Die desintegrativen Mechanismen des neuen Kapitalismus

Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Dominanz ökonomischer Normen


Diplomarbeit, 2013

130 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Keynesianismus und die Etablierung des modernen Sozialstaates
2.1. Das Ende des Wachstums - das Erstarken des Neoliberalismus

3. Exkurs: Die neoliberale Ideologie
3.1. Der Markt hat System
3.2. Das neoliberale Gesellschafts- und Menschenbild
3.3. Das neoliberale Staatsverständnis
3.4. Wohlfahrtsstaat und Neoliberalismus
3.5. Fazit und Auswirkungen

4. Die neoliberale Globalisierung
4.1. Die ökonomischeGlobalisierung
4.2. Zwei Makrotrends der Globalisierung
4.3. Kontrollverluste

5. Die ArbeitsweltimglobalisiertenKapitalismus
5.1. Die Neuorganisation der Arbeitsverhältnisse
5.2. Normalerwerbsbiografie und atypische Beschäftigungsverhältnisse
5.3. Der Kontroll- und Machtmechanismus in Produktions­und Arbeitsverhältnissen des neuen Kapitalismus

6. Sozialpolitik und die sozialen Sicherungssysteme
6.1. Sozialpolitik im Schatten der Globalisierung
6.2. Die Agenda2010
6.2.1. Die Sozialgesetzgebungder Agenda2010
6.2.2. Die Hartz I - IV Gesetzgebung
6.3. Fazit

7. Der Geist des neoliberalen Kapitalismus
7.1. Die gesellschaftliche Dominanz ökonomischer Normen
7.2. Einstellungsmuster im neuen Kapitalismus
7.2.1. Deutsche Zustände - Aspekte der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
7.2.2. Die Mitte - Studien: Die Erosion der Mitte

8. Schlussbetrachtung

9. Literatur- und Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die Aussagen des vierten Armutsberichts aus dem Jahr 2012 über die Verfasstheit des sozialen Gefüges der Bundesrepublik Deutschland scheinen die Bundesregierung zu alarmieren, so dass sie sich zumindest um eine mildere Sprache in der mittlerweile überarbeiteten Fassung bemüht.[1] Aber auch abgeändert oder beschönigt ändert sich nichts an einem der zentralen Ergebnisse des Berichts: So wird aufgezeigt, dass sich ein Großteil des Vermögens der deutschen Gesellschaft in den Händen Weniger befindet. Trotz dem, dass der gesamtgesellschaftliche Wohlstand steigt, kommt dieser Effekt einem Großteil der Bürgerinnen nicht zugute, da Vermögen und Erwerbseinkünfte höchst ungleich verteilt sind. So hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in den letzten zwei Jahrzehnten zwar verdoppelt, von dieser Entwicklung profitieren aber nur die „oberen“ 50 Prozent. Während die „unteren“ 50 Prozent der Staatsbürgerinnen im Jahre 2008 1 Prozent des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands ihr Eigen nennen können, besitzen die reichsten 10 Prozent daran 53 Prozent, wobei dieser Anteil noch im Jahre 1998 bei „nur“ 45 Prozent lag (2003: 49 Prozent).[2] Diese Entwicklung der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich schlägt sich ebenso in der Verteilung der Einkommen nieder. Demnach mussten die „unteren“ 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten allein in den Jahren 2000 bis 2010 reale Verluste des Bruttoerwerbseinkommens von bis zu 8,9 Prozent hinnehmen, während im Vergleichszeitraum das Einkommen der reichsten 10 Prozent um 5,1 Prozent anstieg.[3] Verdeutlicht wird diese Entwicklung einmal mehr in der Analyse des Volkseinkommens, aufgeschlüsselt nach Erwerbseinkommen sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen.[4] Vor allem die Nichtanpassung der Löhne, so besagt es die Studie im Auftrag der Bundesregierung, sorge dafür, „dass der historisch ungewöhnlich starke relative Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen ab dem Jahr 2003“[5] gegenüber dem der Löhne unverhältnismäßig hoch ausfällt. Vor diesem Hintergrund und bezüglich der Diskurse über die aktuelle Wirtschaftskrise wirft sich die Frage auf, inwieweit der Artikel 14 des Grundgesetzes, welcher Eigentum nicht nur garantiert, sondern auch dessen soziale Bindung anmahnt[6], im aktuellen Wirtschafts- und Sozialsystem berücksichtigt wird. So erkennt Wilhelm Heitmeyer in der heutigen Ausformung des Kapitalismus in Deutschland ausgeprägte autoritäre Züge, wodurch „soziale Zerstörung hinterlassen (...) als auch die inhaltliche Substanz von Demokratie“[7] stark belastet werden. Zusätzliche Brisanz erhält diese Einschätzung durch die Ausführungen der Autorinnen der Mitte Studien[8] der Friedrich Ebert Stiftung: Demnach beruht die (gesellschaftliche) Integrationskraft der Demokratie nicht auf demokratischem und aufgeklärtem Gedankengut ihrer Bürgerinnen, sondern auf dem Aufstiegs-, Konsum-, und Autonomieversprechen, erstmals vermeintlich eingelöst durch das Wohlstandsversprechen des Wirtschaftswunders der BRD[9]. Denn genau dies schien der Kapitalismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu gewährleisten: Ökonomisches Gewinnstreben ging durch die Initiierung und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit dem Ziel der Inklusion sämtlicher Bevölkerungsschichten einher und verwirklichte somit (auf vermeintlich soziale Art und Weise), dass Produktion und Verteilung, Teilhabe und Partizipation immer mehr als vergesellschaftet erschienen und betrachtet worden.

Aktiv, flexibel und eigenverantwortlich: Das sind die gesellschaftlichen Leitmotive, die der aktuellen Ausformung des Kapitalismus gerecht werden sollen. Doch vor allem steht dahinter eine voranschreitende Ökonomisierung der Reproduktionsbereiche. So werden Facebook oder Google eher als nützliche Werkzeuge und bedenkenlose Freizeittools angesehen, anstelle als privatwirtschaftliche Unternehmen, die ihre Produkte und das Verhalten deren Nutzerinnen vornehmlich aus einer ökonomischen Perspektive betrachten. Ähnlich verhält es sich damit, dass - hierzulande angeblich sichere - Renten in den USA in Form von Pensionsfonds, in die die Lohnabhängigen einer jeweiligen Firma eingezahlt haben, längst Mehrheitseigner multinationaler Konzerne sind. in der Bundesrepublik Deutschland ist es noch gar nicht so lange her, dass die Telekom-Aktie als ein Stück Gesellschaftsvermögen und die Riester-Rente - ein dem Pensionsfond gar nicht unähnliches Modell - zur Altersversorgung angepriesen, aus staatlicher Obhut entlassen und für die Ökonomie zugänglich gemacht wurden. Der Slogan dazu lautet: Mit mehr - oder letztlich doch ausschließlich? - Flexibilisierung, Aktivierung und Eigenverantwortung zu gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, auch bzw. vor allem in Zeiten der wirtschaftlichen Krise. Der Kapitalismus als Hüter des Privateigentums stößt als alternativloses Wirtschafts- und Sozialkonzept immer mehr in die Sphären des Privaten und des Gemeinguts vor.[10] Und zwar zum angeblichen Zwecke des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands: Die Öffnung des Privaten, der Freizeit, der Bildung, der Gesundheits- und Rentenvorsorgen - die Öffnung vormals geschützter Reproduktionsbereiche - für die Ökonomie und deren Wettbewerbslogik sei demnach die einzige Möglichkeit gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zu erreichen und zu erhalten.[11]

Warum also eine Heranführung an den Kapitalismus als Wirtschafts- und Sozialsystem mit dem Fokus auf dessen neoliberale Ausgestaltung in einer sozialpädagogischen Arbeit? Elmar Altvater folgend, impliziert die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus nicht zwangsläufig eine wirtschaftswissenschaftliche bzw. kapitalismustheoretische Betrachtung, sondern eben auch eine Beschreibung des real existierenden Kapitalismus - als soziales System und dessen individuellen und kollektiven Auswirkungen: „Denn mit der Abhängigkeit vom Marktgeschehen wird soziale Unsicherheit zum Begleiter des Lebens der sozialen Klasse der Lohnabhängigen. Eine gewisse Sicherheit ist nur durch Geld- und Kapitalvermögen, nicht durch Arbeitsvermögen zu erreichen, es sei denn durch sozialstaatlichen Schutz.“[12]

