Lernen geht anders! Schulentwicklung in Kooperation mit der Sozialen Arbeit


Thèse de Bachelor, 2013

75 Pages, Note: 1,0


Extrait


INHALTSANGABE

1.Einleitung

2.Bildung und Lernen
2.1.Begriffs- und Zielbestimmung von Bildung und Lernen
2.2.Bildung als Erfolgs- und Risikofaktor
2.3. Ganzheitliche Bildung und der erweiterte Bildungsbegriff

3. Schule
3.1.Auftrag und Ziel der schulischen Bildung
3.2.Besondere Herausforderungen an Schule
3.3.Heterogenität und Inklusion
3.4.Der aktuelle Bildungsdiskurs- Schule und Bildung in der Kritik

4.Schulsozialarbeit
4.1.Rechtsgrundlagen, Grundsätze und Handlungsprinzipien
4.2.Aufgaben und besondere Herausforderungen der Schulsozialarbeit
4.3.Spannungsfeld Schule und Schulsozialarbeit

5. Schulentwicklung in Kooperation mit Schulsozialarbeit
5.1.Prämissen für ein erfolgreiches Lernen
5.2.Etablierung von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften
5.3.Bildung von Kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften

6.Zusammenfassung und Ausblick

7.Literaturverzeichnis

1.Einleitung

„Die Schule erreicht ihre Ziele nicht, die Schule erreicht ihre Schüler nicht“ (von Hentig 1999:24). Seit Jahrzehnten steht das deutsche Schul- und Bildungssystem im Mittelpunkt öffentlicher Kritik. Von drohendem „Schul- Infarkt“ und „Bulimielernen“ ist die Rede, von „Trichterpädagogik“ (Oevermann 2004:29), Schule wird als Dressureinrichtung und SchülerInnen als gehorsame PflichterfüllerInnen betitelt und sogar der Bedarf einer Bildungsrevolution wird ausgerufen (vgl. Precht 2012). Im Gegensatz zu der „Bildungsmisere“ steht die Zunahme höherer Bildungsabschlüsse (vgl. Braun 2006:27). Es besteht eine Kluft zwischen Bildungsarmut und Bildungs“reichtum“ und damit eine massive Chancenungerechtigkeit, welche vom derzeitigen Bildungssystem ausgeht.

Der Erziehungswissenschaftler Thomas Rauschenbach (2009:13) bezeichnet Bildung als „wesentliche Überlebensressource des 21. Jahrhunderts“, der Schweitzer Kinderarzt Remo Largo (2010:156) als „eine der großen sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts“. Bildung ist zur zentralen Chancenzuteilungsinstanz geworden, sie ebnet den Weg in eine erfolgreiche Zukunft oder versperrt ihn (vgl. Rauschenbach 2009:12).

Jugendhilfe und Schulsozialarbeit mit ihren unverzichtbaren pädagogisch- sozialen Instrumenten des sozialen Lernens und den Methoden der Problembearbeitung werden zunehmend bedeutende Gestaltungsakteure hinsichtlich des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen (vgl. ebd.: 35f). Kritisiert wird das Schattendasein der Kinder- und Jugendhilfe[1] am Rande von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik, Böhnisch und Schröer bezeichnen die Jugendhilfe sogar als „Trittbrettfahrerin auf dem immer schneller werdenden Bildungszug“ (Böhnisch 2011:51). Es gilt kritisch zu überprüfen, wie viel Relevanz der Sozialen Arbeit/ Schulsozialarbeit im Kontext von Schule und Bildung durch die Bildungspolitik eingeräumt wird und ob eine Bildungspartnerschaft mit der Sozialen Arbeit ernsthaft angestrebt wird.

Diese Bachelorarbeit setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Jugendhilfe in Bezug auf eine innovative Bildungs- und Schulentwicklung zu Recht als „Aufsteiger der Saison“ (Rauschenbach 2009:34) bezeichnet werden kann. Sie widerlegt sowohl die Aussage von Kentler (1972:10), dass „Schule keine Sozialpädagogik benötigt“ als auch die Aussage von Müller, welcher die Kinder- und Jugendhilfe als ein „Anhängsel des scholaren Bildungsunternehmens“ bezeichnet und welcher die „ausufernde Bildungseuphorie in der Jugendhilfe durch eine Abrüstungsempfehlung“ vorschlägt (Müller 2007:100). Bewusst werden in der vorliegenden Arbeit bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Schulentwicklung verschiedene Perspektiven (Schule/ LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern, sozialpädagogische Fachkräfte) eingenommen, um potenzielle Chancen und Barrieren im Prozess der Schulentwicklung zu identifizieren.

Diese Arbeit zeigt auf, dass es keine Utopie, sondern realisierbare Vision ist, eine Annäherung zwischen Schule und Jugendhilfe/ Schulsozialarbeit herbeizuführen und in gleichberechtigter sowie gegenseitig respektvoller Kooperation ein anderes d. h. chancengerechteres, ganzheitliches und nachhaltiges Lernen zu ermöglichen. Soziale Arbeit hat durch ihre ganzheitliche Denk- und Arbeitsweise, ihr Wissen über die Folgen von psychosozialen Benachteiligungen und ihre Methodenvielfalt andere Zugangsmöglichkeiten um die passenden Antworten auf Fragen einer innovativen und chancengerechten Schulentwicklung zu generieren. Bildung, Familie, Schule und Jugendhilfe sind in der heutigen Zeit untrennbare und unverzichtbare Segmente eines zeitgemäßen Aufwachsens geworden (vgl. Rauschenbach 2009:28). Es wird häufig noch verkannt, dass die Soziale Arbeit genau die passenden Antworten auf die Fragen einer reformbedürftigen Schule hat. Denn viele Reformbestrebungen beinhalten zwar didaktische Innovationen, gestalten jedoch die Schule nicht „pädagogischer“ und chancengerechter.

Das Herauslösen von Individuen aus ihren traditionellen Bindungs- und Versorgungsstrukturen, die Individualisierung sozialer Ungleichheit und die Pluralisierung der Lebensstile führen zu verstärkten Unsicherheiten und Haltlosigkeiten, besonders für benachteiligte Kinder[2]. Schule hingegen ist „die einzige Instanz, an der auch Kinder aus dysfunktionalen Familien Lebensgrund und Lebensordnung zukommt“ (von Hentig 1993:211).

