Nationalsozialismus in einer Unterrichtsstunde. Objektiv-hermeneutische Analyse

Textinterpretation anhand objektiver Hermeneutik


Dossier / Travail, 2012

16 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Die Geschichte einer Jüdin als Unterrichtsgrundlage

2 Textinterpretation anhand Objektiver Hermeneutik
2.1 Kurze Darstellung und Erläuterung der Methode
2.2 Fallinterpretation

3 Bezugnahme zu Lumann

Anhang I

Anhang II

Literaturverzeichnis

1 Die Geschichte einer Jüdin als Unterrichtsgrundlage

In Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland wurde die Diskrepanz zwischen Juden und Nicht-Juden immer größer. Unter der Herrschaft von Hitler im Deutschen Reich wurde ein Hass gegen die Juden entwickelt, jedem eingebläut und von Kind an, vor allem in der Hitlerjugend bekräftigt. Freundschaften, welche schon jahrelang zwischen Menschen dieser einen Religion und anderen deutschen Mitbürgern bestanden, durften plötzlich nicht mehr existieren. Die jüdischen Menschen wurden als anders angesehen und mit einem Judenstern gekennzeichnet, um den Unterschied zu normalen Deutschen direkt offensichtlich darzulegen.

In einer 90-minütigen Unterrichtsdoppelstunde einer 12. Klasse einesGymnasiums wird das Thema des Nationalsozialismus/ Holocaust behandelt.1 Dieses Thema wird im Fach Geschichte das ganze Schulhalbjahrdurchgenommen, somit steht diese Unterrichtsstunde im Zusammenhang einergrößeren Lehreinheit.

Gegen Ende der Doppelstunde wird den Schülern ein Text von Richarz überjüdisches Leben in Deutschland ausgehändigt.2 Der Text aus dem Jahre1940/41 wird aus Sicht einer Jüdin, Marta Appel, Ehefrau des Rabbiners Dr.Ernst Appel geschrieben (vgl. Richarz, S.232f). Sie erzählt ihre Geschichte übereine Freundschaft zu Nicht-Juden in Zeiten des Nationalsozialismus imDeutschen Reich. Marta Appel traf sich ursprünglich seit sie nach Deutschlandgezogen war alle vier Wochen mit Freundinnen aus ihrer Heimatstadt Metz. Alsnun die Nazis alles dominierten, mied sie die Treffen und ihre Bekannten, umdiese nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Auf der Straße dann lud eine ihrerFreundinnen sie wieder explizit ein, an den gemeinsamen Treffen in ihremStammcafé teilzunehmen. Als Marta nach eigenen Zweifeln dort erschien, fandsie einen leeren Tisch vor. Sie beendet ihre Geschichte mit den Worten ÄWarumsollten sie riskieren, möglicherweise ihre Stellung zu verlieren, nur um mir zubeweisen, da[ss] Juden noch Freunde in Deutschland haben?“ (S.13). Marta nimmt es ihren früheren Freundinnen nicht übel, dass diese sie wohl aufgrund äußerer Umstände versetzt haben.

Nun soll in der Unterrichtsstunde über diese Erzählung diskutiert werden. Im folgenden Transkriptausschnitt aus dem Unterricht geht es um die Gründe, weshalb die Freundinnen nicht zum Treffen erschienen oder erscheinen konnten. Zudem wird von Seiten des Schülers nach den genauen Umständen des historischen Kontextes gefragt.

Sebastian: Herr Giese, warn die Judenfreunde genauso dann behandelt wie die (normalen) Juden auch? ((leise gesprochen))

(…)

Lehrer: (Das warn) ((leise gesprochen)) (--) Eher was Svenja anspricht mit der Angst spielt da sicher ne große Rolle. (3 Sek.) Gibt=s da noch andere Ideen dazu? Das war jetzt ne Frage an mich. Se// (Habt=er/ Jetzt) so=n bisschen abgelenkt.

Dieser Ausschnitt des Interaktionsprotokolls wird nachstehend mittels desVerfahrens der Objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann analysiert undinterpretiert.

2 Textinterpretation anhand Objektiver Hermeneutik

2.1 Kurze Darstellung und Erläuterung der Methode

Die objektiv-hermeneutischen Textinterpretation besteht aus einem Dreischnitt,welcher zum einen beinhaltet Geschichten zu erzählen, zum anderen Lesartenzu bilden und anschließend diese Lesarten dem tatsächlichen Kontextgegenüberzustellen (vgl. Wernet, S. 39-40). Die Interpretationsmethode derObjektiven Hermeneutik folgt durchgängig fünf Prinzipien: Kontextfreiheit,Wörtlichkeit, Sequentialität, Extensivität und Sparsamkeit, welche ebenso in dernachstehenden Fallinterpretation angewandt werden (vgl. Wernet, S.21).3

2.2 Fallinterpretation

Die ausgewählte Stelle aus dem Unterrichtsmitschnitt beginnt mit einer Frage von Seiten Sebastians, eines Schülers (Z.1-2). Um die Frage objektivhermeneutisch besser analysieren zu können, wird zunächst nur die Anrede „Herr Giese“ (Z.1) betrachtet.

