Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Das Phänomen der Freundschaft
2 Das Liebenswerte
3 Drei Arten der Freundschaft
3.1 Aristoteles‘ Vorgehen bei der Differenzierung der Freundschaftsarten
3.2 Freundschaft im akzidentellen Sinn
3.3 Vollkommene Freundschaft
4 Wer wird Freund?
5 Das Wesen der vollkommenen Freundschaft
5.1 Merkmale der vollkommenen Freundschaft
5.2 Selbstverhältnis des Tugendhaften
5.3 Der Freund als ein anderes Selbst
5.4 Verwirklichung der vollkommenen Freundschaft
6 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Das Phänomen der Freundschaft
Bereits vor mehreren hundert Jahren gelangte Aristoteles zu folgender Erkenntnis: „Ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße“ (Aristoteles 2010, 213), denn in einer Freundschaft findet der Mensch die höchsten und schönsten Güter des Lebens vereint (vgl. Pangle 2003, 1).
Das Phänomen der Freundschaft mit seiner Reichhaltigkeit und Komplexität war schon inder Antike ein angesagtes und fruchtbares Thema philosophischer Untersuchungen. Sowidmet auch Aristoteles der Analyse der Freundschaft zwei Kapitel in derNikomachischen Ethik, welche rund ein Viertel dieses Werkes ausmacht. Er klärt darinunter anderem die Fragen, ob Freundschaft bei allen entsteht und ob es nur eine Art derFreundschaft gibt.
Im Folgenden wird der Fokus auf Aristoteles‘ vollkommene Freundschaft gelegt, die ergleich zu Beginn seiner Untersuchung von zwei anderen Freundschaftsarten abgrenzt. ImVerlauf dieser Arbeit werden die Merkmale dieser Freundschaft und die Verwirklichungderer herausgearbeitet. Dazu werden zunächst die drei Gründe aufgelistet, warumMenschen sich lieben und befreunden und welche Formen der Freundschaft darausentstehen. Im Anschluss wird die Frage geklärt, welche Menschen sich überhauptmiteinander befreunden, um sodann zu verdeutlichen, warum die vollkommeneFreundschaft nur unter Tugendhaften möglich ist. Weiterhin wird Aristoteles‘ These desFreundes als anderes Selbst aufgegriffen und erläutert, da diese die höchste Stufe derFreundschaft beinhaltet. Zum Abschluss werden nochmals allgemeine Kennzeichen einervollkommenen Freundschaft beschrieben, die Aristoteles im Laufe seine Untersuchungherausgearbeitet hat.
2 Das Liebenswerte
Aristoteles steigt in die Thematik der Freundschaft mit dem ein, was Freunde tun, nämlichsie lieben. Es ist jedoch nicht alles Gegenstand der Liebe, sondern nur das „Liebens-werte“(Aristoteles 2010, 215), welches Aristoteles zum Ausgangspunkt seiner Analyse derFreundschaft macht. Es können drei Güter geliebt werden: Das Gute, das Angenehme und das Nützliche. Diese verschiedenen Güter werden allerdings auf unterschiedliche Weisen geliebt, die im Folgenden dargestellt sind.
So wird das Nützliche geliebt, um etwas Angenehmes oder Gutes zu erreichen. Demnach wird es als Mittel zur Erreichung eines Ziels geliebt, welches von ihm verschieden ist (vgl. von Siemens 2007, 30). Das Gute sowie das Angenehme sind nicht mehr aufeinander rückführbar und sind folglich bereits Ziele. Damit unterscheidet Aristoteles zwischen den Gütern, welche als Ziele geliebt werden und dem Gut, welches als Mittel zum Ziel geliebt wird. Wichtig ist anzumerken, dass Aristoteles hier nicht die Freundschaften unterscheidet, sondern lediglich die Struktur des Liebens erklärt.
