Reisen als adlige Erziehungspraktik im England des 16. Jahrhunderts


Bachelorarbeit, 2013

47 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Eigenschaften und Fertigkeiten des idealen Höflings

3 Sir Philip Sidneys Grand Tour - Erziehungs- und Bildungsinhalte
3.1 Erwerb von Sprachkenntnissen
3.2 Briefkunst und Schreibstil
3.3 Geschichte, Politik und Moralphilosophie
3.4 Astronomie, Geometrie und Musik
3.5 Hofzeremoniell und Festlichkeiten
3.6 Netzwerkaufbau

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

“Your purpose is, being a Gentleman bom, to furnish yourself with the knowledge of such things as may be serviceable to your country and fit for your calling."1

Diesen mahnenden Ratschlag schrieb der englische Adlige Sir Philip Sidney an seinen, sich momentan auf seiner Kavalierstour durch Europa befindenden jüngeren Bruder Robert Sidney. Das Zitat illustriert eindringlich, welchem übergeordneten Zweck die Reise des Bruders dienen sollte und was auf ihr primär erlernt werden musste. Als Mitglied des Adelsstandes sollte der junge Robert Sidney durch und auf seiner Reise hauptsächlich für seine zukünftige Karriere bei Hofe ausgebildet werden. Um den für ihn von Geburt an vorgezeichneten Lebensweg erfolgreich beschreiten zu können, war es notwendig, die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Höflings und Staatsmannes zu erwerben. Robert Sidney sollte seine Reise dazu nutzen, um sich auf sein „calling“, seine Berufung, nämlich seinen zukünftigen Dienst am elisabethanischen Königshof vorzubereiten und sich für diese Rolle „passend“ zu machen.

Diese, in der Forschungsliteratur meistens unter dem Terminus „Grand Tour“2 subsumierte, spezielle Praktik der männlichen Adelserziehung stellte im 16. Jahrhundert keineswegs ein Spezifikum des englischen Adels dar. Sie war, ganz im Gegensatz dazu, in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine europaweit verbreitete kulturelle Erziehungspraxis und wesentlicher Bestandteil der Ausbildung des wohlhabenden europäischen Adels.3 Paravicini bezeichnet den Grand Tour der Frühen Neuzeit gar als ein „gesamteuropäisches Kulturmuster“4. Hervorgegangen war der Grand Tour aus der Tradition der spätmittelalterlichen Adelsreise, die allerdings in erster Linie dem Erwerb von militärischen Fähigkeiten gedient hatte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kamen neue Bildungsinhalte hinzu.5 So wurde nun auf das „Erlernen fremder Sprachen, besonders der in der höfischen Welt vorherrschenden wie Italienisch und Französisch“6, sehr viel Wert gelegt. Desweiteren wurde „auch der Aufbau eines Netzwerkes von Beziehungen, auf das man später etwa während einer diplomatischen Tätigkeit oder auch im Kriege zurückgreifen konnte“7, als Ziel einer solchen Reise erachtet.

