Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Theoretische Basis
2.1 Ungleichheitsmarkscheide am Übergang zum Gymnasium
2.2 Ungleichheitserklärungsmodell nach Bourdieu
3. Analyse der sozialen Ungleichheitsstruktur am Übergang zum Gymnasium
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
1. Einleitung
Wenn sich Menschen weit genug von der reinen Not des Überlebens entfernt haben, können sie daran arbeiten, anderen Menschen das gleiche Glück zu ermöglichen. Die Wahrnehmung, die diesem Prozess implizit ist, bedeutet das Erkennen sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft. Ein Weg, Menschen, denen es schlechter geht, bessere Verhältnisse zu ermöglichen, liegt darin, ihnen den Zugang zu Bildung zu eröffnen oder zu erleichtern. In Gesellschaften, in denen dieser Schritt bereits weitreichend vollzogen wurde, zeigen sich jedoch neue Probleme wie beispielsweise, dass ein allen eröffneter Zugang zu Bildung nicht bedeutet, dass Bildung auch von allen in gleichem Maße und unter gleichen Bedingungen wahrgenommen werden kann.
Eine Möglichkeit derartige Ungleichheitsstrukturen zu erklären, ist Pierre Bourdieus Modell verschiedener Kapitalarten, die gesellschaftliches Handeln und gesellschaftliche Teilnahme beeinflussen sowie den Habitus eines Menschen maßgeblich mit bedingen. Da die Thematik der sozial bedingten Ungleichheit in schulischen Strukturen auch in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, soll diese Arbeit dazu einen Beitrag leisten, indem diese Ungleichheit anhand von Bourdieus Erklärungsmodell zu einem bestimmten Zeitpunkt der Bildungskarriere analysiert wird. Die zugrundeliegende Fragestellung diesbezüglich lautet: Wie lassen sich mithilfe von Bourdieus Kapital- und Habitusbegriff die Beeinflussung des Übergangs von der Grundschule zum Gymnasien durch soziale Ungleichheiten erklären?
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem Gymnasium, weil es die am stärksten besuchte Schulform der Sekundarstufe I darstellt und für eine vollwertige Teilhabe an der Gesellschaft immer mehr als selbstverständlich angesehen wird. Der Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe I wird dabei maßgeblich von sozialen Herkunftsbedingungen beeinflusst und eignet sich deshalb besonders für die Beantwortung der zugrundeliegenden Fragestellung. Zu diesem Zweck soll zunächst die theoretische Basis für eine analytische Betrachtung gelegt werden, indem die Wahl des Betrachtungszeitpunktes kurz genauer erläutert wird und anschließend Bourdieus Konzepte des sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals, des Habitus sowie des sozialen Feldes betrachtet werden. Die Zusammenführung dieser Betrachtungen und die Schlussfolgerungen hinsichtlich der gewählten Fragestellung erfolgen schließlich im vierten Kapitel dieser Arbeit, bevor die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal im abschließenden Fazit kanalisiert und nebeneinandergestellt werden. Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten werden keine geschlechtergetrennten Bezeichnungen für Personen gebraucht. Alle verwendeten Bezeichnungen verstehen sich stattdessen als geschlechtsneutral und umfassen sowohl weibliche als auch männliche Personen.
Als literarische Grundlage dieser Arbeit dienen vor allem Bourdieus (vgl. 1983; vgl. 1992; vgl. Bourdieu/Wacquant 1996) Werke zu seiner Theorie, die dazu vorliegenden Erläuterungen von Jurt (vgl. 2010) und Fröhlich (vgl. 1994) sowie der einschlägige Aufsatz von Maaz, Baumert und Trautwein (vgl. 2009) als maßgebliche Grundlage der Betrachtung der sozialen Ungleichheit.
Diese Arbeit reiht sich damit in das Feld der soziologischer Betrachtungen von Bildungsverläufen, der sozialen Ungleichheit und ihrer Auswirkungen sowie in die gerade in letzter Zeit wieder stark in den Vordergrund getretene Debatte der Chancengleichheit ein und bewegt sich demnach in einem äußerst politisch aufgeladenen Zusammenhang. Eine Auseinandersetzung mit der Thematik begann bereits in den 1960er-Jahren, wobei der Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe I immer mit im Vordergrund der Betrachtungen stand (vgl. Maaz/Baumert/Trautwein 2009: 16). Zusammengefasst kann der Forschungsstand seit dieser Zeit in drei Phasen unterteilt werden, die bei Maaz, Baumert und Trautwein (vgl. 2009: 16 ff.) detailliert nachzulesen sind.