Die Motivation für die Auswahl dieses Bachelor Themas ist der Erfahrungshintergrund der Verfasserin innerhalb ihrer Berufstätigkeit als Schulsozialarbeiterin. Es zeigte sich immer wieder, dass bereits in der Grundschule die Chancen für weitere Lebenskarrieren vergeben werden – oder eben nicht. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher nicht mit didaktischen Alternativen der Unterrichtsgestaltung und grenzt sich deutlich von der Idee eines innovativen Schulkonzeptes in Form einer „Flickschusterei“ aus Schulreformen und sozialpädagogischen Angeboten ab. Die Arbeit beschreibt, wie das Selbsthilfepotenzial der Schule/ Lehrerschaft durch die Kooperation mit der Sozialen Arbeit aktiviert und unterstützt werden kann, um eine innovative und chancengerechtere Bildung zu ermöglichen. Innovative Bildung meint dabei eine schülerInnenzentrierte Bildung, welche ganzheitlich, chancengerecht, erfahrungsbasiert und auch unter gesundheitsförderlichen Aspekten ausgerichtet ist.

Die Arbeit ist in fünf Themenblöcke gegliedert. Neben Begriffs-, Aufgaben- und Zielbestimmungen werden die Systeme Schule und Soziale Arbeit/ Schulsozialarbeit in ihrer Unterschiedlichkeit dargestellt. Gliederungspunkt 4.2., Aufgaben der Schulsozialarbeit, gibt erste Antworten auf die Frage, welche Bedeutung die Soziale Arbeit/ Schulsozialarbeit für heutige Bildungsprozesse hat. Themenblock 5 stellt durch die Beschreibung von kooperativen Veränderungsmöglichkeiten aller an der Bildung beteiligten Personen und Institutionen, speziell Schulsozialarbeit und Schule, den Schwerpunkt der Arbeit dar. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem grundliegenden, aktuellen und brisantem Thema Heterogenität und Inklusion. Des Weiteren werden die Hürden in der Kooperation von Schule und Schulsozialarbeit dargestellt und fortlaufend konkrete Schulentwicklungsmöglichkeiten in Kooperation mit der Sozialen Arbeit/ Schulsozialarbeit.

2.Bildung und Lernen

2.1.Begriffs- und Zielbestimmung von Bildung und Lernen

Im gesellschaftlichen und politischen Diskurs ist Bildung zu einem zentralen Begriff geworden . Bildung ist ein sehr geläufiger und zum Allgemeingut gewordener Terminus, welcher jedoch ohne fachliche Exklusivität von Politik und Öffentlichkeit verwendet wird. Genauer betrachtet weist er jedoch eine eigentümliche Unbestimmtheit auf, so spricht Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Thiersch (2011:162) von einem „Containerbegriff“. Der Begriff Bildung wird aufgrund unterschiedlicher Bildungstheorien aus verschiedenen Professionen mit vielfältigen Zuschreibungen, Interpretationen, Widersprüchen, Paradoxien sowie auch mit Erwartungen und Hoffnungen versehen.

Wilhelm von Humboldt bezeichnete unter anderem die Gestaltung der Welt und die damit verbundene Gestaltung der Persönlichkeit als Bildung (vgl. Tenorth 2013). Von Hentig verknüpft das humanitäre Bildungsverständnis mit politischen Aspekten und benennt als Bildungsziel die Gerechtigkeit in Form der richtigen Balance für die Gesellschaft, die Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit, und ordnet diesen Aspekt eindeutig der politischen Bildung zu (vgl. von Hentig 1999:4, 2003:135). Auch der Pädagoge und Politiker Heydorn betont den politischen Aspekt der Bildung, deren Ziel es sei, „Macht aufzuheben und den freigewordenen Menschen an ihre Stelle zu setzen“. Er bezeichnet Bildung als „Revolution des Bewusstseins“ (Heydorn 1970: 336f). Oevermann hingegen stellt das autonome und handlungsfähige Subjekt in den Vordergrund seiner bildungstheoretischen Betrachtung. Das Subjekt kann durch Bildung sein Leben aktiv und authentisch entsprechend seinen Vorstellungen und Zielen gestalten. Eine temporäre Einschränkung der Autonomie und Authentizität räumt er ein, während hingegen Bourdieus Ansicht nach das Subjekt sehr durch Automatismen geprägt ist. Der Pädagoge habe dabei die Aufgabe, mögliche Autonomie -Einschränkungen des Subjektes zu beseitigen (vgl. Oevermann 2008:62ff). Eine weitere Definition verwendet Müller, indem er Bildung als „den Prozess der Entwicklung von Individualität und Persönlichkeit eines Menschen in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden sozialen und natürlichen Umwelt“ beschreibt und auf den ganzheitlichen Charakter von Bildung hinweist: „Diese Aufgabe betrifft den ganzen Menschen mit Kopf, Herz und Verstand“ (Müller 2009: 67).

Es lässt sich jedoch feststellen, dass, im Gegensatz zu Oevermanns vorhergehend genannter Aufgabe der Autonomiesteigerung, in den vergangenen 30 Jahren Bildung eher ein undefiniertes Synonym für Schule und Unterricht, für Qualifizierung und Wissen sowie für den Erwerb von Abschlüssen und Zertifikaten war (vgl. Rauschenbach 2009:29). Die Gemeinsamkeit der verschiedenen traditionellen Bildungstheorien ist, dass Bildung untrennbar mit dem Erwerb kognitiver Kompetenzen in Schule, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen verbunden ist. Gegenwärtig erweitert sich der Bildungsbegriff allmählich und schließt Lernen ein, welches neben kognitiven auch soziale, emotionale, erfahrungsbezogene und lebenspraktische Elemente beinhaltet. Diese werden auch außerhalb von Bildungseinrichtungen erworben, sind wenig messbar und durch Leistungskontrollen nur sehr beschränkt überprüfbar, aber dennoch von immenser und zunehmender Bedeutung. Die Diskussion um das g anzheitliche und kompetenzorientierte Lernen wird unter Gliederungspunkt 2.3. ausführlich dargestellt. Längst geht es nicht mehr nur darum, um der Existenzsicherung willen zu lernen, sondern sich mobil und flexibel in einer sich rasant wandelnden Welt zurecht finden zu können und sich gesellschaftliche Anerkennung zu sichern. Die Entgrenzung von Bildungsorten und Lernwelten (vgl. Mack 2013:3) erfordert, die Inhalte und Ziele von Bildung und Lernen neu zu diskutieren und an die jetzigen veränderten Lebensherausforderungen anzupassen. Bildung ist nach wie vor ein bedeutender, wenn nicht sogar der bedeutendste Faktor, für die Gestaltung individueller Lebens- und Erwerbschancen und umfasst heute weitaus mehr als das immer noch „enge“ Bildungsverständnis von Schulen. Thiersch (2011:63) bezeichnet Bildung als Prozess des „Strebens nach einem gelingenden Leben“ und misst ihr eine hohe Existenzrelevanz zu: Bildung soll dem Überleben dienen.

