Die Bedeutung familiärer Strukturen bei der Entstehung der Magersucht


Thèse de Bachelor, 2012

89 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Danksagung

1. Einleitung
1.1. Begriffsdefinition
1.2. Unterschiedliche Betrachtungsweisen der Anorexia nervosa
1.3. Historischer Überblick

2. Das Krankheitsbild der Anorexia nervosa
2.1. Erscheinungsbild
2.1.1. Körperliche Veränderungen
2.1.2. Psychische Veränderungen
2.2. Epidemiologie
2.3. Komorbidität
2.3.1. Affektive Störungen
2.3.2. Zwanghafte Züge und Zwangsstörungen
2.3.3. Angststörungen
2.3.4. Persönlichkeitsstörungen
2.4. Verlauf

3. Ätiologie der Anorexia nervosa
3.1. Biologische Faktoren
3.2. Soziokulturelle Faktoren
3.3. Individuelle Faktoren

4. Familiäre Faktoren
4.1. Zwei-Prozess-Modell
4.2. Direkte familiäre Einflüsse auf das Essverhalten
4.3. Das Modell der „Psychosomatischen Familie“
4.3.1. Verstrickung
4.3.2. Überfürsorglichkeit
4.3.3. Veränderungsrigidität
4.3.4. Konfliktvermeidung
4.3.5. Einbeziehung des Kindes in eheliche Konflikte
4.4. Weitere Merkmale der Familien mit einem
erkrankten Mitglied
4.4.1. Essen als Medium der Interaktion
4.4.2. Norm- und Leistungsorientierung
4.4.3. Harmoniegebot
4.4.4. Selbstaufopferung
4.4.5. Eltern der erkrankten Mädchen
4.4.6. Ehe der Eltern und emotionale Unsicherheit des Kindes
4.4.7. Vermeidung von Trennungen
4.5. Anorexie als Lösung familiärer Konflikte

5. Behandlung

6. Die Bedeutung und Aufgaben der Sozialarbeit bei Anorexia nervosa

7. Fazit

Eidesstattliche Erklärung

Glossar

Literaturverzeichnis

Onlineverzeichnis

Anhangverzeichnis

Anhang

Name, Vorname: Butenko, Oxana

Titel: Die Bedeutung familiärer Strukturen bei der Entstehung der Magersucht

Datum der Abgabe: 19. Juni 2012

Zusammenfassung

Die Magersucht ist eine sehr komplexe und ernst zu nehmende psychosomatische Erkrankung. Sie kann sowohl schwere körperliche als auch psychische Schäden anrichten und unter Umständen sogar einen tödlichen Verlauf nehmen. Obwohl man bereits seit mehreren Jahrhunderten die Ätiologie der Magersucht erforscht, konnte bis jetzt keine eindeutige Antwort geliefert und die der Anorexie zugrunde liegenden Ursachen erklärt werden. Man geht jedoch davon aus, dass es die Ursache für die Essstörung nicht gibt. Stattdessen nimmt man an, dass es bei der Entstehung verschiedene Faktoren (biologische, soziokulturelle, individuelle sowie familiäre) mitbeteiligt sind, die unterschiedlich gewichtet auf eine Person einen gewissen Einfluss haben und so zu der Entstehung der Magersucht beitragen.

Die vorliegende Arbeit versucht, aus einer systemischen Perspektive den Blick auf die Betroffenen zu werfen und sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Bedeutung bei der Entstehung der Magersucht der familiären Strukturen und Interaktionsmuster zukommt und wie die familiären Beziehungen und Anorexie zusammenhängen. Es werden die mithilfe klinischer Beobachtungen und wissenschaftlicher Studien gewonnene Ergebnisse dargestellt und eine Reihe von festgestellten Merkmalen der Familien mit einem erkrankten Kind ausgeführt.

Danksagung

Viele verschiedene Personen hatten direkt bzw. indirekt an der Entstehung dieser Arbeit Anteil. Ich möchte mich an dieser Stelle bei ihnen recht herzlich bedanken.

Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen des Migrationsdienstes, bei dem ich mein praktisches Semester absolvierte, danke ich dafür, dass sie mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen.

Einen besonderen Dank schulde ich meinem Verlobten, Viktor Bin, in dem ich während des ganzen Studiums und des Schreibens meiner Bachelorarbeit Verständnis, Vertrauen und Bekräftigung fand. Dank ihm und seiner emotionalen Unterstützung habe ich gelegentliche Momente des Selbstzweifels und Blockaden überstehen können.

In tiefer Dankbarkeit möchte ich meine liebe Mutter und meinen fürsorglichen Stiefvater erwähnen. Sie haben mich auf meiner langen schulischen Laufbahn in Deutschland immer unterstützt, sowohl moralisch, als auch finanziell, an mich geglaubt und nie daran gezweifelt, dass ich den schweren Weg zu meinem Traumberuf schaffen werde.

Auch meinen Kommilitoninnen und Freundinnen möchte ich für viele Anregungen, Hinweise und wertvolle Kritik einen herzlichen Dank aussprechen.

Abschließend geht ein großer Dank an Prof. Dr. phil. Ariane Brenssell, die meine Arbeit mit einer wertschätzenden Haltung begleitete. Jedes Treffen mit ihr (bzw. jede E-Mail von ihr) war für mich sehr hilfreich. Sie gab mir immer wieder Impulse zur Selbstreflexion und lenkte mich in die richtige Richtung.

1. Einleitung

Das Essen gehört zu den existenziellen Dingen des Lebens, besser gesagt Essen bedeutet Leben! Der Mensch braucht es, um weiter leben zu können, um an die Nährstoffe und Energie zu gelangen. Es ist umso unverständlicher und verwunderlicher, wenn man einen Menschen sieht, der das Essen strickt verweigert und sich buchstäblich zu Tode hungert. Man fragt sich, wie konnte es dazu kommen, wodurch wurde es beeinflusst und wie findet man den Weg zurück zum gesunden Leben? Solche Fragen werden unter anderem von den Eltern, Freunden, Lehrern, Ärzten, Psychologen sowie Sozialarbeitern und Therapeuten gestellt. Seit vielen Jahren versuchen verschiedene Personenkreise und Berufsgruppen Antworten auf diese Fragen zu finden. Doch bis jetzt konnte keine eindeutige Antwort geliefert werden. Es sind viele verschiedene Aspekte und Bedingungen, die bei der Entstehung der Magersucht eine Rolle spielen und ihre Entwicklung begünstigen. Dazu gehören unter anderem genetische Veranlagung, individuelle Charaktereigenschaften wie Persönlichkeit und Temperament, gesellschaftliche sowie familiäre Einflüsse. Wie stark die einzelnen Aspekte in ihrem Zusammenspiel gewichtet sind, ist bei jedem betroffenen Menschen unterschiedlich. Die Ursache gibt es also nicht. Genauso wenig kann man klare Aussage darüber treffen, welche Methode bzw. welches Therapiekonzept bei der Behandlung der Essstörung am erfolgversprechendsten und am geeignetsten ist.

