Leseprobe
Inhalt:
I. Einleitung – Definition und Forschungsstand zum Thema „Institutionelle
Diskriminierung“
II. Hauptteil – Deutsches Bildungssystem = systematische Diskriminierung?
1. Überblick über das deutsche Schulsystem
2. Situation in der Grundschule
a) Einschulung
b) Verweise auf Sonderschulen
c) Überweisung an weiterführende Schulen
3. Aufnahme an weiterführende Schulen
4. Sonstige Formen institutioneller Diskriminierung
a) Probleme durch fehlende Sprachkompetenz
b) Diskriminierung durch Verwaltung und Organisation
III. Fazit – Lösungsansätze
I. Einleitung - Definition und Forschungsstand zum Thema
„Institutionelle Diskriminierung“
Die Bundesrepublik Deutschland gilt als Einwanderungsland. Unsere Gesellschaft ist geprägt dadurch, dass sie offen dafür ist, ausländische Mitbürger aufnehmen und ihnen bei entsprechenden Voraussetzungen eine neue Lebensperspektive zu geben und ihnen die Integration zu ermöglichen. So war es im Jahr 2001 beispielsweise so, dass in Deutschland 7,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund lebten, was immerhin fast 10% der Gesamtbevölkerung Deutschland ausmacht.[1] Jedes Jahr kommen mehrere hunderttausend Menschen nach Deutschland, um hier eine Heimat zu finden. Die Gründe dafür, dass die Menschen nach Deutschland kommen, sind unterschiedlich: Flucht vor Krieg aus ihren Heimatländern, bzw. Suchen einer neuer Lebensperspektive sind unter anderem zwei häufig genannte Gründe.
Die Migration nach Deutschland stellt beide Seiten – die Einwanderer und den deutschen Staat - allerdings vor Probleme, die gelöst werden müssen, um die Integration in die deutsche Gesellschaft zu ermöglichen. Ein insbesondere für die nachhaltige Entwicklung der Menschen notwendiger Faktor hierbei ist der Bildungssektor. Eine gute Bildung ist in unserer heutigen Welt immer wichtiger, wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung weltweit anschaut. Die Bildungschancen in Deutschland sind allerdings sehr stark abhängig von der Herkunft der Menschen. So sagt das Bundesministerium für Bildung und Forschung auf seiner Homepage, dass „in keinem anderen Industriestaat der Welt die sozio-ökolgische Herkunft so sehr über den Schulweg und die Bildungschancen [entscheidet] wie in Deutschland“.[2] Das heißt also, dass Schüler mit Migrationshintergrund in Deutschland dadurch, dass sie einem fremden Kulturkreis entstammen, eine andere Bildungschance haben als andere Kinder hier in Deutschland. Die Diplompsychologin Mechtild Gomolla spricht in diesem Zusammenhang von einem Gerechtigkeitsdefizit: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund werden vom deutschen Bildungssystem systematisch benachteiligt.[3] Diese Form der Benachteiligung wird in der Wissenschaft als „institutionelle Diskriminierung bezeichnet. Hierunter versteht man Formen der Diskriminierung, die „in normalen organisatorische Strukturen, Programme und Routinen in den Basissystemen des gesellschaftlichen Lebens (…) eingebettet“ sind.[4] Diese Benachteiligung besitzt also eine formale rechtliche Legitimation. Gründe hierfür sind in den meisten Fällen ethnisch begründet, wie z.B. hinsichtlich Nationalität, Sprache, Religion oder Kultur der Menschen. Gomolla geht sogar so weit zu behaupten, dass es sich in solchen Fällen um eine Form des Rassismus handelt, die zur Routine geworden ist.[5] In Bezug auf den Bildungssektor kommt es insbesondere zu institutioneller Diskriminierung, wenn Weichenstellungen der Einwanderungs- und schulpolitischen Ebene, Strukturen, Programme und etablierte Praktiken in einzelnen Organisationen wie im lokalen Schulfeld sowie defizitorientierte Ansätze der Ausländerpädagogik und statische, rückwärtsgewandte Konzepte kulturelle Identität zusammenwirken.[6] Eine sogenannte Kumulation benachteiligender Aspekte für Migranten bewirkt also in ihrem Zusammenspiel die institutionelle Diskriminierung.