Das eigene „Bildungskapital“ hat einen maßgeblichen Einfluss auf das Einkommen, die Teilhabe am Alltag, im Beruf, am Wohlstand und auf die Teilhabe in der Gemeinschaft.

Bildung im heutigen, erweiterten Verständnis soll den Menschen dazu anregen, eigene Potenziale zu entdecken und zu entfalten, eröffnet Perspektiven und fördert eine eigenständige, selbstbestimmte und erfüllende Lebensführung. Sie kann auch als der freie und sich individuell vollziehende Fähigkeitsgewinn des Menschen, sich selbst und seine Beziehung zur Welt zu gestalten, bezeichnet werden (vgl. Melville 2009:59,60). Analog formuliert von Hentig, dass das Ziel der Bildung einerseits eine in sich selbst bestimmende Individualität sei, welche „als solche die Menschheit bereichere“ und andererseits die Möglichkeit zum Glücksgewinn darstelle (von Hentig 1999:39,77). Selbstbildung ist somit ein wesentlicher Aspekt der Bildung. Dabei „bildet alles, selbst wenn es langweilt oder gleichgültig lässt oder abschreckt, denn bei Bildung es geht um die geistige Verarbeitung der Erfahrung und nicht um das, was die Schulen tun“ (ebenda: 13, 57 und vgl. Thiersch 2011: 63). Bildung in Bezug auf ihre gesellschaftliche Funktion hat einen maßgeblichen Einfluss auf den Bestand der demokratischen Kultur, der Solidarität in der Gesellschaft und deren zentrale Werte und Regeln (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001:2).

Mit dem Begriff Lernen wurde ursprünglich überwiegend der Erwerb theoretischen Wissens und zum Teil auch Fähigkeiten im motorischen Bereich (z. B. schwimmen und Fahrrad fahren lernen) bezeichnet. Analog zum Bildungsbegriff bezog sich der Gedanke des Wissensgewinnes überwiegend auf dessen Erwerb in Bildungseinrichtungen. Heute wird der Begriff Lernen sehr differenziert verwendet, was auch darauf hindeutet, dass er sich im Diskurs befindet und an Bedeutung gewonnen hat: Es ist z. B. die Rede vom subjektiven Lerninteresse, vom formellen und informellen und nicht- formellen Lernen, vom expansiven und defensiven Lernen, vom kompetenzorientierten und lebenslangen Lernen.

Lernen beinhaltet primär den Aufbau und die Erweiterung von Verhaltens- und Wissensmustern“ (Thiersch 2011:162) und „ist ein Prozess, bei dem man einen Weg zurücklegt und dabei zu Wissen gelangt." (Mielke 2001:11). Lernen kann somit als Prozess der Selbstverständigung mit neuen Aspekten, Faktoren oder Gegenständen bezeichnet werden.

Nach Holzkamp (2004:29), Psychologe und Begründer der Subjekttheorie, setzt Lernen dann ein, wenn die eigene Handlungsfähigkeit nicht ausreicht und der Mensch eine Diskrepanzerfahrung macht („Wenn das Subjekt in seinem normalen Handlungsvollzug auf Hindernisse oder Widerstand gestoßen ist“). Er betont, dass kein Individuum entgegen seinen eigenen Interessen handelt und immer Gründe für sein Verhalten hat (vgl. Holzkamp 1993:188, 1995: 839). Das menschliche Verhalten zielt nach Holzkamp (1995:834) immer auf eine erweiterte gesellschaftliche Teilhabe. Wissen, welches „fremdgesteuert“ ist und nur als passives Wissen reproduziert wird, ist „Unwissen“, da es mit keiner selbsttätigen Erkenntnis verbunden ist (vgl. Oevermann 2002:45f). Subjektorientierung bedeutet aus subjekttheoretischer Perspektive immer zweierlei: Der Ausgangspunkt des Bildungsprozesses sind die subjektiven Handlungsproblematiken, welche mit dem Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Bedeutungen vermittelt und verglichen werden müssen. Je nachdem, aus welcher Motivation heraus das Subjekt eine Handlungsproblematik zu bewältigen versucht, kommt es zu defensivem oder expansivem Lernen (Holzkamp 2004:29).Holzkamp vollzieht einen Perspektivwechsel und bezieht sich auf die Sicht des Lernenden und nicht des Lehrenden.

Expansives Lernen bezeichnet dabei effektives Lernen mit subjektivem Gewinn und defensives Lernen bezeichnet „angeordnetes“, fast „nutzloses“ Lernen ohne subjektiven und nachhaltigen Gewinn, Oevermann (2004:29) bezeichnet den Weg des expansiven Lernens als „Trichterpädagogik“. Die daraus folgende Erkenntnis ist, dass sich Lernprozesse nicht von außen steuern lassen. Ergebnisse der Hirnforschung bestätigen, dass Wissen nicht „gelehrt“ werden kann, sondern Wissen vom Lernenden jeweils neu geschaffen werden muss. „Die alte instruktionistische Vorstellung, dass der Lehrende Informationen aussendet, die der Lernende aufnimmt, entschlüsselt, mit seinem Vorwissen verbindet und dann bei sich abspeichert, funktioniert nicht besonders gut“ (Roth 2001:54ff). Analog der Subjektteorie ist lehren nicht gleich lernen, es ist ein großer Irrtum, zu glauben, dass “1:1“ identisch gelernt wird, was gelehrt wurde.

