Strafrecht AT 1


Skript, 2002

46 Seiten


Leseprobe


1. Teil: Das Recht der Straftat

A. Deliktstypen

Die Straftatbestände des Besonderen Teiles des StGB lassen sich in verschiedene Deliktstypen einteilen. Diese Einteilung erfolgt nach der Struktur der Delikte, also anhang von Tatbestand und Rechtsfolge.

I. Grundlagen

Jeder Straftatbestand besteht – wie jede Rechtsnorm – aus dem Tatbestand und der Rechtsfolge. Der Tatbestand ist der Teil einer Norm, der die Voraussetzungen für den Eintritt einer Rechtsfolge formuliert. Die Rechtsfolge ist der Teil einer Norm, der den Rechtsbefehl enthält. Am Beispiel des § 223 I StGB bedeutet dies: „Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt [= Tatbestand], wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft [= Rechtsfolge] .“ Als weiteres Beispiel sei § 32 I StGB genannt: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist [= Tatbestand], handelt nicht rechtswidrig [= Rechtsfolge].“ Im Gegensatz zum zivilrechtlichen Gutachten ist die Rechtsfolge bei der strafrechtlichen Bewertung eines Verhaltens im Studium regelmäßig von untergeordneter Bedeutung.

II. Die einzelnen Deliktstypen

Die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teiles des StGB lassen sich in folgende Typen einteilen, ohne daß sich diese jeweils gegenseitig ausschließen.

1) Verbrechen und Vergehen

Die erste Unterteilung orientiert sich nach der Rechtsfolge. Ein Delikt ist ein Verbrechen, wenn es im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist: § 12 I StGB. Beispiele: §§ 249 I, 212 I StGB. Alle übrigen Delikte sind Vergehen (§ 12 II StGB). Die Unterscheidung ist relevant für die Versuchsstrafbarkeit (§ 23 I StGB) und die Zuständigkeiten am Amtsgericht (§§ 24 I, 25 GVG).

2) Vollendete und versuchte Delikte

Sind alle tatbestandlichen Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt, ist die Tat vollendet. Bleibt dagegen ein Merkmal aus oder verwirklicht der Täter keine der Voraussetzungen eines Straftatbestandes, kann es sich allenfalls um ein versuchtes Delikt handeln. Der Versuch eines Deliktes ist bei Verbrechen stets und bei Vergehen nur dann strafbar, wenn es das Gesetz ausdrücklich vorsieht (§ 23 I StGB).

3) Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte

Bei den Erfolgsdelikten wird im Tatbestand der Eintritt eines bestimmten Erfolges in der Außenwelt vorausgesetzt. So verlangt § 223 I StGB einen Erfolg, nämlich die körperliche Mißhandlung oder die Gesundheitsbeschädigung. § 212 I StGB setzt den Tod des Opfers voraus. Es handelt sich demnach um Erfolgsdelikte. Zu beachten ist, daß nur bei den Erfolgsdelikten die Kausalität und die objektive Zurechnung des Erfolges erforderlich sind, während dies bei den Tätigkeitsdelikten naturgemäß nicht notwendig ist. Denn nur bei den Erfolgsdelikten stellt sich die Frage, obd er eingetretene Erfolg auch auf der Tathandlung des Täters beruht, während bei den Tätigkeitsdelikten die Tathandlung selbst schon das strafwürdige Unrecht darstellt und ein weitergehender zurechenbarer Erfolg nicht vorausgesetzt wird. Bei den Tätigkeitsdelikten reicht vielmehr die bloße Vornahme der im Tatbestand beschriebenen Tätigkeit, ohne daß dadurch ein bestimmter Erfolg bewirkt werden muß. § 316 I StGB z.B. verlangt nur das Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr im fahruntüchtigen Zustand. Es handelt sich um ein Tätigkeitsdelikt.

4) Erfolgsquaifizierte Delikte

Bei den sog. erfolgsqualifizierten Delikten wird unter erhöhte Strafe gestellt, daß durch die Verwirklichung eines Grunddeliktes ein weiterer Erfolg (die schwere Folge, § 18 StGB) eingetreten ist. Diese kann vorsätzlich oder fahrlässig verursacht werden (§§ 226 I, 18 StGB). Hinsichtlich der schweren Folge reicht dabei die Verwirklichung der mit dem Grunddelikt typischerweise anhaftenden Gefahr (z.B. § 227 StGB).

