Die "Reyen" sind ein typisches Element barocker Tragödien. Sie erinnern an den Chor in den klassischen antiken Tragödien.
Der vorliegende Essay charakterisiert die Form und Funktion der "Reyen" und zeigt Unterschiede zur späthumanistischen Dramenpoetik auf.
Aufgabenstellung:
Charakterisieren Sie Form und Funktion der Reyen in Lohensteins "Sophonisbe" und bestimmen Sie ihre Unterschiede zur späthumanistischen Dramenpoetik.
Julius Caesar Scaliger definiert in Poetices libri septem die Rolle und Funktion des Chores in der Tragödie unter der Forderung nach dem „Maß halten“,[1] welche sich einerseits auf die Länge der Chorlieder und andererseits auf inhaltliche und funktionale Aspekte der Chorpassagen bezieht. Demnach muss der „Inhalt des Chorliedes stets aus den mit der Handlung verbundenen Grundgedanken abgeleitet [sein].“[2] Es bleibt jedoch dem Dichter überlassen, ob sich dieser „Grundgedanke“ aus dem Kontext der Szene, in der das entsprechende Chorlied vorgetragen wird, oder aus dem Gesamtkontext der Tragödie herleiten lässt. Formal sind die Chorpassagen in jambischen Versen gehalten, welche in der Aufführung sowohl gesprochen als auch gesungen realisiert werden. Folglich treten die Akteure der Dramenhandlung zuweilen in einen Dialog mit dem Chor.[3]
In dem vorliegenden Essay möchte ich nun prüfen, welches Verständnis des Chores Daniel Casper von Lohenstein in Sophonisbe realisiert und wie sich dieses von Scaligers Definition abgrenzen lässt.[4]
Lohenstein bezeichnet die Chorpassagen als Reyen. Formal sind sie, wie es Scaliger fordert, in jambischen Versen verfasst. Dabei handelt es sich häufig um einen jambischen Fünfheber. Die Reime sind überwiegend Kreuzreime, jedoch finden sich, insbesondere am Strophenende, zuweilen Paarreime,[5] die teilweise den Charakter eines sentenziösen Fazits der entsprechenden Strophe aufweisen. Die Reyen stehen immer am Ende einer Abhandlung, sodass sich in Sophonisbe fünf Reyen finden. Auffallend ist, dass die Reyen jeder Abhandlung in den epischen Angaben zum Innhalt explizit erwähnt werden und ihr Inhalt jeweils knapp umrissen wird, wodurch den Reyen geradezu der Rang eines Art „Unterkapitels“[6] in der jeweiligen Abhandlung zukommt. Diese Stellung der Reyen ist von Scaligers Auffassung abzugrenzen, da dieser die Verflechtung von Chor und Handlung betont, was impliziert, dass die Reyen nicht von der Dramenhandlung abgegrenzt sind, wie es bei Lohenstein der Fall ist.
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[1] Zitiert nach: Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem [1561 / 1581]. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. III: Buch 3, Kap. 95-126. Hg. und übers. v. L. Deitz. Stuttgart und Bad Canstatt 1995, 25-41.
[2] Zitiert nach: ebd.
[3] Vgl. ebd.
[4] Es wird hier lediglich Scaliger als eine Art Musterdefinition der späthumanistischen Dramenpoetik aufgeführt, da sich bei den im Kontext des Seminars besprochenen Textauszügen von Opitz keine Passagen finden, in denen er so explizit auf die Funktion des Chores eingeht, dass man hier darauf rekurrieren könnte.
[5] Vgl. z. B. Daniel Casper von Lohenstein: Sophonisbe. Trauerspiel. Hg. von R. Tarot. Stuttgart 2007. (RUB 8394), V. 461f, V.639f, V. 649f, V. 659f, V. 669f, V. 680f.
[6] Die Wahl des Begriffes „Kapitel“ ist im Kontext eines Dramas sicherlich nicht unproblematisch, da die Bezeichnung „Kapitel“ nicht eine genuine Bezeichnung der Gattung ist. Möglicherweise kann in diesem Zusammenhang auch eine Einteilung jeder Abhandlung in den Akt der Handlung und den Akt der Reyen vorgenommen werden.
- Arbeit zitieren
- Verena Caroline Wernet (Autor:in), 2012, Form und Funktion der Reyen in Lohensteins "Sophonisbe" und ihre Unterschiede zur späthumanistischen Dramenpoetik., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268499