierter und auf das Kulturproblem fokussierter Weise dargestellt.

Wieder bin ich Malte Sachsse zutiefst dankbar – diesmal nicht nur für gründliches und schnelles Korrekturlesen, sondern auch für zahlreiche kritische Anmerkungen und hilfreiche Hinweise .

Hamburg, im Dezember 2013

Peter W. Schatt

1. Zur Fragestellung

Nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Lebensbereichen wie z. B. in der postmodernen Architektur oder aber bei Neuzüchtungen botanischer oder zoologischer Art sind Mischformen ambivalent: Fast immer rümpfen Puristen die Nase, weil sie die ursprünglichen Formen, Codes, Regeln , Bedeutungs- und Wertvorstellungen missachtet oder gar verraten glauben, während andere an ihnen den Reiz schätzen, das Ursprüngliche im Neuen zu entdecken und den Charme des Veränderten zu genießen.

Möglicherweise war gerade diese Ambivalenz ein Grund dafür, dass in der Musik Mischformen – die letztlich als Experimente auf die ästhetische Tragfähigkeit des Wagnisses der Grenzverletzung gelten können – seit Beginn des 20. Jahrhunderts Konjunktur hatten. Schwierig war und ist es, sie einzuordnen und zu benennen. Kompositionen, die sich dem Rekurs auf östliche – arabische, chinesische, indische oder japanische – Musik verdanken, tragen außer dem vagen Schlagwort „Exotik“ für die Anmutung des Fremden in oder an ihnen keine Bezeichnung, die ein einheitsstiftendes Moment herausstellt; Stücke, in denen Jazz mit anderer Musik verbunden wurde, benennt man in der Regel nach dem ehemaligen Vorgang der Verbindung „Fusion“[1] oder „Crossover“. Diese Bezeichnungen wie auch der Begriff „Third Stream“ verweisen aber letztlich nur auf einen groben phänomenologischen Umriss der Erscheinung, ohne etwas über die Eigenart des Benannten in historischer oder ästhetischer Hinsicht oder dessen Bedeutung bzw. deren Interpretation auszusagen.

Darum geht es aber im Folgenden: weniger um vordergründig fasslich e Erscheinungen, sondern mehr um deren ästhetische und kompositorische – mithin auch kulturelle – Hintergründe: weniger um die materiellen Substanzen des Tonsatzes also, sondern vielmehr um die materialen[2] Funktionen des einen im Zusammenhang mit dem Anderen , mithin um Modifikationen kulturell fundierter musikalischer und musikbezogener Bedeutung und Bedeutsamkeit.

Da es sich um die Frage des Umgangs mit elementaren musikalisch-ästhetischen Vorstellungen einer fundamental fremden Kultur in einer anderen und die Einarbeitung des genuin Anderen in s „Eigene“ sowie um die Dimensionen der Anverwandlung von Erscheinungen und deren Bedeutungen beider Bereiche geht handelt , wird hier zwangsläufig eine Perspektive eingenommen, die auf die rezipierende Kultur fokussiert ist. Eine solche „eurozentrische“ Sehweise ist hier nicht nur nicht falsch, sondern notwendig, um darzustellen, wie europäische Komponisten Elemente einer anderen Kultur verarbeiteten und dadurch deuteten, um die Funktion des Anderen und die Geltungsmöglichkeiten des neu Entstandenen in ästhetischer und kultureller Hinsicht darzustellen.[3]

Konsequenz einer solchen „Zentrierung“ ist die ausschließliche Fokussierung auf komponierte Musik, in die Jazz Eingang fand – nicht umgekehrt – sowie die Konzentration auf Europa. Während Letztere dem hier möglichen Umfang geschuldet ist, beruht Erstere schlicht auf den Interessen des Verfassers. Freilich wären musikwissenschaftlich fundierte und kulturwissenschaftlich orientierte Untersuchungen wünschenswert, in denen die einschlägigen Fragen mit B b lick auf die „Fusion“- und „Crossover“-Phänomene im Bereich des Jazz gestellt und beantwortet würden.

Obwohl mit der hier vorliegenden Arbeit musikwissenschaftliche und nicht musikpädagogische Anliegen verfolgt werden, sind die Untersuchungsinhalte und -ergebnisse musikpädagogisch in doppelter Hinsicht relevant: Zum einen berühren sie Fragen interkultureller Kommunikation und Bedeutungsgenerierung im Medium Musik; zum anderen stellen sie Analysen und Interpretationen von Kompositionen bereit, die für den schulischen Musikunterricht von nicht geringem Interesse sein dürften.