5) Verletzungs- und Gefährdungsdelikte

Bei den Verletzungsdelikten muß eine Schädigung des Handlungsobjekts mit realer Werteinbuße eingetreten sein. Es handelt sich demnach stets auch um Erfolgsdelikte. Dagegen reicht bei den Gefährdungsdelikten schon die Herbeiführung einer konkreten (= konkretes Gefährdungsdelikt, § 315 b StGB) oder einer abstrakten (= abstraktes Gefährdungsdelikt, § 316 I StGB) Gefahr.

6) Begehungs- und Unterlassungsdelikte

Die meisten Tatbestände des StGB stellen Begehungsdelikte dar. Ausnahme sind die echten Unterlassungsdelikte (§§ 123 I Alt.2, 323 c, 138 I StGB). Dagegen können unechte Unterlassungsdelikte nur durch Garanten begangen werden (§ 13 StGB). Es ist daher stets sorgsam zu prüfen, ob ein Straftatbestand durch aktives Tun oder durch pflichtwidriges Unterlassen verwirklicht wurde.

7) Allgemein- und Sonderdelikte

Allgemeindelikte können durch jedermann begangen werden. Dies erkennt man aus der Formulierung des Tatbestandes („Wer“). Dagegen können Sonderdelikte nur durch einen bestimmten Täterkreis verwirklicht werden. Soweit diese besondere Subjektsqualität die Strafbarkeit begründet, spricht man von echten Sonderdelikten (Bsp.: §§ 331 ff. StGB). Schärft die besondere Subjektsqualität dagegen die Strafe, spricht man von unechten Sonderdelikten (§ 340 StGB). Wichtig ist diese Unterscheidung für den Bereich der Täterschaft und Teilnahme (§ 28 StGB). Täter eines Sonderdeliktes kann nur eine Person sein, welche auch die besondere Subjektsqualität aufweist, während übrige Beteiligte stets nur Teilnehmer sein können.

8) Eigenhändige Delikte

Eigenhändige Delikte können nur durch den Handelnden selbst vorgenommen werden. Der Tatbestand beschreibt dabei eine Handlung, die ein unmittelbares Handeln voraussetzt (§ 153 StGB = Aussagen; § 142 I StGB = Entfernen). Diese Delikte können daher nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden. Auch Mittäterschaft scheidet aus, soweit der Mittäter nicht selbst handelt. Dadurch entstehende Strafbarkeitslücken hat der Gesetzgeber zu schließen (§ 160 StGB).

9) Dauer- und Zustandsdelikte

Dauerdelikte sind mit der Vornahme der tatbestandlichen Handlung vollendet und mit deren Abschluß beendet. So ist die Freiheitsberaubung mit der Fesselung vollendet, mit der Befreiung dagegen beendet. Bis dahin dauert das Delikt an. Dagegen reicht bei den Zustandsdelikten die Herbeiführung des Zustandes, so daß diese Delikte sofort auch beendet sind. Bei der Körperverletzung ist die Tat mit dem Schlag ins Gesicht vollendet und auch beendet. Da Dauerdelikte über einen größeren Zeitraum andauern können, treffen sie ggf. mit späteren Taten zusammen, was für die konkurrenzrechtliche Beurteilung wichtig sein kann. So kann ein Dauerdelikt Taten, die auf mehreren Handlungen beruhen, zu einem einheitlichen Geschehen verklammern.

10) Unternehmensdelikte

Bei den Unternehmensdelikten wird ein Verhalten, das eigentlich in den straflosen Bereich der Vorbereitungshandlung einer Tat fällt bzw. in das Versuchsstadium, bereits als tatbestandliche Handlung erfaßt, so daß diese Tat vollendet ist (Bsp.: § 307 StGB). Da § 24 StGB hier weitgehend leerläuft, bestehen die Sonderregelungen über die Tätige Reue, die rücktrittsähnliche Vorschriften enthalten (vgl. § 306 e StGB).

III. Zusammenfassung

Die Einteilung des Delikte in die genannten Typen ist keine starre Einteilung. Jedes Delikt kann mehrere Typen in sich vereinen. So kann ein Tätigkeitsdelikt auch ein abstraktes Gefährdungsdelikt sein. Zudem handelt es sich um ein Begehungsdelikt, das ggf. als versuchte Tat vorliegt. Schließlich kann es sich um ein Allgemeindelikt handeln.

