Die Bedeutung von Arthur Schopenhauer für das Denken Max Horkheimers


Thèse de Bachelor, 2014

51 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Arthur Schopenhauer: Einführende Darstellung
2.1. Die Welt als Wille und Vorstellung
2.1.1. Erkenntnistheoretische Überlegung: Die Anschauung des Anschauenden
2.1.2. Metaphysische Überlegungen: Die Dechiffrierung der Welt
2.1.3. Ästhetische Überlegungen: Die willenlose Erkenntnis
2.1.4. Ethische Überlegungen: Die Verneinung des Willens

3. Max Horkheimer
3.1. Schopenhauers Rolle in Horkheimers Jugend
3.2. Vom Cornelius Schüler zum Leiter des Instituts f ü r Sozialforschung
3.3. Theoretische und historische Umstände der Beschäftigung mit Schopenhauer
3.4. Schopenhauers Einfluss auf Horkheimers Spätwerk
3.4.1. Pessimismus als kritische Aufhebung der bisherigen Kritischen Theorie
3.4.2. Georg Lukács Vorwurf der indirekten Apologetik
3.4.3. Metaphysische Verlassenheit & die Abschaffung des Leids
3.4.4. Neue Perspektiven der Kritischen Theorie
3.4.5. Die pessimistische Begründung der Moral
3.4.6. Reibungspunkte zwischen Schopenhauer und der Kritischen Theorie
3.4.7. Abschließende Gedanken zur Bedeutung der ästhetischen Betrachtungen

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1Und Schopenhauer - das darf ich wohl sagen - hat in meinem Leben nicht nur eine wichtige Rolle gespielt, sondern die Kritische Theorie - wie man sp ä ter meine Gedanken genannt hat - enth ä lt eben sehr viel von Schopenhauer; […]“2

Max Horkheimer gilt mit seinem Entwurf zum Programm der Sozialforschung und den frühen Ausführungen zum Fortgang der Kritischen Theorie als einer der bedeutendsten Denker im Kreis des Instituts für Sozialforschung und auch darüber hinaus. Beschäftigt man sich aufmerksam mit seinem philosophischem Gesamtwerk, begegnet einem durchaus häufig der Name des Begründers des philosophischen Pessimismus: Arthur Schopenhauer. Ob in zahlreichen Aufsätzen oder in mit ihm geführten Interviews; über Horkheimers gesamtes Werk verteilt, lassen sich Reminiszenzen an Schopenhauer finden.3 Gerade in Bezug auf die kontroversen Punkte in der Entwicklung des Horkheimerschen Denkens sowie der Kritischen Theorie im Laufe des 20. Jahrhunderts, die häufig als resignative Wendung charakterisiert wird, stellt sich fast unweigerlich die Frage, welche Bedeutung Arthur Schopenhauer für das Denken Max Horkheimers hatte: Ist der Einfluss lediglich symbolischer Natur oder muss man seinem Werk eine tiefgreifendere Wirkung auf Horkheimer zuschreiben?

Folgende Arbeit wird versuchen eine Antwort auf diese und damit einhergehende Fragen zu finden.

Ein einleitender Abschnitt (2.) beschäftigt sich ausgiebig mit Schopenhauer und seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Neben dem Zweck der Selbstverständigung des Autors bildet er eine Voraussetzung für die restliche Arbeit. Bezüge auf Momente des Schopenhauerschen Denkens und im hinteren Teil der Arbeit getätigte Anmerkungen zu seinem Werk sind mithilfe dieser Zusammenfassung der ausschlaggebenden Punkte seiner Philosophie besser nachvollziehbar. Aufbauend auf die Einsichten, die in diesem Teil präsentiert werden, kann in dem sich mit den Denkbewegungen Horkheimers beschäftigenden Teil auf ausschweifende Erläuterungen diesbezüglich verzichtet werden.