Der Begriff der institutionellen Diskriminierung entstand in den 70er Jahren in den USA, und wurde geprägt durch Stokely Carmichael und Charles Hamilton. Sie waren beide politische Aktivisten bei den Black Panthern, einer Gruppe, die zur damaligen Zeit für die Gleichstellung der afroamerikanischen Menschen in den USA kämpfte. Sie formulierten als erste medienwirksam den Vorwurf, dass in den USA eine Ungleichheit in Angelegenheiten von Institutionen, also eine politische und rechtliche Ungleichheit herrschte.[7] Die Soziologen Joe R. Feagin und Clairece B. Feagin stellten 1986 eine Differenzierung zwischen direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung an. Auf diese beiden Amerikaner sich berufend beschreibt Gomolla direkte institutionelle Diskriminierung als „explizite Formen der Ungleichbehandlung“, die „auf formalen Regeln oder auch auf informellen organisatorischen Praktiken“ geruhen. Ein Beispiel hierfür ist de Ungleichbehandlung von Kindern mit Flucht- / Asylhintergrund im deutschen Bildungssystem. Im Gegensatz hierzu versteht sie unter indirekter institutioneller Diskriminierung „oberflächlich neutrale oder faire institutionelle Regeln“, deren Einhaltung jedoch „diskriminierende Effekte“ für bestimmte Bevölkerungsgruppen bewirken (z.B. Zurückstellung von Migrantenkindern zur verstärkten Förderung, was einer Stigmatisierung dieser Schüler gleichkommt).[8]
In Deutschland ist die Diskussion über institutionelle Diskriminierung seit den 1960er Jahren besonders in den Vordergrund getreten. So existieren seit Mitte der 60er Jahre Daten, die Aufschluss über den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungs- sowie Berufschancen geben können. Als Ergebnisse dieser Mikrozensus- und Volkszählungsdaten bis 1989 gibt der Soziologe Bernhard Schimpl-Neimann an, dass es insbesondere im Gymnasialbereich eine große Ungerechtigkeit besteht für Schüler aus sozial schwächeren Elternhäusern.[9] Nach der PISA-Studie im Jahr 2000, zu der im weiteren Verlauf des Aufsatzes noch genauer eingegangen wird, wiesen die Erziehungswissenschaftler J. Baumert und G. Schümer nach, dass die Ergebnisse Schimpl-Neimanns auch heutzutage noch ihre Gültigkeit haben. Zudem gebe es eine hohe Stabilität sozialer Ungerechtigkeiten über Jahre hinweg, trotz mehrerer kleiner Reformen des Bildungssystems. Hieraus wird gefolgert, dass die Institution Schule selber als Schuldiger für institutionelle Diskriminierung gesehen werden muss, und man an ihr auch ansetzen muss, um die Situation für bisher benachteiligte Schülergruppen zu verbessern.[10]
In wieweit die Institution Schule sowie das dahinter stehende Bildungssystem verantwortlich ist für institutionelle Diskriminierung insbesondere bei Schülern mit Migrationshintergrund, soll im nachfolgen Aufsatz näher beleuchtet werden, und im Anschluss sollen auch mögliche Verbesserungen genannt werden, die die derzeitige Ungleichbehandlung abmildern könnten.
II. Hauptteil – Deutsches Bildungssystem = systematische
Diskriminierung?
1. Überblick über das deutsche Schulsystem
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach einem föderalen Grundprinzip aufgebaut. Das heißt, dass der Staat zwar die Rahmengesetzgebung bestimmt und bestimmte Gesetzgebungsbereiche vollständig unter seine Verantwortung fallen, dass es aber innerhalb Deutschlands Bundesländer gibt, die in bestimmten Bereichen eine eigene Gesetzgebungshoheit besitzen. Zu diesen Länderhoheiten zählt auch weitestgehend die Bildungspolitik. Das heißt, dass jedes Bundesland für sich deine eigene Schulpolitik machen kann. Die Folge hiervon ist, dass es innerhalb Deutschlands keine einheitliche Schulpolitik betrieben wird, sondern im Gegenteil eine große Vielfalt besteht.[11] Die Schulsysteme an sich beruhen jedoch auf den gleichen Gerüsten. Zunächst gilt in ganz Deutschland eine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr.
