„… meine Seele ganz vernichtet“: Fremdheit in Euripides‘ und Christa Wolfs Medea


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Begriffsklärung
1.1 Das Fremde als Interpretament der Andersheit
1.2 Die Objektivität des Fremden nach Georg Simmel
1.3 Fremdheit als nicht überschreitbare Differenzlinie
1.4 Innere Fremdheit

2. Konfigurationen der Fremde in Euripides‘ Medea
2.1 Prolog: Die Fremde als negativer Kontrast zur Heimat
2.2 Erster Auftritt: Medea als Fremde in Korinth

3. Fremdheit in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen
3.1 Ä… doch nur Wilde“: Fremdheit als nicht transzendierbare Differenzlinie
3.2 Medea: Repräsentantin einer ‚Kultur des Anderen‘
3.2.1 Das Frauenbild in Korinth und Kolchis
3.2.2 Zwischen Faszination und Ablehnung
3.3 Jason: der ‚Kolonisator‘

Schluss

Literaturverzeichnis

Quellen

Darstellungen

Einleitung

Der Medea-Mythos hat die Menschen seit jeher fasziniert. Überlieferungenzur Medea waren Ausgangspunkt für Gedichte, Theaterstücke, Gemälde,Romane und Opern. Sie alle haben den Stoff, je nach den Bedürfnissen ihreseigenen Zeitalters, verschieden zu akzentuieren oder modellieren gewusst.Der römische Dichter Ovid interessierte sich etwa vor allem für die Ähexenhafte Dimension“ der Geschichte, während sein römischer Landsmann Seneca Äungezügelter Rhetorik und Strömen von Blut“ besonderen Platz einräumte.1

Dabei blieb in den Verformungen des Mythos stets ein zentraler Kern bestehen, welcher von den Autoren gleichsam ummantelt wurde. Die wissenschaftliche Rezeption hat je nach Art dieser Ummantelung versucht, Medeainnerhalb eines kulturell und moralisch irgendwie akzeptablen Deutungsmusters zu positionieren: zwischen Frau und Mann, liebender Mutter undMörderin, Täterin und Opfer etc.2 Unter diesen dichotomen Begriffspaarenkommt der ÄDazugehörigkeit und Fremdheit“3 eine besondere Rolle zu. Bereits in der rezeptionsgeschichtlich bedeutsamsten Fassung,4 der des Athener Dramatikers Euripides, hat diese eine tragende Funktion.

Diese wird noch gesteigert in der neuesten und radikal umgestalteten Version des Mythos. In ÄMedea. Stimmen“ von 1996 stellt Christa Wolf dermordlüsternen Medea der antiken Fassung eine neue Medea entgegen. Dabei versucht sie, den Rahmen der reichen Überlieferung des Medea-Mythosnicht zu sprengen, sondern klug aus den vorhandenen Quellen und demStoff schöpfend eine alternative Möglichkeit des Mythos aufzuzeigen.5

Dabei wird man als Leser beständig mit der Fremde und Konstellationenvon Fremdheit konfrontiert. Denn Medeas Wirkungspotential liegt, wie Manfred Schmeling richtig gesehen hat, Äin der Komplexität der sie kennzeichnenden Fremdheitsmuster, in ihrer multiplen Alterität“.6 Sie repräsentiert geradezu eine ‚Kultur des Anderen‘. Dies ist nur zu verstehen, wennman sich mit dem kulturhierarchischen Denken in Korinth auseinandersetzt.Das soll gewissermaßen der Ausgangspunkt sein, von dem aus alles weitereerschlossen wird. Im Besonderen werden dabei Medeas Rolle als Frau inKorinth und ihre dortige zwischen den Polen Faszination und Ablehnungchangierende Stellung thematisiert. In einem letzten Kapitel wird die zweiteHauptperson, Jason, in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Ihm hatWolf eine Rolle zugedacht, die man aus einer postkolonialen Perspektivebetrachtet als die des Kolonisators bezeichnen könnte. Seine Form derWahrnehmung der Fremde ist bezeichnend für den Diskurs zur Fremdheit inKorinth.

Dabei regt Wolf auch ein Nachdenken über die Macht der Literatur an.Denn unser heutiges ÄMedea-Bild“ entspringt wesentlich dem Werk Euripides, das jedoch nicht den Mythos erschuf, sondern vielmehr umdeutete unddabei nahezu alle nachfolgenden Bearbeitungen auf die rachsüchtige Medeafestgelegt hat.7 Euripides ist es mithin zu verdanken, dass Medea alsKindsmörderin in unsere Kultur geradezu eingepflanzt wurde. Damit berührt Wolf eine Diskussion, die auch in der Geschichtswissenschaft unterdem Schlagwort des Äkulturellen Gedächtnisses“ in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurde.8 Wenn man daher Fremdheit in der Wolfschen Umdeutung des Mythos untersucht, berührt man damit auch die Frage, inwieweiteinige der zu untersuchenden Aspekte nicht bereits in der antiken Fassunggrundgelegt sind. Daher wird nach einer knappen Begriffsklärung im zweiten Kapitel die Konfiguration der Fremdheit bei Euripides am Beispielzweier Textauszüge analysiert.

1. Begriffsklärung

Dem Phänomen des ÄFremden“ eignen ebenso viele vorwissenschaftlichewie wissenschaftliche Definitionen. Je nach fachlicher Perspektive kanndabei das Fremde eine völlig andere semantische Bedeutung aufweisen. ImFolgenden sollen daher schlaglichtartig bestimmte für diese Arbeit relevanteAspekte erläutert werden.

1.1 Das Fremde als Interpretament der Andersheit

Ist von Ädem Fremden“ die Rede, so soll hier mit Wierlacher das Fremdegrundsätzlich Äals das aufgefaßte Andere, als Interpretament der Andersheitund Differenz“ gemeint sein.9 Der Zustand der ÄFremdheit“ soll als Nichtzugehörigkeit zu einer Personengruppe aufgrund von Kulturunterschieden(Differenz in Bezug auf Herkunft, Verhaltensweisen, Aussehen etc.) begriffen werden. Dabei wird die andere, fremde Kultur stets durch den Filter eigener kultureller Vorverständnisse und Vorbilder betrachtet. Daraus folgertauch, dass das Verstehen des Anderen immer auch auf Akten des Selbstverstehens beruht; die Konstitution des Fremden erfolgt mithin in einer ÄDialektik“10.

Je weniger starr dieser Prozess ist, umso mehr kann er den prüfenden Rückblick auf die Welt und unseren eigenen Selbstentwurf evozieren. KulturelleFremdheitserfahrung besitzt somit das Potential, mit möglichen Alternativenzur eigenen Lebenspraxis in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren. Wir werden sehen, dass dieser Aspekt vor allem in der Medea Wolfseine wichtige Rolle spielt.

1.2 Die Objektivität des Fremden nach Georg Simmel

Ein weiterer, eng damit zusammenhängender Punkt ist das, was der Philosoph und Soziologe Georg Simmel in Bezug auf den Fremden mit Äder besonderen Attitüde des ‚Objektiven‘“11 bezeichnet hat. Der Fremde ist für Simmel Äder Freiere“, der Ädie Verhältnisse vorurteilsloser“ übersehe, da erin seinem Denken und Verhalten Änicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedenzien gebunden [ist]“. Diese so aufgefasste Objektivität des Fremden bewirkt für Simmel auch, Ädaß ihm [dem Fremden, C.H.] oft die überraschendsten Offenheiten und Konzessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht werde, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält.“12

1.3 Fremdheit als nicht überschreitbare Differenzlinie

Fremdheit kann auch eine ethnisch-kulturelle Differenzlinie bedeuten, dieein Verständnis des Gegenübers verunmöglicht. Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Andere als Äprimitive, bizarre, and exotic“ angesehenwird.13 Dieses Denkschema lässt sich historisch durch sämtliche Epochenverfolgen und wird leider auch heute noch - bewusst oder unbewusst - appliziert. Der amerikanische Anthropologe Loring Danforth schreibt dazu:ÄThe gap between a familiar ‚we’ and an exotic ‘they’ is a major obstacle toa meaningful understanding of the Other, an obstacle that can only be overcome through some form of participation in the world of the Other.”14

1.4 Innere Fremdheit

Eine weitere Dimension, die Schmeling im Rahmen seiner These der Ämultiplen“ bzw. Äpotenzierten“ Fremdheit Medeas ausmacht, zielt in den psychologischen Bereich. Die innere Zerrissenheit der Figuren wird von ihmterminologisch als Äinnere Fremdheit gefasst“.15 Die Frage, die dem zugrundeliegt, ist, ob man sich selbst Fremd sein oder werden kann, oder zugespitzt mit Heinrich Böll gefragt, ob es Änicht Augenblicke [gibt], wo einemdie eigene Hand so fremd wird wie die eigene Wohnung“. Der Schriftsteller geht sogar so weit zu fragen, ob ÄVertriebenheit [nicht] der uns angemessen und zugemessene Dauerzustand [ist]“.16

2. Konfigurationen der Fremde in Euripides‘ Medea

Das Verständnis von Fremde und Fremdheit, wie Euripides es in seiner Medea-Deutung entwirft, wird besonders deutlich im Prolog und ersten AuftrittMedeas. Wesentliche Fluchtpunkte dieser Konfiguration sollen im Folgenden benannt werden.

2.1 Prolog: Die Fremde als negativer Kontrast zur Heimat

In der Tragödie wird das Verlassen des Herkunftslandes dezidiert negativdargestellt. So urteilt bereits Medeas Amme im Prolog: ÄErkannt hat dieElende durch ihr Missgeschick, was es bedeutet, zu verlassen väterlichesLand.“ (Z. 34 f.). ÄMissgeschick“ muss hier als negatives Fatum verstandenwerden, das sich darauf bezieht, dass Iason ihr ÄUnrecht“ (Z. 26) tut, indemer der Königstochter Medea, die ihm vorher zum Fließ verholfen hatte, zurZweitfrau deklassiert. Dadurch erkennt sie etwas, das von der Amme wieein allgemein gültiges Gesetz formuliert wird: die Heimat zu verlassen birgtauf lange Sicht nur Unglück. Gleichsam wie in einem Vorgriff auf die weiteren tragischen Ereignisse spricht die Amme diese Worte. In dieser Perspektive scheint alles Negative, das ihr in Korinth widerfährt, deutbar alsdirekte Konsequenz der Emigration. Damit avanciert mithin die Fremdeschlechthin zum negativ besetzten Gegenpol der Heimat. Die Sozialgeschichte scheint diese Logik zu bestätigen. Wer emigrierte, verließ einenSchutzraum, der gekennzeichnet war durch die in vormodernen Epochen sowichtige Unterstützung durch Freunde und Verwandte sowie heimische leges bzw. nomoi, die sich fundamental von anderen, fremden Orten unterscheiden konnten.

Eine Vorstellung von Heimat als fundamentalem Bestandteil des Lebensfindet man bei Euripides darüber hinaus an weiteren Stellen: so fragt beispielsweise der Chor, angesichts des von Kreon an Medea gestellten Ultima- tums, Korinth binnen eines Tages verlassen zu müssen, wohin Medea sich nun wenden wird: ÄZu welchem gastlichen Recht oder Haus oder Land als Bewahrer vor Übeln?“. Ähnlich wie bereits im Prolog gibt es hier die direkte Verbindung zwischen Gastrecht, Familie und einem (wohlgesonnenen) Land einerseits und dem Schutz vor Übeln andererseits. Im zweiten Chorlied wird dieser Gedanke ex Negativum noch einmal betont: ÄO Vaterland, o Häuser, niemals möchte ich ohne Bürgergemeinschaft sein, indem ich das Leben der Ausweglosigkeit friste, schwer hinzubringen, höchst erbarmenswert wegen seiner Qualen“ (Z. 645-647).

2.2 Erster Auftritt: Medea als Fremde in Korinth

Medea tritt aus ihrem Haus heraus und spricht zu den Frauen aus Korinth, um nicht als überheblich zu gelten, wie nämlich die es tun, Ädie [sich den] Blicken entziehn“ (Z. 216). In ihrer Rede kritisiert sie die negative Beurteilung allein aufgrund der äußeren Erscheinung:

Gerechtigkeit wohnt nämlich nicht in Augen Sterblicher, wenn jemand, eher er das Innre eines Menschen deutlich hat erkannt, vomAnblick her ihn hasst, obwohl ihm Unrecht angetan nicht war.(Z. 219-221)

Der Schluss liegt nahe, dass Medea, als einem anderen Kulturkreis entstammend, schon aufgrund einer äußeren Andersartigkeit keine Gnade inden Augen der Korintherinnen finden kann. Denn obwohl Medea in ihrerErmahnung generalisiert (Äviele von den Sterblichen“; Äjemand“ (Z. 214/15und Z. 219), ist klar, dass Medea von sich und den ÄFrauen aus Korinth“(Z. 212) spricht.

An dieser Stelle wird nun zum ersten Mal indirekt der zuvor von ihrer Amme beschriebene Wandel im Verhältnis zwischen der Kolcherin und der Korinther Bürgerschaft deutlich. Die Amme erzählt in ihrem Anfangsmonolog, dass die Bürger zu Beginn Gefallen an ihrer Neubürgerin kolchischer Herkunft hatten (Z. 11 f.). Dies jedoch habe sich ins Gegenteil verkehrt, denn Ä(…) jetzt ist feindlich alles“ (Z. 16).

[...]


1 Atwood: Christa Wolfs Medea, S. 69.

2 Vgl. Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 243 mit entsprechenden Nachweisen.

3 Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 243.

4 Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 245.

5 Vgl. ihre eigenen Ausführungen dazu in Wolf: Von Kassandra zu Medea, S. 15.

6 Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 246.

7 Die Medea-Tragödie von Euripides wurde - neben der Seneca-Version - zur wichtigstenGrundlage der späteren Rezeptionsgeschichte. Vgl. Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 245.

8 Vgl. etwa Fried: Historische Memorik.

9 Wierlacher: Kulturthema Fremdheit, S. 62.

10 Wierlacher: Kulturthema Fremdheit, S. 63.

11 Simmel: Vergesellschaftung, S. 510.

12 Simmel: Vergesellschaftung, S. 512.

13 Vgl. Danforth: Rituals, S. 5.

14 Vgl. Danforth: Rituals, S. 5f.

15 Schmeling: Multiple Fremdheit, S. 252.

16 Böll: Ich bin ein Deutscher: S. 176f.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
„… meine Seele ganz vernichtet“: Fremdheit in Euripides‘ und Christa Wolfs Medea
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Literatur und Fremdheit
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
26
Katalognummer
V269042
ISBN (eBook)
9783656600756
ISBN (Buch)
9783656600688
Dateigröße
1064 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
seele, fremdheit, euripides‘, christa, wolfs, medea
Arbeit zitieren
Christoph Heckl (Autor:in), 2008, „… meine Seele ganz vernichtet“: Fremdheit in Euripides‘ und Christa Wolfs Medea, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269042

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