Im Hauptteil der Arbeit (3.) wird gezielt auf die weiter oben gestellte Frage nach dem Einfluss Schopenhauers auf das Denken Max Horkheimers eingegangen. Dieser Teil wird vom - im Umfang der Arbeit schwer zu realisierenden - Versuch getragen, die für die Aufgabenstellung interessante Phase des philosophischen Schaffens Horkheimers in seine intellektuelle Biografie sowie die historischen Umstände seiner Zeit einzuarbeiten. Diese Phase, deren dezidierte Bearbeitung hinsichtlich der genannten Aufgabenstellung das Ziel der Arbeit darstellt, setzt sich maßgeblich aus den folgenden Aufsätzen zusammen: „ Schopenhauer und die Gesellschaft “ (1955), „ Die Aktualit ä t Schopenhauers “ (1961), „ Religion und Philosophie “ (1967), „ Pessimismus heute “ (1971),„ Bemerkungen zu Schopenhauers Denken um Verh ä ltnis zu Wissenschaft und Religion “ (1972)4.

Auch wenn der Fokus auf diesen Texten lag, die zur Spätphase Horkheimers gehören und mit deren Hilfe auch die grundsätzlichen Gedanken des Abschnitts erarbeitet wurden, lassen sich dennoch zahlreiche Bezüge zu anderen Texten Horkheimers finden. Auf viele Werke jedoch, denen eine große Bedeutung für das Voranschreiten und die Entwicklung der Kritischen Theorie beizumessen ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgiebig eingegangen werden. Dem Autor ist bewusst, dass dabei gelegentlich unzulässige, aber unvermeidbare Verkürzungen entstehen, die weder dem Inhalt der Werke der Kritischen Theorie, noch dem von ihn behandelten Gegenstand angemessen sind.

2. Arthur Schopenhauer: Einführende Darstellung

Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung erschien zum ersten Mal im Jahre 1919. Kurz vorher trat G. W. F. Hegel die Nachfolge des Lehrstuhls von J. G. Fichte in Berlin an. An beiden Idealisten, Hegel und Fichte, ließ Schopenhauer kein gutes Haar. An Fichtes Methode das Nicht-Ich aus dem Ich abzuleiten, bemängelte er vor allen Dingen die Tatsache, dass Fichte den Fehler, der von Schopenhauer der Kritik unterzogenen Materialisten nur auf entgegengesetzte Art und Weise wiederholte. Während der Materialismus, mit dem Schopenhauer - wie Alfred Schmidt richtig feststellt - stets den „ mechanischen Materialismus“5 beispielsweise eines d’Holbach meint, als dogmatischer Objektivismus das Subjekt aus dem Objekt ableitet und dabei alles Sein auf eine lediglich quantitativ und nicht qualitativ unterscheidbare Materie zurückführt, leitet Fichte umgekehrt jegliches Objekt aus dem Subjekt ab. D.h. das Ich als Subjekt wird als ursprünglich gesetzt und alles von diesem Ich Verschiedene muss davon abgeleitet als Nicht-Ich, als Objekt begriffen werden.

Diesen „entgegengesetzten Mißgriffen“6 wirft Schopenhauer im Allgemeinen denselben Fehler vor,der darin besteht, unter Missachtung des Gültigkeitsbereich des „Satzes vom Grunde“7 ein Kausalitätsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu unterstellen. Schopenhauer spricht davon, dass „der Materialismus übersah, daß er mit dem einfachsten Objekt sofort auch das Subjekt gesetzt hatte“8. In der Rede von einem materiellen Objekt stecke - so Schopenhauer - bereits das erkennende Subjekt und nur durch den subjektiven Erkenntnisprozess hindurch könne vom Objekt überhaupt gesprochen werden. Der französische Materialismus dagegen käme erst am Ende seiner Betrachtung auf diesen Prozess zu sprechen, der jedoch schon von Beginn an in der Betrachtung der reinen Materie mitgedacht werden müsse. Es zeichnet sich an dieser Stelle bereits deutlich ab, dass Schopenhauer Subjekt und Objekt nur als zusammenhängende Kategorien begreift, die nicht wie Grund und Folge miteinander in Verbindung stehen, sondern beide gleichrangig das jeweils andere bedingen bzw. zwischen welchen „gänzliche Relativität“9 herrscht. Aus dieser Perspektive überführt Schopenhauer auch den zweiten „Mißgriff“ Fichtes: Das Ich, das Subjekt als Grund der Welt und damit die Welt, das Nicht-Ich als Folge des Ich bedeutet Subjekt und Objekt letztlich genau wie schon der Materialismus in ein Kausalverhältnis zu setzen, das Schopenhauer ablehnt. Denn es lasse außen vor, dass auch in der „Thathandlung“ des Subjekts, in der Setzung des Ich, bereits das Objekt als notwendiges Korrelat vorhanden ist.