Die Bildungslaufbahn eines Kindes beginnt in der vorschulischen Erziehung. Hierbei handelt es sich zumeist um Kindergärten, die hauptsächlich von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Gemeinden getragen werden, welche wiederum häufig die Kosten für Kindergartenplätze auf die Eltern der Kinder umlegen. Kindergartenplätze sind also nicht kostenfrei, sondern müssen von den Eltern bezahlt werden.[12] Außerdem ist die Aufgabe von Kindergärten nicht explizit die Vorbereitung auf die Schule, sondern vielmehr das spielerische Herantasten an die Welt und an die Gesellschaft, und in Bezug auf die Tatsache der Zuwanderung in Deutschland auch das Erlernen von Interesse und Achtung für die eigene und fremde Kulturen.[13]
Im Anschluss hieran folgt die Einschulung in die Grundschule. Die Grundschule selbst ist unterteilt in vier Jahrgangsstufen. Es gibt in den meisten Fällen zusätzlich noch einen Schulkindergarten, in dem Schüler betreut und spielerisch an die Schule herangeführt werden, die sich in der ersten Klasse als noch nicht schultüchtig erweisen. In der Grundschule sollen die Kinder grundlegende Kenntnisse in allen Fächern erwerben, sodass sie am Ende der Grundschulzeit entsprechend ihrem Leistungsstand auf die verschiedenen weiterführenden Schulen verteil werden können.[14]
An die Grundschulphase schließt sich dann die Übergangsphase zu den weiterführenden Schulen an. Sie dauert zwei Jahre und soll den Schülern ermöglichen, sich an die neuen Leistungsanforderungen der weiterführenden Schulen anzupassen, und gegebenenfalls rechtzeitig einen Schulwechsel durchzuführen. Diese Orientierungsphase wird allerdings bereits auf den weiterführenden Schulen absolviert.[15]
Nach dem Ende dieser Übergangsphase endet auch die sogenannte Primarstufe des deutschen Bildungssystems. Es schließt sich nun die Sekundarstufe I an. Sie ist grundsätzlich dreigliedrig aufgebaut: es gibt die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium. Entsprechend der Leistungsfähigkeit der Schüler werden sie nach der Orientierungsphase (bzw. eigentlich wie bereits erwähnt bereits nach der Grundschulzeit) auf diese drei Schultypen verteilt, wobei die leistungsschwächeren Schüler eher auf die Hauptschule geschickt werden, während die leistungsstärkeren Schüler eher auf das Gymnasium geschickt werden.[16]
- Die Hauptschule soll vornehmlich auf eine anschließende Berufsausbildung vorbereiten. Je nach Bundesland dauert sie bis zum 9. oder 10. Schuljahr und entlässt die Schüler anschließend in eine Ausbildung oder auf eine der beiden anderen weiterführenden Schulen. Häufig sind in die Schulwochen der Hauptschule auch Praktika in regionalen Unternehmen integriert, wodurch die Schüler bereits frühzeitig in die Arbeitswelt eingeführt werden
- Die Realschule dauert gewöhnlich bis zur 10. Klasse. Sie ermöglicht den Schülern berufliche Ausbildungsmöglichkeiten und zusätzlich den Übergang zur Fachoberschule, was nach einem erfolgreichen Abschluss dieser die Fachhochschulreife bringt. Der Schüler kann mit diesem Abschluss dann Fachhochschulen besuchen und sich dort entweder eine bessere Ausgangsposition für eine berufliche Ausbildung qualifizieren, oder aber nachträglich die allgemeine Hochschulreife erwerben
- Ansonsten ist diese Hochschulreife nur durch Abschluss (Abitur) auf einem Gymnasium möglich. Die Gymnasialzeit dauert abhängig vom Schuljahr entweder bis zur 12. Klasse (sogenanntes G8-Gymnasium ohne Oberstufen-Einführungsklasse) oder bis zur 13. Klasse (sogenanntes G9-Gymnasium mit Oberstufen-Einführungsklasse im 11. Schuljahr).