Jeder Mensch hat nach Aristoteles einen Grund seinen Freund zu lieben. Da nur diese dreiGründe liebenswert sind, stellen sie bei ihm auch die Gründe des Liebens dar. Der Grunddes Liebens besteht also in dem Urteil, ob der Freund einem selbst für gut, angenehm odernützlich erscheint. Die Voraussetzung von etwas Liebenswertem an einem Menschen isteine „notwendige Bedingung“ (von Siemens 2007, 33) der Freundschaft. Gleichzeitig istaber auch wichtig festzuhalten, dass dies keine hinreichende Bedingung für eineFreundschaft ist, denn nicht jeder, der aus einem Grund liebenswert ist, ist automatischauch ein Freund.
Es sind nun die drei Gründe bekannt, aus denen die Menschen lieben und sich deshalbauch befreunden, wann aber sprechen wir von Freundschaft? Eine Freundschaft wieAristoteles sie versteht, beruht auf Gegenseitigkeit bzw. Wechselseitigkeit aller Elementeder Freundschaft (vgl. Pakaluk 2009, 472). Deshalb führt er hier die Gegenliebe und dieEigenschaft, dem anderen um seiner Person willen Gutes zu wünschen, an. Logischerweiseschließt dies die Liebe zu Gegenständen sofort aus. Von Freundschaft spricht man nun,wenn dieses Wohlwollen, so bezeichnet Aristoteles zu Beginn den Wunsch des Guten umder anderen Person willen, auf Gegenseitigkeit beruht und nach außen hin hervortritt (vgl.Aristoteles 2010, 216). Erst aus der Haltung des Wohlwollens heraus können Freundelieben. „Freundschaft besteht dann, wenn zwei (…) Menschen, weil sie liebenswert sind, ineinander einen Affekt der Liebe ausgelöst haben, und in [B]ezug auf diesen Affekt dieHaltung des Wohlwollens einnehmen“ (von Siemens 2007, 39). Freunde werden alsocharakterisiert als Menschen, die einander sichtbar Wohlwollen und Gutes wünschen undzwar wegen eines der genannten Güter des Liebenswerten (vgl. von Siemens 2007, 39).
3 Drei Arten der Freundschaft
3.1 Aristoteles‘ Vorgehen bei der Differenzierung der Freundschaftsarten
Aristoteles unterscheidet im Anschluss an das Liebenswerte unter drei, den liebenswertenGütern entsprechende Formen der Freundschaft. Die Art des Grundes des Liebensbestimmt indes die Form der Freundschaft, weil die Liebenden sich für das Guteswünschen, was sie aneinander lieben. Sein Vorgehen dabei ist eher metaphysisch alspsychologisch oder ethisch, er beginnt nämlich nicht mit einer psychologischenBehauptung oder der Einordnung der Freundschaft im Hinblick auf seine generelleethische Theorie (vgl. Pakaluk 2009, 472). Vielmehr beschäftigt Aristoteles sich in derNikomachischen Ethik damit, das Verhältnis zwischen Freundschaft und naturgemäßenWissenschaftstheorien sowie logischen Charakteristika des Klassifikationsschemasherauszustellen (vgl. Pakaluk 2009, 472).
3.2 Freundschaft im akzidentellen Sinn
Die ersten zwei Arten der Freundschaft, die Aristoteles vorstellt, sind Freundschaften im akzidentellen Sinn (vgl. Aristoteles 2010, 216ff.). Darunter versteht er eine Freundschaft, deren Motiv es ist, einen Vorteil für sich selbst zu erstreben. Man ist also nicht um des Freundes willen befreundet, sondern weil diese Freundschaft einem selbst ein Gut oder Lust verschafft. Entsprechend unterscheidet Aristoteles zwischen der Freundschaft, welche auf Lust basiert und jener, welche auf Nutzen basiert. Die Menschen, die der Lust wegen miteinander befreundet sind, lieben sich aufgrund dessen, was für sie selbst angenehm ist. Den Nutzenfreund liebt man wegen dem, was für einen selbst gut ist.