Das Expansive Lernen oder auch selbstbestimmte Lernen gewinnt zunehmend an Bedeutung, da vom Lernenden eine eigene Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft vorgenommen werden kann. Es geht einerseits darum, eigene Lerninteressen zu verfolgen und andererseits gesellschaftlich handlungsfähig zu sein (vgl. Ludwig 2005:5). Holzkamp hat Lernen explizit als eine spezifische Form sozialen Handelns beschrieben und nicht als rein kognitive Aktivität (vgl. Ludwig 2005:2).

Die gemeinsamen Ziele von Lernen und Bildung sollen das Wissen und der Erwerb von Fähigkeiten sein, welche zur Gestaltung eines sinnerfüllten und glücklichen Lebens notwendig sind. „Auf Leben lernen kommt es an“, so das Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen in seiner Stellungnahme zum zwölften Kinder- und Jugendbericht (Bundesministerium für Familie 2005:350). Die Schulen haben hierbei den Auftrag, die Kinder darauf vorzubereiten, sich als kompetente, verantwortungsbewusste und engagierte Menschen „an der Gestaltung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Entwicklungsprozesse zu beteiligen“ (Rasfeld 2013:13). Eigene Interessen und die Interessen anderer Menschen müssen anerkannt und in Einklang gebracht werden. Es geht um einen Prozess des Verstehens, bei welchem das „fremde Andere“ mit den eigenen Interpretationen verglichen wird. Die dabei entstehenden Differenzen ermöglichen einen Erkenntnisgewinn.

2.2.Bildung als Erfolgs- und Risikofaktor

FormularendeOtto von Bismarck vertrat noch die Ansicht, dass Bildung für alle überflüssig sei: Ein Arbeiterkind würde trotz hoher Bildung ein Arbeiterkind bleiben und solle sich mit diesem Status begnügen. „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ war zur Zeit der Reichsgründung ein etablierter Leitspruch in der Bildungs- und Sozialpolitik. Auftrag der Schule war es, für den Arbeitsmarkt auszubilden und die Zahl der zu Bildenden wurde durch die Anzahl freier Arbeitsplätze bestimmt. Die Entstehung eines „staatsgefährlichen Proletariats“ und eine mögliche Zerstörung der (Klassen-)Ordnung sollte vermieden werden (vgl. Allmendinger 2009:144). Bismarck widersprach damit Wilhelm von Humboldt, welcher für eine „Bildung für alle“ und somit auch für die Bildung „bildungsferner“ Bevölkerungsschichten plädierte.

Der Humboldt’sche Bildungsbegriff ist aktuell: Bildung bleibt auch heute die wichtigste Ressource der Orientierung, um die Gegenwart zu bewältigen und die Zukunft zu gestalten, da es zunehmend bedeutend wird, sich durch Bildung Selbstkompetenz für die alltägliche Lebensbewältigung zu erwerben.

Bildung wird als ein wesentlicher Faktor der Demokratisierung und Emanzipation betrachtet,

sie etablierte sich im europäischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts zusammen mit sozialer Sicherung und politischer Teilhabe zunehmend zu gleichberechtigten Dimensionen der Staatsbürgerrechte. Bildung ist die wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft. Auch wenn der Bildungsstand seit der Bildungsexpansion zwischen 1950 und 1995 beträchtlich angestiegen ist, bedeutet diese Veränderung noch nicht eine parallele Steigerung einer Zugangs- und Ergebnisgerechtigkeit. Noch immer haben Kinder aus bildungsarmen und ökonomisch schlecht situierten Elternhäusern nicht die gleichen Bildungschancen wie Kinder aus (finanziell) besser gestellten Familien. Erhebungen zeigen, dass Kinder in Armut mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen niedrigen Bildungsabschluss erreichen (vgl. Grohall 2010:254) und 15-20 % der jungen Menschen nicht richtig lesen und rechnen können, was u. a. dazu führen kann, dass sie mit 30 Jahren ohne Berufsbildungsabschluss sind (vgl. Kerstan: 2012:66). Ein Akademikerkind hat dreieinhalb Mal größere Chancen, eine Universität zu besuchen, als ein Nichtakademikerkind (vgl. ebd.:146). Damit wird das demokratische Versprechen der Schule, benachteiligte Menschen zu fördern, zu wenig eingehalten (vgl. Thiersch 2011:162). Hier zeigt sich die hohe Bedeutung der Sozialen Arbeit für gelingende Bildungsprozesse, da es der Institution Schule nicht aus eigener und alleiniger Kraft möglich ist, Missstände in Form von Benachteiligungen und Chancenungerechtigkeit zu beseitigen. Es gehört zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession, im Kontext von Schule und Bildung chancengerechtere Bedingungen zu schaffen und Benachteiligungen abzubauen.

Seit den PISA- Erhebungen ist bekannt, dass neben messbaren und zertifizierbaren Leistungen persönliche Kompetenzwerte/ Potenziale von erheblicher Bedeutung sind, deren Höhe und Vielfalt wiederum deutlich von der sozialen Herkunft abhängen. Kinder aus nicht privilegierten Elternhäusern haben geringere Bildungschancen. Empirische Studien zeigen, dass ihnen bereits der Zugang zu Bildung erschwert wird, da sie z. B. höhere Kompetenzwerte als Kinder bildungsnaher Schichten erzielen müssen, um die Empfehlung für den Gymnasialbesuch zu erhalten. Diese Feststellung beruht nicht auf einer direkten Stigmatisierung und Diskriminierung dieser Kinder durch die Lehrkräfte, sondern auf Forschungsergebnissen, welche belegen, dass mit der Schichtzugehörigkeit typische Vorstellungen von Gesellschaft, Werten und Erziehungseinstellungen verbunden sind. Das Auftreten, das gesamte Verhalten eines Kindes aus bildungsfernen Schichten oder mit einem Migrationshintergrund unterscheidet sich vom Verhalten von Akademikerkindern, sie werden unbewusst von Lehrkräften schlechter bewertet[3] (vgl. ebd:150).