Getragen wird diese Kritik grundsätzlich von der Annahme, „daß das Ding an sich oder innere Wesen der Welt nicht in ihnen [Subjekt und Objekt (S.B.)], sondern außer diesem wie außer jedem andern nur beziehungsweise Existierenden zu suchen sei“10.

Hegel ergeht es im Werk Schopenhauers durchaus schlimmer, denn für jenen hat er kaum mehr als Verachtung übrig. Hegels Philosophie, die Schopenhauer herabwürdigend als „Hegelei“11 bezeichnet, ist Ziel zahlreicher Polemiken. An dieser Stelle muss es reichen lediglich oberflächlich den Hauptwiderspruch zwischen beiden Philosophen zu umreisen, den man vereinfachend als „Geist-Wille-Kontroverse“12 fassen könnte. Grundsätzlich liegt der Grund dieser Kontroverse in der Differenz zwischen dem Hegelschen Vertrauen an einen vernünftigen Weltgeist als Prinzip des Weltlaufs und der Schopenhauerschen pessimistischen Absage an ein solches Prinzip. Diese Absage geht einher mit dem Primat eines zwecklosen und Leiden schaffenden Willen, der der Welt der Erscheinungen zu Grunde liegt.

Mit der Ablehnung der fichtschen Identitätsphilosophie, sowie der hegelschen Vernunftphilosophie geht ein bestimmtes Verständnis von Subjekt und Objekt einher, das mit den zwei zentralen Kategorien im philosophischen System Schopenhauers zusammenhängt: Wille und Vorstellung. Konsequent knüpft Schopenhauer nach der Ablehnung ihrer philosophiegeschichtlichen Nachfolger an die Transzendentalphilosophie Kants und die damit verbundene Erkenntniskritik an.

Im folgenden werde ich versuchen, hinsichtlich des Zwecks die Bedeutung Schopenhauers für Max Horkheimer zu erörtern, so ausführlich wie nötig auf die beiden Begrifflichkeiten Wille und Vorstellung einzugehen. Dadurch soll klarer werden, auf welchen zentralen Gedanken Schopenhauers philosophische Betrachtung konkret fußt.

2.1.Die Welt als Wille und Vorstellung

„Die Welt ist meine Vorstellung“13. So leitet Schopenhauer seine Untersuchung Die Welt als Wille und Vorstellung ein. Er beginnt von diesem Gesichtspunkt ausgehend seine Erarbeitung der Antwort auf - glaubt man Engels - „die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie […] nach dem Verhältnis von Denken und Sein“14. Diese Frage, je nach terminologischen Eigenheiten der Philosopheme wandelbar, geht in ihrer Beantwortung notwendig einher mit im- oder expliziten Stellungnahmen zu Problemfeldern der Philosophie, wie beispielsweise Metaphysik, Ästhetik oder Ethik. Es gilt, Schopenhauers Philosophie auf diese Gesichtspunkte und ihren Zusammenhang hin abzutasten. Während in den Kapiteln über die Welt als Vorstellung vor allen Dingen Gedanken über Erkenntnistheorie(2.1.1.) und Ästhetik(2.1.3.) ausgeführt werden, geht es Schopenhauer in den Abschnitten über die Welt als Wille notwendig um Metaphysik(2.1.2.) und moralische Konsequenzen(2.1.4.) seiner Philosophie.

2.1.1 Erkenntnistheoretische Überlegung: Die Anschauung des Anschauenden

Wie bereits angedeutet beginnt Schopenhauer, erkennbar als geistiger Schüler Kants, seine Überlegungen ausgehend von einer an der Transzendentalphilosophie geschulten Erkenntniskritik, die sich in der Entscheidung zwischen Materialismus und Idealismus, - zumindest ihrer Selbsteinschätzung nach15 - offensichtlich auf die Seite des Idealismus schlägt: „Demnach muß die wahre Philosophie jedenfalls idealistisch sein: ja sie muß es, um nur redlich zu sein.“16 Das Kernstück dieser Erkenntniskritik ist die idealistische Grundannahme, dass die Welt immer nur die Welt eines anschauenden Subjekts sein kann. Sie ist daher - in Schopenhauers Terminologie gesprochen - lediglich Vorstellung. Das Subjekt, dessen Leib selbst auch ein Objekt, nämlich das dem Menschen unmittelbarste darstellt, bleibt mit Sinnesorganen und (menschlichem) Verstand vorerst stets in der Erscheinungswelt verhaftet.