In der älteren Forschungsliteratur lässt sich eine eher negative Bewertung der Nützlichkeit des Grand Tours als geeignetes Erziehungsinstrument für die adlige Jugend erkennen. So kommt Wilhelm Waetzoldt zu dem Schluss, dass die Kavalierstour dem Reisenden nur zu einem ,,dünne[n] humanistische[n] Bildungsfimis“8 verhelfen würde. Die neuere Forschung kommt jedoch zu einem differenzierteren Ergebnis. So fordert Antje Stannek in ihrer Dissertation Telemachs Brüder ein, bei dem Phänomen Grand Tour eine andere, insbesondere von dem amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz9 vertretene, Untersuchungsperspektive einzunehmen. Sie weist daraufhin, dass adliges Reisen in der Frühen Neuzeit „nicht aus der Perspektive der modernen bildungsbürgerlichen Leistungsgesellschaft betrachtet werden“10 dürfe. Ein solcher veränderter Blickwinkel würde verhindern, den Terminus Bildung zu eng an den heutigen eher humanistisch geprägten und mit Gelehrtenwissen assoziiertem Bildungsbegriff zu koppeln und die gegenwärtige Erwartungshaltung auf die Adelsreise der Frühen Neuzeit zu projezieren. Auch Paravicini merkt an, dass darauf zu achten sei, dass der „Begriff Bildungsreise [...] für uns Heutige stets mit klassischer, jedenfalls literarischer Bildung verbunden“11 sei. Diese Fertigkeiten standen bei der Adelsreise der Frühen Neuzeitjedoch nicht unbedingt im Fokus. Mathis Leibetseder macht in seiner Monographie Die Kavalierstour gleichfalls darauf aufmerksam, wie schwierig es sei, einen passenden Bildungsbegriff für die Praktik des adligen Reisens in der Frühen Neuzeit zu finden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man das Phänomen Grand Tour eher als „Reise zum Erwerb von Alltagswelt-Wissen“12 bezeichnen könnte, um zu vermeiden, dass der Eindruck entstehe, „dass man rein akademisches oder technisches Andwendungswissen im Sinn habe“13. Denn: der zukünftige Höfling „lernte grundsätzlich nicht aus dem Buch, sondern aus dem Buch der Welt“14. Vielmehr musste derjunge Adlige eine gewisse „Hofeszucht“15 über sich ergehen lassen. Diese definiert Paravicini als eine „eminent soziale, lange einzuübende Fertigkeit des Umgangs mit den Mächtigen, Seinesgleichen und Untergeordneten am Zentrum der Politik, das heißt am Hof“16.

Der Grand Tour fungierte folglich primär als Karriere-Platform für den künftigen Höfling. Er war gewissermaßen der Unterbau für einen erfolgreichen zukünftigen Aufstieg am jeweiligen Heimat-Hof und diente nicht nur der sozialen Distinktion gegenüber unteren Ständen, sondern wurde auch als Mittel zur Unterscheidung gegenüber den eigenen Standesgenossen, also der eigenen zukünftigen Konkurrenz bei Hofe, eingesetzt.17 Auf seiner Reise sollte der junge Adlige in seiner Wahrnehmung geschult werden. Er sollte die von Hof zu Hof verschiedenen Sitten und Gebräuche, wie zum Beispiel die Sprache, die Art der Bewegung, die friedliche Konvesation und die Kriegsführung studieren und erlernen.18 Der Höfling sollte es sich demnach zum Ziel machen, nach seiner Reise „allein an seiner Körperhaltung schon erkennbar [zu] sein“19.

Antje Stannek kommt in ihrer Dissertation zu einem ähnlichen Forschungsergebnis. Laut Stannek sollte der Grand Tour dazu dienen, eine „Vertrautheit mit fernen höfischen Welten herzustellen“20 sowie Kenntnisse im höfischen Zeremoniell vermitteln. Stannek bezeichnet die Adelsreise der Frühen Neuzeit als eine abgeschlossene „liminale Passage“21, die einen Schwellencharakter besitzen würde. Sie beschreibt den Grand Tour als eine Art Übergangsritus, bei der die Reisenden „bei einer erfolgreich abgeschlossenen Reise eine Verwandlung [unterliefen] und [...] sich Verständnis für die Prinzipien der höfischen Lebenswelt [aneigneten]“22. Gemäß Stannek war „das Bestreben, sich durch ein besonderes Ethos von den übrigen Menschen abzusetzen“23, ein konstitutives Charakteristikum der adligen Lebensführung in der Frühen Neuzeit.