Bevor ich einen Überblick über den Aufbau der vorliegenden Arbeit verschaffe, würde ich gerne darauf eingehen, wie mein Interesse zum Thema Magersucht geweckt wurde. Dies geschah bereits am Anfang meines Studiums an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Damals sollten im Modul 1 „Soziale Probleme und Soziale Arbeit“ Präsentationen über ein anerkanntes soziales Problem gehalten werden. Eine von vielen interessanten Präsentationen beinhaltete die historische Entwicklung der Magersucht und ihre Anerken­nung als psychosomatische Krankheit in der deutschen Gesellschaft. Dabei wur­den unter anderem das Krankheitsbild mit seinen Symptomen und Verläufen kurz be­schrieben und über eine der bekanntesten Magersüchtigen, das französische Model Isabelle Caro[1], das ihren bis auf die Knochen ausgemergelten Körper für eine Kampagne gegen Anorexie fotografieren ließ, berichtet. Diese Präsentation machte mich auf das Thema Magersucht aufmerksam. So entschied ich mich, mich in meiner Abschlussarbeit damit zu beschäftigen. Ich fing an, darüber intensiv zu recherchieren. Im Laufe meiner Nachforschungen stieß ich auf die zahlrei­chen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Ratgeber, TV-Reportagen, Zeitungsartikel sowie Autobio­graphien von Betroffenen. So wurde mir bewusst, wie präsent die Krankheit in den Massenmedien ist und wie offen darüber diskutiert wird. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie Frankreich und England greifen die Medien das Thema auf, stellen es öffentlich zur Schau und diskutieren mit Betroffenen über ihre Probleme, Ängste und Hoffnungen. So zeigen sich die an Magersucht leidenden Frauen und jungen Mädchen der Welt und zielen dabei darauf ab, die Menschen für diese zu Tode führende Krankheit zu sensibilisieren, davor zu warnen und neuen Mut für den weiteren Kampf gegen die Essstörung zu schöpfen. In den letzten Monaten erfuhren Tausende von Menschen über rührende Geschichten von Hanna Blumroth[2] aus Deutschland sowie den englischen Zwillingsschwestern Maria und Katy Campbell[3] . Jede dieser jungen Frauen hat die heimtückische Krankheit fest im Griff und jede von ihnen kämpft tagtäglich gegen sie und hofft, sich aus ihren Klauen irgendwann komplett zu befreien und das Leben wieder genießen zu können.

Bei meiner Recherche stellte ich außerdem fest, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, aus denen die Magersucht betrachtet wird. Mich als angehende Sozialarbeiterin/-pädagogin interessierte an erster Stelle die Familie der betroffenen Mädchen. Ich wollte aus einer systemischen Perspektive auf die erkrankten Mädchen schauen und mich mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung bei der Entstehung der Magersucht der familiären Strukturen und Interaktionsmuster zukommt und wie die familiären Beziehungen und Anorexie zusammenhängen.

Im einleitenden Kapitel führe ich zunächst den Begriff der Magersucht aus, fasse dann in wenigen Worten zwei Modelle, lineares und systemisches, zusammen, die die verschiedenen Sichtweisen von der Krankheit darstellen. Danach versuche ich, in groben Umrissen den historischen Überblick über die Auseinandersetzungen unterschiedlicher Personengruppen mit der Anorexia nervosa zu geben. Um das Bild von der Essstörung Magersucht entstehen zu lassen, ihre Ernsthaftigkeit und ihr zerstörerisches Potenzial zu verdeutlichen, gehe ich im zweiten Kapitel auf das Erscheinungsbild der Anorexie ein und beschäftige mich außerdem mit den epidemiologischen* Daten, dem möglichen Verlauf und den komorbiden* Störungen, die bei den Erkrankten zum Vorschein kommen können. Im dritten Kapitel widme ich mich der Ätiologie* der Magersucht und versuche, zunächst die biologischen, soziokulturellen sowie individuellen Faktoren, die die Essstörung unterschiedlich gewichtet beeinflussen können, zu beleuchten. Im darauf folgenden vierten Kapitel setze ich mich verstärkt mit den familiären Faktoren auseinander und schaue mir die familiären Strukturen und Interaktionsmuster näher an. Im Anschluss daran spreche ich den Aspekt der Behandlung kurz an und beschreibe in groben Umrissen, wie die Arbeit mit den Familien der Betroffenen verlaufen kann. Im abschließenden sechsten Kapitel richte ich ein besonderes Augenmerk auf die Bedeutung und die Aufgaben der Sozialarbeit bei Anorexia nervosa.

Beim Lesen meiner Arbeit wird man auf zahlreiche Zitate von Betroffenen stoßen, doch dabei soll man eines nicht vergessen: diese Äußerungen können nicht auf alle Familien mit einem erkrankten Kind übertragen werden, sondern sind ausschließlich als ein Mittel zur besseren Veranschaulichung der familiären Situation zu betrachten.

Aufgrund dessen, dass überwiegend jungen Frauen und Mädchen an Anorexia nervosa erkranken, entschied ich mich in meiner Arbeit, die weibliche Form zu verwenden, spreche also im Folgenden von Mädchen und jungen Frauen, von Patien­tin und Patientinnen etc. Außerdem ist im Voraus darauf hinzuweisen, dass das in dieser Arbeit manchmal auftretende Wort „Essstörungen“ synonym zu Anorexia nervosa begriffen werden soll.

1.1. Begriffsdefinition

Bevor man über Anorexia nervosa spricht, wäre es zunächst hilfreich und sinnvoll, sich diesen Begriff, der durch den Mediziner William Gull in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, näher anzuschauen und seine Bedeutung zu erörtern.

Der Begriff „Anorexie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Appetitlosigkeit“ (Franke 2003: 20) oder „fehlendes Verlangen“ (Kock 2008: 13). Doch in der Literatur wird häufig darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnung das Erscheinungsbild der ernstzunehmenden Essstörung nicht richtig erfasst und sich daher als verfehlt erweist. Denn die Betroffenen verspüren durchaus Hunger und verfügen über Appetit (vgl. Franke 2003: 20). Sie gehen jedoch diesen Gefühlen bewusst nicht nach und ver­leugnen sie (vgl. Kock 2008: 13).

„Natürlich hatte ich Hunger, aber das konnte ich doch nicht zugeben. Ich war diesen Bedürf­nissen überlegen, also ignorierte ich es, wenn mein Magen knurrte. Wenn ich dann doch einmal etwas gegessen habe, dann tat ich es heimlich. So als ob ich etwas Verbotenes tun würde. Ich schämte mich richtig“ (Zitat aus Kock 2008: 13).

Der Zusatz „nervosa“ weist darauf hin, dass die Essstörung „nervlich“ bzw. psychisch bedingt ist (Vandereycken & Meermann 2003: 19).

Synonym zu „Anorexie“ und „Anorexia nervosa“ werden Termini wie „Magersucht“ und „Pubertätsma­gersucht“ gebraucht, wobei auch hier Unstimmigkeiten bestehen. Einerseits betont der Begriff „Magersucht“ das äußere Erscheinungsbild der Betroffe­nen und weist auf das starke Verlangen hin, schlank zu sein (vgl. Richter 2006: 25), anderer­seits lässt die Konstituente „Sucht“ die Krankheit automatisch den Suchterkrankungen zuordnen, was aber als fragwürdig angesehen wird (ebd.). Der Bundesverband für Essstörungen (BFE e.V.) vertritt diesbezüglich eine feste Mei­nung. Er sieht „Essstörungen“, darunter auch Anorexia nervosa, als psychosomatische Krankheit mit Suchtcharakter und somit klar von Suchterkrankungen abgegrenzt (vgl. ebd.: 33 f.).

Kock ihrerseits findet den Begriff „Pubertätsmagersucht“ eher angebracht, weil er die konkrete Lebensphase betont, in der die Krankheit meistens ihren Anfang nimmt. Sie akzentuiert aber auch, dass so eine komplexe und ernstzunehmende Essstörung bloß als harmlose Pubertätskrise zu bezeichnen, „wäre … eine gefährliche Fehleinschätzung“ (Kock 2008: 13).

An dieser Stelle muss man sagen, dass, obwohl es keine Einigkeit hinsichtlich der Bezeichnung für die Erkrankung herrscht, meinen, so Kock, „Pubertätsmagersucht“, „Anorexie“ sowie „Anorexia nervosa“ ein und dieselbe Krankheit (vgl. ebd.). Außerdem haben sich im deutschen Sprachraum in der wissenschaftlichen wie auch medizinischen Literatur drei Termini behauptet und eingebürgert: „Anorexie“, „Anorexia nervosa“ und „Magersucht“. Somit ist anzunehmen, dass diese drei Begriffe weiterhin gefahr­los zu benutzen sind. Ausgehend von dieser Annahme, erlaubte ich mir, in meiner Arbeit diese Bezeichnungen zu verwenden.

1.2. Unterschiedliche Betrachtungsweisen der Anorexia nervosa

Anorexia nervosa hat eine lange Geschichte hinter sich. Sie zieht seit Jahren großes Interesse unterschiedlicher Menschen auf sich, die sie ebenso aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. So ordneten Minuchin u.a. verschiedene Betrachtungsweisen der Magersucht in zwei Modelle ein: das lineare und das systemische.

Das lineare Modell

Das lineare Modell umfasst alle Ansätze, bei denen das Individuum in den Mittelpunkt gestellt wird. Dazu gehören, nach Minuchin u.a., der medizinische, psychodynamische und verhaltensmodifizierende Ansätze (vgl. Minuchin u.a. 1983: 20). Die lineare Betrachtung der Magersucht ermöglicht, die Betroffene näher kennen zu lernen und ihr Innenleben sowie ihre Vorstellungen bezüglich der Nahrung und Nahrungsaufnahme in Erfahrung zu bringen. Obwohl diese Sichtweise wertvoll und bereichernd ist, werden einige Aspekte an ihr kritisiert. Sie engt nämlich die Abklärung der Krankheit deutlich ein, weil sowohl die Diagnose als auch die Behandlung ausschließlich auf das erkrankte Individuum zentriert ist (vgl. ebd.: 20 f.).

Das systemische Modell

Das zweite, systemische Modell, basiert auf dem linearen Modell, geht aber darüber hinaus und richtet seinen Fokus auf die Be­troffene innerhalb ihres jeweiligen Umfeldes (vgl. ebd.: 20).

Ausgehend von dieser Sichtweise werden das Verhalten sowie der psychische Zustand der Erkrankten einer Analyse unterzogen (vgl. ebd.: 21). Außerdem wird gleichzeitig den Wechselwirkungen, die zwischen der Patientin und ihrer Familienmitglieder vom ersten Augenblick an bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestanden und immer noch bestehen, große Beachtung geschenkt (vgl. ebd.). Die systemische Sichtweise lässt erkennen, dass und wie sehr die familiären Interaktionen das Verhalten einzelner Familienmitglieder beherrschen und steuern (vgl. ebd.). Im Vergleich zum linearen Modell bietet die systemische Betrachtung „gewissermaßen die weitergefaßte Perspektive“ (ebd.). Es nimmt sowohl den erkrankten Menschen außerhalb als auch innerhalb seines Kontextes in den Blick (vgl. ebd.).

1.3. Historischer Überblick

Das Erscheinungsbild der Magersucht ist bereits vor mehreren Jahrhunderten aufgetreten. Zu den ersten Forschern, die sich mit der Erkrankung, ihrer Ursachen und Behandlung beschäftigten, gehörten ausschließlich Mediziner, die sich bei der Betrachtung der Essstörung auf das lineare Störungsmodell, das bereits oben beschrieben wurde, stützten. Im Laufe der Jahre wuchs das Interesse an der Erforschung der Magersucht immer mehr und auch andere Berufskreise und Wissenschaftler zeigten ihr großes Engagement.

In den folgenden Abschnitten wird versucht, dies zu verdeutlichen und in groben Umrissen den historischen Überblick über die Auseinandersetzungen mit der Anorexia nervosa zu geben. Leider würden die detaillierten und umfassenden Darstellungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen, da die Magersucht eine über drei Jahrhunderte andauernde Geschichte hat und die Anzahl aller engagierten Wissenschaftler, die sich mit der Essstörung auseinandersetzten und verschiedene Theorien entwickelten, sehr hoch ist.

Das Verdienst, die Anorexia nervosa erkannt und den ersten detaillierten Bericht über die Erkrankung veröffentlich zu haben, ist dem englischer Arzt Richard Morton anzurechnen. 1689 beschrieb er zwei Fälle und benannte die heute als „Anorexia nervosa“ bekannte Essstörung „nervöse Atrophie“, eine Form von Schwindsucht, die von solchen Hauptmerkmalen wie extreme Abmagerung, Amenorrhoe*, Appetitlosigkeit, Hyperak­tivität und Verstopfung begleitet war (vgl. Minuchin u.a. 1983: 22, Selvini Palazzoli 1986: 18, Kock 2008: 11). Außerdem vermutete er psychologischen Faktoren als Auslöser der Erkrankung.

„… erlitt ein vollständiges Ausbleiben ihrer monatlichen Regel, weil ihr Geist so unruhig und aufgewühlt war […]“(Minuchin u.a. 1983: 22).

„Ich erinnere mich nicht, jemals in meiner ganzen Praxis etwas Lebendes gesehen zu haben, das so sehr von der Schwindsucht befallen war (wie ein Skelett, nur noch Haut und Knochen). Sie hatte kein Fieber. [sic] dagegen aber Kältegefühl im ganzen Körper. Sie zeigte keinerlei Anzei­chen von Husten oder Atmungsschwierigkeiten oder irgendeiner anderen Lungenerkrankung sowie keine Anzeichen einer anderen inneren Erkrankung. Sie hatte schlaffe Haut und keine Kolliquation und zeigte auch keine abnorme Erhöhung der Magensäfte. Einzig ihr Appetit war verringert und ihre Verdauung erschwert; und sie wurde häufig von Ohnmachtsanfällen über­fallen“(Morton zit. nach Liechti 2002: 3, URL).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen nahezu gleichzeitig Veröffentli­chungen von dem französischen Neurologen Ernest-Charles Lasegue und dem englischen Internisten William Withey Gull, in denen die bereits vor etwa zweihundert Jahren beschriebenen Symptome wieder auf­tauchten (vgl. Minuchin u.a. 1983: 22 f., Kock 2008: 11, Selvini Palazzoli 1982 zit. nach Richter 2006: 26).

„… Sie war vollständig ausgemergelt … Ihre Regel war seit etwa einem Jahr ausgeblieben … Leichte Verstopfung. Vollständige Anorexie in bezug auf Fleisch und nahezu vollständige Anorexie in bezug auf alle übrigen Nahrungsmittel … Die Patientin klagte über nichts, aber sie war ruhelos und aktiv …“ (Minuchin u.a. 1983: 22).

Lasegue benutzte in seiner Arbeit den Begriff „Anorexie hysterique“ (vgl. Richter 2006: 27). Gull hingegen verwendete den Terminus „Anorexia nervosa“ (vgl. Kock 2008: 11). Nach Selvini Palazzoli waren die beiden Mediziner die Ersten, die die Magersucht als eine klinische Einheit mit klar definierten Symptomen beschrieben (vgl. Selvini Palazzoli 1986: 19). Dabei waren sie sich über den psychischen Ursprung der Krankheit einig (vgl. Minuchin u.a. 1983: 23, Selvini Palazzoli 1986: 19 ff., Kock 2008: 11). Nachdem aber der Hamburger Arzt Moris Simmonds 1914 einen tödlichen Fall von Kachexie* schilderte, der dem Krankheitsbild der Anorexie ähnelte, schlug die Diskussion über die Essstörung eine ganz neue Richtung ein (vgl. Richter 2006: 27, Kock 2008: 11, Cuntz & Hillert 2008: 57). „Die Autopsie [des Falles, Anm. O.B.] ergab, dass eine Atrophie des Vorderlappens der Hypophyse vorlag“ (Kock 2008: 11). Hiervon ausgehend wurde eine hormonelle Störung als Ursache der Erkrankung angenommen und die Anorexie-Betroffene wurden dementsprechend als die an der „Simmonds´schen Krankheit“ leidenden Patientinnen behan­delt. Diese Verwirrung herrschte bis in die 50er Jahre hinein. Die Arbeiten von Gulls und Lasegue wurden allmählich in den Schatten gestellt und der Begriff „Anorexia nervosa“ fand keine Anwendung mehr (vgl. Habermas 1990 zit. nach Richter 2006: 27 f.).

In den 60er Jahren waren es vor allem die Autorinnen wie Hilde Bruch und Mara Selvini Palazzoli, die die Diskussion um den schon einmal bekannten, aber nicht mehr beachteten psychischen Aspekt der Anorexia nervosa wieder belebten. Mehrere Fach­leute arbeiteten danach diagnostische Kriterien heraus, bis die Essstörung als „Anorexia nervosa“ in die internationalen Klassifikationssysteme „ International Classification of Diseases“ (ICD) und „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder“ (DSM) aufgenommen wurde[4] (vgl. Richter 2006: 28).

Was den Aspekt der Familie bzw. der Umgebung anorektischer Patientinnen betrifft, wurde schon früh erkannt, dass sie auf die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Symptome einen gewissen Einfluss haben. 1789 schrieb der französische Arzt J. Naudeau über eine an Magersucht leidende Patientin und ihren Tod, dessen Ursache er auf den Einfluss zurückführte, den die Mutter auf ihre Tochter, seiner Meinung nach, haben sollte (vgl. Naudeau 1789 zit. nach Minuchin u.a. 1983: 23). 1873 hob Laségue in der Be­schreibung eines Falles Folgendes hervor: „Die Beschreibung … wäre nicht vollständig ohne eine gleichzeitige Betrachtung des Familienlebens. Die Patientin und ihre Familie bilden gewissermaßen ein engmaschiges Ganzes, und wir machen uns ein falsches Bild der Krankheit, wenn wir unseren Blick allein auf die Patientinnen richten“ (Laségue 1873 zit. nach ebd.). 1874 betrachtete Gull die Verwandten der Betroffenen als Personen, die für die Betreuung der Erkrankten am wenigsten geeignet waren (vgl. Gull 1874 zit. nach Cierpka & Reich 2010b: 172) und 1889 schlug Charcot sogar die Trennung der Betroffenen von ihren Familien als Teil der Behandlung vor (vgl. Charcot 1889 zit. nach ebd.).

Von den Medizinern wurde vermutet, dass „Nervosität“ die mögliche Ursache der Anorexia nervosa ist. Doch sie gingen dieser Vermutung nicht weiter nach, schenkten auch der Umgebung der betroffenen Mädchen keine Beachtung und nahmen sie nicht in den Blick. Sie gingen ganz einfach davon aus, dass der Körper des erkrankten Individuums gewisse, nicht näher bezeichnete und erforschte psychische Reize wahrnimmt und auf sie reagiert. Anstatt jedoch einen Versuch zu starten, die zugrunde liegenden Ursachen herauszufinden, richteten sie ihr Augenmerk auf die organischen Folgen und konzentrierten sich auf deren Untersuchung und Behandlung. Durch die medikamentöse Behandlung zielten die Mediziner auf Veränderungen im Stoffwechsel bzw. im Hormonhaushalt der Betroffenen ab (vgl. Minuchin u.a. 1983: 23).

Das lineare Krankheitsmodell, wonach die Mediziner vorgingen, wurde von den Andersdenkenden häufig offen kritisiert. Man distanzierte sich allmählich davon und erkannte die Wichtigkeit des erweiterten Blicks.

1983 berichteten Minuchin u.a. darüber, dass bereits damals viele Wissenschaftler „der Interdependenz der Teile innerhalb ihres sozialen Kontextes“ Rechnung trugen und sich bei ihrer Arbeit auf das systemische Modell orientierten, dessen Teile sich in Form eines Kreises darstellen ließen. Die Kreisform des Modells macht deutlich, dass die Teile einander wechselseitig beeinflussen (Abb. 1.). Das systemische Modell besagt, dass das System an einer beliebigen Zahl von Punkten, an vielen von denen sich die Rückkoppelungsmechanismen befinden, in Gang gesetzt werden kann. Dabei können an seiner Aktivierung und Regulierung neben den Kräften innerhalb des Systems auch Kräfte außerhalb des Systems, so genannte außerfamiliäre Belastungen, aktiv beteiligt sein (vgl. ebd.: 32).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1. Das offensystemische Modell der psychosomatischen Krankheit (Quelle: Minuchin u.a. 1983: 33).

Aus dieser Be­trachtungsweise heraus ist jeder Teil des Systems „organisierend tätig“ und wird gleichzei­tig von anderen Systemteilen organisiert. Die obige Abbildung des Modells lässt erkennen, dass bestimmte Arten der familiären Organisation eng mit der Entwicklung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Erkrankung des Kindes zusammenhängen und dass die psychosomatischen Symptome des Kindes wiederum auf die „Wahrung der Homöostase der Familie“ einwirken. Danach bestimmt sich die Erkrankung nicht aus­schließlich durch die Verhaltensweisen des einen, sondern auch durch die komplexen Wechselbeziehungen aller Systemmitglieder untereinander (vgl. ebd.: 33).

Minuchin u.a. behaupteten, dass die Nahrungsverweigerung der anorektischen Mädchen dadurch entscheidend beeinflusst wird, wie die Autonomie- und Kontroll-Frage innerhalb der Familie verhandelt und geklärt wird (vgl. ebd.: 34). Durch ihre Untersuchungen bestätigte sich diese Behauptung. Die Forscher berichteten darüber, dass der Wandel des signifikanten familiären Interaktionsmusters zu Veränderungen der psychosomatischen Symptomatik führte (vgl. ebd.).

Die systemische Betrachtung der Anorexie brachte die Forscher dazu, ihre Beachtung den Rückmeldungen zu schenken, durch die die Patientin und die restlichen Familienmitglieder sich in ihrem wechselseitigen Verhalten beschränken und regulieren. Außerdem versuchten sie, in der Behandlung die Transaktionen, die zwischen den Familienmitgliedern stattfinden und die Symptome aufrechterhalten, zu verändern (vgl. ebd.).

2. Das Krankheitsbild der Anorexia nervosa

Um eine Verständnisbasis zu schaffen und ein mehr oder weniger umfassendes Bild von der Anorexia nervosa entstehen zu lassen sowie die Ernsthaftigkeit und das zerstörerische Potenzial der Essstörung zu verdeutlichen, wird im Folgenden das Erscheinungsbild der Anorexie vorgestellt und danach auf die epidemiologischen Daten, den möglichen Verlauf und die komorbiden Störungen, die bei den Erkrankten zu Tage treten können, eingegangen.

2.1. Erscheinungsbild

Nun werden die Veränderungen, die sich im Laufe der Krankheit vollziehen, dargestellt. Das Wissen darüber kann sowohl einem Außenstehenden als auch einem Professionellen eine wertvolle Hilfe dabei leisten, die Essstörung Anorexia nervosa zu erkennen und zu identifizieren.

2.1.1. Körperliche Veränderungen

Das zentrale Merkmal der Anorexia nervosa ist das extreme Untergewicht (BMI[5] ≤ 17,5 kg/m2), das durch die Betroffenen selbst herbeigeführt wird (vgl. BZgA 2012b, URL). Häufig fallen die erkrankten Mädchen durch ihren extrem abgemagerten Körper auf (vgl. ebd., Kock 2008: 15). Dies sind jedoch Mädchen und junge Frauen, deren Krankheit schon einige Zeit besteht (vgl. BZgA 2012b, URL). Sie zählen zu den extremen Fällen und befinden sich bereits im fortgeschrittenen Stadium (vgl. Kock 2008: 15).

Auf die Mangelernährung und die lang andauernde unzureichende Nährstoffzufuhr reagiert ihr Körper mit der Einsparung der Energie. Er reduziert seinen Grundumsatz und verbraucht für die Versorgung der Organe die geringstmögliche Energiemenge, was dazu führt, dass die Betroffenen weniger an Kalorien benötigen, um ihr Gewicht zu halten. Gleichzeitig brauchen sie aber auch weniger Kalorien, im Vergleich mit einem gesunden Menschen, um weiter an Gewicht zu verlieren. Kock spricht hier von einem „Teufelskreis“, in dem die erkrankten Mädchen gefangen sind, weil sobald die Nährstoffzufuhr nur leicht erhöht wird, die sofortige Gewichtszunahme eintritt (vgl. ebd.). Genau davor haben aber die Betroffenen große Angst und streben schonungslos danach, dies zu verhindern (vgl. Vandereycken & Meermann 2003: 20).

Diese Energiesparprozesse des Körpers sind unmittelbar mit den gesundheitlichen Folgen und somatischen Veränderungen verbunden (vgl. Kock 2008: 15, Biedert 2008: 11). In der Literatur wird unter anderem von den Schwindelgefühlen, Verdauungs- und Kreislaufregulationsproblemen, Durchblutungsstörungen und dem daraus resultierenden Frieren sowie den kalten Händen und Füßen berichtet. Außerdem treten bei den Betroffenen Herzrhythmusstörungen, niedriger Blutdruck, Unruhe, Schwäche und niedrige Körpertemperatur auf (vgl. Kock 2008: 15, Biedert 2008: 11, Jeong 2005: 12). Überdies führt die mangelhafte Nährstoffzufuhr zu trockener Haut und brüchigen Haaren (vgl. BZgA 2011: 43, Jeong 2005: 12). Bei schweren Fällen haben die Hormonstörungen die Flaumbeharrung im Nackenbereich und auf den Unterarmen sowie die Konzentrationsstörungen und Amenorrhoe zur Folge (vgl. Kock 2008: 15). Außerdem lassen sich in Fällen extremer Abmagerung Wasseransammlungen in den Beinen (Ödemen) erkennen (vgl. Jeong 2005: 12). Eine weitere mögliche physische Veränderung stellt die Osteoporose, eine Verringerung der Knochenmasse und –dichte, dar, die aufgrund vom Kalzium- und Vitamin-D-Mangel verursacht werden kann. Zudem können je nach Dauer der Erkrankung Wachstumsstörungen auftreten. Das Schlimmste dabei ist, dass sich beim chronischen Krankheitsverlauf das Wachstum in vielen Fällen nicht mehr nachholen lässt (vgl. BZgA 2011: 44).

2.1.2. Psychische Veränderungen

Neben den physischen wird die Magersucht von vielfältigen psychischen Veränderungen begleitet, die unter anderem das Essverhalten, den Bezug zu Essen und Gewicht, die Körperwahrnehmung, zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstwertgefühle, körperliche Aktivitäten sowie Leistungsorientierung betreffen (vgl. Kock 2008: 15 ff., Baeck 2007: 72 f., Vandereycken & Meermann 2003: 19 ff., Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Biedert 2008: 11).

Das auffällige Essverhalten und der Bezug zu Essen und Gewicht

Die Betroffenen haben panische Angst, zuzunehmen und deshalb wiegen sie sich ständig (vgl. Baeck 2007: 72). In manchen Fällen geschieht dies sogar zwanzig bis dreißig Mal am Tag (vgl. Gerlinghoff u.a. 1999: 84). Mit dem weiteren Fortschreiten der Anorexie übernimmt die Waage die Herrschaft über die Erkrankten. „Sie richtet über Gut und Böse, über Leistung oder Versagen, Freude oder Enttäuschung“ (ebd.: 83).

„Immer mehr Gefühle wurden durch Zu- und Abnahme von wenigen hundert Gramm, nicht Kilos, bestimmt“ (Zitat aus Gerlinghoff u.a. 1999: 134).

Obwohl das angestrebte Gewicht, das meistens bereits unterhalb der medizinischen Norm liegt, erreicht wird, wird hartnäckig weiter versucht, Kilos zu verlieren (vgl. Vandereycken & Meermann 2003: 20). Die Zufriedenheit mit dem erreichten niedrigen Gewicht hält nur kurz an und „in ihrem Bemühen, noch dünner zu werden, scheinen sie [die Betroffenen, Anm. O.B.] keine Grenzen zu kennen“ (ebd.).

Die Gedanken der Mädchen kreisen andauernd ums Essen. Sie zählen Kalorien, die sie zu sich nehmen und überlegen, wie sie noch mehr Kalorien einsparen können. Während sie mit Begeisterung meistens kalorienreiche Speisen für andere kochen und zubereiten, schränken sie ihr eigenes Essen extrem ein. Zwecks Gewichtsreduzierung erarbeiten sie einen speziellen Essplan und unterscheiden Nahrungsmittel zwischen „verbotenen“ und „erlaubten“ bzw. „gesunden“. Verboten sind zucker- und fetthaltige Lebensmittel, darunter auch Grundnahrungsmittel wie Brot und Nudeln. Sogar beim „erlaubten“ Joghurt wird der fettreduzierte, wenn überhaupt, verzehrt. Die erkrankten Mädchen haben immer alle möglichen Ausreden parat, um den gemeinsamen Mahlzeiten mit anderen auszuweichen und die Kontrolle nicht zu verlieren (vgl. Kock 2008: 16 ff., Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Vandereycken & Meermann 2003: 20 f., Biedert 2008: 11, Baeck 2007: 72). Hierzu eine Patientin:

„Ich vermeide Verabredungen, weil ich möglicherweise in Versuchung gerate, etwas zu essen“ (Zitat aus Cuntz & Hillert 2008: 53).

Die Betroffenen beteiligen sich gerne an den Gesprächen über das Essen, exquisite Restaurants und Gerichte, doch nur solange, bis es ihre eigene Nahrungszufuhr nicht betrifft. Sobald das Letztere geschieht, blocken sie ab oder fangen an, zu lügen. Sie verheimlichen von den anderen, wann, was und wo sie gegessen haben und ziehen es vor, alleine zu essen (vgl. Kock 2008: 20). Dabei lassen sie sich viel Zeit. Sie zerkleinern erstmals minutiös die Nahrung und sortieren sie dann auf ihren Tellern. Manche Mädchen wärmen nach jedem Bissen das Essen erneut auf, andere nehmen in großen Mengen Wasser und Salat zu sich, um den Hunger zu verdrängen (vgl. Cuntz & Hillert 2008: 55, Kock 2008: 20).

Die Körper-Schema-Störung

Die erkrankten Mädchen nehmen ihren eigenen Körper, besonders den Bauch, die Hüften und Beine, verzerrt wahr. Trotz des extremen Untergewichts fühlen sie sich zu dick. Kock spricht von dem Realitätsverlust in Bezug auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Je mehr die Betroffenen abnehmen, desto verzerrter wird ihre Wahrnehmung und desto größer die Angst vor dem Dick-Werden (Kock 2008: 15 f., Reich 2003a: 12). Neben dem Körper werden auch die Hunger- und Sättigungsgefühle gestört wahrgenommen (vgl. Kock 2008: 15).

„Ich habe mich nie als zu dünn empfunden, vor dem Zunehmen hatte ich Angst. Außerdem hatte ich auch Angst, dass ich nicht mehr aufhören kann zu essen, sobald ich damit anfange. Ich hatte kein Sättigungsgefühl …, wenn ich mich voll stopfte, dann hab´ ich gegessen bis mir der Magen wehtat“ (Zitat aus Kock 2008: 15).

Die körperlichen Aktivitäten, übermäßige Leistungsorientierung und keine Krankheitseinsicht

Ungeachtet des starken Untergewichts behaupten die erkrankten Mädchen und jungen Frauen, dass sie sich gut und fit fühlen. Sie bemühen sich bis zuletzt, überdurchschnittliche Leistungen zu vollbringen, sei es in der Schule, im Studium oder im Beruf. Geleitet von dem intensiven Wunsch, möglichst viele Kalorien zu verbrennen, treiben sie exzessiv Sport bis zur völligen Erschöpfung. Sie sind ständig in Bewegung, sodass sie für die Angehörigen nahezu „unverwüstlich“ erscheinen (vgl. Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Vandereycken & Meermann 2003: 21, Biedert 2008: 11).

„Sitze nie, wenn du stehen, stehe nie, wenn du gehen, gehe nie, wenn du laufen könnest“ (Cuntz & Hillert 2008: 54).

„Um Kalorien abzubauen und meinen Körper zu straffen, habe ich recht viel Sport getrieben. Es gab Zeiten, an denen ich jeden Tag im Fitness-Studio war und so lange irgendwelche Kurse mitgemacht habe, bis meine Beine aufgegeben haben […] und so kam es schon mal vor, dass ich mehrmals am Tag laufen war“ (Zitat aus Kock 2008: 19).

Außerdem zeigen die Betroffenen, zumindest zu Beginn, keine Krankheitseinsicht. Sie fühlen sich nicht krank und sehen deswegen keine Notwendigkeit, eine professionelle Hilfe aufzusuchen. So sind es häufig die Eltern oder andere Angehörige, die sich Sorgen um das erkrankte Kind machen und sich von kompetenten Fachkräften einen Rat holen oder mit aller Kraft versuchen, die Betroffenen dazu zu bewegen und zu motivieren, sich helfen zu lassen (vgl. Vandereycken & Meermann 2003: 21).

Sozialer Rückzug und Selbstwertproblematik

Aufgrund dessen, dass sich im Leben der Betroffenen mit der Zeit alles nur um das Essen dreht, gehen allmählich ihre sozialen Kontakte verloren. In den meisten Fällen führt es schließlich dazu, dass die Erkrankten sich immer mehr isolieren und abkapseln, bis sie irgendwann ganz alleine da stehen bzw. nur ihre Familie, eine beste Freundin oder den Partner an ihrer Seite haben (vgl. Kock 2008: 21, Cuntz & Hillert 2008: 54 f.). Je länger die Krankheit andauert, desto stärker ziehen sich die Betroffenen aus dem sozialen Leben zurück (vgl. Kock 2008: 21). Kock berichtete außerdem über die Veränderungen der Stimmung und des Selbstwertgefühls. Sie sprach von der depressiven und niedergeschlagenen Stimmungslage der Mädchen und von ihrem Empfinden, wertlos, nutzlos und unzureichend zu sein (vgl. Kock 2008: 22).

2.2. Epidemiologie

Was die Epidemiologie der Anorexie betrifft, wurden zahlreiche Studien diesbezüglich durchgeführt. Doch weil die Angaben von einer zur anderen wissenschaftlichen Untersuchung schwanken, bieten die Studien ziemlich divergierendes Datenmaterial, das keine eindeutige Aussage über Prävalenz* - bzw. Inzidenzraten* der Magersucht erlaubt. Insgesamt geht man davon aus, dass die Daten bezüglich der Häufigkeit von Anorexia nervosa eher unterschätzt werden und die Dunkelziffer sehr viel höher ausfällen dürfte (vgl. Hoek & van Hoeken 2003 zit. nach Wunderer & Schnebel 2008: 45, Keski-Rahkonen u.a. 2007 zit. nach Cierpka & Reich 2010a: 27).

Was allerdings die Verteilung zwischen den Geschlechtern anbelangt, herrscht Einigkeit darüber, dass von der Anorexia nervosa überwiegend Frauen betroffen sind. Das Geschlechterverhältnis liegt bei 10:1 (w:m) (vgl. Hoek / van Hoeken 2003 zit. nach Biedert 2008: 14).

Laut Reich nimmt die Erkrankung ihren Anfang häufig um die Zeit der Pubertät im Alter zwischen 14 und 18 Jahren (vgl. Reich 2003b: 9). Es gibt jedoch Betroffene, die bereits vor dem 10. bzw. erst nach dem 25. Lebensjahr an der Anorexia nervosa erkranken (vgl. Reich 2003b: 9, Cierpka & Reich 2010a: 28).