Durch die förmliche Ansprache mit dem Nachnamen wird sofort deutlich, dasses sich um eine fremde, bereits mündige Person handeln muss, dieser mannicht so nahe steht, als sie per Du anzureden. Es gibt verschiedeneMöglichkeiten, bei denen jemanden mit ÄHerr [Nachname]“ angesprochen wird.Demnach könnte es sich hier um eine Anrede zwischen zwei Erwachsenenhandeln, welche auf gleicher Ebene zueinander stehen und sich höflichansprechen. Dies könnte zum Beispiel bedingt sein durch ein gemeinsamesArbeitsverhältnis oder Eltern gleichaltriger befreundeter Kinder. Die Ansprachekann verwendet werden, um Aufmerksamkeit für ein folgendes Anliegen zuerregen, welches positiv sowie negativ sein kann. Zudem kann dieseAnsprache auch in einer Diskussion verwendet werden, um jemanden zuunterbrechen und anschließend eigene Argumente vorzutragen. Weiterhin könnte diese Ansprache aber auch einer höher gestellten Person gelten, wiez.B. in einem Schüler- Lehrer-Verhältnis. Nicht auszuschließen ist auch, dasseine Person ihren vielbeschäftigten Chef anspricht, um mit diesem in einGespräch zu kommen; hier würde man die Ansprache im Zusammenhang miteiner Störung verwenden. Unabhängig von dem Kontext ist also völlig unklar, inwelchem Verhältnis Person A hier zu Person B steht. Deutlich wird dennoch,dass, wie bereits erwähnt, mittels dieser Ansprache die Aufmerksamkeit desanderen erregt werden soll oder jemanden unterbrochen beziehungsweisegestört wird.

Im ursprünglichen Kontext verwendet Sebastian im Unterricht für seinen Lehrer die Anrede ÄHerr Giese“, da er unverzüglich etwas ‚loswerden‘ möchte, wahrscheinlich ohne sich zu melden. Folglich wäre dies ein Regelbruch in der Schule, nämlich ein 'Reinrufen' in den Unterricht. Es lässt sich vermuten, dass Sebastian den Lehrer hier förmlich mit Nachnamen anspricht, um so zusätzlich den Regelverstoß zu mildern. Sebastians Intention wäre also die Aufmerksamkeit des Lehrers möglichst schnell zu erregen, um im Folgenden etwas zur aktuellen Thematik im Unterricht beizutragen.

Betrachten wir nun den der Anrede nachstehenden Satzteil: „(…) warn dieJudenfreunde genauso dann behandelt wie die (normalen) Juden auch?“ (Z.1- 2). Auffällig ist hier, dass gleich zweimal das Wort ÄJude“ verwendet wird, somit ist es schwierig, eine Geschichte abseits des faktischen Kontextes zu konstruieren. Ersetzen wir demnach die spezifische Bezeichnung Ädie Juden“ durch einen Platzhalter Äx“ wie es die Objektive Hermeneutik erlaubt, um einen neuen, alternativen Kontext zu erzeugen und der Kontextfreiheit gerecht zu werden. Demnach würde die Frage lauten ÄWarn die ‚x‘-Freunde genauso dann behandelt wie die (normalen) ‚x‘ auch?“

[...]


1 Das dazugehörige Transkript bis zu dem auf S. 4 ausgewählten Transkriptausschnitt ist im Anhang I, A1einzusehen.

2 Der vollständige Text befindet sich zum besseren Verständnis im Anhang II, A1.

3 Die genauere Erläuterung dieser Methode ist in Wernet, S. 21-52 nachzulesen und wird im Folgenden als bekannt vorausgesetzt.

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Nationalsozialismus in einer Unterrichtsstunde. Objektiv-hermeneutische Analyse
Sous-titre
Textinterpretation anhand objektiver Hermeneutik
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (Pädagogisches Institut)
Cours
Unterricht beobachten, rekonstruieren, initiieren
Note
1,0
Auteur
Année
2012
Pages
16
N° de catalogue
V269063
ISBN (ebook)
9783656601098
ISBN (Livre)
9783656601043
Taille d'un fichier
617 KB
Langue
allemand
Annotations
Der Anhang A1 wurde während des Seminars ausgeteilt, ist jedoch ohne Angabe von Quellen.
Mots clés
Nationsalsozialismus, Hermeneutik, objektiv-hermeneutische Analyse, Textinterpretation, objektive Hermeneutik, Luhmann, Niklas Luhmann
Citation du texte
Lena Groß (Auteur), 2012, Nationalsozialismus in einer Unterrichtsstunde. Objektiv-hermeneutische Analyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269063

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