Schopenhauer hält folglich am kantianischen Gedanken der Bedingtheit aller Erkenntnis fest und übernimmt die Scheidung von Ding an sich und Erscheinung. Letztere bildet die Welt als Vorstellung, die dem oben bereits erwähntem Satz vom Grunde unterliegt. In dessen Folge wird die ganze materielle Welt zu einer permanenten Kausalkette, denn „Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken“17. Gleichzeitig geht mit dieser Anwendung des Satzes vom Grunde einher, dass jegliche Vorstellung - wie sie Schopenhauer versteht - in Raum und Zeit zu verorten ist, denn Kausalität ist nur in diesen Kategorien denkbar. Daraus folgt: die empirische Realität der Außenwelt ist nur durch „reine Verstandeserkenntnis der Ursache aus der Wirkung“18 zu fassen. Das Kausalgesetz geht für Schopenhauer aller Erkenntnis und Erfahrung voraus, es besteht a priori.

Die Frage des Dogmatikers, ob die Welt unabhängig von einem Subjekt existiere, würde Schopenhauer mit dem Einwand beantworten, dass die Wirklichkeit als wirkende materielle Welt nur im Zusammenhang mit dem Verstand eines Subjekts gefasst werden kann, also nur für das jeweilige Subjekt existiere. Die Welt ist jedoch in seinem Verständnis weniger Schein, als vielmehr für das anschauende Subjekt in die Form der Vorstellung gegeben. An dieser Stelle auf die Wahrheitsfrage verweisend kommt Wahrheit nicht der Wirklichkeit zu, sondern lediglich den vom Subjekt getätigten Reflexionen darüber. Folgendermaßen ist diese Einschränkung des Gegenstandes der Wahrheit zu verstehen: Das im Satz vom Grunde ausgedrückte Gesetz der Kausalität wird im Bereich des Erkennens auf abstraktes Denken, welches sich in Begriffen vollzieht, bezogen. Das sich aus den Begriffen bildende Denken kann so ein fehlerhaftes Verhältnis zwischen Erkenntnisgrund und Folgerung aufweisen. Daher spricht Schopenhauer ausschließlich auf der Ebene der Reflexion von Wahrheit und Falschheit. In einer der vorhergehenden Schilderung vorangestellten Ebene bezieht sich der Satz vom Grunde aber auf eine quasi-physikalische Basis, die direkt die materiellen Gegenstände einschließt. Jeder materielle Gegenstand hat - wie Schopenhauer schreibt - „schon seine Schuld abgetragen“19 ; das heißt allein durch die Gewordenheit des Gegenstands in der materiellen Welt folgt er automatisch dem Satz vom Grunde, besteht also innerhalb des Kausalitätsprinzips, welches der anschaulichen Welt zugrunde liegt.

Kohärent dazu funktioniert auch Schopenhauers begriffliche Distinktion von Verstand und Vernunft, die gleichzeitig etwas über die seiner Philosophie inhärenten anthropologischen Setzungen aussagt. Während der Verstand mittels der Anschauung allein das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu erkennen vermag und so auch dem Tier zu eigen ist, besteht die Aufgabe der Vernunft in der Bildung des Begriffs, dessen ausschließlich der Mensch fähig ist. „Das Tier empfindet und schaut an; der Mensch denkt überdies und wei ß: beide wollen.20 In der Gemeinsamkeit des „Wollens“ zwischen Tier und Mensch deutet sich bereits die Welt als Wille an, die im nächsten Kapitel Thema sein wird. In den erkenntnistheoretischen Betrachtungen aber, stellt Schopenhauer die Vorstellung voran. Sie zerfällt in Subjekt und Objekt, „ihre erste, allgemeinste und wesentlichste Form“21.

