Die Zwiespältigkeit Jean-Baptiste Grenouilles in Süskinds "Parfum"


Dossier / Travail, 2013

24 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grenouille – Süskinds Hauptfigur wird „unter die Lupe genommen“
2.1. Grenouilles animalischer Charakter – sein Dasein als „Zeck“
2.2. Grenouille – das abscheuliche Monstrum
2.3. Grenouille als Gespenst
2.4. Grenouille – Phänomen und Schöpfer
2.5. Grenouille – „Luzifer“ und „Dracula“
2.6. Grenouille – Die Geschichte eines Mörders

3. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. […] Er hieß Jean-Baptiste Grenouille […].[1]

Mit diesen Worten führt Patrick Süskind die Hauptfigur seines Weltbestsellers

„Das Parfum“ ein und führt dem Leser gleich zu Beginn die Zwiespältigkeit dieser Person vor Augen. Im Laufe des Romans begleitet der Leser das Geruchsgenie Grenouille bei seiner Lebensaufgabe – der Kreation des perfekten Parfums. Dabei lernt er ihn als gnadenlosen Serienmörder kennen, der 25 junge Frauen tötet, um sein Werk zu vollbringen. Doch ebenso tritt die Hauptfigur als verängstigtes Wesen auf, das darüber entsetzt ist, sich selbst nicht riechen zu können. Zwischen Bewunderung und Hass sowie Mitleid und Ekel gegenüber diesem einsamen, genialen Ungeheuer fühlt sich der Leser hin- und hergerissen. Ihm wird eine „Extremfigur“[2] mit „bizarre[m] Charakter“[3] präsentiert: Grenouille besitzt eine abgrundtief böse Seite und dennoch ist er in gewisser Weise eine zu bemitleidende Kreatur, die in totaler Einsamkeit und weit entfernt von jeglichen Gefühlszuwendungen lebt.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollen im Folgenden die zahlreichen, teils gegensätzlichen Eigenschaften Grenouilles an geeigneten Textstellen herausgearbeitet und untersucht werden. Welche Charaktere schreibt der Autor seinem Helden zu und worin besteht die Eigentümlichkeit der Figur? Wie kann eine so außergewöhnliche Persönlichkeit wie Grenouille trotz ihrer ambivalenten Charakterzüge funktionieren? In der Literatur beschäftigt man sich seit Jahren mit Süskinds rätselhaftem Genie, in zahlreichen Figureninterpretationen werden seine Eigenschaften erforscht und gedeutet. In dieser Arbeit wird insbesondere auf die Betrachtungen von Bernd Matzkowski, Friedel Schardt, Werner Frizen und Marilies Spancken zurückgegriffen, die sich intensiv mit Jean-Baptistes Wesen auseinandergesetzt haben. Interessante Aspekte liefern auch María Cecilia Barbetta und Katja Schettler, die die Hauptperson des „Parfums“ aus der Perspektive des Neo-Phantastischen bzw. der Postmoderne beleuchten. Auf die Werke dieser beiden Autorinnen wird ebenfalls Bezug genommen. Bei der Figurenanalyse liegt der Fokus auf nachstehenden Aspekten, die man Süskinds Protagonisten in der Forschungsliteratur überwiegend zuschreibt:[4]

ñGrenouilles animalischer Charakter – sein Dasein als „Zeck“[5]

- Grenouille – das abscheuliche Monstrum
- Grenouille als Gespenst
- Grenouille – Phänomen und Schöpfer
- Grenouille – „Luzifer“ und „Dracula“
- Grenouille – „Die Geschichte eines Mörders“[6]

2. Grenouille – Süskinds Hauptfigur wird „unter die Lupe genommen“

2.1. Grenouilles animalischer Charakter – sein Dasein als „Zeck“

Am 17. Juli 1738 wird Jean-Baptiste Grenouille in Paris geboren. Von der eigenen Mutter als „neugeborene[s] Ding“ bezeichnet, das sie „bestimmt würde haben verrecken lassen“[7] und verstoßen von allen weiteren Menschen, die ihm im Leben noch begegnen sollten, steht Grenouilles tragende Rolle in der Gesellschaft vom Tag seiner Geburt an fest: Er ist von Anfang an ein Außenseiter infolge seiner Andersartigkeit. Vier Ammen lehnen das Neugeborene ab, „[k]eine wollte es länger als ein paar Tage behalten.“[8] Normalerweise wird Säuglingen mit Liebe, Zuwendung und Geborgenheit begegnet – nicht so Grenouille. Doch warum erfährt gerade dieses Kind Abneigung und Lieblosigkeit? Die Figur wird bereits zu Beginn des Romans mit animalischen Zügen beschrieben. Das Riechorgan des Protagonisten wird als „Nüstern“ bezeichnet, mit denen er schon als Säugling seine Umgebung „[er]schnupperte“.[9] Pater Terrier nimmt das Neugeborene für kurze Zeit in seine Obhut, nachdem die Amme Jeanne Bussie sich weigert, den Jungen weiterhin zu ernähren. Anfangs bezeichnet der Pater den Säugling noch als „arme[s] kleine[s] Kind“ und „unschuldige[s] Wesen“, das friedlich „schlummert“. Doch als das Baby erwacht und ihn mit seiner „gierigen kleinen Nase“ auswittert, ekelt sich Terrier vor Grenouille. Von diesem Moment an sieht der Mann in dem Säugling „ein feindseliges Animal“, bezeichnet ihn als „Ding“ und vergleicht ihn mit einer „Spinne“.[10] Auch die Beschreibung von Grenouilles Augen erinnert vielmehr an ein neugeborenes Tier als an ein neugeborenes Kind:

Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opal-

weiß-cremig, von einer Art schleimigen Schleier überzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet.[11]

Dies erweckt den Eindruck, als sei Jean-Baptiste fast noch blind – wie auch viele Jungtiere nach der Geburt. Sein Riechorgan hingegen scheint schon längst ausgeprägt und erinnert an den extrem differenzierten Geruchssinn von Tieren:[12]

Während die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, […].[13]

Man könnte meinen, der Protagonist „sieht“ durch seine Nase. Somit gelingt es ihm, trotz des noch eingeschränkten Sehsinns sein Umfeld zu entdecken. Friedel Schardt schreibt in seiner Interpretation über Grenouille, dass das Kind „nur aus Nase zu bestehen, […] und ausschließlich Geruch aufzunehmen“ scheint.[14]

Das Kind nimmt also nicht, wie andere Kinder, die Welt mit allen Sinnen, vor allem mit Augen, Gehör und Tastsinn wahr, sondern konzentriert sich allein auf die Nase.[15]

Der ausgeprägte Geruchssinn Grenouilles ist sehr auffällig und wird selbst von Außenstehenden als unnormal empfunden. Alain Corbin bringt das Geruchsorgan mit Animalität in Verbindung:

Als Sinn der Lust, der Begierde, der Triebhaftigkeit trägt das Riechorgan den Stempel der Animalität. Riechen und Schnüffeln erinnert an etwas Tierisches. Die sprachliche Unfähigkeit, Geruchsempfindungen auszudrücken, würde den Menschen, wenn dieser Sinn vorherrschte, zu einem an die Außenwelt gefesselten Wesen machen.[16]

Corbin, der sich intensiv mit dem Thema „Geruch“ auseinandersetzt, stellt laut Werner Frizen und Marilies Spancken „eine der wichtigsten kulturgeschichtlichen Quellen SÜSKINDS“[17] dar. Weiterhin erfährt man, dass Grimal den Jungen einige Zeit lang wie ein Tier hält. Nachdem der Gerber jedoch merkt, dass das Kind, zäh und robust in seiner Art, durchaus eine wertvolle Arbeitskraft für ihn ist, behandelt er Jean-Baptiste „wie ein nützliches Haustier“.[18] Bernd Matzkowski weist in seiner Analyse über den Roman darauf hin, dass der Protagonist immer wieder mit anderen Tieren verglichen wird, die beim Leser eher negative Assoziationen wecken und Gefühle, wie Schaudern bzw. Abneigung hervorrufen.[19] Grenouille wird sowohl innerlich als auch äußerlich mit Eigenschaften beschrieben, die für durchschnittliche Menschen untypisch sind. Das Absonderliche und Hässliche der Schlüsselfigur werden sowohl durch ständige Tiervergleiche, als auch durch die häufige Gegenüberstellung von „normalen“ Menschen immer wieder betont. Schardt bezeichnet Süskinds Hauptperson als „Ausnahmemensch“, dessen Einzigartigkeit in einem Widerspruch besteht: Grenouille besitzt keinen eigenen Geruch, hat jedoch eine „exzellente Nase“.[20] Seine Geruchlosigkeit ist von Geburt an vorhanden[21] und stellt für den Säugling sogar eine Gefahr dar, da sich aufgrund dessen niemand um ihn kümmern will.[22] Die Amme Jeanne Bussie stellt fest, dass das Kind überhaupt nicht riecht und vergleicht den Jungen mit anderen „Menschenkinder[n]“:[23]

‚Ich weiß nur eins: daß mich vor diesem Säugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen.’[24]

Sie ekelt sich vor Grenouille angesichts seiner Andersartigkeit und weigert sich strikt, das Kind weiterhin zu behalten.

‚[I]ch, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!’[25]

Neben der Amme und dem Pater Terrier findet auch Baldini, dass Grenouille unheimlich ist. Als der Junge bei ihrer ersten Begegnung seine außergewöhnlichen Fähigkeiten unter Beweis stellt, begegnet ihm der Meister mit Argwohn. Beschreibungen, wie „schwarze Kröte“, „Gekrächze“, „zischel[n]“ und „schlangenhaft“ lassen Baldinis Gedanken beim Anblick des Fremden erahnen.[26] Süskind verleiht seiner Hauptfigur die Eigenschaften eines „Zecks“. Somit gelingt es Jean-Baptiste in einem Volk von Menschen zu leben, das ihm nichts als Abneigung und Ekel entgegenbringt.[27] Bereits zu Beginn seines Lebens wird Grenouille als „zäh wie ein resistentes Bakterium und genügsam wie ein „Zeck“[28] beschrieben. Er überlebt „die eigene Geburt im Abfall“[29] und übersteht Krankheiten, an denen viele andere Menschen zur damaligen Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gestorben wären:

