Wolfgang Weyrauchs Anthologie "Tausend Gramm"

Ein Stück herausgerissenes Lebens


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

Deutsche Gesellschaft und Literatur der Nachkriegszeit

Erfahrungsmuster der Nachkriegswirklichkeit

Nullpunkt oder Kontinuität

Zur deutschen Sprache der Nachkriegszeit

Wolfgang Weyrauchs Anthologie Tausend Gramm 13

Die Treue von Alfred Andersch

Zusammenfassung

Literatur

Deutsche Gesellschaft und Literatur der Nachkriegszeit

Der Film „Deutschland im Jahre Null“ von Roberto Rossellini zeigt die innere Zerstörung der Überlebenden, die sich in der Trümmerwüste nicht zurechtfinden. Vergleichbare Szenen eines dokumentarischen Realismus finden sich in der westdeutschen Literatur der ersten Nachkriegsjahre kaum. Im Vorwort zum ersten Band[1] des Buches Nachkriegsliteratur in Westdeutschland definieren die Verfasser die Situation folgenderweise: „Die Aufforderung zur Nüchternheit bleibt in der Nähe abgrundtiefer Beschwörungen der Wirklichkeit.“ Man schreibt, um das „Vakuum“ auszufüllen. Die Feststellung der Sinnleere wird überschrieben durch die Fülle der Alltagsmisere. „Das ideologisch deformierte Bewusstsein sucht Beruhigung in den Bildungswerten der Vergangenheit.“[2]

Die literarischen Streiflichter lassen sich bereits erkennen, dass die großen Erwartungen eines Neubeginns im Medium der Literatur nicht haltbar waren. In der Erinnerung der Zeitgenossen wird die damalige Robinsonmentalität des Selbermachens und „Sichdurchschlagens“[3] als kulturelle Identität verklärt. Aus zeitgenössischer Sicht waren die Nachkriegsjahre eher eine Zeit des „Interregnums“ und der „Quarantäne“. Ein Gefühl der „Gesellschaftslosigkeit“ angesichts des „Zusammenbruchs“ lag über den historischen und politischen Verhältnissen. „Die Nachkriegszeit war eine Zeit der Okkupation. An diesem Faktum sind die kulturellen Aktivitäten zu messen.“[4] Aus diesem Zustand heraus entstanden die neuerlichen materiellen und ideologischen Verbindlichkeiten: die Wiederherstellung eines ‚freien’ Literaturmarkts, die Ausrichtung der literarischen Wertsetzung.

Die Literatur der ersten Nachkriegsjahre ist unter dem Gesichtspunkt ihrer historischen Gegenwärtigkeit zu betrachten bevor über die Frage von Kontinuität und Bruch – die problematische Faszination der Stunde Null – kategorial entschieden wird. Das Schicksal von Faschismus und Krieg war im Erfahrungshorizont vieler Schriftsteller und Leser auch das Nachkriegsschicksal. Umso wichtiger ist die Ermittlung markanter Inhalte und Formen, Haltungen und Wertungen, Bedürfnisse und Erwartungen unter den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit. Die Institutionalisierung der Literatur gibt Aufschluss über die Wechselfälle des literarischen Lebens zwischen „geistiger Situation“, persönlicher Aktivität, ökonomischen Interessen und kulturellen Bedürfnissen. Dominanzen im Kulturbetrieb sind die über 1945 hinaus wirksame Trost- und Beistandsliteratur der „Stillen im Lande“, die existentielle Ausrichtung der politisierenden Literatur, der humorige Umgang mit der Widersprüchlichkeit der Lebenssituation in der Unterhaltungsliteratur, im aktuellen Geschehen die Dichterehrung durch Literaturpreise.

Bemerkenswert ist die Differenzierung der Literaturgenres. Die kleinen Formen sind sehr stark verbreitet: Neben der Kurzgeschichte die kabarettistische Kleinkunst und die Reportage. Einfache Formen der Selbstverständigung – man hatte sich viel zu erzählen in der Zeit des Mangels und der Trennung – ersetzen hier den großen literarischen Entwurf. Die Reportageliteratur vermittelt den Eindruck einer erzwungenen Mobilität. Die Erfahrung der sozialen Desintegration in eigenem Lande wird umgesetzt in die literarische Ausgestaltung des Allernächsten. Neben dieser Art der Selbstvergewisserung, nicht selten geprägt von der Tabuisierung der Vergangenheit, von Zynismus im Umgang mit dem Restbestand eines sinnvollen Lebens, steht die abstrakte Sinnspekulation in den Ganzheitsentwürfen der Romanliteratur. Die Vorliebe für apokalyptische und utopische Projektionen zeugt von der ungebrochenen Dominanz autoritärer Muster, deren ideologische Schlagkraft in der Zeit der westdeutschen Restauration neuerlich bewiesen wurde.