Aus diesem Grund sollten auf der Reise die speziellen Techniken vermittelt werden, die es dem zukünftigen Höfling erlauben würden, sich künftig am Hofe als emstzunehmender Mitspieler zu positionieren und sich dort letztendlich zu etablieren. Das Wissen, welches auf Reisen erlernt werden sollte, sollte den jungen Adligen dazu verhelfen, „die Platzierungsmechanismen der höfischen Gesellschaft [zu] entschlüsseln“24 und sich darüber bewusst zu werden, welcher Platz ihnen selbst in dieser Hierarchie zukommen würde. Der Grand Tour sollte vom zukünftigen Höfling demnach primär dazu genutzt werden, um sich die „richtigen Distinktionsstrategien“25 anzueignen. Stannek zieht das Fazit, dass es sich bei dem adligen Reisen in der Frühen Neuzeit vermutlich um einen „Prozeß der Aneignung einer «Identität»“26 gehandelt habe.

Die bisherigen Forschungsarbeiten zum Phänomen Grand Tour haben sich bis jetzt vorrangig auf die Hochzeit der Kavalierstour im 17. Und 18. Jahrundert konzentriert. So untersucht Stannek in ihrer Dissertation die adlige Erziehungsreise in ihrer Aufstiegs- und Blütezeit im 17. Jahrhundert. Den Kem ihrer Studie bilden Stanneks elf Analysen des deutschen Adels anhand von Fallbeispielen. In elf Kurzdarstellungen werden die Grand Tours von vier reichsgräflichen und sechs herzoglichen Familien untersucht.27

Mathis Leibetseder analysiert in seiner Monographie die zentralen Aspekte der Kavalierstour im 17. Und 18. Jahrhundert.28 Dabei setzt Leibetseder in seiner Arbeit einen anderen Schwerpunkt als Stannek. Im Gegensatz zu Stannek rekonstruiert er durch die Auswertung von Archivalien wie zum Beispiel Instruktionen, Briefen, Rechnungen und selbstverfassten Reisebeschreibungen den Reisealltag derjungen Adligen in allen Einzelheiten.

Einzig der Sammelband von Rainer Babel und Werner Paravivini Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert29 widmet sich auch in einzelnen Aufsätzen der Anfangszeit der Reiseform Grand Tour. In diesem finden sich die Aufsätze, die aus einer Doppeltagung hervorgegangen sind, welche sich mit der Grand Tour in der Zeit 1400 bis 1800 beschäftigte und sich hauptsächlich auf die soziale Schicht des Adels konzentrierte. Der Sammelband bündelt sechzehn Aufsätze, die sich mit der Adelsreise und ihrer Entstehung befassen. Dabei liegt der Fokus der Aufsätze insbesondere auf den Fragen zur Funktion und Form der untersuchten Reisen. In unterschiedlichen Sektionen werden Fragen zur Genese des Grand Tours, die Elemente der Reisen, der Erziehung auf Reisen, zum Netzwerken auf Reisen und dem Untergang des Modells Grand Tour erörtert.

Hierbei bleibt festzuhalten, dass eine Analyse zu englischen Reisenden auf dem europäischen Kontinent in der Anfangsphase des Grand Tours bis jetzt gänzlich fehlt. Die vorliegende Arbeit soll daher die kulturelle Erziehungspraxis der adligen Länderreise in seiner Anfangszeit im 16. Jahrhunderts in den Fokus stellen. Dabei soll der Fragestellung nachgegangen werden, welche Funktion das Reisen auf dem europäischen Kontinent speziell für den adoleszenten englischen Adligen während der Herrschaft Elisabeths I. hatte. Wie sah nun speziell der englische Grand Tour im Elisabethanischen Zeitalter aus? Was erachteten die englischen Adligen im 16. Jahrhundert als nützliches Wissen, das auf jeden Fall erlernt werden musste, um die zukünftige Karriere ihrer Kinder bei Hofe zu fördern und sie als emstzunehmende Akteure am elisabethanischen Königshofe zu etablieren? Welche Fähigkeiten sollten unbedingt erlernt, welches Wisssen musste vermittelt werden, um dem Anforderungsprofil des elisabethanischen Höflings zu entsprechen? Welche Länder, Höfe und Personen sollten besucht werden?