Diese Arbeit folgt den Ausführungen Wilhelm Heitmeyers bzw. Elmar Altvaters, dass soziale als auch politische Prozesse eng mit ökonomischen Notwendigkeiten verwoben sind - und zwar jenen, die der real existierende Kapitalismus als soziales System definiert. Folglich wird der Ökonomie in dieser Arbeit ein zentraler Platz eingeräumt. Gesellschaftliche Prozesse und gesellschaftliche Veränderungen, bis hin zu ihren Ausformungen im Subjektiven bzw. Individuellen, können nur erläutert werden, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sie gebettet sind, in diesem Fall die des Kapitalismus, mitgedacht werden. Folgende Fragestellungen führen daherdurch die Arbeit:

Welche wirtschaftlichen Mechanismen und Intentionen sind vor dem Hintergrund einer globalisierten Ökonomie erkennbar und wie wirken sich diese auf die Instanzen gesellschaftlicher Integration, Arbeitswelt und soziale Sicherungssysteme aus?

Welche Logiken bestimmen die Organisation und die Ausrichtung der sozialen Sicherungssysteme, welche die der Arbeitswelt? Hierbei wird beachtet, dass beide Instanzen als zentrale Integrationsbereiche in Gesellschaft verstanden werden können.

Welche Lebensrealitäten schaffen die in bzw. die durch Arbeitswelt, Gesellschaft und in den sozialen Sicherungssystemen etablierten bzw. eingeforderten Wertemuster und wie wirken sich diese auf kollektive und subjektive Einstellungen aus?

Im Kapitel 2 werden daher die Etablierung und das Denkmodell des

Sozialstaats innerhalb der keynesianisch - fordistisch organisierten Kapitalismusära erläutert. Wie verhielt sich der marktwirtschaftliche Gedanke in Bezug zum sozialstaatlichen in den westeuropäischen - speziell in der bundesdeutschen - Gesellschaften, in der vermehrt Forderungen nach Einbindung und Teilhabe am Wohlstand durch die Bürgerinnen auftraten? Vor dem Hintergrund konkurrierender Gesellschaftsmodelle, die wiederum jeweils unterschiedlich ausgeprägte gesellschaftlichen Integrationsmechanismen aufweisen, betrachtet Kapitel 3 die neoliberale Ideologie, deren Erstarken zeitlich mit der Krise des keynesianisch - fordistisch organisierten Produktionsregimes zusammenfällt. Dieser Exkurs soll vor allem die Grundlagen dieser Gesellschaftstheorie verdeutlichen, von denen stellvertretend die Überlegungen von Friedrich August von Hayek, Milton Friedman sowie Gary S. Becker als bedeutende Neoliberale verhandelt werden. Da Neoliberalismus als Synonym mit der jetzigen Kapitalismus- und Gesellschaftsformation[13] zu verstehen ist, werden zentrale Muster neoliberaler Theorien herausgearbeitet - auch hier liegt der Blick auf dem Aspekt der Sozialstaatlichkeit sowie auf Formen gesellschaftlicher Integration. Eine Betrachtung des Neoliberalismus als den die Gesellschaft entscheidend prägenden Diskurs erscheint notwendig, um seinen Einfluss auf die heutige Gesellschaft in ihren Auswirkungen nachvollziehen zu können. Vor allem, da sich das neoliberale Organisierungsprinzip als „Das Ende der Geschichte“ (Fukuyama, 1992) versteht, als das nach dem Ende der Systemkonkurrenz letztlich einzig gerechte und faire Organisationsprinzip für Gesellschaft und Ökonomie.[14] Doch wie steht es um den eingangs besprochenen sozialstaatlichen Schutz bzw. um die Verfasstheit gesellschaftlicher Integration? Nachdem in Kapitel 2 die Etablierung des Sozialstaats, dessen Funktionen und Bedeutungen innerhalb des keynesianisch - fordistisch geprägten Kapitalismus näher betrachtet wurden, stehen in Kapitel 4 aktuelle ökonomische Prozesse im Vordergrund. Es wird der Frage nachgegangen, welche Regulierungsmechanismen und Rahmenbedingungen durch die neoliberale Ausgestaltung der Wirtschaft entstanden sind und wie die ökonomische Globalisierung auf die Funktionsweisen der nach wie vor nationalstaatlich organisierten sozialen Sicherungssysteme und gesellschaftlichen Integrationsmodelle Einfluss nimmt, bspw. darin, dass eine globalisierte Ökonomie gleichzeitig neue (sozial-) staatliche Logiken einfordert und herstellt. Die Sphären ökonomischer Globalisierung beeinflussen nicht nur die Ausrichtung von gesellschaftlichen Integrationsmodellen, sondern bilden das Biotop, in dem sie funktionieren. Daher folgt der Betrachtung der neoliberalen Globalisierung im Kapitel 5 die Arbeitswelt als Gegenstand der Analyse. Herausgearbeitet wird, wie sich Globalisierungsprozesse innerhalb der Produktions- und Reproduktionsbedingungen, in den Arbeitsleben bzw. im Arbeits- und Lebensalltag niederschlagen als auch welche neue Realitäten von Arbeit dadurch entstehen und im entstehen sind. Kapitel 6 folgt diesen Gedanken in Bezug auf die Neuausrichtung der sozialen Sicherungssysteme. Ein besonderer Aspekt stellt hierbei der Hartz I - IV Gesetzgebung dar, ist sie doch als eine der einschneidenden Entscheidungen in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung der Sozialstaatlichkeit in der BRD zu verstehen.

Diesbezüglich stellt Heitmeyer in Anlehnung an Altvater fest, dass die Betrachtung und Analyse politischer und sozialer Prozesse nicht losgelöst von deren Einbindung in ökonomische Prozesse behandelt werden kann, da sie maßgeblich von diesen beeinflusst werden.[15] Bührmann/Schneider (2012) fassen dieses Bestreben in folgender Frage beispielhaft zusammen: Wie kann es sein, dass „gemäß der vorherrschenden Individualisierungslogik in modernen Gesellschaften immer mehr ein Selbstverständnis als unternehmerisches Selbst< (>Enterprising Self<) um sich greift, wo Menschen sozialstrukturell eben nicht als >Unternehmer< positioniert sind.“[16] Das 7. Kapitel knüpft an diesen Aspekten an. Die in den vorherigen Kapiteln beschriebene Reorganisation gesellschaftlicher Integrationsinstanzen bedingt gleichzeitig eine Etablierung neuer Lebensrealitäten. Das Kapitel widmet sich den Auswirkungen jener Realitäten, auch in Bezug auf kollektive und subjektive Bewältigungsoptionen - in einer Beschreibung des Geists dieses neuen Kapitalismus. Zudem werden aktuelle Ergebnisse zu Einstellungsmustern innerhalb der deutschen Gesellschaft aus jenem Blickwinkel und der damit verbundenen Transformation von Lebensrealitäten betrachtet. Es liegt auf der Hand, dass ökonomische Wirkungsverhältnisse bzw. ein sich wandelndes gesellschaftliches Organisationsprinzip kollektiv und individuell ver- und bearbeitet werden - somit geben diese Forschungsergebnisse einen Einblick in die Auswirkungen der gesellschaftlichen Dominanz ökonomischer Normen.

Die vorliegende Arbeit basiert vor allem auf der Methodik der Literaturanalyse. Des Weiteren wurde die Internetrecherche als Analysemethode herangezogen.