B. Überlick

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

C. Der Inhalt des Strafrechts

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

D. Grundlagen der Auslegung von Straftatbeständen

In Art. 103 II GG, § 1 StGB, Art. 7 I EMRK ist das Verbot der strafschärfenden Analogie geregelt. Von einer Analogie spricht man, wenn ein Tatbestand ein Verhalten nicht erfaßt. Es kommt also zu einer planwidrigen – vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten – Regelungslücke. Mit Hilfe eines vom Regelungsgehalt ähnlichen Tatbestand wird dieses Verhalten jedoch analog erfaßt. Ein Straftatbestand darf jedoch nicht zuungunsten des Täters über seinen Wortlaut ausgedehnt oder ein nicht bestehender Straftatbestand geschaffen werden. Im Strafrecht gewinnen daher die Auslegungsgrundsätze besondere Bedeutung:

- grammatische Auslegung (natürlicher und juristischer Sprachgebrauch)
- historische Auslegung (Entstehungsgeschichte des Gesetzes)
- systematische Auslegung (Systemzusammenhang der Normen)
- teleologische Auslegung (Schutzfunktion und Zweck des Gesetzes)

Zunächst hat eine Auslegung am Wortlaut zu erfolgen. Von besonderer Bedeutung ist auch die teleologische Auslegung, die zur Ermittlung der Schutzfunktion einer Strafnorm von erheblicher Bedeutung ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

E. Der Nulla-Poena-Grundsatz

Der in Art. 103 II GG enthaltene Nulla-Poena-Grundsatz (nullum crimen, nulla poena sine lege) ist für das Strafrecht von großer Bedeutung. Er besagt, daß zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat das Verhalten von einem gesetzlich geregelten Straftatbestand erfaßt werden muß. Immanent ist dem Nulla-Poena-Grundsatz der Vertrauensschutz. Strafe ist der Vorwurf normwidrigen Verhaltens anstelle normgerechten Verhaltens. Nur wenn das Verhalten aber gesetzlich verboten ist, kann der Täter das Unrecht seiner Tat erkennen:

NULLA POENA SINE LEGE...

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

F. Straftheorien

Bei der Frage, welche Zwecke mit dem Strafen verbunden werden sollen, bestehen sehr unterschiedliche Konzepte:[1]

1. Absolute Straftheorien

Die Vertreter der absoluten Straftheorien sehen in der Kriminalstrafe eine Sühnefunktion. Der Straftäter solle sich mit sich selbst und der verletzten Rechtsordnung versöhnen und so seine personale Würde wiedererlangen (Sühnetheorie). Demgegenüber stellt die Vergeltungstheorie nicht auf die Erreichung eines bestimmten Strafzweckes ab, sondern sieht in der Strafe eine Zufügung von Leid gegenüber einem Rechtsbrecher, die in sich von Wert sei.

2. Relative Theorien

Die Vertreter der relativen Straftheorien lassen sich in zwei Hauptaspekte trennen. Zum einen erblicken die Verfechter der generalpräventiven Straftheorie den Zweck der Strafe in der Abschreckung Dritter (negative Generalprävention), zum anderen soll die Strafe das Kollektivbewußtsein der sittlich aufrechten Mitglieder stärken und damit Rechtstreue erzeugen (positive Generalprävention). Der Schwerpunkt des Strafzwecks liegt also außerhalb des Täters, nämlich in der gesellschaftlichen Wirkung der Strafe.

Demgegenüber stellen die Vertreter der spezialpräventiven Straftheorie auf die Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter (negative Spezialprävention), die Abschreckung des Täters vor weiteren Taten und auf eine Resozialisierung des Täters (positive Spezialprävention) ab. Im Gegensatz zur Generalprävention liegen die verfolgten Strafzwecke beim Täter oder seinem Umfeld.

3. Vereinigungstheorien

Da keine dieser Theorien den gesamten Strafzweck erfassen kann, haben sich Theorien entwickelt, die beide Straftheorien zu einer Vereinigungstheorie verbinden. Prävention und zweckfreier Schuldausgleich werden zu einer Theorie verbunden.

4. Übersicht

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

G. Das System der Straftat (Übersicht)

Im folgenden wird das für das gesamte Studium wichtige System des vorsätzlichen Begehungsdeliktes dargestellt. Es enthält zahlreiche Prüfungspunkte, die aber nicht alle zu prüfen sind. Die meisten Topoi sollten nur angesprochen werden, wenn der Sachverhalt dafür hinweise enthält.