Kinder aus den unteren Sozialschichten werden mehrfach bestraft: durch ihre Herkunft und ungünstigen Lebensbedingungen, die häufig ungerechte Selektion beim Übergang von der Grund- auf die weiterführende Schule und die geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist demnach auf AdressatInnen aus mittleren und hohen gesellschaftlichen Schichten fokussiert und immer noch nicht in der Lage, Chancengleichheit herzustellen. Es erfüllt damit, strenggenommen betrachtet, nicht einmal Art. 3, 3, Satz 1 des Grundgesetzes, dass „niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf“ (Deutscher Bundestag 2012:15). Soziale Arbeit muss hier als Menschenrechtsprofession für Chancengerechtigkeit eintreten und allen Kindern/ Jugendlichen eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen.

Während offensichtlich Einigkeit darüber herrscht, dass es Chancenungleichheit gibt, existieren unterschiedliche Meinungen darüber, wer deren Verursacher ist und inwieweit es überhaupt möglich ist, Chancenungleichheit zu beseitigen. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Tenorth betont die selektive Funktion der Schule und vertritt die Auffassung, dass „die Beseitigung der Ungleichheit durch Bildung ein kollektives Missverständnis sei, Schule sei ein Differenz erzeugendes System und nicht durch Gleichheit gekennzeichnet“ (Kraus 2008:9). Der Begabungsforscher Jencks macht hingegen nicht das System Schule verantwortlich, sondern sieht andere, Chancengleichheit verhindernde Faktoren. Er stellt fest, dass Chancengleichheit durch Bildung eine Illusion sei, denn selbst wenn Bildung allen Menschen gleichermaßen zugänglich wäre, würden andere unterschiedliche Gegebenheiten wie z. B. familiäre Förderung und Begabung, zwangsläufig Differenzen ergeben[4]. Auch Largo, welcher durchaus Entwicklungspotential der Schulen in Richtung Chancengleichheit sieht, räumt ein, dass selbst unter optimalen Bedingungen Entwicklungschancen immer ungleich verteilt sein werden und Kompetenzen bei Kindern unterschiedlich sind, da Kinder unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (vgl. Largo 2010:92). Schule muss daher gerechter werden, doch die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit ist ein nicht erreichbares Ziel, denn die utopische Forderung an die Schule, die Gesellschaft gerechter zu machen, führt lediglich zu deren Überforderung und Demotivation (vgl. Kerstan 2012:67).

Eine materielle und nichtmaterielle ungleiche Verteilung von Gütern, Lebensbedingungen und gesellschaftliche Positionierungen von Menschen ist in marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftssystemen regelhaft. Dennoch muss dafür Sorge getragen werden, dass allen Menschen gleichberechtigt und uneingeschränkt Zugang zu Bildung ermöglicht wird, strukturelle Lernbehinderungen abgebaut werden und chancenärmere Menschen die Möglichkeit haben, ihre geringeren Ressourcen in Bildungseinrichtungen zu erweitern und auszugleichen . Benachteiligten und leistungsschwächeren Kindern/ Jugendlichen wird eher gerecht, wenn im Sinn von Heterogenität akzeptiert wird, dass nicht alle gleich sind und ihnen eine möglichst individuelle Förderung zuteil kommt.

Die Institution Schule hat einen bestimmenden und prägenden Einfluss auf den Lebenslauf eines Menschen, bereits hier wird über gesellschaftliche Inklusion und Exklusion entschieden und das schon in der Grundschule. Produziert das Bildungssystem weiterhin so viele Verlierer, die – wenn überhaupt - bestenfalls noch Arbeit im Niedriglohnsektor finden und ihr Leben nicht eigenständig finanzieren können, wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern und manifestieren. In Deutschland wird Benachteiligten erst geholfen, wenn es kostspielig wird. Zudem werden viele Gelder zu spät, also zur „Reparatur“ anstatt zur kostengünstigeren Prävention eingesetzt, welches den Bedarf eines (präventiv ausgerichteten) Förderkonzeptes für die frühkindliche Bildung ergibt.

Benachteiligte Kinder bekommen oft erst gar nicht die Chance, ihre Potenziale zu entdecken, zu stärken und auszubauen. Im Jahr 2012 hatten 200 000 Berliner Kinder Anrecht auf das Bildungs- und Teilhabepaket (vgl. Brink 2012:65). Anderen Ländern wie z. B. Finnland gelingt bei 46% der Betroffenen die Überwindung der „Benachteiligtenkluft“, in Deutschland hingegen nur 23 % (vgl. Friedrichs 2013:17). Hier offenbart sich die absolute Dringlichkeit, diesen Missstand zu beheben. Es bietet sich einerseits an, dabei von anderen Ländern, welchen die Überwindung der Bildungsdiskrepanz besser gelingt, am Modell zu lernen und andererseits, mit den „Experten“ für Kinder und Jugendliche, den sozialpädagogischen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe (Im Idealfall am Lebensort Schule etablierte SchulsozialarbeiterInnen), zu kooperieren.

Im Themenschwerpunkt 5 werden Möglichkeiten dargestellt, anhand derer das derzeitige Bildungs- und Schulsystem innovativ und zukunftstauglich entwickelt werden kann.

Individuelle als auch strukturbedingte Risiken können identifiziert und im Rahmen eines gemeinsamen Frühförderungskonzeptes mit einem deutlich präventiven Ansatz bearbeitet werden. Die Institution Schule kann sich nicht grundsätzlich allein durch eine Veränderung der Lehrkräfte wandeln und plötzlich „pädagogisch“ sein, da Lehrkräfte sozialpädagogische Kompetenzen nicht einfach „nachholen“ können. Soziale Arbeit/ Schulsozialarbeit kann die Lehrerschaft nicht von ihrem Auftrag und ihrer Verantwortung für die Lösung von Problemen der SchülerInnen entbinden, dennoch haben sozialpädagogische Fachkräfte das nötige hilfreiche „Werkzeug“ in Form von Zugängen, Methoden, Vernetzung, um die Lehrerschaft bei ihrer Aufgabe zu unterstützen.

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2.3. Ganzheitliche Bildung und der erweiterte Bildungsbegriff

Ganzheitliche Bildung beinhaltet, den gesamten Menschen zu bilden, also kognitives und lebenspraktisches Wissen zu vermitteln. Schulbildung kann die Lebensbildung nicht ersetzen (vgl. von Hentig 1999:47). Der These folgend, dass Bildung sich an allen Orten und durch vielfältige Erfahrungen ereignet, insbesondere durch Begegnung mit Menschen und in Gruppen, hat auch die Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe, ihre Angebote, Einrichtungen und Aktivitäten als Bildungspotentiale zu reflektieren und (weiter zu)entwickeln.