2. Der Keynesianismus und die Etablierung des modernen Sozialstaates

Als Folge des zweiten Weltkriegs und auch aus dem Druck der sich abzeichnenden Systemkonkurrenz mit den Staaten des sich formierenden Ostblocks, der Soziologe Oskar Negt verortete im Zusammenbruch des Ostblocks den Beginn einer neuen Phase des Abbaus des Sozialstaats u. a. durch den Verlust einer Abgrenzungsmentalität in den kapitalistisch geprägten westlichen Staaten[17], sowie durch die Ära des

Wirtschaftswunders und dessen hohen Produktivitätsfortschritts, wurde in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas der Versuch unternommen, weite Teile der Bevölkerung institutionell und sozial in die bürgerliche und fordistisch produzierende Gesellschaft einzubinden. So entstanden in Westeuropa nach 1945 gemischte Wirtschaftsformen, in denen der Markt zwar als ein zentrales Instrument angesehen wurde, andererseits der

Ausbau verschiedener Formen des Sozialstaats forciert wurden. Ermöglicht wurde dies nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland vor allem aufgrund der hohen Wirtschaftswachstumsraten in der

Nachkriegsära.[18] Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder beginnend in den 1950ern stellt zwar aus heutiger Sicht eine konjunkturelle Besonderheit dar. Die hohen Wachstumsraten von durchschnittlich 8% pro Jahr halbierten sich bereits in den 1960ern und sanken kontinuierlich in den folgenden Jahrzehnten.[19] Doch der „Produktivitätsfortschritt unter den Bedingungen des Fordismus ließ die Erhöhung der Verteilungsmasse zu, aus der Profite, Lohnsteigerungen und der Sozialstaat finanziert werden konnten“[20]. Somit wurde eine Weitergabe der erwirtschafteten Gewinne in Form von Löhnen und Sozialsicherungssystemen an die Arbeitnehmerinnen und Nichtproduktionsmittelbesitzenden ermöglicht.

Diese wirtschaftliche und sozialpolitische Organisierung der Nationalstaaten Westeuropas, mit deren theoretischen Einbindungen bzw. institutionellen Ausprägung nach 1945, wurden maßgeblich durch John Maynard Keynes (und dessen Theorie des Keynesianismus) beeinflusst.[21] Die Feststellung, dass der Kapitalismus als ein instabiles System anzusehen ist, welches heftigen Konjunkturschwankungen unterworfen sei, war eine Grundannahme des keynesianischen Denkens: So sieht der Keynesianismus einen wechselseitigen Ausgleich von Ökonomie und Sozialem vor, trotz oder vor allem weil der Krisenzyklus, die Folge von Rezessionen auf Prosperitätsphasen, als dem Kapitalismus inhärent analysiert wurde. Keynes als auch deutsche Wirtschaftswissenschaftler folgten der Annahme, dass durch staatliche Interventionen diese Schwankungen abzumildern sind, um so die krisenhaften Zyklen des Kapitalismus durch „systematischen, makroökonomisch fundierten Interventionismus“[22], also durch politisch gesteuerte Prozesse zu stabilisieren und abzusichern wären. Zudem sei der Kapitalismus ohne diese Steuerung nicht in der Lage, das volle Produktionspotential auszuschöpfen.[23] Mit der Einbindung der Massen (bzw. der industriellen Reservearmee) in die fordistischen Produktionsprozesse sowie durch die Ausweitung und Etablierung sozialer Absicherung wurde zudem folgende Strategie verfolgt: Die hohen Wachstumsraten führten zu annähernder Vollbeschäftigung und wachsendem Wohlstand, was wiederum die Einbindung der Massen ermöglichte und erleichterte. Die staatlichen Interventionen in Form der sozialen Absicherung verfolgten aber nicht nur das Ziel, dass die Arbeiterinnen während niedriger oder fallender Wachstumsraten, also außerhalb der Prosperitätsphasen, ihren Lebensstandard weitestgehend halten konnten. Ein weiterer gewünschter Effekt war die gleichzeitige Stabilisierung der Nachfrage. Die Binnennachfrage konnte konstant hoch gehalten werden, um so der nationalstaatlich organisierten fordistischen Massenproduktion hohe Absätze zu gewährleisten. So stieg bspw. der Anteil des unteren Fünftels in der Einkommensverteilung am gesamten Haushaltsnettoeinkommen von 5,4% (1950) auf 5,9% (1970).[24] Ein weiterer Effekt keynesianischer Interventionen (in die fordistische Massenproduktion von Konsumgütern, die Absicherung deren Konsums durch die Löhne und des Sozialstaats) war demnach ein befriedender: Die Umverteilung des erwirtschafteten Mehrwerts sowie die Absicherung der (nicht-) arbeitenden Bevölkerung durch den Wohlfahrtsstaat und die Lohnverteilung stellten eine Neuerung in Form einer Art Klassenkompromiss dar. Armut galt nun nicht mehr als ein - das Leben begleitende - Übel, sondern es galt nun vielmehr, dass „Staat und Gesellschaft (...) den Markt zu beschränken und wirtschafts­und sozialpolitische Maßnahmen gegen die Armut zu ergreifen“[25] haben. Was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass der Wohlstand dennoch (sehr) ungleich verteilt war: Zwar fand in Zeiten des Keynesianismus eine Institutionalisierung von Interessenorganisationen für Arbeitnehmerinnen statt, was vor allem aufgrund einer Art Abtrotzung des Wohlstands sowie „nicht-monetären Forderungen nach Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, nach einer Verkürzung der Arbeitszeit, nach mehr Partizipationsmöglichkeiten bei Entscheidungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene (Mitbestimmung)“[26] durch die erstarkenden Arbeitnehmerinnen beeinflusst wurde. „Die Basis dieser Kämpfe ist volle Beschäftigung, also die Nicht-Existenz der 'Reservearmee' der Arbeitslosen, die zum Drücken der Löhne und sozialen Leistungen instrumentalisiert werden kann.“[27] Die Etablierung der sozialen Sicherungssysteme in der Zeit nach dem zweitem Weltkrieg waren also zum einen darin begründet, dass es durch wirtschaftspolitische, als auch durch sozialpolitische Prozesse (dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates) sowie durch gesellschaftliche Kämpfe gelang, die industrielle Reservearmee, also jene Menschen, denen es zuvor nicht möglich war, am Prozess der Mehrwertakkumulation zu partizipieren, in den Wirtschaftsprozess auf eine sozial verträgliche Art und Weise einzubinden und somit gleichzeitig „dem industriell-marktwirtschaftlichen Sektor auf diese Weise eine beträchtliches Arbeitskräftepotential und eine wichtige Binnennachfrage zu erschließen“.[28] Mit dem Keynesianismus etablierte sich gleichzeitig die Annahme, dass dem Kapitalismus inhärente Strukturen und Prozesse für die Instabilität des Wirtschafts- und Sozialsystems zu Grunde liegen - und nicht zuerst der marktexternen Regulation, wie es der Neoliberalismus nahe legt. „Damit war ein Analyserahmen vorgegeben, demzufolge der Kapitalismus in seiner ausgereiften Form aus sich selbst heraus zur Stagnation neigt, d. h. das Wirtschaftswachstum langfristig abflacht und möglicherweise vollständig zum Erliegen kommt.“[29] Die Soziologin Saskia Sassen fasst den Keynesianismus deshalb folgendermaßen zusammen: „Es gab im Keynesianismus Ausbeutung, Rassismus und sozialen Ausschluss, aber in der Tendenz wuchs die Zahl der Integrierten: Die wohlhabende Arbeiterklasse und die wohlhabende Mittelklasse wurden größer. Das geschah nicht, weil das System nett war, sondern weil die Wachstumsdynamik nach immer mehr von allem verlangt hat. Das Ergebnis: Es gab zunehmend Menschen mit Haus, Bildung, Pensionen, mit Teilhabe. Heute ist die Tendenz andersherum.“[30] Dementsprechend sehen Böhnisch, Arnold und Schröer (1999) den Sozialstaat als Ausdruck und in der Verantwortung für eine „soziale Verwandlung des Kapitalismus - die seine historische Form, aber nicht sein asoziales Wesen verändert hat.“[31]

2.1. Das Ende des Wachstums - das Erstarken des Neoliberalismus

Aus heutiger Perspektive, vor dem Hintergrund der seit Jahren anhaltenden Weltwirtschaftskrise - ausgelöst durch den Finanzmarktkapitalismus und hochverschuldete Nationalstaaten, aus deren Folge ein wirtschaftlicher und sozialer Zerfall nicht nur im Süden Europas stattfindet, sondern u. a. das Projekt EU an dessen inhaltlichen und ökonomischen Grenzen führt, erscheint es fast als Ironie der Geschichte, dass gerade eine auf Wachstum und Gewinnmaximierung fixierte Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie sich im Biotop stark einbrechender Wirtschaftswachstumsraten etablieren und zukünftig maßgeblich gesellschaftliche Diskurse prägen konnte.