Beide Freundschaftsarten sind instabil und lösen sich schnell auf, denn die Eigenschaftenangenehm oder nützlich zu sein, kommen den Geliebten nicht notwendigerweise auf Dauerzu, vielmehr unterliegen diese Eigenschaften dem Wandel der Zeit (vgl. von Siemens2007, 43). Ist etwas dem Wandel unterworfen, so ist es infolgedessen nicht von Dauer.Deshalb ist, wenn das Liebenswerte in akzidentellen Eigenschaften besteht, „kein festesUrteil über den Geliebten möglich“ (von Siemens 2007, 43). Die Basis für dieseFreundschaft ist also unbeständig, denn der Liebende kann sich nicht darauf verlassen, dassder andere die Eigenschaft, wegen der er geliebt wird, beibehält. Gleichzeitig kann der
Geliebte sich nicht sicher sein, dass der Liebende in seinem Urteil über ihn konstant der gleichen Meinung bleibt. Ändern sich nämlich die Bedürfnisse des Liebenden, so verliert der Geliebte die Eigenschaft aus der er geliebt wurde. Eben weil diese Eigenschaften akzidentell sind, können sie verloren gehen. Aus diesem Grund kann sich in dieser Freundschaft kaum das notwendige Vertrauen einstellen.1 Akzidentelle Freundschaften sind also schwache und unbeständige Arten der Freundschaft.
Typisch sind die Lustfreundschaften für junge, affektgeleitete Menschen. Sie haben dieLust zum Ziel ihrer Freundschaft, „denn die Jugend lebt der Leidenschaft“ (Aristoteles2010, 217) und sie streben nach dem für sie Lustvollen. Im zunehmenden Alter dannwechselt häufig das, was ihnen Lust bereitet und so zerfallen diese Freundschaften auchrasch wieder.
Bei älteren Menschen hingegen finden sich vorwiegend Nutzenfreundschaften. NachAristoteles erstrebt man dann nicht mehr die Lust, sondern den Nutzen (vgl. Aristoteles2010, 217). Im Gegensatz zur Lustfreundschaft sind diese Personen nicht auf einZusammenleben eingestellt, sie sehnen sich nicht nach einander, sie müssen sich nichtmalsals angenehm empfinden, sondern fokussieren nur den Vorteil, auf den sie aus sind.
3.3 Vollkommene Freundschaft
Die vollkommene Freundschaft besteht allein um des Anderen willen, wegen seiner Personan sich. Vollkommene Freunde sind also keine Freunde im akzidentellen Sinn, „sondernweil jeder des anderen Wesensart liebt“ (Aristoteles 2010, 218). Der Grund des Liebensliegt somit in der Einschätzung des anderen als gut und tugendhaft. Der Geliebte ist aberauch unabhängig von dem Liebenden und seinen Bedürfnissen gut, er ist gut an sich (vgl.von Siemens 2007, 46). Cooper und von Siemens bezeichnen diese Freundschaft auch alsCharakterfreundschaft, da die liebenswerten Eigenschaften der Menschen, welche an sichgeliebt werden, Charaktereigenschaften sind und sich in diesen Eigenschaften realisiert,was der Mensch an sich ist (vgl. von Siemens 2007, 57).2 Deshalb macht es in dervollkommenen Freundschaft auch keinen Unterschied, ob der Mensch wegen seinerEigenschaften oder als Mensch geliebt wird.
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1 Vgl. dazu Verwirklichung der vollkommenen Freundschaft. Dort wird erklärt, warum Vertrauen ein notwendiger Bestandteil der Freundschaft darstellt.
2 Genauer ist dies in von Siemens 2007, 52-57 nachzulesen. In Anlehnung daran werden die BegriffeCharakterfreundschaft und vollkommene Freundschaft in der vorliegenden Arbeit als Synonyme verwendet.