In einer sich schnell wandelnden Welt und Gesellschaft mit vielfältigen Herausforderungen und wenig Sicherheiten wird die alltägliche Lebensbewältigung zu einer immens bedeutenden Ressource. Sozialer und ökonomischer Wandel erfordern komplexe Kompetenzen für das individuelle Leben und das Leben in der Gemeinschaft.

Formale Bildungsabschlüsse sind zwar unverändert bedeutend, garantieren aber allein keine private und beruflich erfolgreiche Zukunft. Für eine „gelingende“ Biographie sind zunehmend personale Kompetenzen von Bedeutung (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001:3f). Es ist heute nicht mehr ausreichend, mit ausschließlichem Fachwissen einen Arbeitsplatz zu erhalten und einen Beruf auszuführen. Multiple Erwartungen an (zukünftige) ArbeitnehmerInnen bedürfen einer komplexen, häufig auch kontinuierlich erweiterten Bildung nicht nur mit Fachwissen, sondern persönlichen Kompetenzen.

Arbeitnehmer sollen nicht „standardisiert“, sondern engagiert, aufgeschlossen, kreativ, repräsentativ, selbstbewusst, mit Gemeinschaftssinn und einer positiven Lebensauffassung ausgestattete sowie innovative Fach- und sogar auch Führungskräfte sein. Mit diesen multiplen Kompetenzen sollen sie in der Lage sein, neue und innovative Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. „Bildung soll auf weltweite Horizonte hin orientiert sein und dynamisch, wandlungsfähig und offen sein, der Mensch muss befähigt werden, sich in einer offenen, pluralen, ungewissen und globalisierten Weltgesellschaft kompetent zu bewegen“ (Rauschenbach 2009:23). Hier verbirgt sich jedoch das Risiko, dass Bildung einzig auf Wettbewerbsfähigkeit hin konzipiert wird und der Menschen nicht als ganzheitliche Person, sondern als „Mittel zum Zweck“ bewertet wird. „Individuum“ könnte hier als Gegenbegriff zu „Gesellschaft“ verstanden werden. Ausgehend von der unter 2.1. benannten Subjektorientierung widerspricht es, Menschen so zu „formen“, wie die Gesellschaft sie gerne hätte (vgl. Spatschek 2013:10). Scherr (1997:46) formuliert es so: “ Die Individuen sollen nicht nur politischer Herrschaft unterworfene, Rädchen im Getriebe von Arbeit und Konsum, Objekte erzieherischer Einflussnahme sein, sondern selbstbestimmungsfähige Einzelne“. Die Idee/ Figur des „unternehmerischen Selbst“ wird zu einem neuen gesellschaftlichen Leitbild, da Individuen sich durch den Rückzug des Sozialstaates und dem Brüchigwerden von Systemen sozialer Sicherung in einer zunehmenden Pflicht der Eigenfürsorge und Eigenverantwortung konfrontiert sehen; parallel wächst damit die Notwendigkeit der kontinuierlichen Reflexion und der Entwicklung der eigenen („vermarktbaren“) Fähigkeiten. Diese Form der Selbstsorge in Form der Auseinandersetzung mit sich und seinen Lebenswelten wird zu einer neuen existenziellen Pflichtaufgabe des Menschen (vgl. Spatschek 2013:11). Ein ambivalenter Auftrag der Schule in Form eines herausfordernden Spagats besteht somit darin, einerseits SchülerInnen individuell wahrzunehmen und zu fördern, andererseits sie aber auch „gesellschaftskonform“, „arbeitsmarktkompatibel“ und „arbeitsmarktattraktiv“ zu machen.

Schule ist jedoch eher auf Homogenität und „Gesellschaftskonformität“ ausgerichtet, und weniger auf (Aus)Bildung individueller und authentischer Persönlichkeiten.

Bei der Anforderung nach kontinuierlicher persönlicher Reflexion und der Entwicklung der eigenen (vermarktbaren) Fähigkeiten kann die Kinder- und Jugendhilfe dabei behilflich sein, einen Ausgleich in Form von Angeboten im Bereich der Selbsterprobung und Selbstfindung , zur Verfügung zu stellen. Geeignete Angebote sind hier z. B. Projekte im freizeit- und erlebnispädagogischen Bereich, anhand welcher Kinder und Jugendliche sowohl ihre Fähigkeiten als auch Grenzen kennenlernen können. Sozialpädagogische Beratung hingegen ist laut Duttweiler (vgl. 2004:27) ein ambivalentes Angebot, da sie Selbstbestimmung zugleich ermöglichen und negieren kann.

Die vorherigen Erläuterungen ergeben, dass soziale Kompetenzen und eine umfassende Persönlichkeitsbildung an immenser Bedeutung gewinnen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, schon frühzeitig andere als schulische Bildungsorte und andere Modalitäten als Wege der Kompetenzaneignung zu identifizieren, da Schule allein diese hohen Anforderungen nicht erfüllen kann (vgl. Rauschenbach 2009:84,85). Die überdurchschnittliche Fixierung auf Schule als Bildungserbringer wird somit (entlastend) durch Bildungsleistungen in der Umwelt relativiert, auch wenn Schule die Bildungsinstitution bleiben wird (vgl. ebd.:79).

Die verkannte Bedeutung der Alltagsbildung führt zu der Erkenntnis, dass auch informelle, also ungeplante und nicht speziell inszenierte Bildungsprozesse, bedeutender als bisher angenommen sind. Sie ergeben sich in der Regel im Alltag mit Familie, Freunden, auf der Arbeitsstelle, in sozialen Netzwerken und in der Freizeit, können aber auch fehlen. Sie stellen eine bedeutende Basis für den Aufbau formeller und nicht- formeller Bildungsprozesse dar. Würde man nur lernen, wenn man dogmatisch belehrt wird, würde das bedeuten, das Lernen mit der Schule aufhört. Dem widersprechen das Lebenslange Lernen (Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans doch noch!) und die Theorie des subjektivgeleiteten Lerninteresses nach Holzkamp (siehe 2.1.). Fehlen informelle Bildungsprozesse, z. B. wenn Kinder in anregungsarmen Familien aufwachsen, fehlen damit auch bedeutende Grundvoraussetzungen für die formale Bildung. Das sind dann häufig diejenigen SchülerInnen, welche von SonderpädagogInnen in der Schule oder von externen Experten als „lernbehindert“ diagnostiziert werden (siehe auch 4.3.).