Nach der 10. Klasse ist auch die Sekundarstufe abgeschlossen, anschließend folgt die Sekundarstufe II, die lediglich die Oberstufe am Gymnasium bzw. an der Gesamtschule beinhaltet. Die Gesamtschule gilt im Gegensatz den drei anderen weiterführenden Schularten nicht als eigenständiger Schultyp, sondern sollte lediglich als Ergänzungsschule die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schultypen erhöhen. Im Laufe der Zeit wurde ihre Bedeutung allerdings dahingehend verändert, dass sie zur Ersatzlösung für Schüler wurde, denen ein Besuch auf der Realschule oder auf dem Gymnasium nicht zugetraut wird.[17]
Neben diesem Schulsystem existiert in Deutschland allerdings daneben noch ein Sonderschulsystem. Es ist für Schüler gedacht, die aufgrund von Behinderungen in normalen Schulen benachteiligt werden. Zu diesen Behinderungen können körperliche und geistige Behinderungen, aber auch Lernbehinderungen zählen. Hier erhalten die Schüler eine angemessene Betreuung sowie eine bestmögliche Vorbereitung darauf, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.[18]
Das Bildungswesen in Deutschland unterliegt der Kontrolle der 16 Bundesländer. An der Spitze der jeweiligen Schulverwaltung steht das Kultusministerium mit dem Kultusminister als Vorsitzendem. Durch mehrere Verwaltungsebenen (Bezirksverwaltungen, Städte / Gemeinden / Schulämter) wird die Bildung in den Bundesländern organisiert.[19]
Auf die Tatsache des steten Zuzugs ausländischer Mitmenschen nach Deutschland hat das deutsche Bildungssystem in den vergangenen Jahren verschiedene Methoden des Umgangs entwickelt. Hierzu zählen vor allem die Aufnahme und die Förderung von Migrantenkindern. Für sie werden Vorbereitungsklassen organisiert, in manchen Fällen auch eigenständiger muttersprachlicher Unterricht angeboten, um den Kindern dennoch zu ermöglichen, ein möglichst hohes Bildungsniveau zu erreichen. Deutsch wird zusätzlich ab und an als Zweitsprache unterrichtet, um den Kindern eine bilinguale Erziehung zu bieten. Zusätzlich kommt häufig in diesen Fällen auch noch der Unterricht in einer weiteren Fremdsprache hinzu. Des Weiteren wird heutzutage mehr Wert auf Interkulturalität[20] gelegt, sowohl bezüglich der Kinder und Jugendlichen, als auch bezüglich der Lehrerschaft, und die Grundsätze von Pluralität und Gleichheit haben mittlerweile einen weitaus größeren Standpunkt in der Erziehungswissenschaft erlangt als dies noch vor einigen Jahren war.[21]
[...]
[1] Vgl.: Interkultureller Rat in Deutschland und Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.): Einwanderungsland Deutschland. Fakten zu Flucht und Migration. Darmstadt / Frankfurt 2002, S.2.
[2] http://www.bmbf.de/de/6549.php
[3] Vgl.: Gomolla, M: Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und der Schweiz. Münster / Ney York / München / Berlin 2005, S. 11.
[4] Ebd., S. 57.
[5] Vgl.: Ebd., S. 58
[6] Vgl.: Ebd., S. 62
[7] Vgl.: Ebd.
[8] Vgl.: Gomolla, M: Mechanismen institutioneller Diskriminierung in der Schule. 1997.
[9] Vgl.: Baumert, J.; Köller, O.: Sozialer Hintergrund Bildungsbeteiligung und Bildungsverläufe im differenzierten Sekundarschulsystem. In: Frederking, V.; Heller, H.; Scheunpflug, A.: Nach PISA. Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung nach zwei Studien. Wiesbaden 2005, S. 10f.
[10] Vgl.: Ebd., S. 12f.
[11] Vgl.: Gomolla (2005), S. 92.
[12] Vgl.: Ebd., S. 93.
[13] Vgl.: Irmer, M.: Interkulturelles Spielen und Lernen. Bobingen 2002, S. 5.
[14] Vgl.: Gomolla (2005), S. 93.
[15] Vgl.: Ebd.
[16] Vgl.: Ebd.
[17] Vgl.: Ebd., S. 94.
[18] Vgl.: Ebd.
[19] Vgl.: Ebd., S. 95.
[20] Unter Interkulturalität versteht man den Austauschprozess zwischen Kulturen bzw. zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen (siehe: Irmer (2002), S. 11).
[21] Vgl.: Gomolla (2005), S. 98-105.