Die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften des Keynesianismus waren gekoppelt an das historisch bedingt hohe Wirtschaftswachstum. Infolge dessen erreichte eine sozial verträgliche Modernisierung des Kapitalismus eine gewisse (in ihrer Tendenz steigende) Umverteilung und Integration (Wohlfahrtsstaat). Auf diese Aspekte ist die hohe Akzeptanz des Systems zurückzuführen, denn „dies machte die hohe ökonomisch­soziale Stabilität des Fordismus aus. Die politische Stabilität war während der Zeit der Blockkonfrontation trotz (vielleicht auch wegen) der sozialen Konflikte gewährleistet. Die Produktion eines (relativen) Mehrwerts mit Hilfe der Steigerung der Arbeitsproduktivität im durch den Nationalstaat regulierten Raum der Kapitalverwertung war also ein Positivsummenspiel.“[32]

Die 1970er Jahre waren von der Krise des keynesianischen Interventionsstaates geprägt, da dessen Maßnahmen zusehends ihre Wirkung verfehlten: Das Preisniveau stieg trotz Stagnation des Wirtschaftswachstums, welche „bereits von keynesianischer Stabilisierungspolitik begleitet wurden und den Trend zum deutlich niedrigeren, langfristigen Wachstumspfad Deutschlands“[33] aufzeigten. Die Raten waren zwar im Vergleich zu heute noch immer auf relativ hohem Niveau, bei weitem aber nicht mehr auf dem Stand wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders. Und vor allem: Sie sanken stetig. Doch obwohl es durchaus schlüssige keynesianische Erklärungsansätze und „Exit“- Strategien[34] gab, verlor der Keynesianismus an Glaubwürdigkeit. So fand diese Ära des Kapitalismus ab Mitte der 1970er „abrupt mit der Ölkrise, Massenarbeitslosigkeit und der Entstehung eines informellen Sektors, mit Diskursen über die 'Unregierbarkeit' und die 'Krise der Demokratie' und vor allem mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods ein Ende.“[35] Übereinstimmend benennen diverse Autorinnen[36] die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre (Bretton-Woods, Ölkrise), das Aufkommen und die Verstetigung der Massenarbeitslosigkeit, sowie durch technische Innovation ermöglichte neue Produktions-, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten als einschneidende Ereignisse, die die bis dahin bestehenden ökonomischen und somit sukzessive die sozialen und gesellschaftspolitischen Verhältnisse entscheidend wandelten. Weiterhin veränderten sinkende Wirtschaftswachstumsraten bzw. stagnierende oder sinkende Profitraten in fast allen Industriestaaten zunehmend die bisherigen Verteilungsspielräume. Es entstanden erste Debatten über die Reformierung oder gar Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik (letztendlich mündete dies in der Legitimationskrise des Sozialstaats).[37] Es wurden Maßnahmen getroffen, um der Überakkumulationskrise zu begegnen. Diese betrafen vor allem die Liberalisierung der Finanzmärkte sowie die Internationalisierung der Arbeitsteilung. „Das bedeutet Abbau von Schutzrechten und Marktbeschränkungen (Deregulierung), von Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen (Freihandel), die Erosion der öffentlichen Daseinsvorsorge (Privatisierung), die Schaffung immer neuer Märkte (Liberalisierung) und die erzwungene Anpassung der Individuen an den Marktmechanismus (Flexibilisierung).“[38] Dies bewirkte einen grundlegenden Funktionswandel an den Kapitalmärkten, eine Zunahme der globalen Konkurrenz auf den Weltmärkten und bekräftigte die Abkehr vom keynesianischen Wirtschaftsmodell sowie von der (bis dato dominierenden) fordistischen Arbeitsorganisation.[39] Die Finanzmärkte gewannen an Bedeutung.[40] Das Kapital bzw. vereinfacht gesagt das Geld entwickelte seine eigene Akkumulationslogik, weg vom „bloßen“ Tauschwert, hin zu „überall einsetzbare[m] Investitionskapital und eine[r] eigene[n] Zirkulations- und Spekulationslogik (...). Wertschöpfung und Gewinnmaximierung sind nicht mehr nur auf die realen Produktionsvorgänge, sondern genauso und zunehmend auf Anlage- und Renditespekulation ausgerichtet. Die kapitalistische Profitorientierung sucht heute nicht nur den Produktionsertrag, sondern genauso den Zins- und Spekulationsertrag auf den Kapitalmärkten.“[41] Infolge dessen entwickelten sich bspw. verschärfte Standortkonkurrenzen innerhalb und zwischen Nationalstaaten.

Die Einführung neuer Schlüsseltechnologien, wie z. B. der Mikroelektronik oder der Kommunikationstechnologien, begünstigten eine grundlegende Wandlung des Produktionsregimes, die letztendlich Formen der Individualisierung und Flexibilisierung in den Produktionsprozessen manifestierten.[42] Ein weiterer Ausdruck der Überakkumulationskrise der keynesianisch regulierten und fordistisch organisierten Ökonomie äußerte sich zudem in der Notwendigkeit und dem Verlangen nach stetig steigenden Wachstumsraten. Dieses erfordert ein Mehr an Produkten - und vor allem deren Abnahme: Doch in „den längst angebrochenen Zeiten des Post-Fordismus hingegen bestimmt verstärkt die Nachfrage die Produktion. Differenzierte, kurzlebige Konsummuster führen zu flexibler, rasch auf schnell wechselnde Trends reagierender Produktion mit minimalen Lagerbeständen und Just-in-time-Fertigung, die die horizontale Integration der Produktion begünstigen“.[43] Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre setzten Unternehmen vermehrt auf eine flexible Massenproduktion sowie eine Beschleunigung der Produktinnovation, in der Hoffnung, dadurch Wettbewerbsvorteile zu erreichen. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation und die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmerinnen: Die „Einführung von Marktelementen in die innerbetriebliche Organisation, eine Reduzierung der Kernaufgaben und der Kernbelegschaft in Zusammenarbeit mit einem weitläufigen Netz von Zulieferern, eine abgestufte Risikoverteilung durch Auslagerung von Produktions- und Dienstleistungsaufgaben und einen dadurch insgesamt flexibler werdenden, intern stärker segmentierten 'Arbeitskräftepool'“[44] weichen nicht nur die Normalerwerbsbiografie auf. Neue, weniger geschützte Arbeitsverhältnisse, z. B. befristete Verträge oder Selbstständigkeiten, setzen sich durch, erhöhen den Leistungsdruck sowie die (Einkommens-) Unterschiede und Konkurrenzsituationen unter den Arbeiternehmerinnen.[45] Die Transformation der fordistisch organisierten Ökonomie wird also nicht nur begleitet von der Deindustrialisierung der Industrienationen, dem Niedergang der klassischen Massenproduktion - z. B. der Textil- und Stahlindustrie in der BRD, in Folge dessen sich ebenfalls klassische Arbeitsverhältnisse und Erwerbsbiografien wandelten.