2. Theoretische Basis
2.1. Ungleichheitsmarkscheide am Übergang zum Gymnasium
Die Tatsache, dass Ungleichheiten in und außerhalb des Bildungssystems bestehen, stellt für sich genommen noch kein negatives Faktum dar. Erst die Auswirkungen dieser Ungleichheiten legen offen, wo Probleme ihren möglichen Ursprung haben und somit Handlungsbedarf besteht. „[…] [E]in entscheidender Faktor für die Entstehung und Persistenz von Bildungsungleichheiten [sind] die Gelenkstellen von Bildungsverläufen […]“ (Maaz/Baumert/Trautwein 2009: 13; Änd. d. Verf.), da hier Bildungsentscheidungen von den Betroffenen im institutionellen Rahmen eines Bildungssystems getroffen werden müssen, die den weiteren Bildungsverlauf bestimmen und somit auch mit individuellen Herausforderungen und Schwierigkeiten der einzelnen Schüler verbunden sind. Für Boudon sind jene Bildungsentscheidungen das Ergebnis aus der gezeigten schulischen Leistung, den vorherrschenden Selektionsmechanismen und der familiären Bewertung von Bildung (vgl. Maaz/Baumert/Trautwein 2009: 14). Diese Selektionsmechanismen werden vor allem durch Übergangsbedingungen, wie dem Elternwillen, der Grundschulempfehlung oder leistungsbezogenen Voraussetzungen für den Zugang zur nächsthöheren Bildungsstufe und durch institutionelle Rahmenbedingungen des Bildungssystems bestimmt (vgl. Maaz/Baumert/Traut-wein 2009: 14). Daher haben diese Gelenkstellen maßgebliche Bedeutung für Allokations- und Selektionsprozesse, welche sich aufgrund schwacher Durchlässigkeit im Bildungssystem nur selten zu einem späteren Zeitpunkt revidieren lassen. Aus diesem Grund lassen sich Auswirkungen von Ungleichheiten an diesen Gelenkstellen besonders deutlich erkennen. Mit insgesamt fünf Gelenkstellen (siehe Anhang 01 – Bildungsbarrieren, S. 15), welche auch als Schwellen bezeichnet werden, können die Bildungsübergänge von der Grundschule bis zum Hochschulabschluss dargestellt werden (vgl. Isserstedt et al. 2010: 78-99). Für den hier gewählten Kontext ist die erste Schwelle, also der Übergang von der Grundschule an eine weiterführende Schule, wie in diesem Fall das Gymnasium, von Bedeutung, weil hier die Verteilung der Schüler auf unterschiedliche Schulformen erfolgt, wodurch Leistungsunterschiede, die sich bis zu diesem Zeitpunkt herausgebildet haben, deutlich sichtbar werden (vgl. Maaz/Baumert/Trautwein 2009: 18). Daher zeigten sich zu diesem Zeitpunkt vor allem bestehende Zusammenhänge mit der sozialen und ethisch-kulturellen Herkunft (vgl. Maaz/Baumert/Trautwein 2009: 18).
2.2. Ungleichheitserklärungsmodell nach Bourdieu
Dem Ungleichheitsverständnis von Bourdieu liegen vor allem drei Begriffe zugrunde: Kapital, Habitus und Feld. „Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß [sic!] nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist“ (Bourdieu 1983, S. 183; Änd. d. Verf.). Es repräsentiert das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Unterteilt wird das Kapital von Bourdieu in mehrere Arten: das ökonomische Kapital, das kulturelle und das soziale Kapital, wobei das kulturelle Kapital wiederum in inkorporiertem (kulturelle Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensformen), institutionalisiertem (Bildungstitel) und objektiviertem (Bücher, Gemälde) Zustand vorliegen kann (vgl. Bourdieu 1983: 184-190; siehe Anhang 02 – Kapitalformen nach Bourdieu, S. 16). Das soziale Kapital wiederum ist definiert als „[…] die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen [Hervorhebung im Original] gegenseitigen Kennens oder Anerkennes verbunden sind […]“ (Bourdieu 1983: 190; Änd. d. Verf.). Umfasst werden diese Kapitalarten von einer vierten Sorte, nämlich dem symbolischen Kapital, in welchem das Kapital in der Wahrnehmung wirksam wird (vgl. Bourdieu 1983: 187, 195). Es räumt dem Akteur dementsprechend einen „Kredit“ an Ansehen ein und kann als Anerkennung oder Legitimität der anderen Kapitalarten betrachtet werden (vgl. Bourdieu 1983: 187, 195). So benötigen beispielsweise Bildungstitel immer die Anerkennung durch andere Akteure, um als tatsächliche Machtmittel eingesetzt werden zu können. Selbiges gilt für ökonomisches Kapital. Großer Reichtum in einer bestimmten Währung kann nur gegenüber jenen Akteuren genutzt werden, welche diese Währung anerkennen. Daher versuchen Menschen so viel Kapital wie möglich für sich zu akkumulieren, was allerdings mit Zeitaufwand verbunden ist (vgl. Bourdieu 1983: 183).
Den Kapitalbegriff nicht nur ökonomisch, also im Sinne von wirtschaftlichen Austauschprozessen, zu verwenden, empfindet Bourdieu als relevant, weil die gesamtgesellschaftlichen Austauschprozesse sonst lediglich auf den Warenaustausch reduziert werden würden (vgl. Bourdieu 1992: 50). Nichts destotrotz erkennt Bourdieu an, dass diese wirtschaftliche Dimension des Kapitals einen hohen Machtfaktor in sozialen Beziehungen darstellt (vgl. Bourdieu 1992: 51), da die verschiedenen Kapitalarten in gewissen Ausmaßen ineinander transformiert werden können, wobei das ökonomische Kapital eine Primärstellung genießt und die Umwandlung unter dem ökonomischen streben nach möglichst geringen Kosten stattfindet (vgl. Bourdieu 1992: 51; Bourdieu 1983: 197; siehe Anhang 03 – Kapitalumwandlung, S. 17).
Die wohl deutlichste Transformation einer Kapitalsorte in eine andere findet bei dem Erwerb objektivierten kulturellen Kapitals durch ökonomisches Kapital statt: ein Gemälde kann durch Geld gekauft werden. Zur Kapitalumwandlung muss ein mehr oder weniger großer Aufwand an Transformationsarbeit geleistet werden, um in dem jeweiligen Bereich die wirksame Machtform zu generieren (vgl. Bourdieu 1983: 195). So können bestimmte Güter beispielsweise nicht durch ökonomisches Kapital erlangt werden, wenn nicht auch ein notwendiges Maß an sozialem Kapital vorhanden ist. Das soziale Kapital kann dabei einen Multiplikatoreffekt ausüben, da ein Netz aus Beziehungen zu anderen Akteuren immer auch mit deren eigenem Netz verknüpft werden kann.
Der Habitus ist der zweite Begriff, welcher zur Erklärung von Ungleichheit beiträgt und stellt ein theoretisches Konzept dar, dass menschliche Dispositionen und Praktiken sowohl begründet als auch aus ihnen hervorgeht. Es ist ein „[…] System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu praktischem Handeln […]“, „[…] Prinzip beschränkter Erfindung […]“ sowie ein „[…] kohärentes System von Handlungsschemata […]“ (Fröhlich 1994: 38). Auf der Ausgangsannahme aufbauend, der Mensch sei kein völlig freies Subjekt sondern ein gesellschaftlich geprägter Akteur, gewährleistet der Habitus eine aktive und unbewusste Präsenz früherer Erfahrungen und stellt damit die „[…] dauernde Beschaffenheit einer Person […] [dar,] die nicht ursprünglich, sondern erworben ist und so zu einer zweiten Natur wird […]“ (Jurt 2010: 8; Änd. d. Verf.). In einfachen Worten: Der Habitus ist die Gesamtheit an Fähigkeiten, Fertigkeiten, Handlungsweisen, Wahrnehmungsmöglichkeiten, Erwartungen und Denkschemata eines Menschen und gründet sich auf die im jeweiligen Umfeld gemachten Erfahrungen. Darüber hinaus bringt der Habitus auch unterschiedliche Klassifikationsschemata für die Handlungen anderer hervor (vgl. Jurt 2010: 12). Das Erlernen von Praxis erfolgt dabei auf vorbewusster Ebene statt auf der des Unterrichts, weshalb die im Elternhaus erworbenen Schemata tiefer verankert sind und sehr viel natürlicher erscheinen, als jene, die ein Akteur in der Schule vermittelt bekommt (vgl. Weische 2000). Hierin könnte wiederum der Grund zu suchen sein, dass „[…] den meisten Menschen bestimmt ist, auf Umstände zu treffen, die in Einklang mit denjenigen Umständen stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben, also Erfahrungen zu machen, die dann wieder ihre Dispositionen verstärken“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 167 f.; siehe Anhang 04 – Der Habitus, S. 18).
Ein primärer Habitus wird dabei durch die Sozialisation in der Familie also die Verinnerlichung des Äußeren ausgebildet (vgl. Jurt 2010: 11). Dieser Theorie nach sind es jene verinnerlichten „[…] Denk- und Handlungsweisen, die mit dem sozialen Status der Eltern in Zusammenhang stehen […]“ (Jurt 2010: 11), die spätere Entscheidungen begründen. Die Annahme der Theorien des Homo oeconomicus einer rationalen Berechnung der Erfolgswahrscheinlichkeit wird hingegen ausgeschlossen.
Die Ausbildung eines sekundären Habitus findet durch die Sozialisation in der Schule statt (vgl. Jurt 2010: 11). Hier wird der primäre Habitus verstärkt oder modifiziert (vgl. Jurt 2010: 11). Das zeigt wiederum, dass der Habitus kein starres Konzept ist, auch wenn er immer auf vergangene Erfahrungen aufbaut (vgl. Jurt 2010: 11). Diese Prägen ihn stets, paralysieren ihn aber nicht (vgl. Jurt 2010: 11).
Nach Krais und Gebauer (2002: 64) erfolgt der Erwerb des Habitus üblicherweise „[…] als mimetisches Lernen [...], als praktisches, körperlich-sinnliches Tun in der Interaktion mit anderen […]“. Dieses Lernen steht dabei „[…] weitgehend unabhängig von intentionalen pädagogischen Bemühungen und außerhalb der Institutionen des Bildungsund Erziehungssystems […]“ (Meuser 2006: 165). Das bedeutet, dass sich der Habitus durch die Sozialisation innerhalb einer Gruppe durch stetige Nachahmung selbst reproduziert, solange sich das Umfeld der Kinder, hinsichtlich der Menschen von denen sie lernen können, nicht ändert.
Seine alltagspraktische Umsetzung findet der Habitus im dialektischen Verhältnis zum dritten hier relevanten Begriff: dem sozialen Feld (vgl. Tieben 2003) Die internen und subjektiven Habitusstrukturen stellen die eine Seite der Praxis dar, während die sozialen Felder die externen, objektiven Strukturen bilden (vgl. Tieben 2003). Felder sind strukturierte Räume, in denen die Praxis, welche vom Habitus hervorgerufen wird, stattfindet (vgl. Tieben 2003). Als Beispiel wäre hier das Feld der Bildung zu nennen oder, mikrosoziologisch gefasst, das Feld der Universität (vgl. Weische 2000). Habitus und Feld sind miteinander verbunden (vgl. Jurt 2010: 15). Das Feld bietet die objektiven Chancen für das, was im Habitus als Disposition angelegt ist (vgl. Weische 2000). Somit strukturiert das Feld den Habitus, während der Habitus das Feld bedingt (vgl. Weische 2000). Die jeweiligen Bedingungen des Feldes müssen denen, unter denen der Habitus eines Akteurs ausgebildet wurde, zumindest analog sein, damit das soziale Feld für den Akteur als „natürlich“ erscheint (vgl. Weische 2000). Andernfalls würden sich Habitus und soziales Feld widersprechen, wodurch der Habitus als Handlungsgrundlage nicht mehr verwendet werden könnte und dieser beispielsweise von bewusstem, rationalem Kalkül abgelöst wird (vgl. Weische 2000). Auf diese Weise können bestimmte Verhaltensweisen je nach sozialem (Um-)Feld unterschiedlich aufgefasst werden und jeweils ganz anders geartete Reaktionen hervorrufen. Als derartige Auffassungen und Reaktionen werden auch unterschiedliche Klassifizierungsschemata betrachtet, die vom Habitus je nach Feld hervorgebracht werden (vgl. Jurt 2010: 15).
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