Grundlage: Menschliches Handeln (Als Handlung ist jedes menschliche Verhalten anzusehen, das der Bewußtseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist (z.B. nicht Reflexe oder Handlungen im Schlaf).

I. Tatbestandsmäßigkeit

1) Objektiver Tatbestand

a) Tatbestandsmerkmale (Tathandlung, Tatobjekt)

b) Kausalität und objektive Zurechnung

2) Subjektiver Tatbestand

a) Vorsatz bezüglich der objektiven Tatbestandsmerkmale

aa) dolus directus 1. Grades (Absicht)

Wissen: für möglich halten

Wollen: um zu

bb) dolus directus 2. Grades (Wissentlichkeit)

Wissen: sicher

Wollen: billigende Inkaufnahme

cc) dolus eventualis (Eventualvorsatz – bedingter Vorsatz)

Wissen: für möglich halten

Wollen: billigende Inkaufnahme

b) besondere Vorsatzformen (kupierte Erfolgsdelikte mit überschießender Innentendenz: §§ 242, 263, 257, 259, 267)

c) objektive Tatbestandsmerkmale im subjektiven Tatbestand (Rechtswidrigkeit: §§ 242, 263)

d) Vorsatz bezüglich dieser Rechtswidrigkeit

II. Rechtswidrigkeit

1) Rechtfertigungsgründe: - objektives Element (Erfolgsunrecht)

- subjektives Element (Handlungsunrecht)

a) Notwehr (§ 32)

b) Rechtfertigender Notstand (§ 34)

c) Aggressiver und defensiver Notstand/Selbsthilfe (§§ 228, 229, 904 BGB)

d) §§ 81a, 112, 127, 94 ff StPO

2) „Offene Tatbestände“: §§ 240 II, 253 II (Verwerflichkeit)

III. Schuld

1) Schuldausschließungsgründe: Keine Vorwerfbarkeit, kein persönlicher Schuldvorwurf

a) Schuldunfähigkeit

aa) § 19 (0 => 14 Jahre: § 19 [Kind]; 14 => 18 Jahre: § 3 JGG [Jugendlicher]; 18 => 21 Jahre: §§ 1 II, 105 JGG [Heranwachsender])

bb) § 20: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung (BAK: 3 °/oo normal, 3,3 °/oo bei Tötungsdelikten); Achtung: § 21: => 2°/oo bzw. 2,2 °/oo ist nur eine Strafzumessungsregel!

b) Fehlendes Unrechtsbewußtsein (§ 17)

aa) Direkter Verbotsirrtum (Nichterkennen einer Verbotsnorm)

bb) Indirekter Verbotsirrtum

(1) Erlaubnisirrtum (Irrtum über die Reichweite eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes)

(2) Erlaubnisnormirrtum (Glauben an einen nicht bestehenden Rechtfertigungsgrund

è Vermeidbarkeit? Wenn ja: Schuld entfällt; wenn nein: Strafmilderung nach § 49

2) Entschuldigungsgründe: Schuld ist vorwerfbar, aber wegen der besonderen Lage entschuldbar

a) Entschuldigender Notstand (§ 35)

b) Notwehrexzeß (§ 33)

aa) intensiver (+)

cc) extensiver (str)

dd) asthenischer Affekt (+)

ee) sthenischer Affekt (str)

3) Spezielle Schuldmerkmale (§ 211 II 2. Gruppe)

IV. Straftatvoraussetzungen jenseits von Unrecht und Schuld

1) Persönliche Strafausschließungsgründe (Indemnität der Abgeordneten, Art. 46 II GG; §§ 258 V, VI)

2) Persönliche Strafaufhebungsgründe

a) Rücktritt (§§ 24, 31)

b) Tätige Reue (§ 306 e)

c) § 158 (Berichtigung der Falschaussage)

3) Objektive Bedingungen der Strafbarkeit: §§ 323 a, 186, 231

V. Konkurrenzen

1) Tateinheit (Idealkonkurrenz); Absorptionsprinzip: § 52

2) Tatmehrheit (Realkonkurrenz); Asperationsprinzip: § 53

3) Gesetzeskonkurrenz: Spezialität, Subsidiarität, Konsumtion

VI. Strafverfahrensvoraussetzungen

1) Verjährung (§§ 78 ff)