Im Zusammenhang von Verstand und Vernunft zeigt sich zusätzlich die Dialektik von Konkretem und Abstraktem bzw. von anschaulicher, konkreter und abstrakter Erkenntnis. Letztere drückt sich - wie gesagt - durch Begriffe aus, die das durch Verstand erkannte mittels Vernunft fixieren.22 Bezüglich der Stellung des Begriffs allgemein und dem damit einhergehenden Begriff der Vernunft im Speziellen bemerkt Schopenhauer die Unfähigkeit der Begriffe überhaupt „mit ihrer Starrheit und scharfen Begrenzung […] die feinen Modifikationen des Anschaulichen zu erreichen […]“23. Dieses nominalistisch anmutende Problembewusstsein ähnelt dem, der sich später herausbildenden Kritischen Theorie und weist eventuell auf eine Verbindung hin, die hinsichtlich der Betrachtung Horkheimers von Bedeutung sein könnte24 ; doch davon soll erst später die Rede sein.

Insgesamt ist die Abhandlung über die Welt als Vorstellung gekennzeichnet durch eine Absage an alle Ausformungen eines naiven Realismus, der besagt, dass die objektive Welt der Dinge ohne Subjekte existiere. Damit einhergehend formuliert Schopenhauer einen erkenntnistheoretischen Subjektivismus, getragen von einem metaphysischen Dualismus zwischen Ding an Sich und Erscheinung. Daher soll sich nun um die Frage gekümmert werden, was sich im Schopenhauerschen und damit wörtlichen Sinne hinter der Vorstellungswelt verbirgt.

2.1.2 Metaphysische Überlegungen: Die Dechiffrierung der Welt

Verbleibt Kant viel mehr bei der Nennung des Dinges an Sich und lässt ihm im Verlauf seiner Erkenntnistheorie relativ wenig Interesse zukommen, „kann die Schopenhauersche Philosophie mit solcher bedachtsam hingenommenen Unbegreiflichkeit sich nicht abfinden“25. Dass Schopenhauer nicht bereit dazu ist, die Frage nach dem wesenhaften Ding an Sich im Status der kantschen Philosophie zu belassen, beweist ferner ein Blick auf seine Bemerkungen über die Naturwissenschaften. Selbige sind für ihn immer nur Annäherungen an die Wahrheit, getragen von empirischen Anschauungen der Wirklichkeit, an deren kausale Verbindungen man sich dem Satz vom Grunde folgend annähert. Dabei sei es jedoch nicht möglich über die Welt als Vorstellung hinaus zu gehen und damit die Frage nach dem „ Warum “ der beispielsweise im Reich der Naturwissenschaften geltenden Naturgesetze zu beantworten. Damit markiert Schopenhauer die Grenze der Naturwissenschaft, deren Schaffen sich im Erkennen von Ursachen und Motiven von einzelnen Erscheinungen erschöpft. Wo das wissenschaftliche Zuständigkeitsgebiet der Physik endet,- nämlich beim letzten Grund - beginnt die Metaphysik.

Unbefriedigt von der Unsichtbarkeit eines Wesens der Dinge lenkt Schopenhauer seinen Blick auf die Leibhaftigkeit des erkennenden Subjekts. Diese Erweiterung der Perspektive, den Erkenntnis- und Denkprozess nicht als rein geistiges Phänomen, sondern als gebunden an einen Leib zu begreifen, führt Schopenhauer zum Willen als metaphysisches Prinzip. Am Leib zeigen sich zahlreiche Manifestationen des Willens; vor allen Dingen vom Bewusstsein nicht gesteuerte Prozesse wie Hunger sowie Durst und der Trieb beide zu stillen oder der Sexualtrieb leiten Schopenhauer zur Willensmetaphysik, denn jegliche „Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.“26. Die Festsetzung des Leibes als ein zur Vorstellung gewordener Wille wird bei Schopenhauer zum „Hauptsatz meiner Philosophie“27. Der aus den Überlegungen über den Leib hervorgehende Willensgedanke wird in den darauf folgenden Abschnitten des Schopenhauerschen Werkes auf verschiedenen Sphären abgestuft und doch auf die gesamte Umwelt übertragen: In der Welt der Pflanzen und Tiere wirkt derselbe Wille, der auch im Menschen waltet; Schopenhauer will „jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen.“28. Nur im Leib des Menschen selbst jedoch ist der Wille so unmittelbar erfahrbar und ermöglicht so die Erkenntnis seiner selbst. Denn durch das „Wollen“ des Menschen bildet er „das einzige uns unmittelbar Bekannte und nicht, wie alles übrige, bloß in der Vorstellung Gegebene.“29 Schopenhauers Willensbegriff meint aber keineswegs den freien Willen, wie man ihn beispielsweise bei Kant vorfindet, sondern viel mehr eine Form eines totalisierten Willens, der über jegliche Vernunft hinausreicht, diese quasi überragt. Der Mensch kann zwar - wie später noch gezeigt werden wird - den Willen als Ding an Sich erkennen und wähnt sich damit frei, ist aber - durch seine Existenz als menschliches Individuum - lediglich Erscheinung und somit selbst dem Satz vom Grunde unterworfen, somit determiniert. Inhaltlich ein Stück vorgreifend, zeichnet sich bereits hier der anthropologisch geerdete Pessimismus Schopenhauers ab. Er verweigert dem Menschen die Freiheit, sich zum Guten zu wenden, sogar sich überhaupt grundlegend zu ändern: „Warum der eine boshaft, der andere gut ist, hängt nicht von Motiven und äußerer Einwirkung, etwan von Lehren und Predigten ab und ist schlechthin in diesem Sinne unerklärlich.“30