Eine weitere Entwicklung stellt das Aufkommen und die Verstetigung der Massenarbeitslosigkeit dar. Die steigende Produktivität setzte immer mehr Arbeitskräfte frei, weswegen sich das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit zusehends verstetigte. „Auf der anderen Seite sind in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften (noch?) keine neuen Produkte und die ihnen entsprechende Nachfrage, einschließlich der hierzu notwendigen 'Konsumformen' in Sicht, die eine ähnliche Wachstums- und Beschäftigungswirkung entfalten könnten wie die Eisenbahn im 19. und das Automobil und die privaten Massengüter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wirken in dieser Hinsicht zwiespältig. Sie tragen ebenso zur Rationalisierung und zur Einsparung von Beschäftigung wie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei“.[46] Die Grundlagen des Keynesianismus (der Klassenkompromiss, mündend im Wohlfahrtsstaat: Umverteilung über Wohlfahrtsstaat, annähernde Vollbeschäftigungspolitik, Regulierung und Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen) wurden immer mehr als Ursache für die strukturellen Krisen des Kapitalismus angesehen. Als Lösungen galten die Intensivierung internationaler Arbeitsteilung inklusive der Initiierung des Kosten- und des Standortwettbewerbs sowie der Liberalisierung und Deregulierung von Märkten. Infolge dessen steigt der Druck auf Löhne, Sozialleistungen sowie auf Organisierungen, wie z. B. Gewerkschaften, der Wettbewerbslogik gerecht zu werden. Die (stetig wachsende) Massenarbeitslosigkeit wirkt dabei nicht nur als Ausgangspunkt der Kritik bzw. des Angriffs auf die sozialen Sicherungssysteme aus ökonomischer Perspektive, sondern auch als disziplinierendes Element auf die Arbeitnehmerinnen. „Gerade vor dem Hintergrund der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung in den 1970er-Jahren (...) fand die empirisch unterfütterte Botschaft der Monetaristen Widerhall, wonach fiskalpolitische Instrumente des Keynesianismus die angestrebten Beschäftigungseffekte verfehlen, aber die Inflationsgefahr erhöhen. Damit endete die Phase antizyklischer keynesianischer Wirtschaftspolitik.“[47] Mit der Überakkumulationskrise des fordistisch organisierten Kapitalismus begann in Europa die Rezeption der Angebotsökonomie. Neoliberale Theorien und Elemente fanden immer mehr Einzug in die Wirtschafts- und Sozialpolitik. So empfahl die OECD ihren Mitgliedsstaaten Ende der 1970er offen eine Abkehr vom keynesianischen Modell: „Sie forderte die Privatisierung staatlicher Industrien und öffentlicher Dienstleistungen, die Nachahmung privatwirtschaftlicher Methoden in der staatlichen Bürokratie (...) und die Mobilisierung von Kapital für öffentliche infrastrukturelle Aufgaben (...).‘‘[48] Auch die Forderungen des deutschen Sachverständigenrates im Jahresgutachten 1977/78, wie z. B. der Abbau von Investitionshemmnissen wie Arbeitnehmerinnenrechte oder Arbeitszeitregelungen oder eine Förderung unternehmerischer Leistungs­und Risikobereitschaft, lassen den Paradigmenwechsel von keynesianischer zu neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich werden[49]. In Folge dessen fanden nach der Akkumulationskrise der 1970er Jahre die Industrienationen mehr oder weniger wieder auf den Wachstumspfad zurück. „Dieses Wachstum wurde aber nicht mehr von tatsächlicher Wertproduktion durch Arbeitskraftvernutzung getragen, sondern durch die explosionsartige finanzindustrielle Vermehrung von Kapital. Indem die Finanzindustrie immer mehr Eigentumstitel (Schulden, Aktien, Derivate) in Umlauf brachte, gelang ihr das Kunststück, zukünftigen Wert, also Wert, der noch gar nicht produziert ist und vielleicht nie produziert werden wird, in abstrakten Reichtum zu verwandeln. Das war der tiefere Grund für den Siegeszug des Neoliberalismus. Der hatte zwar auch kein Konzept um die Kapitalverwertung wieder auf Touren zu bringen, aber er bereitete den Boden für die Verlagerung der wirtschaftlichen Dynamik hin zur Finanzindustrie (...).“[50] Als die keynesianischen Interventionen gegen Ende der 1970er Jahre mehr und mehr wirkungslos blieben, wurde der Neoliberalismus zu einer treibenden Kraft in der ökonomischen und gesellschaftlichen Sphäre. Vor allem durch die konsequente Liberalisierung der Finanzmärkte, aber auch mit der allmählichen Entmachtung der Gewerkschaften, der Öffnung des öffentlichen Sektors für private Investoren (z. B. die Öffnung des Rentensystems als neues Feld zur Finanzanlage) brachte er das Anlagekapital in Stellung und somit die gehobene Bedeutung der (spekulativen) Finanzindustrie. So, wie der Keynesianismus die Etablierung des Sozialstaats auf Grundlage der Massenproduktion begleitete, förderte der Neoliberalismus die Finanzindustrie. Das „Grunddilemma, dass eine Steigerung der Produktivität bei gleichbleibender oder stagnierender Akkumulationsquote mit dem tendenziellen Abbau von Arbeitsplätzen einhergeht und die Basis der Realakkumulation zunehmend erodiert wird“[51], blieb aber bestehen. Dieses äußerte sich zukünftig in der Abhängigkeit der produzierenden Industrie von den Impulsen der Finanzökonomie. Dieses Abhängigkeitsverhältnis spiegelt sich dann sukzessive in den Arbeitsverhältnissen, der Massenarbeitslosigkeit und den sozialen Sicherungssystemen wieder.[52] Damit änderten sich zunehmend die Prämissen für die zukünftige Ausrichtung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme. Martin Kronauer stellt im Jahr 2010 zusammenfassend fest: „Der Nachkriegsdreiklang von Wirtschaftswachstum, relativer Vollbeschäftigung und Abschwächung sozialer Ungleichheit hat sich somit in die Dissonanz von Wirtschaftswachstum (allerdings auf niedrigem Niveau), Arbeitslosigkeit und Zunahme der Ungleichheit verwandelt.“[53]

3. Exkurs: Die neoliberale Ideologie

Laut dem „Lexikon zur Soziologie“ (2011) bezeichnet Neoliberalismus „eine politisch-ökonomische Doktrin, die im Wettbewerbssystem den Garanten für Fortschritt und individuelle Freiheit sieht.“[54] Staatliche Regulierungen dienen laut neoliberaler Ideologie ausschließlich der Gewährleistung und dem Aufrechterhalten wirtschaftlichen Handelns und der (neoliberalen) Wettbewerbsordnung. Diese sei „das Kernstück der Wirtschaftsordnung (...), die eine neue Sozialordnung bewirke.“[55] Wirtschaftlich und sozialpolitisch bezeichnet der Neoliberalismus demnach, eine auf die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre bzw. der Krise des Keynesianismus folgende Fokussierung der Ökonomie und der Politik auf die Marktkräfte und deren Kategorien wie bspw. Konkurrenz.[56] Diese sollten durch die „Deregulierung der Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen, Abbau staatlicher Systeme der sozialen Sicherung und Öffnung zu den Weltmärkten (Freihandel) erreicht werden (...). Die vorrangige Aufgabe des Staates wird in der Sicherung der Geldwertstabilität gesehen.“[57] Neoliberalismus gilt als Bezeichnung für die gegenwärtige Epoche[58]. Einig sind sich die verschiedenen neoliberalen Schulen bzw. Strömungen darin, dass dem Markt die höchste Kompetenz zugeschrieben wird, ökonomische als auch soziale Problemlagen zu lösen. Daher seien Methoden und Prozesse, die die Entfaltung des Marktes fördern (und eben nicht einschränken), am besten geeignet, zivilisatorischen Wohlstand und Fortschritt zu erreichen, zu sichern als auch weiter zu entwickeln.

Die folgende Analyse neoliberaler Ideologie konzentriert sich vor allem auf die Schriften und Überlegungen von Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und Gary S. Becker. Alle drei sind bedeutende Vertreter des Neoliberalismus und erhielten für ihre Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien den Wirtschaftsnobelpreis.

3.1. Der Markt hat System

Nach Friedrich Hayeks erkenntnistheoretischer Annahme sind Märkte nicht von Menschen erschaffen bzw. erdacht, sondern ein Selektionsergebnis der Evolution. Denn nach Hayeks Ansicht ist die menschliche Vernunft nicht in der Lage, komplexe Ökonomien zu erschaffen und zu gestalten, da die menschliche Vernunft beschränkt und das menschliche Wissen mangelhaft ist.[59] „Die ganze Vorstellung, daß der Mensch bereits mit einem Verstand ausgestattet ist, der fähig ist, sich eine Zivilisation auszudenken, und sich daran gemacht hat, diese zu schaffen, ist grundlegend falsch.“[60] Zivilisation sei demnach nur begrenzt bzw. nicht das Resultat bewussten menschlichen Handelns, Wissens oder menschlicher Innovation, sondern dadurch entstanden, dass „(...) die Einzelnen die Erfolgreichen nachahmen und dass sie von Zeichen und Symbolen geleitet werden, wie den Preisen, die für ihre Erzeugnisse geboten werden, (..) kurz, aus der Verwendung der Ergebnisse der Erfahrungen anderer.“[61] Demnach haben sich komplexe Systeme wie Sprache, Recht oder eben Märkte nach einer „spontanen Ordnung“ herausgebildet, die zwar aus menschlichem Handeln hervorgeht, jedoch keinem Entwurf, Plan oder System folgt, sondern ganz im Gegenteil auf eine unbewusste Aneignung von Erfahrungen beruht: „Gewohnheiten, moralischen Grundsätzen, Gebräuchen, Sprache etc. (...) sind gewissermaßen überlieferte Traditionen, die sich in einem langwierigen evolutionären Entwicklungsprozess über Generationen als Resultat von Erfolg und Misserfolg herausgebildet haben.“[62] Gesellschaften und Systeme entstehen demnach „aus der Tätigkeit der Individuen ohne ihrer Absicht“[63]. So begreift Hayek Gesellschaft dann auch als eine Summe von Individuen, deren Handlungen zwar wechselseitig aufeinander abgestimmt sind, jedoch die zentrale Gestaltungskraft der „spontanen Ordnung“ zuschreibt: „(J)e komplexer eine Ordnung ist, die wir anstreben, desto mehr sind wir für ihre Herstellung aus spontanen Kräfte angewiesen ( )“[64]

Die Begrenzung menschlicher Erkenntnis und menschlichen Wissens liegen nach neoliberaler Sichtweise darin begründet, dass Wissen innerhalb einer Gesellschaft verstreut ist. Für Hayek gibt es „kein gesellschaftliches Wissen, keine Form der gemeinschaftlichen Wissensproduktion, sondern 'Wissen existiert nur als Wissen des Einzelnen.“[65] Dennoch profitiert die gesamte Gesellschaft von den Fähigkeiten Einzelner, und zwar durch die Institution Markt. Der Markt leistet das, was Hayek weder den Menschen, deren Wissen und Intelligenz, noch der Wissenschaft zutraut, indem er in Form eines Such- und Experimentierprozesses verteiltes Wissen Einzelner zum Wohle aller zusammenführt und somit in der Form der „spontanen Ordnung“ Gemeinwohl produziert. Daher sei es nur folgerichtig, dass der Markt die einzige Institution ist, die gestreutes Wissen Einzelner zusammenführen kann, also Fähigkeiten Einzelner zum Wohle Aller zu entfalten vermag. Denn „nur in einer Wettbewerbswirtschaft (können) die konkreten Umstände, die wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse verwenden wollen und deren Kenntnis unter Hunderttausenden von Menschen verteilt ist, vollkommen ausgenütztwerden.“[66]

Nach den Erkenntnissen des Neoliberalismus stellt ausschließlich der Markt bspw. eine gerechte Einkommensverteilung sicher, indem alle Teilnehmenden nach ihren jeweiligen Leistungen entlohnt werden, sowie indem er die Effizienz in der Ressourcenallokation fordert. Begründet mit der „(...) Grenzproduktivitätstheorie, wonach bei vollkommener Konkurrenz und Profitmaximierung jeder Produktionsfaktor auf dem jeweiligen Markt seinem Grenzprodukt - dem Beitrag der letzten Einheit des betreffenden Faktors zum Gesamtprodukt - entsprechend entlohnt werde“[67], entspricht der neoliberale Markt dem idealen Markt. „Das Fehlen von Marktbarrieren, uneingeschränkte Markttransparenz und unbegrenzte Reaktionsgeschwindigkeit der Marktteilnehmer zählen ebenso zu den Voraussetzungen idealer Märkte wie Homogenität der Güter. Bei flexiblen Preisen gibt es folglich keine unbeschäftigten Produktionsfaktoren. Arbeitslosigkeit wird daher stets als Folge zu hoher Löhne oder als freiwillig gedeutet. Indem jeder der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden der entsprechend seiner Grenzproduktivität, also dem produktiven Beitrag der letzten eingesetzten Einheit zum Gesamtprodukt, entlohnt wird, setzt das neoklassische Modell darüber hinaus die Produktionsfaktoren einander gleich und legitimiert die Einkommensverteilung.“[68] Vollkommene Konkurrenz und das Kosten­Nutzen-Kalkül sind also Basis der Theorie, wenn der oder die Beste gewinnt, gewinnen somit alle. „Soziale Gerechtigkeit“ dagegen entspricht dem direkten Gegensatz zu Markt und Konkurrenz, in der der Markt alles selbst regelt. Soziale (Um-) Verteilung ist demnach abzulehnen. Eine staatliche Korrektur der Marktergebnisse bedeutet nach neoliberaler Logik dann auch schwerwiegende Eingriffe in die spontane Ordnung. Die Leistungen Einzelner effizient genutzt durch die spontane Ordnung des Marktes sind also die zentralen Faktoren zivilisatorischen Fortschritts. Der Markt, das ihm inhärente Kosten-Nutzen-System sowie die Konkurrenz sind daher nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht am sinnvollsten, sondern zwingen auch das Individuum zu effizienten und innovativen Handlungen, was wiederum kollektiven Wohlstand schafft.[69]

3.2. Das neoliberale Gesellschafts- und Menschenbild

„Das rationale Kosten-Nutzen-Kalkül wird damit zur universellen Grundlage menschlichen Verhaltens.“[70] Denn dem menschlichen Handeln ist das Maximieren des individuellen Nutzens bei allen sozialen Interaktionen grundlegend, unabhängig der Lebenssituation, egal ob es Lebensbereiche wie Familie, Ehe und Kinderzahl oder solche wie Kriminalität und Politik betrifft. Denn „Soziale Interaktion wird durch Maximierung »sozialen Einkommens«, das die Summe des eigenen Einkommens und des monetären Werts relevanter Charakteristika der sozialen Umwelt darstellt, bestimmt.“[71] Das heißt wiederum, dass alles menschliche Handeln Gegenstand der ökonomischen Analyse ist.[72] Der Neoliberalismus beschränkt das Kosten-Nutzen-Kalkül also nicht nur auf die ökonomische Ebene, sondern überträgt es auf sämtliche Lebensbereiche. Gary S. Becker nennt das dann den „ökonomischen Imperialismus“ (dieser Begriff stammt von Becker selbst): Insbesondere im Rational-Choice-Ansatz erläutert der Nobelpreisträger Gary S. Becker, dass private bzw. soziale Beziehungen nichts anderes als ein Tauschhandel sind, also Handlungen, die der ökonomischen Logik folgen.[73] So stellt Ptak fest, dass der Neoliberalismus mehr als eine reine Wirtschaftstheorie darstellt: „In ihm bündeln sich - ausgehend vom ökonomischen Zentrum - philosophische, rechts- und politikwissenschaftliche, soziologische und historische Stränge zu einem strategischen Projekt der Durchsetzung einer individualistischen Marktgesellschaft.“[74] Denn nach neoliberaler Theorie findet das Problem der Allokation überall statt: Die Verteilung knapper Mittel auf konkurrierende Zwecke ist demnach ein Prozess, der sich in Gesellschaft, sozialen Beziehungen, Politik und Marktgeschehen vollzieht - ja ihnen inhärent sei. „Die Frage der Knappheit und der Wahl stellt sich in privaten Haushalten, politischen Prozessen oder Gewerkschaften ebenso wie in Unternehmen“[75] resümiert der neoliberale Ökonom und Nobelpreisträger Becker. Aufgrund dieses Prinzips ist die neoliberale Ökonomie als Wissenschaft nicht auf den Markt begrenzt. Die Logik des Ökonomischen, mit dem Ziel der Optimierung und individuellen Nutzenmaximierung, sei auf sämtliche Lebensbereiche übertragbar und anwendbar.[76] Denn das grundlegende Ziel bei allen sozialen Interaktionen sei es demnach, den individuellen Nutzen zu maximieren. Jegliche soziale Interaktion bedeutet in der neoliberalen Leseart letztendlich nichts anderes, als dass alle überall miteinander konkurrieren, um das individuelle Nutzenniveau zu erhöhen. „Das Kalkül gilt Beckerfolgend jedoch nicht nur in Beziehungen zu anderen, sondern mit der Humankapitaltheorie auch für das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. (...) Gerade für die - höchst umstrittene - Übertragung des neoklassischen Modells auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche erhielt Gary S. Becker 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.“[77]