Neben dem klassischen Bildungssystem mit Schul-, Ausbildungs- und Hochschulsystem, welches einen verpflichtenden Charakter hat und mit Leistungszertifikaten einhergeht und als formelle Bildung bezeichnet wird, werden noch die informelle und die non- formelle Bildung unterschieden.

Bei der non-formellen Bildung (auch nicht- formelle Bildung genannt) handelt es sich auch um spezifische, organisierte und systematische Bildungsangebote, welche jedoch, im Gegensatz zur Schulpflicht, auf freiwilliger Basis beruhen und einen Angebotscharakter haben. Träger/ Anbieter der non-formalen Grundbildung in Form allgemeiner, beruflicher, kultureller und politischer Bildungsangebote sind in der Regel private, nicht-staatliche, zivilgesellschaftliche oder kirchliche Organisa­tionen wie z. B. Freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe und Vereine. Sie werden außer­halb des formalen Schulwesens angeboten (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001:5). Non- formelle Bildung hat eine ergänzende Funktion und kann ein formales Bildungssystem nicht ersetzen. Sie hat eine besonders wichtige Brückenfunktion bei der Vorbereitung auf den (Wieder)Einstieg, in Fällen bei welchen Kinder und Jugendliche den Schulbesuch unterbrochen oder die Schule vorzeitig abgebrochen haben. So können Menschen, welche z. B. nicht alltagspraktisch angemessen richtig lesen und schreiben können, durch non-formelle Alpha­beti­sierungs­programme geschult werden[5]. Lesen und schreiben zu können sind elementare Grundkenntnisse und bedeutende Grundvoraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben (vgl. BR 2013). Dieses Beispiel verdeutlicht, welche immens hohe Bedeutung non- formale Angebote für die Bildungs- und Lebensbiographie von Menschen haben können.

Informelles Lernen bezeichnet erfahrungsbasierte und lebensbildende Lernprozesse außerhalb von Bildungseinrichtungen, also auch an so genannten „bildungsfernen“ Orten. Diese Lernform ist somit von formellen Vorgaben unabhängig und wird vom individuellen Interesse gesteuert, es kann als „freiwilliges Lernen im Alltag“, in lebensweltlichen Zusammenhängen und in der sozialen Welt eines Menschen, bezeichnet werden. Lebenswelt ist der Ort, an dem der Mensch sich selbst fördert, deshalb müssen die alltäglichen und die organisierten Lebenswelten verbunden werden (vgl. Thiersch 2013: Telefoninterview). Oevermann (vgl. 2001: 14,17) bestätigt die dargestellte hohe Bedeutung des informellen Lernens und sagt sogar, dass das Alltagswissen dem wissenschaftlichen Wissen an Erfahrungsreichtum weit überlegen sei und neue Erfahrungen nur in der Alltagspraxis gemacht werden können.

Die Bedeutung der non- formalen („Erfahrungslernen“) und formellen Bildung und ihre Konsequenzen für individuelle Bildungslebensläufe haben angesichts der vorangegangenen geschilderten sozialen Ungleichheiten für die Jugendhilfe/ Soziale Arbeit eine große Bedeutung (vgl. Mack 2013:3). Alle fakultativen Angebote mit ihren politischen, sozialen und persönlichkeitsbildenden Inhalten der Kinder- und Jugendhilfe zählen somit zu non-formalen Bildungsorten (vgl. Rauschenbach 2004:32f). Das Bildungspotential der Kinder- und Jugendhilfe wird häufig aus der Schulperspektive noch nicht erkannt, dabei hat die Kinder- und Jugendhilfe, speziell die Schulsozialarbeit, eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen den informellen und formalen Bildungsprozessen (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001). Im Kinder- und Jugendhilfegesetz ist die bildungsunterstützende Aufgabe der Sozialen Arbeit in Form von Förderung und Unterstützung von Bildungsprozessen benannt, dabei führt die Soziale Arbeit eigene Bildungsangebote durch: Beratungsangebote und das Einrichten von Begegnungsmöglichkeiten und Erfahrungsräumen, Hilfe bei der Identitätssuche und Orientierung, sowie allgemeine Unterstützung und Förderung. Hierbei kann es sich auch um explizite Bildungsangebote in Form von Kursen oder Projekten handeln. Jugendsozialarbeit (siehe auch 4.1.) hat nach §13 SGB VIII die Aufgabe, die gesellschaftliche und schulische/ berufliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen zu sichern und deren Persönlichkeitsentwicklung zu fördern.

Der erweiterte Bildungsbegriff (mit dem informellen, formellen, und non- formellen Lernen) geht eng mit dem sozialpädagogischen Konzept der „Lebensweltorientierung“ (vgl. Thiersch1993: 7ff) einher; es stellt ein pädagogisches Rahmenkonzept mit den Prinzipien der Ganzheitlichkeit und Offenheit dar.

„Lebensweltorientierung meint den Bezug auf die gegebenen Lebensverhältnisse der Adressaten, in denen Hilfe zur Lebensbewältigung praktiziert wird, meint den Bezug auf individuelle, soziale und politische Ressourcen, meint den Bezug auf soziale Netze und lokale/regionale Strukturen“ (Thiersch 1992: 5). Lebensweltorientierung bedeutet, Normen und Handlungsmotivationen des Einzelnen aus seiner individuellen Situation/ Lage heraus zu verstehen und zu eruieren. Dazu gehören der Einbezug von Familie, Freizeit, Peergroups und auch der Einbezug von Schule, also alle Lebenswelten, in welchen sich ein(e) Kind/ Jugendliche(r) befindet. Lebensweltorientierung beinhaltet auch, dass an die Stelle bloßer normativer Bewertung von Verhalten (z.B. als „abweichend“[6] ) eine Vermittlung von „Haltungen und Fähigkeiten, die die Bewältigung konkreter Gegenwartsprobleme ermöglichen“ treten (Mollenhauer 2001: 28f). Nach Thiersch ist Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit das „Produkt von Verschiebungen, Brüchen und Schwierigkeiten in unserer gegebenen sozialen Situation; Lebensweltorientierung ist zugleich Indiz der Krise und Versuch, in der Krise angemessen und produktiv zu arbeiten“ (Thiersch 1992: 5).Folglich nimmt Lebensweltorientierung auch Bezug auf Kinder und Jugendliche betreffende gesellschaftliche Veränderungen, welche mit sinnhaften Erfahrungen einhergehen (vgl. Husserl 1954:76). Damit ist z. B. der Wandel der Familie und der Wandel der Werte gemeint, welche Auswirkungen auf die schulische Situation und die Lebenswelt Schule haben.