Um diese Fragen zu beantworten möchte ich als Quellenmaterial die umfangreichen Korrespondenzen des englischen Adligen Sir Philip Sidney, welche er auf seiner eigenen Grand Tour unterhielt, auswerten. Insbesondere der zum größten Teil erhaltene Briefwechsel zwischen Sidney und seinem Tutor Hubert Languet bietet dabei einen hervorragenden Einblick in die Ausbildung eines englischen Höfllings in spe.

In der Forschung ist Sidneys Grand Tour im Speziellen bisjetzt nur in den in jüngster Zeit erschienenen Biographien zu Sir Philip Sidney30 abgehandelt worden. Diese gehen zwar durchaus systematisch und mit wissenschaftlichem Anspruch vor, können jedoch aufgrund des begrenzten zur Verfügung stehenden Raumes innerhalb einer Lebensbeschreibung Sidneys natürlich thematisch nicht in die Tiefe gehen. Philip Sidneys Reise eigenet sich aus unterschiedlichen Gesichtspunkten besonders gut für eine exemplarische Analyse einer idealtypischen englischen Grand Tour. So handelt es sich bei Sidney zum einen um den am weitesten und am längsten durch Europa gereisten englischen Adligen seiner Zeit. Zum anderen wurde Sidney schon zu Lebzeiten geradezu als Verkörperung des perfekten Höflings angesehen, galt gar als Inkarnation von Castigliones Ideal31 und wurde aus diesen Gründen von seinen Zeitgenossen geradezu verehrt.32 Darüberhinaus wird Philip Sidneys Grand Tour in der Forschung als „the first fully fledged ,Grand Tour‘ by an Englishman for which we have substantial documentary records”33 betrachtet. Zudem liegt die gesamte erhaltene und überwiegend auf Latein verfasste Korrespondenz Sidneys seit kurzem in edierter und ins Englische übersetzte Form in zwei Bänden vor.34

Um die oben aufgeführten Fragestellungen zu beantworten, soll nun methodisch wie folgt vorgegangen werden: Im ersten Teil meiner Arbeit soll das gängige Erziehungsideal des frühneuzeitlichen Englands zur Zeit Elisabeths der Ersten erschlossen werden. Um die Frage beantworten zu können, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten unbedingt erlernt werden mussten, um dem Anforderungsprofil eines Höflings im elisabethanischen England zu entsprechen, soll ein gängiges Erziehungsmanual der Zeit bezüglich der idealen Tugenden, die den Hofmann ausmachen sollten, ausgewertet werden. Als das populärste und am weitesten verbreitete Anstandsbuch des Adels kann dabei Baldassare Castigliones Hofimannstraktat II Libro del Cortegiano gelten. Dieses 1528 erstmals in Italien gedruckte Erziehungsmanual normierte „den Verhaltenskodex des idealtypischen Hofimannes der Epoche der Renaissance“35 und sollte nicht nur einen grundlegenden Einfluss auf die Formierung eines ganz bestimmten Idealtypus des Höflings im Bewusstsein des italienischen Adels nehmen, sondern auch konstitutiv für die Bildung eines idealtypischen englischen Hofmannes während der Regentschaftszeit Königin Elisabeths I. wirken.36

Im zweiten Teil meiner Arbeit soll die Frage beantwortet werden, mit welchen Praktiken das erwünschte, in den Verhaltensbüchem vorgeführte Erziehungsziel, erreicht werden konnte und welche Rolle dabei das Phänomen des Grand Tours einnahm. Dabei soll der Grand Tour in Anlehnung an Antje Stannek als „initiatorische Anverwandlung mit der höfischen Lebenswelt“37 interpretiert werden. Es soll eine exemplarische Analyse einer Erziehungsreise unternommen werden. Anhand von Philip Sidneys Korrespondenzen soll die Frage beantwortet werden, was die adligen Engländer im 16. Jahrhundert als nützliches Wissen erachteten. Welche Fähigkeiten mussten unbedingt erlernt werden um dem Anforderungsprofil des Höflings zu entsprechen? Durch eine detaillierte Analyse der Bildungsinhalte, die das Ausbildungsprogramm von Philip Sidneys Grand Tour enthielt, soll die Frage nach der Funktion des Phänomens Grand Tour für die künftigen Höflinge des elisabethanischen Hofes beantwortet werden.