2. Ortsbestimmungen

Die Redewendung „zwischen den Kulturen“, derer sich der Titel dieser Ausführungen bedient, gehört zu den Topoi, die gern verwendet werden, wenn es darum geht, eine präzise Ortsbestimmung zu vermeiden. Eine ähnliche Überschrift gleichen Charakters trägt ein Kapitel aus Clemens Kühns Formenlehre: Unter der Überschrift „ Z z wischen den Welten“[4] befasst er sich mit Musiken, die sich von anderen unterscheiden, aber Gemeinsamkeiten mit ihnen aufweisen, ohne einer dieser anderen ohne weiteres zuzuordnen zu s ein und ohne einen eigenen präzise benennbaren Typus zu bilden. Grundlage für eine solche Einschätzung ist die Vorstellung von Abgrenzungen, von genau benennbaren Trennlinien, von Kriterien, die Unterscheidungen ermöglichen zwischen demjenigen, was zu den „Welten“ – bzw. Formen, Kulturen oder Stilen – gehört und was zwar nicht zu ihnen gehört , wohl aber Beziehungen zu ihnen aufweist – wenn auch solche, die eine eindeutige Zugehörigkeit nicht bestimmbar machen. So nehmen Werke, „die nicht geradeaus eine Idee verwirklichen“[5], für Clemens Kühn eine „Zwischenstellung“ ein, zu deren Präzisierung „Art und Maß des formalen Ineinander (sic!) [...] ebenso konkretisiert werden [müssen], wie man dessen Gründen nachspüren sollte.“[6] Eine solche Stellung kann sich für ihn u. a. aus der Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Prinzipien wie dem konzertanten und dem sinfonischen Prinzip oder der Abhängigkeit von zwei unterschiedlichen Formideen wie der des Rondos und der Sonate ergeben, sie kann aus der Einbindung historisierender Elemente oder einer neuartigen Rollenverteilung innerhalb einer etablierten Form entstehen. Bei der Musik, um die es in unserem Zusammenhang geht, entsteht die „Zwischenstellung“ aus Verbindungen unterschiedlichster Art zwischen Musiken, die unterschiedlichen Räumen, Zeiten und kulturellen Milieus angehören ; – zwischen Musiken, die anders als die Fälle, die Kühn darstellt, eigentlich gar nichts – ( nicht einmal das musikalische Material[7] ) – miteinander gemeinsam haben. Die Kompositionen indessen, um die es geht, haben genau dies gemeinsam: dass sie sich auf „ nicht zusammengehörige “ Musiken beziehen.

Dies näher zu umreißen ist das Anliegen des Folgenden; es geht darum, eine quasi topologische Bestimmung zu ermöglichen, die sich nicht in der Beschreibung von Umrissen erschöpft, sondern die nach Funktionen der Phänomene fragt, die eine Konstituierung von Sinn und Bedeutung zulassen. Ziel ist es, den Ort von Musiken herauszustellen, die sich zwar von anderen unterscheiden, sich aber durch Gemeinsamkeiten mit ihnen und untereinander auszeichnen. Dadurch sind sie eben nicht irgendwie in einem Niemandsland „zwischen“ etwas anderem zu verorten, sondern sie bilden quasi eine dritte Kultur, da sie sich dem verdanken, was man als Kulturen von zwei unterschiedlichen – und musikalisch unterscheidbaren – Lebensbereichen beschreiben kann. Dabei wird zu klären sein, ob diese Kultur einen einheitlichen Kern hat bzw. worin er besteht, oder ob ihre Einheitlichkeit (die die Bezeichnung „Kultur“ rechtfertigen würde) gerade in der Vielfalt liegt. Mit den Begriffen „Crossover“ oder „Fusion“ versucht man im Jazz oder auch in der Popmusik das Feld phänomenal zu fassen, das auch hier in Rede steht; allerdings sind beide Begriffe nur auf die äußere Erscheinung gerichtet: Sie besagen, dass irgendetwas sich kreuzt bzw. dass irgendeine Verbindung hergestellt wurde. Damit ist zwar ein Beitrag zur Topographie dieser Erscheinungen geleistet; was in topologischer Hinsicht zu sagen wäre, bleibt aber ausgeblendet, solange unklar bleibt, was sich warum, in welcher Weise, in welcher Funktion und mit welchen Konsequenzen kreuzt bzw. welchen Sinn und welchen Gehalt zum einen die „fusionierten“ Elemente behalten oder neu gewonnen haben, welchen Sinn und Gehalt das neu entstandene – z. B. in Hinsicht auf den Bereich, dem seine Elemente entstammten – gewonnen hat. Ähnliches gilt für den Begriff „Third Stream“, den Gunther Schuller für Verbindungen zwischen Jazz und Kunstmusik prägte. Er besagt letztlich nur, dass es neben diesen beiden eine andere, dritte Art von Musik gebe; unklar bleibt , wodurch dieser „Strom“ sich auszeichnet, außer dass in ihm Elemente beider anderer „Ströme“ in irgendeiner Mischung vorkommen.

Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass wir gewohnt sind, nicht nur von Musiken, sondern auch von Kulturen in räumlichen Begriffen zu sprechen. Bereits die Formulierung „Jazz in“ setzt voraus, dass es einen Raum gibt, in dem Jazz seinen Platz findet. Auch die Rede von „Or t sbestimmungen“, „Welten“ und „Abgrenzungen“, Topographien und Topologien unterstellt räumlich Gegebenes und legt entsprechende Methoden nahe, es zu beschreiben. Folgerichtig ist es insofern, dass wir z. B. auch von „Kulturtransfer“ sprechen[8], als könne man eine Kultur verpacken, an einen anderen Ort versenden und dort in etwas anderes einbauen – gewissermaßen „Kulturimplantationen“ vornehmen: „Jazz in Kompositionen“ wäre dann das Ergebnis einer solchen Transplantation im Medium Musik. Eine solche Vorstellung ist allerdings nur begrenzt sinnvoll. Die Grenzen sind erreicht, wenn man die musiktheoretisch fasslichen Gegebenheiten beschrieben hat – selbst eine Rede vom „Material“ wäre im Kontext solchen Denkens nicht angebracht, bleibe doch dessen historische Dimension, die das Materiale vom Materiellen unterscheidet, nicht mitbedacht. Vollends alles, was Musik zur „symbolischen Form“ i. S. Ernst Cassirers werden lässt – ihre Aufladung mit kultureller Bedeutung und Bedeutsamkeit nämlich – lässt sich mit einer gegenständlich-objekthaften Vorstellung dessen, was transplantiert, transferiert oder auch transformiert sein soll, kaum verbinden. Musik, die aus einem anderen Kulturbereich stammt, unterscheidet sich von Menschen im Exil oder von Menschen mit einem Migrationshintergrund: Während diese selbst ihre ursprüngliche Kultur im Rahmen einer anderen „Welt“ leibhaftig mit sich tragen und sie nach außen auch artikulieren können, sofern sie sich nach deren Normen und Werten orientieren und verhalten, bleiben in der Musik die Momente der anderen Kultur nur im Rahmen eines vergleichenden Beobachtungsprozesses erkennbar, da Musik sich nicht orientiert oder verhält, sondern nur frühere Orientierungen und Verhaltensweisen anderer Menschen erkennen lässt – und dies auch nur soweit, wie es die Orientierungen des Beobachters zulassen. Kulturtransfer oder auch Formen von Interkulturalität als Ergebnisse einer „Kulturimplantation“ sind damit niemals Sache der Musik, sondern bestenfalls eine Angelegenheit derer, die diese hervorgebracht haben. Dem Musik- oder Kulturwissenschaftler bleibt nicht anderes übrig, als anhand der Ergebnisse die Spuren dieses Vorgangs der Hervorbringung zu suchen und ihn mit deren Hilfe zu rekonstruieren, soweit es geht. Bestimmbar sind allerdings die Verhältnisse zwischen Vorlage und komponiertem Ergebnis sowie dessen Relationen zu anderen Kompositionen. Diese wiederum lassen Rückschlüsse auf Haltungen und Einstellungen der Komponisten und ihre Intentionen hinsichtlich der Rezeption zu.

3. Welche Kulturen?

Wenn in Zusammenhang mit „Jazz“ und „Kompositionen des 20. Jahrhunderts“ eine Unterscheidung getroffen wird – eine solche wird vorausgesetzt, wenn von „Jazz in...“ die Rede ist – geht man offensichtlich davon aus, dass Jazz nicht zu „den Kompositionen“ des 20. Jahrhunderts zu zählen ist. In der Tat gehört es zu den Spezifika des Jazz, nicht komponiert, sondern improvisiert zu sein. Allerdings ist dies zum einen heute kein notwendiges Kriterium der Unterscheidung mehr, wenn man bedenkt, dass auch andere Musik sich anderen als kompositorischen Prozessen verdankt. Und umgekehrt gehört einiges für unser heutiges Verständnis in den Bereich des Jazz, zu dessen Realisation es Prinzipien und Materialien bedarf, die – wie das Arrangement – eher auf Komponieren als auf Improvisieren verweisen.

Ähnlich heikel ist eine Unterscheidung der „Kulturen“, denen Jazz einerseits, Kompositionen des 20. Jahrhunderts angehören oder die diese gar bilden sollen. Wenn im Titel „Kulturen“ unterschieden werden, könnte man zunächst an „die“ Kulturen der früher so genannten „Neuen“ und der „Alten“ Welt und an ihre spezifische Musik denken. Dies liegt zumindest insofern nahe, als zur Zeit der Entstehung der hier in Rede stehenden Kompositionen der Jazz als „die Musik“ Amerikas und die Konzert- bzw. Kunstmusik der Zeit und ihre Vorläufer zumindest den Zeitgenossen als „die Musik“ der „ Alten Welt “ galt – und zwar in beiden „Kulturen“. Allerdings bildete weder in Amerika noch in Europa die Musik den Spiegel einer Kultur , noch konstituierte sie gar deren Einheit. In der „Alten Welt“ existierten außer artifizieller Musik selbstverständlich auch unterhaltend-funktionale Genres wie Operette, Schlager, Chanson oder Tanzmusik, die auf ganz anderen ästhetischen und kompositorischen Prinzipien beruhte, und in der „Neuen Welt“ wurde das Musikleben nicht nur von Jazz, sondern auch von Folksongs, religiösen Hymnen und komponierter Musik aller Art bestimmt. Außerdem ist zu bedenken, dass Jazz (was auch immer man d a runter verstand) seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa vertreten war wie umgekehrt schon lange vorher europäische Musik in Amerika zu hören war. Mit „Jazz“ und „Kunstmusik“ vermögen wir allenfalls die typische Musik aus Teilbereichen dieser Kulturen, nicht aber deren repräsentative Form zu fassen, also nur dasjenige, was charakteristische Segmente dieser Kulturen von anderen unterscheidet, weil es nur in ihnen – also in Amerika bzw. in Europa – entstand und dort eine besondere Weise der Entfaltung erfuhr. Dabei können wir nicht umhin , auch bei dieser Einschränkung zuzugeben, dass diese Vorstellungen den Charakter eines „Bildes“ haben, das wir uns machen: Wir fassen zusammen und verzichten auf Differenzierung, um uns die Dinge deutlicher – und auch einfacher – zu machen.[9]

Während also die Zuordnung einer bestimmten Musik zu einer regional bestimmten „Kultur“ fragwürdig bleiben muss, steht außer Frage, dass auch in Zeiten, in denen die Unterscheidungen zwischen „Alter“ und „Neuer Welt“ oder zwischen Kunst- und Gebrauchsmusik fallengelassen wurden, doch die Differenz zwischen den Lebenswelten erhalten bli e b, für die jene „Musiken“ als charakteristisch galten: dem Milieu der Hochkultur und den Milieus, die durch das Trivial- oder das Spannungsschema gekennzeichnet sind.[10] Damit aber nehmen wir weniger regional, temporal oder gar ethnisch umreißbare „Inhalte“ in den Blick, wenn wir von „Kulturen“ sprechen, sondern vielmehr Sinn-, Bedeutungs- und Geltungszusammenhänge, die mit den Inhalten verknüpft worden sind oder verknüpft werden können. Insofern heben wir hier auf einen Kulturbegriff ab, wie ihn mit Bezug auf Musik August Halm für die Fuge und die Sonate sowie für eine dritte Kultur, die Kunst Anton Bruckners, geprägt hat.[11] Halm vertrat die Auffassung, dass die beiden erstgenannten „Kulturen der Musik“ sich völlig unterschiedlichen normativen Vorstellungen der Formung – und damit auch verschiedenen Vorstellungen davon, wie der Mensch mit den Gegebenheiten der Welt umgehen könne und solle – verdanken.[12] Für uns sind „Jazz“ und „Kunstmusik“ solche polaren Bereiche des Denkens in und über Musik und dessen Kontexte, so dass wir eine „Kultur des Jazz“ und eine – ganz andere – der Kunstmusik annehmen. Auf Erstere gehen wir später ein; für Letztere gehen wir davon aus, dass sie nicht nur primär notiert ist bzw. in der Tradition notierter Musik steht, sondern dass das Verhältnis von Teil und Ganzem in einer Weise geplant ist, die den Ideen des Authentischen und Originellen in unverwechselbarer Weise in der Einheit des geschlossenen Werks verpflichtet sind.[13]