2) Strafantrag (§§ 77 ff)

- eingeschränkt: §§ 230, 303 c: Antrag oder besonderes öffentliches Interesse (vgl. Nr. 234 RiStBV)

- echte: §§ 123, 185ff: nur auf Antrag des Opfers

3) Strafklageverbrauch (ne bis in idem) – Art. 103 III GG

VII. Strafzumessungsvorschriften

1) Regelbeispiele (§§ 243, 263 III, 267 III)

a) objektives Vorliegen

b) subjektives Element

2) Benannte Strafrahmenänderungen (§ 213 Alt.1)

3) Absehen von Strafe (§ 157 I)

4) Nicht zu prüfen sind: §§ 60, 213 Alt.2, 249 II – unbenannte Strafrahmenänderungen

H. Die Tatbestandsmäßigkeit

Im folgenden soll das vorsätzliche Begehungsdelikt genauer betrachtet werden. Der Aufbau ist also nur für den Fall anwendbar, daß jemand vorsätzlich durch aktives Handeln einen Straftatbestand verwirklicht (z.B. § 223 I). Bei der Prüfung der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens wird immer mit der Tatbestandsmäßigkeit begonnen. Innerhalb dieses Prüfungspunktes unterscheidet man den objektiven und den subjektiven Tatbestand.

Strafnormen bestehen aus dem Tatbestand und der Rechtsfolge. Der Tatbestand ist dabei der Teil einer Norm, der die Voraussetzung für den Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge formuliert. Die Rechtsfolge ist der Teil einer Norm, der den Rechtsbefehl enthält:

§ 223 I StGB: „Wer einen anderen körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

1) Der objektive Tatbestand

Im Rahmen der Ausbildung spielt die Rechtsfolge eine gesonderte Rolle und ist Inhalt des Sanktionenrechts, das in einem besonderen Kurs zu behandeln ist. Zunächst interessiert hier daher, ob der Tatbestand einer Strafnorm verwirklicht wurde.

Beispielsfall 1: A, vom Erstellen einer komplizierten strafrechtlichen Hausarbeit genervt, wird von B in der U-Bahn angerempelt. A ist empört und schlägt dem B sogleich mit der Hand auf den Arm. Strafbarkeit des A nach dem StGB?

Das Verhalten des A ist nun strafrechtlich zu beurteilen. Der Lebenssachverhalt ist also unter eine konkrete in Betracht kommende Strafnorm des StGB zu subsumieren. Dabei ist wie folgt vorzugehen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A hat also den objektiven Tatbestand des § 223 I StGB verwirklicht. Er hat B körperlich mißhandelt. In der Übersicht ergibt sich folgendes Schema:

A. Strafbarkeit des A gemäß § 223 I

I. Tatbestandsmäßigkeit

1) Objektiver Tatbestand

a) Körperliche Mißhandlung (+)

b) Gesundheitsbeschädigung (-)

c) Kausalität und objektive Zurechnung (+)

2) Subjektiver Tatbestand (+)

II. Rechtswidrigkeit (+)

III. Schuld (+)

IV. Strafverfahrensvorschriften (beachte § 230 I)

B. Ergebnis

Genauer betrachtet beinhaltet § 223 I jedoch noch mehrere objektive Tatbestandsmerkmale. Nicht nur die körperliche Mißhandlung und die Gesundheitsbeschädigung sind Bestandteile des § 223 I. Es muß hinzukommen, daß der Täter ein Mensch ist („Wer“). Zudem muß ein Mensch einen anderen Menschen („einen anderen“) mißhandelt haben. Dies ist in den allermeisten Fällen selbstverständlich. Dann ist darüber auch im Gutachten kein Wort zu verlieren. Jedes Wort wäre überflüssig!