Wie viel oder wie stetig Menschen in das eigene Humankapital investieren, hängt wiederum „von derer erwarteter Rentabilität, dem - monetären und psychischen - return on investment, ab. (...) Daher investieren Menschen mit besseren Fähigkeiten und folglich auch besseren Marktchancen auch mehr in ihr Humankapital. Investitionen in Humankapital werden jedoch sehr weit gefasst. Zu ihnen zählt auch gesunde Lebensführung (...). Zumindest drei Fünftel des persönlichen Einkommens werden Becker zufolge über das Humankapital und persönliche Fähigkeiten bestimmt.“[78] Das Humankapital spielt demnach eine, wenn nicht gar die entscheidende Rolle in der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung der Menschen. Der neoliberale Mensch wird also nicht nur als Arbeitskraft und Konsumfaktor angesehen, sondern gänzlich zur ökonomischen Einheit, die nach ökonomischen Regeln funktioniert.[79] Becker betrachtet die Organisation der Wirtschaft folgerichtig auch unter dem Aspekt der Selbst-Formierung: „Wirtschaftsordnungen, die auf Privatinitiative und Wettbewerbsmärkte setzen, sind effizienter als solche, die auf umfangreiche staatliche Kontrolle setzen. Langfristig gesehen sind jedoch die Auswirkungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung auf die Selbstverantwortung, die Initiative und andere Tugenden vielleicht sogar von noch größerer Bedeutung.“[80] Alles bedingt sich demnach: Ökonomischer Wohlstand, persönliches Glück und Identitätsbildung sind voneinander abhängig und werden sogar aneinander gekoppelt, so dass Arbeit und Freizeit keinen Widerspruch mehr darstellen, sondern ineinander über gehen. Der Neoliberalismus eröffnetdazu die individuellen Gestaltungsräume, sorgtfür Autonomie und bietet aktive Problemlösungen an. Nur einzig selbst aktiv müssen die Menschen werden und die Verantwortung für ihre Tätigkeiten übernehmen - gleichfalls im Erfolg wie im Scheitern. Das bedeutet letztendlich, dass das Risiko der kollektiven Verantwortung enthoben wird, um durch eine eigenverantwortliche, individuelle, von der Moral der Ökonomie begründete Form der Risikobewältigung ersetzt zu werden.[81] „Krankheit wird zum Zeichen mangelnder Prävention und defizitärer Selbstführung, sie impliziert daher nicht länger das Recht auf Behandlung, sondern obliegt vermehrt individueller »Problemlösungskompetenz»“[82], analysiert Michalitsch und stellt dementsprechend fest: „Die Differenz zwischen Ökonomie und Sozialem wird eliminiert, denn kein gesellschaftlicher Bereich bleibt von ökonomischer Analyse ausgeschlossen. Darüber hinaus aber siedelt die Humankapitaltheorie das Ökonomische im Individuum selbst an, indem sie Selbst-Formierung an Verwertbarkeit auf dem Markt koppelt. Das Individuum wird damit zum Unternehmer seiner selbst, die Marktlogik ins Individuum verlagert.“[83] Die Marktförmigkeit des Individuums wird somit zur Existenzfrage. Lebenschancen und -risiken werden im Kontext der Effizienz dem Wettbewerb zugewiesen und hervorgebracht.

Trotz alldem sei die neoliberale Marktwirtschaft bzw. das neoliberale Verständnis von Gesellschaft ein freiheitliches bzw. auf Freiheit basierendes und gerechtes Wirtschafts- und Sozialsystem, da alle Individuen durch einen idealen Markt gleiche Chancen als auch Risiken haben. Soziale Ungleichheit dagegen resultiere aus der Einmischung und der Regulierung des Staates.

3.3. Das neoliberale Staatsverständnis

Der Markt ist im neoliberalen Verständnis nicht an die Gesellschaft und den Staat gebunden, wie es z. B. im Keynesianismus durch die wohlfahrtsstaatliche Funktionen des Staates der Fall ist, sondern der Markt ist in Form der spontanen Ordnung aus sich heraus „ein wertorientiertes, ethisches Prinzip“[84]. Insbesondere bei Hayek findet sich die Interpretation der spontanen Ordnung des Marktes, die sich als selbst verstärkende Dynamik von Märkten, als ein historisch überlegenes System, in dessen Folge die zentrale Rolle des Staates als die „eines auf die Kernfunktionen beschränkten liberalen Rechtsstaates“[85] reduziert wird. Diese Kernfunktionen sollen vor allem einen Ordnungsrahmen als notwendige Voraussetzung für einen effektiven und effizienten Wettbewerb schaffen und eines sicher stellen: „Das Funktionieren des Wettbewerbs setzt nicht nur eine zweckmäßige Organisation bestimmter Institutionen des Geldes, der Märkte und der Informationsquellen voraus - wofür wir uns niemals in vollem Umfang auf Privatinitiative verlassen können -, sondern es hängt vor allem von der Existenz eines entsprechenden Rechtssystems ab, das die doppelte Aufgabe hat, den Wettbewerb aufrecht zu erhalten und ihn mit einem Maximum an Nutzen arbeiten zu lassen.“[86] Um dies gewährleisten zu können, sollen die staatlichen Aufgaben und Interventionen vor allem auf die Garantie und Verbindlichkeit von Eigentum, Verträgen sowie die Anerkennung gleicher Rechte für alle Individuen ausgerichtet sein, um am Marktgeschehen teilnehmen zu können.[87] Denn als „quasi naturgegebene Ordnung kann der Markt letztlich keine ungerechten Ergebnisse hervorbringen. Gerechtigkeit wird entsprechend nicht als soziale Kategorie gefasst, sondern lediglich als Fairneß auf individuelles Verhalten bezogen.“[88] Dementsprechend eng umreißt Hayek das Aufgabengebiet des Staates: Die „Regeln (...), die die Einzelnen in die Lage setzen sollen, selbst ihren Platz in einer spontanen Ordnung zu finden, müssen allgemein, dürfen nicht bestimmten Individuen einen Platz zuweisen, sondern müssen es dem Einzelnen überlassen, sich seine Position zu schaffen.“[89] Interventionen zu Gunsten des Gemeinwohls bzw. Regulierungen der Ökonomie, um bspw. Gewerkschaften zu stärken oder hohe Einkommen stärker zu besteuern, sind dagegen abzulehnen, da sie eben gegen die Grundsätze der spontanen Ordnung, wie Wettbewerb und Konkurrenz, gerichtet sind. Derartige staatliche Interventionen seien demnach eine „Anmaßung von Wissen“[90], denn das „Verfolgen positiver, kollektiver Ziele - etwa Vollbeschäftigung oder soziale Gerechtigkeit - gilt als gegen den Zivilisationsprozess gerichteter Konstruktivismus.“[91] Einzig die Prinzipien des Marktes ermöglichen durch eine bestmögliche Selektion die Vergesellschaftung des Wissens Einzelner. Hayek erkennt in der Regulierung der Einkommen, also letztendlich in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, sogar einen Angriff auf die persönliche Freiheit, die er wiederum als Abwesenheit staatlicher Regulierungen definiert: „Freiheit heißt hier vor allem die Freiheit zur Markttransaktion.“[92] Der neoliberale Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman gesteht dem Staat dann auch nur in drei Fällen Interventionen zu: „externe Effekte, »paternalistische Sorge« und »technische Monopole« (siehe Friedman 1971). Im Falle negativer externer Effekte solle der Staat dann eingreifen, wenn die Betroffenen selbst keine Möglichkeit zum Ausgleich haben, während bei positiven Externalitäten - etwa im Bereich des Erziehungswesens - staatliche Eingriffe Vorteile für die Gesellschaft zu sichern haben. Dem Staat kommt darüber hinaus die Aufgabe paternalistischer Sorge für all jene zu, die - wie Kinder und geistig Behinderte - nicht als verantwortungsfähig gelten können. Schließlich bedürfen technische Monopole etwa im Bereich der Wasser-, Gas- oder Elektrizitätsversorgung staatlicher Regulation. Hier empfiehlt Friedman jedoch ein »maßvolles Privatmonopol« als »kleinstes Übel« (Friedman 1971, 52) anstelle öffentlicher Monopolkontrolle.“[93] Staatliche Maßnahmen sollen also vor allem die Konstituierung und Sicherung von Märkten bewerkstelligen, ohne eigene soziale oder gesellschaftliche Ziele wie Abbau der Arbeitslosigkeit oder einen Ausbau sozialer Sicherungssysteme zu formulieren. Der neoliberale Staat ist also nicht zuerst dem Primat der Politik und der Wohlfahrt, also der Interessenvertretungen der Bürgerinnen, verpflichtet, sondern der Marktwirtschaft - der Ökonomie im Selbstzweck: Denn die „grundsätzliche Stabilität des privatwirtschaftlichen Sektors erübrigt staatliche Interventionen“,[94] da der Markt „als effizientes Informationssystem die relativ beste Option zur Koordinierung gesellschaftlicher Belange darstellt.“[95] Politik und Wohlfahrtstaat werden dann, wie bspw. nach Gary S. Becker, als ein marktähnliches System verstanden und beschrieben. Im Public-Choice Ansatz versteht Becker das politische, demokratische System als eine dem Markt ähnliche Institution. In ihr werden die Interessen der PolitikerInnen und der WählerInnen durch das Kosten­Nutzen- sowie dem Angebot-Nachfrage-Prinzip verhandelt. Politik folgt demnach genau wie zwischenmenschliche Beziehungen der ökonomischen Logik und ist letztendlich nichts anderes als ein Tauschhandel.[96] Die Prinzipien des Marktes steuern also nicht nur die Ökonomie, sondern staatliche Handlungen genauso wie soziale Beziehungen. Der Markt, die spontane Ordnung und deren Grundlagen wie Konkurrenz sowie Kosten- und Nutzen-Kalkül können und werden somit auf alle gesellschaftlichen Bereiche angewandt, was eine völlige, universelle Reduktion auf das Ökonomische bzw. die Marktlogik bedeutet.[97]