Dabei sollen die Ergebnisse des ersten Teils der Arbeit berücksichtig werden. Es soll, soweit dies möglich ist, abgeglichen werden, inwieweit Baldassare Castigliones Hofimannstraktat II Libro del Cortegiano überhaupt Eingang in die Erziehungspraktiken des frühneuzeitlichen englischen Adels gefünden hat. Wurde Castigliones Ideal als Exemplum eines perfekten Höflings betrachtet und eine Annäherung der jungen Adligen an dieses Beispiel während des Grand Tours aktiv angestrebt? Oder standen die Vorgaben des Il Libro del Cortegiano gar in einem Spannungsverhältnis zu den tatsächlichen Bildungsinhalten der kontinentalen Reisen des jungen englischen Adels? Abschließend soll ein Fazit zu den Inhalten und zu der Bedeutsamkeit des Phänomens Grand Tour in der Erziehungsbiographie eines frühneuzeitlichen englischen Adligen gezogen werden.

2 Die Eigenschaften und Fertigkeiten des idealen Höflings

Um das erwünschte Erziehungsziel des Elisabethanischen Zeitalters zu ermitteln, eignet sich insbesondere eine Analyse der sogenannten Hofliteratur, eine im 16. Jahrhundert neu entstandene Literaturgattung, die speziell das korrekte Verhalten des Höflings bei Hofe thematisiert.38 Diese sogenannten Verhaltensbücher der Zeit bezeichnet Antje Stannek als „Vorläufer heutiger Lifestyle-Magazine“39, da sie „in vergleichbarer Weise Verhaltensmuster und Distinktionsstrategien eines spezifischen Habitus“40 für den adligen Nachwuchs in der Frühen Neuzeit lieferten.

Ronald Asch beschreibt den Lebensentwurf eines Hofmannes als ein exaktes Gegenbild des bis dahin herrschenden Ideals des adligen Kriegers. Im Gegensatz zu dem Lebensideal des letzteren sei der Höfling ein „Mensch, für den die Kontrolle der Affekte bis hin zur konsequenten Verstellung Priorität“41 habe und „für den die Höfliche Konversation die Auseinandersetzung mit dem Schwert“42 ersetzen würde.

Als das populärste und am weitesten verbreitete Anstandsbuch des Adels kann dabei der bereits erwähnte von Baldassare Castigliones verfasste Hofimannstraktat II Libro del Cortegiano gelten. Dieses 1528 erstmals in Italien gedruckte Erziehungsmanual sollte nicht nur einen grundlegenden Einfluss auf die Formierung eines ganz bestimmten Idealtypus des Höflings im Bewusstsein des italienischen Adels nehmen, sondern auch konstitutiv für die Bildung eines idealtypischen englischen Hofimannes während der Regentschaftszeit Königin Elisabeths I. wirken.43

Hinweise darauf, dass das Libro del Cortegiano im Vergleich mit der übrigen Hofliteratur eine ganz besondere Wertschätzung in elisabethanischer Zeit erfuhr, liefern dabei unter anderem eindringliche Lektüreempfehlungen anerkannter englischer Gelehrter. So weist zum Beispiel Roger Ascham, Lehrer der späteren Königin Elisabeth I., in seinem pädagogischen Traktat The Scholemaster darauf hin, dass “Conto Baldesar Castiglione in his booke, Cortegiano,_doth trimlie teache: which booke, aduisedlie read, and diligentlie folowed, but one yeare at home in England, would do a yong ientleman more good, I wisse, then three yeares trauell abrade spent in Italie.”44 Ascham vergleicht hier die passive Lektüre des Libro del Cortegiano mit der aktiven Tätigkeit des Reisens auf dem Kontinent und kommt zu dem Schluss, dass ein kurzes intensives Studium des Libro del Cortegiano sogar von größerem Nutzen für die Ausbildung eines jungen Adligen sei als ein längerer Aufenthalt in Italien, dem Ursprungsland des Buches.

Als weitere Quelle für den besonderen Stellenwert des Libro del Cortegiano innerhalb der englischen Gesellschaft kann Thomas Hobys 1561 angefertigte Übersetzung45 des Werks zu Rate gezogen werden. Hierbei ist festzustellen, dass Hoby nicht nur den gesamten Text des Cortegiano in die englische Sprache überträgt, sondern darüber hinaus auch noch eine eigenständig verfasste „breef rehersall of the chiefe conditions and qualities in a courtier“46 an den Schluss der ersten englischsprachigen Druckausgabe des Werks setzt. Diese zur schnelleren Auffindbarkeit an das Ende des Buches gesetzte Zusammenfassung der im Text enthaltenen idealtypischen Tugenden eines Höflings deutet darauf hin, dass unter der englische Leserschaft durchaus ein gesteigertes Interesse an dem speziellen Lebensideal des von Baldassare Castiglione entworfenen Höflings bestand. Um den Lesern ein mühsahmes Nachlesen im Gesamttext zu ersparen bot Hoby nun seiner Leserschaft eine kompakte Zusammenschau der für Castiglione essentiellen Eigenschaften und Fertigkeiten des perfekten Hofimannes an, die als Gedächtnisstütze, als Vorlage zum Memorieren oder auch nur als Kurzeinfuhrung in die Thematik genutzt werden konnte.

[...]


1 The Correspondence of Sir Philip Sidney. Volume 2, hg. und übers, v. Roger Kuin, Oxford 2012,S. 878.

2 Zur Schwierigkeit einer befriedigenden Begriffsfindung für das Phänomen Adelsreise in der Frühen Neuzeit und Diskussion der gängigen Termini Kavalierstour, Grand Tour und Länderreise siehe: Leibetseder, Mathis: Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. Und 18.Jahrhundert, Köln 2004, S.18-23.

3 Für einen ersten Überblick zur Genese des Modells Grand Tour in Europa siehe: Paravicini, Werner: Der Grand Tour in der europäischen Geschichte: Zusammenfassung, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 657-674.

4 Ebd., S.673.

5 Paravicini konstatiert, dass die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts als Zeit des größten Wandels der Adelsreise gelten kann. Vgl. Ebd., S.673.

6 Asch, Ronald G.: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit, Köln 2008, S.152.

7 Ebd.

8 Waetzhold, Wilhelm: Das klassische Land. Wandlungen der Italiensehnsucht, Leipzig 1927, S.11.

9 Vgl. Geertz, Clifford: Aus der Perspektive des Eingeborenen. Zum Problem des ethnologischen Verstehens, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum verstehen kulturellerSysteme, Frankfurt 1978.

10 Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2001, S.8.

11 Paravicini, Werner: Der Grand Tour in der europäischen Geschichte: Zusammenfassung, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 662.

12 Leibetseder, Mathis: Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. Und 18. Jahrhundert, Köln 2004, S.18-19.

13 Ebd., S.19.

14 Ebd.

15 Ebd.

16 Paravicini, Werner: Der Grand Tour in der europäischen Geschichte: Zusammenfassung, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 662. Vgl. auch Ranft, Andreas: Die Hofesreise im Spätmittelalter, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 89-104.

17 Vgl. Keller, Katrin: Von der Nützlichkeit des Reisens. Bemerkungen zu Erscheinungsbild und Konsequenzen der Kavaliertour am Beispiel kursächsischer Befunde, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 429-454.

18 Vgl. Heiss, Gernot: Bildungs- und Reiseziele österreichischer Adeliger in der Frühen Neuzeit, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 217-236.

19 Paravicini, Werner: Der Grand Tour in der europäischen Geschichte: Zusammenfassung, in: Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 662.

20 Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2001, S.13.

21 Ebd., S.20.

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Ebd., S.13.

25 Ebd.

26 Ebd., S.14.

27 Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2001.

28 Leibetseder, Mathis: Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. Und 18. Jahrhundert, Köln 2004.

29 Babel, Rainer/Paravicini, Werner (Hrsg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005.

30 Hierbei sind vor allem drei Biographien zu nennen, die der Reisetätigkeit Sidneys auf dem europäischen Kontinent größere Aufmerksamkeit widmen: Duncan Jones, Kathrine: Philip Sidney. Courtier Poet, London 1991. und Stewart, Alan: Philip Sidney. A Double Life, London 2001 sowie Osborne, James Marshall: Young Philip Sidney 1572-1577, New Haven 1972.

31 The Courtyer of Count Baldessar Castilio divided into foure books. Very necessary and profitable for yonge Gentilmen and Gentilwomen abiding in Court, Palaice or Place, done into Englyshe by Thomas Hoby, London 1561.

32 Burke, Peter: Die Geschicke des Hofmanns. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S.115.

33 Brennan, Michael G. (Hg.): The Origins of the Grand Tour: The Travels of Robert Montagu, Lord Mandeville (1649-1654), William Hammond (1655-1658), and Banaster Maynard (1660-1663), London 2004, S. 16.

34 The Correspondence of Sir Philip Sidney. Volume 1, hg. und übers. v. Roger Kuin, Oxford 2012. und The Correspondence of Sir Philip Sidney. Volume 2, hg. und übers. v. Roger Kuin, Oxford 2012.

35 Müller, Rainer A.: Hofstaat-Hofmann-Höfling. Kategorien des Personals an deutschen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit, in: Malettke, Klaus/Grell, Chantal (Hrsg.): Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.-18. Jh.), Münster u.a. 2001, S.50.

36 Zur Rezeption des Libro del Cortegiano in Europa siehe Burke, Peter: Die Geschicke des Hofmanns. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S.71-90.

37 Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2001, S.21.

38 Müller, Rainer A.: Der Fürstenhof in der frühen Neuzeit, München 1995, S.82.

39 Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2001, S.55.

40 Ebd.

41 Asch, Ronald G.: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit, Köln 2008, S.218.

42 Ebd.

43 Zur Rezeption des Libro del Cortegiano in Europa siehe Burke, Peter: Die Geschicke des Hofmanns. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S.71-90.

44 The scholemaster or plaine and perfite way of teachyng children, to vnderstand, write, and speake, the Latin tong but specially purposed for the priuate brynging vp of youth in ientlemen and noble mens houses, and commodious also for all such, as haue forgot the Latin tonge. By RogerAscham., London 1570, S.21.

45 Da die englische Druckausgabe des „Courtiers" keine Seitenzählung enthält, wird im Folgenden die Nummer der entsprechenden Bilddokumente aus der Datenbank Early English Books Online als Quellennachweis verwendet.

46 The Courtyer of Count Baldessar Castilio divided into foure books. Very necessary and profitable for yonge Gentilmen and Gentilwomen abiding in Court, Palaice or Place, done into Englyshe by Thomas Hoby, London 1561, S.191.

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Details

Titel
Reisen als adlige Erziehungspraktik im England des 16. Jahrhunderts
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Geschichte)
Veranstaltung
Geschichte der Frühen Neuzeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
47
Katalognummer
V268125
ISBN (eBook)
9783656614159
ISBN (Buch)
9783656614098
Dateigröße
613 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
reisen, erziehungspraktik, england, jahrhunderts
Arbeit zitieren
Melanie Büttner (Autor:in), 2013, Reisen als adlige Erziehungspraktik im England des 16. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268125

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