Als „ungeschriebene“ Tatbestandsmerkmale zählen zu den Erfolgsdelikten die Kausalität und die objektive Zurechnung, die stets zu erwähnen sind, wobei bei der Prüfung der Kausalität bei unproblematischen Konstellationen (nur dann!) durch die Verwendung des Wortes („durch“) ein kausaler Zusammenhang angedeutet werden kann. Erfordert der Sachverhalt die genauere Prüfung der Kausalität oder der objektiven Zurechnung, ist genauer darauf einzugehen.

a) Kausalität

Ist ein bestimmter tatbestandlicher Erfolg eingetreten und eine menschliche Handlung gegeben, stellt sich die Frage, ob diese Handlung für den Erfolgseintritt wenigstens mitursächlich gewesen ist. Die Kausalität wird nach der sog. Äquivalenz- oder Bedingungstheorie wie folgt definiert: „Kausal ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der konkrete Erfolg in seiner Form entfiele.“ (Conditio-sine-qua-non-Formel). Es reicht aber grundsätzlich, daß der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges beschleunigt[2] wurde oder wenigstens mitursächlich war. Ursächlich für den Eintritt dieses Erfolges sind also alle Bedingungen, die gleichwertig und auf einer Stufe nebeneinander stehen. Kausal für den Todeseintritt durch einen Schuß mit einer Pistole ist dabei neben dem handelnden Täter auch der Waffenverkäufer, der Waffenhersteller, aber auch der Busfahrer, der durch sein Handeln den Täter an den Tatort transportiert hat. In diesem Sinne ist die Äquivalenztheorie sehr weit gefaßt und führt zu einer endlosen Kausalitätskette (regressus ad infinitum). Zum anderen erweist sich diese Theorie aber auch als zu eng.

Beispielsfall 2: A tötet den B, wenige Sekunden später hätte C den B durch einen gezielten Schuß erschossen.

Dieser Fall behandelt das Problem der „überholenden Kausalität“. Ohne Probleme ist die Handlung des A für den Tod kausal, wenn man auf den konkreten Erfolg in seiner Form abstellt. Hätte A den B nicht getötet, wäre der Tod erst später eingetreten, nämlich durch C. Mithin ist A nach § 212 strafbar, während für C ein versuchter Totschlag (§§ 212, 22, 23) bleibt. Im übrigen ist zu beachten, daß hypothetische Kausalverläufe außer Betracht bleiben. Es kommt nur auf den tatsächlichen Verlauf an, nicht auf einen gedachten. Dies hätte ansonsten zur Folge, daß keine Tötungshandlung kausal wäre, da jeder Mensch irgendwann stirbt.

Beispielsfall 3: A und C schießen gleichzeitig und unabhängig voneinander auf B, beide Schüsse wären jeweils für sich tödlich gewesen.

In diesem Falle erweist sich die Äquivalenztheorie als zu eng. Es handelt sich um den Fall der „alternativen Kausalität“[3]. Dachte man die Handlung des jeweils anderen hinweg, wäre der Tod in der gleichen Form auch eingetreten, so daß man nach der Bedingungstheorie zu zwei Tötungsversuchen kommen müßte, obwohl B tot ist. Die herrschende Meinung ergänzt daher die Äquivalenztheorie wie folgt: „Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, soll jede ursächlich sein.“ (Traegersche Formel)[4]. Danach sind beide Schüsse kausal für den Tod des B, da sie zwar alternativ (jede für sich), nicht aber gleichzeitig hinweggedacht werden können, ohne daß der Tod des B entfiele. A und C sind nach § 212 strafbar.

Beispielsfall 4: A und C bringen dem B unabhängig voneinander ein langsam wirkendes Gift bei. Jede Menge wäre für sich gesehen jedoch nicht tödlich gewesen. Erst durch das Zusammenwirken der Mengen stirbt B sogleich.

[...]


[1] Dazu ausführlich Lesch JA 1994, 510ff + 590ff.

[2] BGH NStZ 1981, 218.

[3] Einen Fall der hypothetischen Kausalität behandelt BGHSt 39, 195; kritisch dazu Toepel JuS 1994, 1009.

[4] BGHSt 39, 195; Kühl AT § 4 Rn 20a.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Strafrecht AT 1
Hochschule
Universität Hamburg  (Instiut für Kriminalwissenschaft)
Veranstaltung
Strafrecht AG SK I
Autor
Jahr
2002
Seiten
46
Katalognummer
V2695
ISBN (eBook)
9783638116275
Dateigröße
767 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Skript zur Arbeitsgemeinschaft SK II. Sehr ausführlich, gut gegliedert, übersichtlich mit Schaubildern. Fallbeispiele und Literaturverweise enthalten. Einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Strafrecht Allgemeiner Teil - Das Recht der Straftat - Der Deliktsaufbau - a.l.i.c. - Irrtümer
Arbeit zitieren
Mihai Vuia (Autor:in), 2002, Strafrecht AT 1, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2695

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Strafrecht AT 1



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden