Kein Thema ist in der Philosophie moralisch derart umstritten wie das der Abtreibung. So diskutiert auch DeGrazia in seinem Werk „Human Identity and Bioethics“ die Frage, ob Schwangerschaftsabbrüche vor dem fünften Monat moralisch vertretbar sind. Zur Rechtfertigung eines Abbruchs zieht DeGrazia McMahans Konzept des Time Relative Interests heran, um das stärkste moralische Argument gegen Abtreibung, Marquis‘ Future-Like-Ours Argument (FLOA)auszuschalten. Mit einer moralischen Zulässigkeit der Schwangerschaftsabbrüche vor dem fünften Monat würden 99% der Abtreibungen in den USA gerechtfertigt werden. Ist der Time-Relative-Interest Account (TRIA) aber wirklich dazu geeignet, einen frühzeitigen Schwangerschaftsabbruch zu legitimieren?
In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass die Rechtfertigung einer frühzeitigen Abtreibung mittels der TRIA zur Konsequenz hätte, dass auch die Kindestötung eine unvermeidliche Folge ihrer wäre. Da Kindesmord in der westlichen Gesellschaft als unzulässig angesehen wird, wäre dies bereits ein Grund, die TRIA zurückzuweisen. Gleichzeitig soll in dieser Ausarbeitung deutlich werden, dass anhand der TRIA auch keine Grenze zwischen frühzeitiger und später Abtreibung gezogen werden kann und ebenso späte Abtreibungen als moralisch rechtmäßig gelten würden. Resultierend muss eine frühzeitige Abtreibung anhand anderer Konzepte gerechtfertigt werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Die moralische Kontroverse der Abtreibung
2 Die Time-Relative Interest These und ihre Konsequenzen
2.1 Die moralische Rechtfertigung der Abtreibung via der TRIA
2.2 Die Time-Relative Interest These und Kindesmord
3 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Die moralische Kontroverse der Abtreibung
Kein Thema ist in der Philosophie moralisch derart umstritten wie das der Abtreibung. Sodiskutiert auch DeGrazia in seinem Werk ÄHuman Identity and Bioethics“ die Frage, obSchwangerschaftsabbrüche vor dem fünften Monat moralisch vertretbar sind (vgl. DeGrazia 2005,279-294).1 Zur Rechtfertigung eines Abbruchs zieht DeGrazia McMahans Konzept des TimeRelative Interests heran, um das stärkste moralische Argument gegen Abtreibung, Marquis‘Future-Like-Ours Argument (FLOA), auszuschalten.2 Mit einer moralischen Zulässigkeit derSchwangerschaftsabbrüche vor dem fünften Monat würden 99% der Abtreibungen in den USAgerechtfertigt werden (vgl. DeGrazia 2005, 279). Ist der Time-Relative-Interest Account (TRIA)3 aber wirklich dazu geeignet, einen frühzeitigen Schwangerschaftsabbruch zu legitimieren?
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Rechtfertigung einer frühzeitigen Abtreibung mittelsder TRIA zur Konsequenz hätte, dass auch die Kindestötung eine unvermeidliche Folge ihrerwäre. Da Kindesmord in der westlichen Gesellschaft als unzulässig angesehen wird, wäre diesbereits ein Grund, die TRIA zurückzuweisen. Gleichzeitig soll in dieser Ausarbeitung deutlichwerden, dass anhand der TRIA auch keine Grenze zwischen frühzeitiger und später Abtreibunggezogen werden kann und ebenso späte Abtreibungen als moralisch rechtmäßig gelten würden.Resultierend muss eine frühzeitige Abtreibung anhand anderer Konzepte gerechtfertigt werden.
2 Die Time-Relative Interest These und ihre Konsequenzen
2.1 Die moralische Rechtfertigung der Abtreibung via der TRIA
Zunächst soll eine kurze Zusammenfassung die Ausgangssituation DeGrazias verdeutlichen: DasFLOA besagt im Kern, dass das, was Töten moralisch falsch macht, wesentlich die Auswirkungauf das Opfer ist (Huther 2005, 2). Diese besteht bei der Tötung darin, dass dem Opfer seinewertvolle Zukunft inklusive allen persönlichen Projekten, Lebensgenüssen und bedeutungsvollenAktivitäten, die das Leben lebenswert machen, genommen wird (Marquis 1989, 189).
Demzufolge ist Mord ein schlimmes Verbrechen und verletzt den Menschen. Zugleich hat auch ein Fötus, genauso wie wir, eine kostbare Zukunft vor sich, wenn er erst einmal geboren ist. Aus diesem Grund ist die Abtreibung eines ungeborenen Kindes in gleicher Weise moralisch verwerflich wie die Tötung eines Menschen, denn in beiden Fällen werden die Opfer ihrer wertvollen Zukunft beraubt (vgl. BBC 2013).
Nach DeGrazias Argumentation folgen aus dem Future-Like-Ours Argument aber zwei Dinge, diedem gesunden Menschenverstand widersprechen: Zum einen würde der Tod einem Fötus,aufgrund der größeren quantitativen Beraubung seiner Zukunft, mehr Schaden zufügen als einemjungen Erwachsenen und zum anderen wäre es folglich unrechtmäßiger, einen Fötus zu töten, alseinen 20-Jährigen (vgl. Nichols 2012, 497). Die TRIA hingegen löst dieses kontrovers erscheinende Problem des FLOA, indem fokussiert wird, wie das Opfer zum Zeitpunkt seines Todespsychologisch mit seiner eigenen Zukunft in Verbindung steht. Wenn jemand, wie ein Säugling,zum Zeitpunkt des Todes eine relativ schwache Verbindung mit seiner Zukunft hat, so ist der Todzu diesem Zeitpunkt für denjenigen weniger von Bedeutung. Demnach wird der Erwachsene mehrdurch den Tod geschädigt als ein Neugeborenes und der Tod eines Kindes wäre folglich nicht sotragisch, wie der eines 20-Jährigen (vgl. Nichols 2012, 497). Entsprechend ist es auchunrechtmäßiger, einen Erwachsenen als ein ungeborenes Lebewesen zu töten, da der time-relativeinterest4 (TRI) des ersteren viel stärker und ausgeprägter ist (DeGrazia 2005, 287). Der Ansatz derTRIA erklärt also, warum ein Erwachsener mehr durch seinen Tod geschädigt wird als ein Fötusund kann gleichzeitig genutzt werden, um zu begründen, warum Schwangerschaftsabbrüchezulässig sind (vgl. Liao 2005, 3f.).
Um eine Abtreibung via der TRIA zu rechtfertigen, muss zunächst das Verhältnis zwischen demtime-relative interest und den psychologischen Fähigkeiten eines Menschen definiert werden(Liao 2005, 5).5 Demgemäß wird das Mindestniveau der psychologischen Leistungsfähigkeitäquivalent zu dem Mindestmaß des TRI angesehen.6 Diese Gleichsetzung stimmt mit McMahansAnsicht überein (Liao 2005, 6). Aus dieser Äquivalenz folgt, dass ein Lebewesen mit einemMindestniveau an seelischen Eigenschaften ein Mindestmaß an time-relative interest aufweist und gleichzeitig über einen stärkeren time-relative interest verfügt, als ein Lebewesen unterhalb dieses Niveaus. Konkret bedeutet dies, dass eine ältere Person, die ein Mindestmaß an psychologischen Fähigkeiten besitzt, aber nur noch wenige Minuten zu leben hat, immer noch einen stärkeren TRI hat als ein normales, gesundes Lebewesen, wie bspw. ein Hund, der weniger als das Mindestniveau psychologischer Qualitäten aufweist (Liao 2005, 5). Die Person besitzt also aufgrund ihrer ausgereiften psychologischen Fähigkeiten einen sehr starken TRI weiterzuleben, der, obwohl sie darin enttäuscht werden wird, stärker ist als der des Hundes, aufgrund seiner mental weniger ausgereiften Leistungsfähigkeit, je sein könnte.