3.4. Wohlfahrtsstaat und Neoliberalismus

Als Folge wird auch der Wohlfahrtsstaat ausschließlich unter den Kriterien des neoliberalen Staatsverständnisses unter der ökonomischen Logik subsummiert.

[...]


[1] Vgl. Thomas Öchsner 2012 a

[2] Vgl. Thomas Öchsner 2012 b

[3] Vgl. Bundesregierung Deutschland 2012, S. 36

[4] Vgl. ebd., S. 47

[5] Vgl. Bundesregierung Deutschland 2012, S. 46

[6] Vgl. Bundesministerium der Justiz 2012

[7] Heitmeyer/Loch 2001, S. 33

[8] Vgl. u. a. Decker, Weißmann, Kiess, Brähler 2010

[9] Vgl. Decker, Weißmann, Kiess, Brähler 2010, S. 46 - 54, Vgl. Rosa 2009, S. 95 ff.

[10] Vgl. Bourdieu 1998, S. 48 - 64

[11] Vgl. ebd.

[12] Altvater 2011, S. 50

[13] Vgl. Fuchs-Heinritz, Klimke, Lautmann, Rammstedt, Stäheli, Weischer, Wienold 2011, S. 468 f.

[14] Vgl. Heitmeyer 2001, S. 501

[15] Vgl. Heitmeyer 2001, S. 498

[16] Bührmann, Schneider 2008, S. 114

[17] Vgl. Augstein, Negt 2013

[18] Vgl. Altvater2011, S. 98

[19] Vgl. Ptak 2008, S. 82 f.

[20] Altvater 2011 S. 66

[21] Vgl. Kronauer 2010, S. 87

[22] Ptak 2008, S. 17

[23] Vgl. Ptak 2008, S. 18

[24] Vgl. Kronauer 2010, S. 93

[25] Ebd., S.87

[26] Altvater 2011, S. 59 f

[27] Ebd.

[28] Kronauer 2010, S. 104

[29] Ptak. S.18

[30] Jakob, Sassen 2013

[31] Böhnisch, Arnold, Schröer 1999, S. 47

[32] Altvater 2011, S. 66

[33] Ptak 2008, S. 82 f.

[34] z. B. die Anbieterinflationstheorien von Galbraith oder Ackley (vgl. Michalitsch 2006,

S. 71)

[35] Altvater 2011, S. 109

[36] Vgl. Michalitsch 2006, S. 49, Vgl. Ptak 2008, S. 83, Vgl. Altvater 2011, S. 109

[37] Vgl. Ptak 2008 , S.83

[38] Ebd., S. 84

[39] Vgl. Altvater 2011, S. 66, vgl. Ptak 2008, S. 83

[40] Vgl. Kronauer 2010, S. 101 f.

[41] Böhnisch, Arnold, Schröer 1999, S. 95

[42] Vgl. Ptak 2008, S. 83

[43] Michalitsch 2006, S. 51

[44] Kronauer 2010, S. 100

[45] Vgl. ebd., S. 100 f.

[46] Kronauer 2010, S. 99 f.

[47] Ptak 2008, S. 85

[48] Crouch 2011, S. 37

[49] Vgl. Michalitsch 2006, S. 64

[50] Trenkle 2012

[51] Trenkle 2012

[52] Vgl. Altvater 2011, S. 61 f.

[53] Kronauer 2010, S. 98

[54] Fuchs-Heinritz, Klimke, Lautmann, Rammstedt, Stäheli, Weischer, Wienold, S. 468

[55] Fuchs-Heinritz, Klimke, Lautmann, Rammstedt, Stäheli, Weischer, Wienold, S. 469

[56] Vgl. Ptak 2008 ,S.17

[57] Ebd.

[58] Vgl. Fuchs-Heinritz, Klimke, Lautmann, Rammstedt, Stäheli, Weischer, Wienold 2011, S. 468

[59] Vgl. Ptak S. 33 bzw.S. 48

[60] Hayek, zit. in Ptak 2008, S. 44

[61] Hayek, zit. in ebd.

[62] Hayek, zit. in ebd.

[63] Hayek, zit. in Michalitsch 2006, S. 86

[64] Hayek, zit. in ebd.

[65] Hayek, zit. in Ptak 2008, S. 45

[66] Hayek, zit. in Michalitsch 2006, S. 86

[67] Michalitsch 2006, S. 92

[68] Michalitsch 2006, S. 73

[69] Vgl. ebd., S. 43, S. 73

[70] Ebd., S. 89

[71] Ebd.

[72] Vgl. Michalitsch 2006, S. 89

[73] Vgl. Ptak 2008, S.30

[74] Ebd. 2008, S.26

[75] Becker, zit. in Michalitsch 2006, S. 88

[76] Vgl. Michalitsch 2006, S. 88 f.

[77] Michalitsch 2006, S. 89

[78] Ebd., S. 90

[79] Vgl. ebd., S. 90

[80] Becker, zit. in Michalitsch 2006, S. 90

[81] Vgl. Michalitsch 2006, S. 95 f.

[82] Ebd., S. 96

[83] Ebd., S. 90

[84] Ptak 2008, S. 32

[85] Ebd., S. 33

[86] Hayek 2009, S. 60

[87] Vgl. Michalitsch 2006, S. 86

[88] Ebd., S. 86

[89] Hayek 2002, S. 25

[90] Vgl. Ptak 2008, S. 47

[91] Ebd.

[92] Michalitsch 2006, S. 87

[93] Ebd., S. 87 f.

[94] Michalitsch 2006, S. 87

[95] Ptak 2008, S. 31

[96] Vgl. ebd., S. 30

[97] Vgl. Michalitsch 2006, S. 94

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
Die desintegrativen Mechanismen des neuen Kapitalismus
Untertitel
Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Dominanz ökonomischer Normen
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
130
Katalognummer
V267507
ISBN (eBook)
9783656574644
ISBN (Buch)
9783656574637
Dateigröße
935 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mechanismen, kapitalismus, auswirkungen, dominanz, normen
Arbeit zitieren
Jens Wolfer (Autor:in), 2013, Die desintegrativen Mechanismen des neuen Kapitalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267507

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