Die außerschulische Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ist häufig dem Lehrpersonal unbekannt. In Schulen im unteren Bildungsbereich sowie in Stadtteilen mit hoher Dichte sozial benachteiligter BewohnerInnen zeigt sich häufig nicht nur eine Unkenntnis, sondern zusätzlich auch eine Gleichgültigkeit gegenüber den Lebenswelten der SchülerInnen (vgl. Mack 2001:7). Die Folgen, z. B. Schuldistanz Schulabbruch und „störendes“ Verhalten“ sind sowohl für die Bewältigung individueller Probleme und Entwicklungsaufgaben der SchülerInnen als auch für die Bildungsprozesse insgesamt prekär.

In der sozialen Arbeit wird „störendes“ und „unangepasstes“ Verhalten von SchülerInnen als Impuls verstanden, eigenes Handeln oder die Rahmenbedingungen kritisch zu reflektieren und den Interaktionsprozess zu verändern. Im Gegensatz dazu reagiert die Institution Schule vorrangig sanktionierend auf störendes Verhalten im Unterrichtsgeschehen. Soziale Arbeit hingegen versteht und interpretiert unangepasstes Verhalten im Kontext Schule in Form von verbal und körperlich provozierendem, aggressivem Verhalten, Vandalismus oder Verweigerungsverhalten bis zur Schuldistanz als Signale und als Indizien für ein ungünstiges Klima der Schule oder ein belastetes Familiensystem, bzw. Lebensumfeld der SchülerInnen. Das normabweichende Verhalten der SchülerInnen wird in der Sozialen Arbeit als „Bewältigungsverhalten“ verstanden: Als Versuch, das eigene Leben mit seinen (häufig multiplen und belastenden) Herausforderungen und Benachteiligungen zu bewerkstelligen. Erkenntnisse neurologischer Forschungen besagen, dass es ein menschliches Triebziel ist, sozial akzeptiert und in einer Gemeinschaft integriert zu sein (vgl. Bauer 2011:35). Holzkamp (vgl. 2004:29) als Vertreter der kritischen Psychologie stellt dar, dass „Lernen stets der direkten Bewältigung der individuellen Lebensbedingungen und der Aneignung von Handlungsfähigkeit gegenüber limitierenden oder restriktiven Faktoren“ dient: Folglich ist es nicht logisch, dass Menschen sich absichtlich durch „störendes“ Verhalten exkludieren und bewusst eigene Lernprozesse behindern bzw. blockieren.

Entsprechend des sozialpädagogischen Verständnisses setzen die Interventionen und Methoden der Sozialen Arbeit nicht am problematischen Verhalten der SchülerInnen, sondern an ihren individuellen Ressourcen an und bieten den SchülerInnen ganzheitliche Hilfe zur Lebensbewältigung. Zur Hilfestellung gehört auch eine „Dolmetscherfunktion“ sozialpädagogischer Fachkräfte gegenüber den LehrerInnen: Das „Übersetzen“ des Verhaltens von SchülerInnen, welches als deren Bewältigungsverhalten mit dem Ziel der Erlangung von Handlungsfähigkeit betrachtet werden muss, und nicht als bewusstes, bösartiges und vordergründig sanktionsbedürftiges Verhalten, wird in einen vermittelbaren Kontext gesetzt. Jedes Gefühl des Missverstandenseins, der Ablehnung und die Erfahrung unberechtigter und ungerechter Sanktion kann aus SchülerInnenperspektive zu einer massiven Störung des Lern- und Sozialverhaltens der SchülerInnen bis hin zur Schuldistanz führen und ist aus diesem Grund absolut vermeidenswert.

[...]


[1] Die Begriffe Soziale Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit werden unter Gliederungspunkt 4.1. differenziert und erklärt.

[2]Benachteiligte Kinder“ bezeichnet Kinder, welche in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen, i. A. einhergehend mit einem Mangel an Zuwendung, Anerkennung, Bindung und Vertrauen und damit verbundenen Entwicklungserschwernissen.

[3] Anmerkung: Die FDP warb im Wahlkampf 2013 mit dem Slogan: „Wissen schafft Wohlstand“. Diese Aussage impliziert, dass Wissenserwerb und somit Wohlstand allen Menschen gleichermaßen zugänglich sei.

[4] Er begründet seine These mit jahrzehntelangen Forschungen, welche eine 70%ige Bestimmung des kognitiven Potenzials durch das Erbgut ergeben haben (vgl. Kraus 2008:9).

[5] Laut dem Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung kann in Deutschland jeder 7. Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. In Deutschland verfügen demnach 7,5 Millionen Erwachsene oder 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung über so geringe Lese- und Schreibkenntnisse, dass sie als funktionale Analphabeten gelten (d. h. ihre Kenntnisse sind niedriger als im Alltag erforderlich). „Fast 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jahren haben gravierende Probleme mit der Schrift“ (BR 2013).

[6] Böhnisch (2010:11) bezeichnet mit „abweichendem Verhalten“ unerwünschtes, öffentlich etikettiertes, meistens normverletzendes und sanktioniertes Verhalten (siehe auch 4.3.)

Fin de l'extrait de 75 pages

Résumé des informations

Titre
Lernen geht anders! Schulentwicklung in Kooperation mit der Sozialen Arbeit
Université
University of Applied Sciences Potsdam
Note
1,0
Auteur
Année
2013
Pages
75
N° de catalogue
V267271
ISBN (ebook)
9783656573098
ISBN (Livre)
9783656573081
Taille d'un fichier
742 KB
Langue
allemand
Mots clés
lernen, schulentwicklung, kooperation, sozialen, arbeit
Citation du texte
Vera Papadopoulos (Auteur), 2013, Lernen geht anders! Schulentwicklung in Kooperation mit der Sozialen Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267271

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