Schaut man sich das methodische Vorgehen Schopenhauers an, fällt eine Besonderheit auf. Er löst das Rätsel der Welt, beantwortet also das oben erwähnte „Warum“, indem er das Wesen in der angeschauten Welt selbst sucht, die aber gleichzeitig nur Vorstellung ist. Er dechiffriert gewissermaßen die empirische Welt, um zum Willen zu gelangen. In seiner Entschlüsselung greift er nicht von vornherein auf etwas der Welt gänzlich verschiedenes, sie transzendierendes zurück, sondern bringt das Ding an Sich mit der Welt der Erfahrungen in Verbindung. Das heißt, die empirische Realität wird durch eine bestimmte Interpretation in den Willen übersetzt.31

Schopenhauer konstatiert: „ alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt ist Erscheinung.

Ding an sich aber ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektivit ä t ist.32

Die Problematik der zunächst vielleicht beliebig erscheinenden Subsumtion jeglicher Vorgänge der empirischen Welt unter den Begriff des Willens ist Schopenhauer durchaus bewusst. Doch ist Wille in seinem Verständnis alles andere als ein beliebiger Begriff für das Ding an Sich. Notwendig müsse genau dieser Begriff gewählt werden, denn allein der Ursprung des Willens fände sich nicht in der anschaulichen Vorstellung, sondern im „Inneren“ der Individuen und erscheint damit unmittelbar. Durch dieses besondere Verhältnis zwischen Ding an Sich und Erscheinung kommt Schopenhauer in seiner theoretischen Betrachtung über die Welt als Vorstellung hinaus und bearbeitet einen seiner Ansicht nach irrationalen Inhalt auf philosophische, rationale Art und Weise. Damit versucht er - dem ihm postum oft gemachten Irrationalismusvorwurf entgegentretend - die Vereinbarkeit von „rationaler philosophischer Sprechweise und vorrationalem Gegenstand“33 zu demonstrieren. Dennoch bleibt die Materie lediglich ein „Sichtbarmacher“ des Dinges an Sich und nicht es selbst. Im Grunde kehrt Schopenhauer hier die in der Philosophiegeschichte üblichen Bedeutungen von Geist und Materie um. Die Materie in der Erscheinungswelt, in der Welt als Vorstellung ist gewissermaßen nur etwas Ideelles, der Wille hingegen wird außerhalb der Sphäre des Satzes vom Grunde zu etwas Realem. Der Wille liegt „dem Gesagten zufolge, außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grunde in allen seinen Gestaltungen und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist [...]“34.

Die eigentlich beachtenswerte Differenz aber, durch die sich Schopenhauer - trotz des einenden Rekurses auf die Vernunft - von Hegel und anderen idealistischen Philosophen abgrenzt, ist die Irrationalität des Willens. Auch wenn der Wille in seiner Totalität zumindest seiner Ausdehnung nach ähnlich dem hegelschen Weltgeist gedacht werden muss, so drückt sich der Unterschied eben in der Zwecklosigkeit des Willens aus. Die Zweckmäßigkeit, das heißt das Verhältnis von Mittel und Zweck, von Ursache und Wirkung kommt nur den Erscheinungen in der Welt als Vorstellung zu. Anders als der hegelsche Geist ist der Wille als Ding an Sich mit den Mitteln des Verstandes nicht erschöpfend zu ergründen, denn alle Erkenntnis zielt nur auf Erscheinungen. Kein Wunder daher, dass Gerhard Scheit - wie später zu sehen sein wird, nicht weit entfernt von Horkheimer - im Willen zwei mal zu lesen, denn jeder Teil des Buches setzt den jeweiligen Rest in dem bestimmten Sinne bereits voraus, dass alles in einem „organischen“ Zusammenhang stehe.