Die Schwerpunkte deutscher Kurzgeschichtentheorie der Spätmoderne zielen auf Muster, an denen „die Erzählsituation der Kurzgeschichte auf einen unterschiedlich subtil gestalteten Erhellungsmoment in der Gesamtstruktur vom Schluss her erkennbar wird, wobei noch stofflich-stilistische Varianten (satirisch oder lyrisch geprägte Texte, groteske oder surreale „Überdrehungstechnik“, Parabelnähe hinzukommen.[5] Wesentlich für eine über die „Zeitschriftenzeit“ hinausgehende, ästhetisch inhärente Erklärung für die Kurzgeschichtenblüte der frühen Nachkriegszeit in der Bezug auf die historisch bedingte Wirklichkeitserfahrung, die auch der Reportage zugute kam: die über Anfang und Ende hinaus fragmentarisch gestaltete Form, dissonant, offen, den einzelnen Augenblicksausschnitt oft surreal oder grotesk überdehnend, korrespondiert dem um Orientierung verlegenen Bewusstsein fehlender Lösungen oder substantieller sozio-politischer und philologischer Perspektiven (Lorbe, Kilchenmann, Scherpe 1982, S.9f.). Die von Böll betonte „Kurzatmigkeit der Epoche“ (1977, S. 69) sprach aus der Sicht der Autoren für die formale Kongenialität der short story zur besonderen historischen Erfahrung. Deren „Momentaufnahme“ entsprach den Schockerlebnissen und Erfahrungsfetzen der eigenen Generation in Krieg und Nachkrieg, für die ein „deutender“, einordnender Zusammenhang noch fehlte, wie ihn der Roman voraussetzt. Dem wiederum korrespondieren das Fehlen der Reflexion in der Kurzgeschichte, wie sie etwa die kommentierende, oder auktorial souverän verfügende, „olympische“ Erzählperspektive böte, und das dem Alltag entnommene, typifizierende Figurenarsenal (etwa der einfache Soldat und Heimkehrer bei Böll, Andersch, Schnurre und Kolbenhoff ) . Schließlich ließ sich eine Literatur der Sprachfindung, die Suche nach einer unpathetischen und politisch nicht belasteten Sprache, in der kurzen Form leichter verwirklichen.[6]

In der Literatur der ersten Nachkriegsjahre hat eine fatale Neigung zum Wesentlichen, zum „Inbegriff“[7], zur seelischen und metaphysischen Beglaubigung der Außenwelt. Hermann Nohl sah den „Sinn der Künste“ für die Gegenwart in Adalbert Stifters „tiefem Willen zur Idylle“ vorgeprägt.[8] Elisabeth Langgässer forderte und verteidigte als Fundament für die künftige Dichtung die „Redlichkeit des Schriftstellers“ gegen den moralischen Verfall.[9] Das aktuelle Schlagwort von der „Heilung durch Zitate“[10] betraf im Grunde die ganze Denk- und Fühlweise dieser noch einmal als „wesentlich“ oder „redlich“ verankerten Literatur. Eine überkommene Literaturideologie wurde als Fluchtpunkt auch in den zur „Gültigkeit“ drängenden neu geschriebenen Werken verbindlich. Die Gegenbewegung eines „Realismus des Unmittelbaren“[11], die von der „Jungen Generation“ der Andersch und Richter, von Schnurre, Kolbenhoff und Weyrauch mit unterschiedlichem Akzent propagandiert wurde, konnte sich als Gruppenprogramm nur begrenzt durch die Kraft ihrer Polemik durchsetzen. Einige Schriftsteller dieser Richtung glaubten politisch für ein neues Deutschland, wenn nicht gar für ein „Neues Europa“ sprechen zu können. Das Politische betrieben sie missionarisch. Die „Unmittelbarkeit“ der Wahrnehmung war auch bei ihren vor allem darin bedeutsam, dass sie existentiell aufgeladen wurde. Im Namen eines „magischen Realismus“, der nur oberflächlich mit der französischen Tradition des Surrealismus in Verbindung zu bringen war, sollte, laut Scherpe, eine substantielle Vertiefung erreicht werden, die, aufs zukünftige „Ganze“ der Literatur gesehen, zunächst nicht mehr bedeutete als eine neuerliche Absonderung der hohen Kunst von der Alltagsbanalität. Die Lebenswelt von Faschismus, Krieg und Nachkrieg hatte sich als niederschmetternd erwiesen für die literarische und politische Willenskraft des Einzelnen.

Die für solche Autoren wie Grass und Böll, aber auch Andersch, Jens und Siegfried Lenz gültige Poetik „gegen die Totalität“ entstammt den Positionen des unmittelbaren Nachkriegs in der Gruppe um den „Ruf“: im Insistieren auf sozialen Humanismus, französischen Existentialismus – Selbstwahl und Selbstverantwortung in der Geschichte, bruchlose Existenz in der Entscheidung zum moralischen Handeln – ein subjektives und damit elitäres Einwirken auf Politik durch Literatur aus der Skepsis des „totalen Ideologieverdachts“, kurz auf einer pragmatischen Anthropologie frühbürgerlicher Ethik mit den Werten der französischen Revolution.[12] Aus der Gruppe um den „Ruf“ entstand die Gruppe 47, die in ihrer frühen Funktion als „literarische Ersatzhauptstadt“ die genannten Positionen programmatisch in Literatur umsetzte. Auch im Blick auf die Denktradition der Melancholie und ihr Fortwirken in der Krise der klassisch-modernen wie des Gegenwartsromans lässt sich die Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit, soweit diese mit der Gruppe 47 identisch war, aber auch an den Einzelgängern Arno Schmidt, partiell an Koeppen und Nossack, als Neubegründung darstellen.

Der Entwicklung der Literatur zum „Höheren“ soll, laut Scherpe, eine als „Vakuum“ und „Zwischenzeit“ literarisierte Lebenswelt vorausliegen, ein Trümmerfeld von Tausenden von Alltagsgeschichten und Erfahrungsberichten, von Reiseerlebnissen und –reflexionen, Deutschland-Briefen und Interviews, welche die Spalten der Zeitungen und Zeitschriften füllten.

In der Literaturforschung wird allgemein akzeptiert, dass die Jahre 1945 bis 1949 ein Übergangscharakter hatten. Aber um die Literatur dieser Zeit wirklich zu verstehen, muss man wissen, was vorher war und war nachher kam. Dabei wirken die Extrempositionen im historischen wie literarischen Deutungsmodel eher blickverstellend: die falschen Alternativen Neuanfang oder Restauration und das literaturgeschichtliche Optieren für oder gegen „Nullpunkt“ oder „Kahlschlag“ (W. Weyrauch).

Die frühe Nachkriegsprosa spiegelt nicht einfach die sozialen Verhältnisse der Zeit vor und nach 1945 wider, trotz der allgemein erkennbaren Tendenz einer realistischen und exoterischen Erzählweise. Sie bewegt sich in einem eigenen „literarischen Feld“ (Bourdieu 1984), das sich aus Oppositionen verschiedener Dichtergenerationen, poetologischen Konzeptionen, und den kulturpolitischen Bedingungen der Alliierten konstituiert: klassisches „Erbe“, sozialistischer Realismus in der SBZ/DDR, magischer Realismus und Nachfolge der Moderne im Westen Deutschlands. Dass man von einem literarischen Feld und von einer literarischen Epoche sprechen darf, liegt an der nicht denkbaren Autonomie der Konzeptionen in dieser Übergangsperiode: die Oppositionen blieben hier noch aufeinander bezogen, beide deutschen Literaturen entstehen aus einem direkt oder indirekt geführten, vielstimmigen Dialog.

[...]


[1] Jost Hermand, Helmut Peitsch, Klaus R. Scherpe (Hg.), Nachkriegsliteratur in Westdeutschland. Argument-Verlag, Berlin, 1983.

[2] Edb. S.4.

[3] Edb. S 4.

[4] Edb. S.4.

[5] Volker Wehdeking. Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur, Aachen, Alano-Verlag, 1989, S. 73.

[6] Vgl. Vogt 1987, S. 26.

[7] Klaus R. Scherpe. Erzwungener Alltag. In: Jost Hermand u.a. (Hg.) Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945-47. Argument-Verlag, Berlin, 1982, S. 35.

[8] Hermann Nohl. Vom Sinn der Künste. In: Die Sammlung 2. 1946. H. 4, S. 12-18.

[9] Elisabeth Langgässer. Von der Redlichkeit des Schriftstellers. In: Die Welt. Hamburg. 21.2.1948.

[10] Walter Busse. Heilung durch Zitate? In: Der Kurier. 2.10.1947.

[11] Wolfgang Weyrauch. Realismus des Unmittelbaren. In: Aufbau 2. 1946. H. 7, S. 701-706.

[12] Vgl. Blamberger. 1985, 66 ff.

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Details

Titel
Wolfgang Weyrauchs Anthologie "Tausend Gramm"
Untertitel
Ein Stück herausgerissenes Lebens
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V269721
ISBN (eBook)
9783656609247
ISBN (Buch)
9783656609056
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wolfgang, weyrauchs, anthologie, tausend, gramm, stück, lebens
Arbeit zitieren
Elena Dubodelova (Autor:in), 2004, Wolfgang Weyrauchs Anthologie "Tausend Gramm", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269721

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