Worum es hier geht, sind also Sinngebungen von Begegnungen , die durch von Zusammenführungen dieser Kulturen in musikalischen Formen entstanden; sie können als Ergebnisse der Konstituierung von Bedeutung und Bedeutsamkeit[14] durch den Komponisten und als Anlässe zu deren Konstituierung durch die Hörerschaft gelten . Bei Begegnungen im anthropologischen wie auch hier im musikalischen Sinne haben wir es mit Wahrnehmung und deutendem Erkennen zu tun, mit Einschätzung des Anderen im Vergleich mit dem, was man sein Eigenes nennt, und im ästhetischen Bereich im besonderen dokumentiert sich dies in einer Produktion durch Auswahl von Material und Einsatz von Material „als etwas“ durch Anwendung von Technik.

4. Kultur ist kein Objekt

Wenn Kultur ein Objekt wäre, könnte man sie bewegen und mit ihr umgehen. So leicht allerdings ist ihr nicht beizukommen, denn sie entäußert sich zwar in Objektivationen, auch in Gegenständen – Bildern, Skulpturen, Büchern, Partituren – , aber in diesen geht nicht auf, was mit Kultur gemeint ist. Wenn wir von Kultur sprechen, meinen wir nicht ihre Entäußerungen, sondern deren Begründungen, Veranlassungen, Hintergründe – wir sprechen von Handlungsorientierungen und -motivationen. Denn Kultur ist kein Bereich von Gegenständen, sondern ein prozessualer Zusammenhang von Werten, Normen, Orientierungen, Interpretationen und Handlungsweisen, der sich in symbolischen Formen zeigt und durch deren Interpretation Gehalt gewinnt.

Dies schließt Kommunikation und Interaktion ein als Bedingungen dafür, dass ein soziales Etwas wie Kultur überhaupt entstehen kann. Wer also in eine Sonate eine Jazz-Passage oder Blue Notes einbaut, arbeitet im Horizont von kompositorischen Entscheidungen, die andere getroffen haben, zeitgleich irgendwo treffen und irgendwann treffen werden, setzt seine Orientierungen ins Verhältnis zu deren Orientierungen und teilt dies – als veröffentlichte Komposition oder Improvisation – anderen mit.

[...]


[1] Dieser Begriff tritt in doppelter Bedeutung auf: im engeren Sinne als Bezeichnung für die Verbindung zwischen Jazz und Rock, im weiteren Sinne für die Synthese zwischen Jazz und jedweder anderer Musik, gleich viel ob Konzertmusik, indische, japanische oder europäische (Volks-)Musik.

[2] Wir rekurrieren hier auf den Materialbegriff Theodor W. Adornos, der kein physikalischer, sondern ein durch und durch historischer – mithin auf die Bedeutung des tönenden Phänomens gerichteter – ist. (Vgl. Adorno 1998 a, S. 38 ff. und Dahlhaus 2005, S. 277)

[3] Eine solche Sehweise wurde dem Verfasser im Kontext der Frage nach Möglichkeiten und Bedingungen für Interkulturalität unlängst (vgl. Barth 2008) in Verkennung der auch hier aufgeworfenen Problemstellung einerseits, in Vernachlässigung meiner jüngeren Veröffentlichungen andererseits vorgehalten (vgl. Schatt 2004 a, 2004 b).

[4] Kühn 1989, S. 198-203

[5] Ebenda, S. 198

[6] Ebenda

[7] Zum Materialbegriff siehe S. 8 4 , Anm. 2

[8] Vgl. dazu Schatt 2009

[9] Siehe dazu ausführlich Sachsse 2013.

[10] Vgl. Schulze 1992

[11] Vgl. Halm 1947 (1913)

[12] Vgl. Schatt 2000

[13] Auch sogenannte „offene Kompositionen“ genügen – auf freilich dialektische Weise – dieser Vorstellung, sofern sie den Gedanken des Komponierens noch verwirklichen.

[14] Zu dieser Unterscheidung vgl. Schatt 2007 a

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Zwischen den Kulturen: Crossover? Fusion? Third Stream? Zur Funktion des "Jazz" in Kompositionen des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Folkwang Universität der Künste
Autor
Jahr
2014
Seiten
50
Katalognummer
V266667
ISBN (eBook)
9783656569169
ISBN (Buch)
9783656569138
Dateigröße
1179 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zwischen, kulturen, crossover, fusion, third, stream, funktion, jazz, kompositionen, jahrhunderts
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Peter W. Schatt (Autor:in), 2014, Zwischen den Kulturen: Crossover? Fusion? Third Stream? Zur Funktion des "Jazz" in Kompositionen des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266667

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