Wenn diese zwei Grenzen also äquivalent sind, kann mittels der TRIA ein Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt werden, da die psychologische Leistungsfähigkeit eines Fötusses, wie z.B. dieeines Hundes, unterhalb des Mindestniveaus liegt und er somit auch weniger als das Mindestmaßdes time-relative interests vorweist, Äkilling (…) fetuses via abortion is therefore less wrong giventhat they have less than the minimum level of time-relative [interest], other things being equal”(Liao 2005, 6). Die Zulässigkeit einer Abtreibung aus der TRIA ergibt sich demnach wie folgt:
Tötung ist unrechtmäßig und nicht zulässig, wenn es Personen betrifft, Äcall this ‚the morality ofrespect‘7 “ (Liao 2005, 6). Um von diesem morality of respect eingeschlossen zu werden, mussein Lebewesen ein Mindestniveau an TRI besitzen (vgl. McMahan 2002, 260f.) Außerhalb desmorality of respect ist es nicht so falsch, Organismen zu töten und eher erlaubt (vgl. McMahan2002, 339). Da Föten, wie auch Tiere, weniger als das Mindestmaß des time-relative interestsaufweisen, fällt die Tötung von Föten logischerweise nicht unter den morality of respect. DieKonklusion lautet folglich: Föten abzutreiben bzw. umzubringen ist verhältnismäßig nicht sounrechtmäßig und eher zulässig, als eine erwachsene Person zu töten. Um dies in McMahansWorten zusammenzufassen:
If the possession of certain psychological capacities is what relevantly distinguishes us from animalsand so is the basis of respect, the developed fetus must fall outside the scope of the morality of respect,for it clearly does not possess the capacities that distinguish persons from animals (McMahan 2002,273).
Mittels der Time-Relative Interest These ist es also möglich, das stärkste moralische Argument gegen Abtreibung zu umgehen und einen Schwangerschaftsabbruch zu rechtfertigen. Allerdings sind die Auswirkungen dieser These enorm. So ist zum einen keine Grenze zwischen früher und später Abtreibung erkennbar und zum anderen, wie DeGrazia es bereits anführt, die Zulässigkeit der Kindestötung ebenfalls eine Folge der TRIA (vgl. DeGrazia 2005, 289f.). Letztere Konsequenz soll nachstehend erläutert werden.8
[...]
1 Eine Abtreibung vor dem fünften Schwangerschaftsmonat wird im Folgenden als frühzeitige Abtreibung/Schwangerschaftsabbruch bezeichnet. Die Grenze zwischen frühzeitiger und später Abtreibung ziehen DeGrazia und McMahan aufgrund der Eigenschaft, dass ein Fötus sich zwischen dem fünften und dem siebten Monat zu einem fühlendes Lebewesen entwickelt und sein Bewusstsein erlangt (vgl. DeGrazia 2005, 279).
2 Aus platztechnischen Gründen kann DeGrazias Argumentation nicht detailliert erläutert werden und Marquis‘ Konzept der FLOA sowie McMahans Time-Relative Interest Account werden folglich als bekannt vorausgesetzt.
3 Da Account aus dem Englischen stammt und somit keinen eindeutig zugewiesenen Artikel im Deutschen besitzt, wird dieses Wort im Folgenden mit These gleichgesetzt und entsprechend weiblich behandelt.
4 Da es keine knappe und angemessene Übersetzung des englischen Begriffs time-relative interest gibt, wird dieser im Folgenden mit seiner englischen Bedeutung weiterverwendet und als Maskulinum eingestuft.
5 Die Auswirkungen, falls dieses Verhältnis nicht definiert werden würde, würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen und sind folglich nicht aufgelistet.
6 Im Original lautet die Gleichsetzung: ÄHaving a minimum level of psychological capacities is equivalent to having a minimum level of time-relative interest” (Liao 2005, 5). Mindestmaß und Mindestniveau werden im Verlauf dieser Arbeit als Synonyme für minimum level verwendet. Um das Mindestmaß des TRI zu definieren wählt McMahan die rule of thumb (vgl. Liao 2005, 7). Demnach ist eszwar moralisch falsch Personen zu töten, aber weniger falsch manchen Tieren das Leben zu nehmen, wie z.B.Hunden. Daraus lässt sich schließen, dass diese nicht das Mindestniveau des TRI erreichen. Wenn diese Annahmerichtig ist, dann folgt daraus, dass einen Fötus zu töten, der verglichen mit einem Hund einen noch geringeren timerelative interest aufweist, noch weniger falsch ist (vgl. McMahan 2002, 194-203, 246-265). Siehe dazu S. 3 dieserArbeit.
7 Um nicht die Bedeutung zu verändern, wird dieser englische Begriff im Folgenden als Maskulinum übernommen.
8 Da eine ausführliche Auflistung und Erläuterung der Auswirkungen der TRIA den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, kann nur kurz die bereits erwähnte Folge des Kindesmords aufgelistet werden.
- Quote paper
- Lena Groß (Author), 2013, Die Time-Relative Interest These und ihre Konsequenzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269061