Leseprobe
Über den Zeugenbeweis und den Zeugenschutz im spanischen Strafprozeßrecht T
Fernando del Cacho MillánT T
Einführung
Der Zeugenbeweis ist im Strafprozeß v.a. deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Zeuge das am häufigsten benutzte Beweismittel ist und viele Strafurteile hauptsächlich auf der Zeugenaussage beruhen. Trotzdem kommt es häufig vor, daß Zeugen ihre Aussage verweigern und zwar aus Angst oder, wie es die Darstellung der Motive zur LO 19/1994 vom 23. Dezember zum Schutz von Zeugen und Sachverständigen in Strafverfahren (BOE vom 24. Dezember 1994)[1] ausdrückt, aus Furcht, Repressalien zu erleiden. In einem Versuch, die richtige Anwendung der Strafrechtsordnung und die Bestrafung der Schuldigen zu gewährleisten (vgl. die Darstellung der Motive), ermöglicht es das soeben genannte Gesetz, eine Reihe von Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen, und will so nicht nur ihre Mitarbeit, sondern ihre Aussage ohne den Druck von Angst und Furcht erreichen[2]. In dem vorliegenden Aufsatz wird das geltende spanische Modell des Zeugenschutzes im Strafprozeß und die sich aus seiner Anwendung in der Praxis ergebenden Schwierigkeiten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung und nicht sehr umfangreichen Literatur[3] dargestellt. Zunächst soll der Zeugenbeweis im allgemeinen im aktuellen spanischen Strafprozeßrecht und im Anschluß daran der Zeugenschutz dargestellt werden.
A. Über den Zeugenbeweis im spanischen Strafprozeßrecht
I. Die spanische Verfassung und die neue Auslegung des Strafprozeßgesetzes
Die Verfassung von 1978 hat einen solchen Einfluß auf das Strafprozeßgesetz von 1882 ausgeübt, daß man von einem "Zusammensturz" desselben sprechen kann. Der Art. 24.2 der Verfassung sieht, ohne auf die sich aus ihm ergebenden Probleme einzugehen, ein Verteidigungsrecht und ein Recht auf einen Prozeß mit allem Garantien vor. Der Prozeß wird nicht mehr als Instrument für die Strafverfolgung auf Leben und Tod des Täters, sondern als Garantie seiner Freiheit und seiner Rechte gesehen. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß dieses von der Verfassung eingeführte Modell des Strafprozesses auch und v.a. das Opfer[4] und alle diejenigen, die in irgendeiner Form am Prozeß, z.B. als Zeugen oder Sachverständige beteiligt sind, schützen soll. Es ist nicht leicht, die Verbindung der Prozeßgarantien mit dem Opfer- und Zeugenschutz und dem Schutz der anderen Prozeßbeteilgten, zu erreichen und der Gesetzgeber muß sich für die Bevorzugung des einen oder anderen entscheiden. Seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 28. Juli 1981[5] ist die Lehre der Ansicht, daß als authentische Beweise nur die betrachtet werden können, die in der Hauptverhandlung erbracht wurden. Konkret im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis haben sowohl das Verfassungsgericht als auch das oberste Gericht entschieden, daß die Zeugenaussage aus der Voruntersuchung im Rahmen der Hauptverhandlung wiederholt werden muß, um auf diese Weise alle Garantien zu gewährleisten[6]. Zu dieser Regel gibt es aber Ausnahmen, die ihrerseits Probleme aufwerfen und deren Bedeutung für den Zeugenbeweis im folgenden behandelt werden soll.
II. Verpflichtungen und Rechte des Zeugen im spanischen Strafprozeß
1. Die Verpflichtungen des Zeugen
1.1 Die Aussagepflicht des Zeugen
Das Strafprozeßgesetz von 1882 selbst unterscheidet zwischen der Aussagepflicht (Art. 716[7] ) und der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen (Art. 410)[8]. Gemäß Art. 716 Abs.1 (vgl. Art. 420), der durch das Gesetz 10/92 vom 30. April abgeändert wurde, wird der Zeuge, der seine Aussage verweigert, mit einer Geldstrafe zwischen 5000 und 25000 Peseten (ca. 60 bis 300 DM bzw. 30 bis 150 Euros).
Für den Fall, daß der Zeuge daraufhin auf seiner Aussageverweigerung beharrt, sieht Art. 716 Abs. 2 ein Verfahren wegen groben Ungehorsams gegenüber der Staatsgewalt vor (vgl. Art. 556 des Strafgesetzbuches)[9]. Was Ausnahmen von der Aussagepflicht anbetrifft, muß zunächst auf die spanische Verfassung verwiesen werden, die in ihrem Art. 23 Abs. 3 vorsieht, daß das Gesetz die Fälle regelt, in denen keine Pflicht besteht, über vermutlich deliktische Sachverhalte auszusagen. Tatsächlich sind in den Art. 411 Abs. 2, 416, 417 Abs. 1 und 2 und 418 des Strafgesetzbuches Ausnahmen von der Aussagepflicht vorgesehen, die mit den in der Verfassung vorgesehenen zwei Gründen "Verwandtschaft oder Berufsgeheimnis" übereinstimmen und diese genauer formulieren. Über den Wortlaut der Verfassung hinaus ist in Art. 411 Abs. 1 des Strafprozeßgesetzes eine andere Ausnahme von der Aussage- (und Erscheinens-)pflicht für den König, die Königin, ihre jeweiligen Ehegatten, den Kronprinzen und die Regenten normiert und es ist offensichtlich, daß hier keine "Gründe der Verwandtschaft oder des Berufsgeheimnisses" vorliegen. Ebensowenig ist in der Verfassung die Ausnahme von der Aussagepflicht "wegen (physischer oder psychischer) Geschäftsunfähigkeit/Behinderung" vorgesehen, die aber in Art. 417 Abs. 3 geregelt ist.
1.2 Die Erscheinenspflicht des Zeugen
Auch für die Pflicht des Zeugen zu erscheinen oder "der Aufforderung des Gerichts zu folgen" (Art.410) ist im Fall der Nichtbefolgung eine Strafe von 5000 bis 25000 Peseten (vgl. den Gegenwert unter 1.1) vorgesehen und im Fall des weiteren Beharrens kann der Zeuge gem. Art. 420 Abs.1 sowohl dem Untersuchungsrichter zwangsweise vorgeführt[10] als auch wegen der Weigerung, als Zeuge zu erscheinen, verurteilt[11] werden. Es ist aber nicht logisch nachzuvollziehen, daß das Opfer einer Straftat wegen Nichterscheinens in Gewahrsam genommen und bis zur Vernehmung durch einen Untersuchungsrichter in einer Zelle eingeschlossen oder zwangsweise zur Hauptverhandlung vorgeführt wird. Deswegen und wegen der in Strafprozessen möglicherweise vorkommenden Furcht des Zeugen vor Repressalien durch den Angeklagten wurde diese Vorschrift in der Praxis nur selten angewendet[12]. Das bedeutet, daß die in dem Strafprozeßgesetz vorgesehenen Abhilfen, die dem Erscheinen und der Aussage des Zeugen dienen sollen, ihren Zweck nicht erfüllen. Es bleibt abzuwarten, ob Art. 463 Abs. 1 des Strafgesetzbuches in der Praxis angewendet wird, was aber nach dem soeben angeführten nicht wahrscheinlich ist. Andererseits ist der Zeuge, der vor dem Untersuchungsrichter aussagt, verpflichtet, vor dem entscheidenden Richter zu erscheinen, wobei für den Fall des Nichterscheinens die lächerlich geringe Geldstrafe von 25 bis 250 Peseten (30 Pfennig bis drei DM oder 0,15 bis 1,5 Euro) vorgesehen ist (vgl. Art. 446 Abs. 1). Die Ausnahmen zu der Pflicht, zu erscheinen, die grundsätzlich alle betrifft, die auf spanischem Staatsgebiet wohnen (vgl. Art. 410) und nicht verhindert sind (Art. 410 und 420 Abs. 1), sind in den Art. 411 und 412 geregelt. Art. 411 bezieht sich wiederum auf den König etc. und Art. 412 auf diejenigen, die zwar nicht erscheinen aber aussagen müssen. Als verhindert kann in Analogie zu Art. 707 (der sich eigentlich nur auf die Hauptverhandlung bezieht) derjenige verstanden werden, der sich in einem Zustand der krankhaften Störung der Geistestätigkeit befindet.
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T Mein herzlicher Dank gilt Dorothea Göttgens und Christoph Grammer, wissenschaftlichen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br. für die Übersetzung.
T T Privatdozent für Prozeßrecht. Universidad Cardenal Herrera - CEU (Elche, Spanien). Rechtsanwalt
[1] Die Vorbereitung zu diesem Gesetz befindet sich in einem Gesetzesvorschlag aus dem Jahre 1993, der auf einen Vorschlag einer Gruppe von baskisch-nationalistischen Senatoren zurückgeht und 12 Artikel enthält; vgl. das BOCG vom 15. September 1993.
[2] Vergleiche dazu die Art. 718 bis 720 LECrim und v.a. den letztgenannten, der die Aussage des Zeugen an einem anderen Ort als an dem der Sitzung vorsieht, falls das Gericht dies anordnet.
[3] Ausschließlich auf den Zeugenschutz beziehen sich die folgenden Aufsätze: Cartagena Pastor, F., Protección de testigos en causas criminales: La Ley orgánica 19/1994, de 23 de diciembre, BIMJ núm.1758, 15 de octubre de 1995, págs. 79 y sigs.; Fuentes Soriano, O., La LO 19/1994 de protección de testigos y peritos en causas criminales, RDP núm.1, 1996, págs. 135 y sigs.
[4] Diesem Opferschutz sollen Gesetzesinitiativen wie z.B. das Gesetz 35/1995 vom 11. Dezember zur Hilfe und Unterstützung für Opfer von Gewalt- und Sexualverbrechen dienen. Vergleiche auch den Art.781 Abs.1 des Strafprozeßgesetzes, demzufolge die Staatsanwaltschaft über den Schutz der Rechte des Opfers wachen soll.
[5] BJC núm. 6.
[6] SSTS vom 30. Mai 1988 (Ar. 4110) und vom 12. Juli 1988 (ebda 6566). STC Urteil 80/1986 vom 17. Juni, BJC núm. 63.
[7] Im Folgenden sind alle Artikel ohne Angaben solche der spanischen Strafprozeßordnung.
[8] Bzgl. der Aussagepflicht und der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, des Zeugen, der Militärgerichtsbarkeit unterliegt, vgl. Art. 429 Abs. 2 des Strafprozeßgesetzes.
[9] Dieser Artikel sieht eine Freiheitsstrafe zwischen 6 Monaten und einem Jahr vor.
[10] Oder auch "in Gewahrsam genommen" werden, vgl. Urteil 98/1986 des Verfassungsgerichts vom 10. Juli (BJC núm. 63).
[11] Vgl. zusätzlich Art. 463 Abs. 1 des Strafgesetzbuches, der im Fall des weiteren Beharrens eine Arreststrafe von 12 bis 18 Wochenenden und eine Geldstrafe von 6 bis 9 Monaten vorsieht, falls sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, anderenfalls nur die eben genannte Geldstrafe.
[12] Zwischen 1990 und 1997 haben wir kein Urteil gefunden, welches sich auf diesen Artikel bezieht.