einen „Begriff für den Geschlechtstrieb“ und durch sein unterbewusstes Wirken einen „Grundriß der späteren Psychoanalyse“35 entdeckt.36

Ist der Wille also an sich weder Subjekt noch Objekt, sondern liegt außerhalb dieser Kategorien, verobjektiviert er sich dennoch in der Erscheinungswelt. In der Behauptung Schopenhauers einer Objektivierung des Willens steckt - wie Alfred Schmidt in seinen Betrachtungen über Schopenhauer hervorzuheben versucht37 - eine gewisse Nähe zum Materialismus. Denn der Wille wird mittels seiner Vergegenständlichung in der Erscheinungswelt gleichzeitig Materie, welche dann wiederum nur eine Gestalt des einen Willens sein kann. Daher beschreibt Schmidt den Willen als „eine allem dinglich-körperhaft verstandenen Stoff gegenüber vorrangige, ihn aber durchdringende Ur- oder Naturkraft.“38

Der entscheidende Gedankenzug, welcher die Schopenhauersche Philosophie zu einer pessimistischen Philosophie des andauernden Leidens macht und ihr also erst die hervorstechende Charakteristik verleiht, hängt ebenfalls mit der Verobjektivierung des Willens zusammen. Erst indem der Wille in der Erscheinungswelt auftritt, verliert er seine Einheit zugunsten einer Zerrissenheit in den Willen als Ding an sich selbst und seine Verkörperungen in der Welt als Vorstellung. Der Wille ist mit sich selbst entzweit: „was an sich Wille ist, ist andererseits Vorstellung“39. Die Objektivierung des Willens findet in verschiedenen Stufen statt, auf die jedoch an anderer Stelle noch etwas expliziter eingegangen werden soll. Während beispielsweise der Leib auf der Vorstellungsseite eine Erscheinung für ein erkennendes Subjekt ist, stellt er auf der Willensseite die manifeste Erscheinung des Dinges an Sich, d.h. des Willens dar. Nach diesem Schema unterstellt Schopenhauer gleichzeitig der gesamten Welt einen Willen, der hinter den bzw. durch die Erscheinungen wirkt und analog zum herkömmlichen Gefühl des „Wollens“ im Menschen gedacht wird.

Während Schopenhauer das Verhältnis der verschiedenen Stufen des verobjektivierten Willens untereinander betrachtet, stellt sich heraus, dass sich dieses als permanenter Kampf präsentiert, dass sich der Wille demgemäß in einem permanenten Kampf gegen sich selbst befindet. Er versucht das überwiegend an verschiedenen Beispielen aus dem Bereich der Natur zu verdeutlichen, die an dieser Stelle ebenfalls zur Klarheit beitragen sollen: „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat und in welcher selbst wieder

[...]


1 Zur Gliederung: Durch die Bemühungen, eine allzu kleinteilige Gliederung zu verhindern, um den Gedankenfluss nicht ständig unterbrechen zu müssen, beschreiben die Teilüberschriften eher die Ausgangspunkte der einzelnen Abschnitte. Die unter den Gliederungspunkten verfassten Texte können sich daher zeitweise scheinbar vom in der Überschrift angekündigten Inhalt entfernen.

2 GS 7: 452

3 vgl. GS 8, S. 336: „Die beiden Philosophen, welche die Anfänge der Kritischen Theorie entscheidend beeinflußt haben, waren Schopenhauer und Marx“

4 zu finden in GS 7

5 Schmidt, 1979: 42

6 Schopenhauer, 1986a: 71

7 Schopenhauer betrachtet die Welt nach der Maßgabe des Satzes vom zureichenden Grunde, (vgl. Schopenhauer 1968b: „ Ü ber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde “) also von der unhintergehbaren Notwendigkeit aus, dass zumindest in der Welt der Vorstellung, jede Erscheinung Folge einer bestimmten Ursache zu sein hat. Dieses Prinzip der Kausalität setzt allerdings Subjekt und Objekt bereits als Wechselbegriffe voraus. D.h., dass "der Satz vom Grunde aber nichts anderes als die allgemeine Form des Objekts als solchen ist, mithin das Objekt schon voraussetzt, nicht aber, vor und außer demselben geltend, es erst herbeiführen und in Gemäßheit seiner Gesetzgebung enstehn lassen kann.“ (Schopenhauer, 1986a: 71); siehe auch Schopenhauers Nennung der wolffischen Variante des Satzes vom Grunde in Schopenhauer 1986b: „Nihil est sine ratione, cur potius sit quam non sit. [Nichts ist ohne Grund, warum es sei und nicht vielmehr nicht sei.] (>Ontologia< §70)“