Im Verlauf seiner Kindheit überlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbrühung der Brust mit kochendem Wasser.[30]

Grenouille kommt jedoch lediglich mit ein paar „Narben“, „Grind“, „Schrunde“ und einem „leicht verkrüppelten Fuß“ davon.[31] Des Weiteren erkrankt er an einem Milzbrand, an den aber letztendlich nur noch die „großen schwarzen Karbunkel“ auf Grenouilles Haut erinnern.[32] Hierbei wird der Unterschied zwischen Jean-Baptiste und anderen Gesellen hervorgehoben. Im Gegensatz zu denen ist Grenouille nach seiner Krankheit resistent gegen den Milzbrand und läuft nicht mehr Gefahr, sich erneut anzustecken.[33] Schardt sieht die Eigenschaften des Zecks neben großer Robustheit auch in der Geduld, jahrelang warten zu können, „bis seine Zeit kommt.“[34]

[...]


[1] Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1994, S. 5.

[2] Vgl. Hans-Georg Rodek: Kein Grund zur Beunruhigung. Hier stößt das Kino an seine

Grenzen: Die ‚Parfum‛-Verfilmung von Tykwer und Eichinger. In: Die Welt 213 (2006), S. 23.

[3] Vgl. Gespräch mit Tom Tykwer. In: Andrew Birkin/Bernd Eichinger/Tom Tykwer: Das Parfum. Das Buch zum Film. Zürich 2006, S. 19-24, hier S. 21.

[4] Dabei wird auf folgende Werke zurückgegriffen:

- María Cecilia Barbetta: Poetik des Neo-Phantastischen. Patrick Süskinds Roman ‚Das Parfum’. Würzburg 2002, S. 118-133 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 354).
- Werner Frizen/Marilies Spancken: Patrick Süskind. Das Parfum. München 1996, S. 42-69 (Oldenbourg Interpretationen, Bd. 78).
- Bernd Matzkowski, Patrick Süskind: Textanalyse und Interpretation zu Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Hollfeld ²2012, S. 61-75 (Königs Erläuterungen, Bd. 386).
- Friedel Schardt: Interpretationshilfe Deutsch. Patrick Süskind: Das Parfum. Interpretiert von Friedel Schardt. Freising 2011, S. 30-43, 52-55.
- Katja Schettler: Eros, Liebe und Lieblosigkeit in Das Parfum. In: Psychogramme der Postmoderne. Neue Untersuchungen zum Werk Patrick Süskinds. Hrsg. von Andreas Blödorn/Christine Hummel. Trier 2008, S. 39-51 (Kleine Reihe, Bd. 5).
- Süskind (1994).

[5] Hierbei handelt es sich um eine in Süskinds Roman häufig zu findende Bezeichnung für die Hauptfigur.

[6] Dieses Zitat entstammt dem Untertitel von Süskinds „Parfum“.

[7] Süskind (1994), S. 8f.

[8] ebd., S. 9.

[9] Vgl. ebd., S. 22f.

[10] Vgl. Süskind (1994), S. 20-24.

[11] ebd., S. 22.

[12] Vgl. Frizen/Spancken (1996), S. 46.

[13] Süskind (1994), S. 22.

[14] Schardt (2011), S. 30.

[15] ebd.

[16] Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin 2005, S. 15.

[17] Frizen/Spancken (1996), S. 44.

[18] Vgl. Süskind (1994), S. 43.

[19] Vgl. Matzkowski (2012), S. 64.

[20] Vgl. Schardt (2011), S. 52.

[21] Vgl. Schettler (2008), S. 43.

[22] Vgl. Schardt (2011), S. 52.

[23] Vgl. Süskind (1994), S. 15.

[24] ebd., S. 16.

[25] ebd., S. 17.

[26] Vgl. ebd., S. 92-96.

[27] Vgl. Schardt (2011), S. 52.

[28] Süskind (1994), S. 27.

[29] ebd.

[30] ebd.

[31] Vgl. Süskind (1994), S. 27.

[32] Vgl. ebd., S. 42.

[33] Vgl. ebd.

[34] Schardt (2011), S. 53.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
Die Zwiespältigkeit Jean-Baptiste Grenouilles in Süskinds "Parfum"
Université
Humboldt-University of Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Cours
Vergleichende Literatur- und Filmanalyse
Note
2,0
Auteur
Année
2013
Pages
24
N° de catalogue
V267197
ISBN (ebook)
9783656573142
ISBN (Livre)
9783656573128
Taille d'un fichier
466 KB
Langue
allemand
Mots clés
zwiespältigkeit, jean-baptiste, grenouilles, süskinds, parfum
Citation du texte
Julia Ratajczak (Auteur), 2013, Die Zwiespältigkeit Jean-Baptiste Grenouilles in Süskinds "Parfum", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267197

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