Während die Prävalenz für Mädchen und junge Frauen bei Jacobi u.a zwischen 0,2 % und 0,8 % (vgl. Jacobi u.a. zit. nach Richter 2006: 38) bzw. bei Löwe u.a zwischen 0,5 % und 1 % schwankt (vgl. Löwe u.a. 2004 zit. nach ebd.), liegt sie laut Biedert bei 14- bis 20-jährigen Mädchen zwischen 0 und 0,9 % und beträgt durchschnittlich 0,3 % (vgl. Biedert 2008: 13). Hudson u.a. bzw. Jacobi u.a. beziffern die Lebenszeitprävalenz* für die Magersucht mit 0,9% bzw. 1,3 % (vgl. Hudson u.a. 2007 zit. nach Cierpka & Reich 2010a: 28, Jacobi u.a. 2004 zit. nach Liechti 2008: 47 f.), wobei an dieser Stelle erwähnt werden muss, dass die bestimmten Risikopopulationen wie z.B. Sportlerinnen, Ballett­tänzerinnen oder Modells eine deutlich höhere Prävalenzrate aufweisen (vgl. Liechti 2008: 48, Brunner & Resch 2004: 571). Was die Inzidenzrate für Anorexie betrifft, liegt sie bei acht Erkrankungen pro 100 000 Einwohner im Jahr (vgl. Hoek 2006 zit. nach Biedert 2008: 13).

Letztlich lässt sich sagen, dass Magersucht zu der gefährlichsten Form der Essstörungen und der häufigsten Todesursache von jungen Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren gehört (vgl. Kamber 2005 zit. nach Liechti 2008: 47).

2.3. Komorbidität

Häufig weisen die Betroffenen neben den Kernsymptomen eine oder mehrere komorbide psychische Störungen auf (vgl. Biedert 2008: 15, Cierpka & Reich 2010a: 44). Milos u.a. kamen bei ihren Untersuchungen zu folgenden Ergebnissen: bei 17 % der untersuchten Frauen konnten keinerlei zusätzliche Komorbiditäten festgestellt werden, bei 15 % bzw. 12% war ausschließlich eine komorbide Störung der Achse I* bzw. II* zu finden und bei 56 % lagen Erkrankungen der beiden Achsen vor (vgl. Milos u.a. 2003 zit. nach Wunderer & Schnebel 2008: 39). Herpertz-Dahlmann und Mitarbeiter konnten ihrerseits bei einer Stichprobe jugendlicher Erkrankten über einen Katamnesezeitraum* von 10 Jahren eine Lebenszeitprävalenz von 92 % ermitteln (vgl. Herpertz-Dahlmann u.a 2001 zit. nach ebd.). Zu den am häufigsten auftretenden komorbiden Störungsbildern gehören affektive Störungen, Zwangs- und Angststörungen sowie bestimmte Persönlichkeitsstörungen (vgl. Jeong 2004: 12). Seltener entstehen bei den Erkrankten komorbide Suchterkrankungen. Die Schätzungen liegen bei 12 % bis 18 % (vgl. APA 2006 zit. nach Wunderer & Schnebel 2008: 41). Betroffen ist dann in erster Linie der bulimische Subtyp der Anorexia nervosa (vgl. ebd.).

2.3.1. Affektive Störungen

Bei Magersucht-Patientinnen kommen sehr häufig depressive Verstimmungen zum Vor­schein (vgl. BZgA 2011: 45, Cierpka & Reich 2010a: 44). Mindestens bei der Hälfte aller an Anorexia nervosa Erkrankten liegen depressive Stö­rungen vor bzw. waren bereits einmal aufgetreten (vgl. Fichter u.a. 2006 / Fichter & Quadflieg 2004 / Milos u.a. 2003 / O´Brien & Vincent 2003 zit. nach Wunderer & Schnebel 2008: 39). Cuntz & Hillert sprechen von 90 % der sich in Behandlung befindlichen Patientinnen, die die Symptome einer Depression aufweisen (vgl. Cuntz & Hillert 2008: 60). Es bestand einige Zeit sogar die Vermutung, dass es sich bei den Essstörungen um Varianten affektiver Störungen handelt. Doch dies konnte nicht nachgewiesen werden (vgl. Laessle 1989 zit. nach Jeong 2005: 13, Cierpka & Reich 2010a: 45).

Obwohl die erkrankten Mädchen oft die depressive Symptomatik zeigen, ist dies für Essstörungen nicht typisch. Die depressive Störungen können entweder gleichzeitig mit, nach oder aber auch vor dem Ausbruch der Erkrankung entwickelt werden (vgl. Cierpka & Reich 2010a: 45).

Biedert veröffentlichte folgende Prävalenzen affektiver Störungen im Allgemeinen: Punktprävalenz 21%, Lebenszeitprävalenz 64% und der Major Depression im Speziellen: Punktprävalenz 17%, Lebenszeitprävalenz 55% (vgl. Biedert 2008: 15).

2.3.2. Zwanghafte Züge und Zwangsstörungen

Nicht selten weisen Anorexie-Betroffene zwanghafte Züge und Zwangsstörungen auf, die oft auch nach der Normalisierung des Gewichts fortdauern (vgl. Krüger u.a. 2011 zit. nach Cierpka & Reich 2010a: 46). In der von Fichter u.a. 2006 durchgeführten Langzeitstudie lagen die Punktprävalenz von Zwangsstörungen bei 13 % und die Lebenszeitprävalenz bei 18 % (vgl. Biedert 2008: 15, Fichter u.a. 2006 zit. nach Wunderer & Schnebel 2008: 40). Kaye u.a. zufolge wurden die Zwangsstörungen häufiger bereits prämorbid entwickelt (62 %) als umgekehrt (38 %) (vgl. Kaye u.a. 2004 zit. nach Cierpka & Reich 2010a: 46).

[...]


[1] Fotos und kurze Informationen über die Betroffene siehe Anhang 1.

[2] 2 Fotos und kurze Informationen über die Betroffenen siehe Anhang 2 und 3.

* Die Erklärung des Begriffs siehe Glossar. Dies gilt auch für alle nachfolgenden Begriffe mit dem Stern-Zeichen.

[4] Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa nach ICD-10 und DSM-IV siehe Anhang 4.

[5] Siehe Anhang 4 (Fußnote) bzw. Anhang 5.

Fin de l'extrait de 89 pages

Résumé des informations

Titre
Die Bedeutung familiärer Strukturen bei der Entstehung der Magersucht
Université
University of Applied Sciences Ludwigshafen
Note
1,0
Auteur
Année
2012
Pages
89
N° de catalogue
V268831
ISBN (ebook)
9783656590477
ISBN (Livre)
9783656590460
Taille d'un fichier
1639 KB
Langue
allemand
Mots clés
Magersucht, Anorexia nervosa
Citation du texte
Oxana Bin (geb. Butenko) (Auteur), 2012, Die Bedeutung familiärer Strukturen bei der Entstehung der Magersucht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268831

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