8 Schopenhauer 1986a: 70

9 ebd.: 70

10 ebd.: 70

11 Schopenhauer 1968b: 54 („[…]sieh nur die Hegelei, was ist sie anderes als leerer, hohler, dazu ekelhafter Wortkram?“)

12 Schirmacher in Schirmacher 2008: 117

13 Schopenhauer 1986a: 31

14 MEW 21: 274

15 Alfred Schmidt vertritt die These, dass der Konflikt zwischen Idealismus und Materialismus bei Schopenhauer in „ein und demselben Denkzusammenhang“ stattfindet, da beispielsweise das Bedürfnis nach Metaphysik gar nicht vorrangig in einem isoliert betrachtetem Denkvermögen gründet, sondern vielmehr in den empirischen Bedingungen der menschlichen Existenz. Hierin entdeckt er ein materialistisches neben einem idealistischen Element; materialistisch, weil es sich an den materiellen Leiden der Menschen orientiert. (vgl. Schmidt 1979: 7f.)

16 Schopenhauer 1986b: 13

17 Schopenhauer 1986a: 38

18 ebd.: 43

19 ebd.: 47

20 ebd.: 74

21 ebd.: 59

22 In dieser Betonung der anthropologischen Konstante „Vernunft“ ordnet sich Schopenhauer, trotz aller Bemühungen, sich von den meisten seiner philosophischen Zeitgenossen abzugrenzen, in die philosophische Epoche der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft ein, die das Prinzip Vernunft zum Grundpfeiler ihrer Überzeugungen macht. Liegt doch darin das in der französischen Revolution seinen Höhepunkt findende Streben nach Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Dennoch bleibt seine Philosophie in ihrer - nicht zuletzt auch „politischen“ - Konsequenz, über die später zu sprechen sein wird, einzigartig.

23 Schopenhauer 1986a: 102

24 Vor allen Dingen Theodor W. Adorno kritisiert in seiner Negativen Dialektik den Identitätsanspruch von Begriff und Sache.

25 Scheit 2001: 169

26 Schopenhauer 1986a: 158

27 Schopenhauer 1985a: 180

28 ebd.: 172

29 Schopenhauer 1986b: 253

30 Schopenhauer 1986a: 207

31 Hieraus wird auch ersichtlich, weshalb Schopenhauer so viel Wert darauf legt, sein Werk als organische Entwicklung eines einzelnen Gedankens zu begreifen(vgl. Schopenhauer 1986a: 7f). Der schon im prägnanten Titel zusammengefasste Hauptgedanke, die Welt sei Wille und Vorstellung, ist ständig gegenwärtig, sodass Schopenhauer empfiehlt sein Werk

32 Schopenhauer 1986a: 170

33 Malter in Birnbacher 1996: 9

34 Schopenhauer 1986a: 173

35 Scheit 2001: 170

36 vgl. Schopenhauer 1986a: 452: „Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntnis, d.i. der andern Seite der Welt, der Welt als Vorstellung.“

37 Schmidt 1979: 41

38 ebd.: 37

39 Schopenhauer 1986a: 208

Fin de l'extrait de 51 pages

Résumé des informations

Titre
Die Bedeutung von Arthur Schopenhauer für das Denken Max Horkheimers
Université
University of Leipzig
Auteur
Année
2014
Pages
51
N° de catalogue
V268039
ISBN (ebook)
9783656591290
ISBN (Livre)
9783656591283
Taille d'un fichier
523 KB
Langue
allemand
Mots clés
bedeutung, arthur, schopenhauer, denken max, horkheimers
Citation du texte
Stanley Baldauf (Auteur), 2014, Die Bedeutung von Arthur Schopenhauer für das Denken Max Horkheimers, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268039

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