Die Bedeutung des Vertragsgedankens in Jean-Jaques Rousseaus "Contrat Social"


Studienarbeit, 2010

18 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

§ 1 - Einleitung und Aufgabenstellung

§ 2 - Kurzer Abriss der politischen Philosophie Rousseaus

§ 3 - Der Vertragsgedanke in Rousseaus System
a) Die Teilnehmer des Gesellschaftsvertrages
b) Der Vertragsinhalt
aa) Das Herzstück des Vertrages: die volonté générale bb) Die Organisation des Gemeinwillens
cc) Anfechtung und Vertragsbruch?
c) Zusammenfassung: Die Bedeutung des Vertragsgedankens

§ 4 - Rezeption, Kritik und Wirkungsgeschichte

Literaturverzeichnis

Aus Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ wird nach der Reclam-Ausgabe, Universal-Bibliothek Nr. 1769, 2003 zitiert (Buch = römische Ziffer, Kapitel = arabische Ziffer, Seite).

Adomeit, Klaus: Rechts- und Staatsphilosophie II, 2. Auflage, 2002

von Arnim, Hans Herbert: Die Deutschlandakte - Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun, 3. Auflage, 2008

Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 1. Auflage, 2006

Brandt, Reinhard: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, in: Günther Holzboog (Hrsg.): problemata 16, 1. Auflage, 1973

Brandt, Reinhard/Herb Karlfriedrich (Hrsg.): Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, 1. Auflage, 2000

Buchheim, Hans: Zur Interpretation von Rousseaus „Du Contrat Social“, in: Der Staat 35 (1996), S. 389 - 409

Derathé, Robert: Jean-Jaques Rousseau et la science politique de son temps, 1. Auflage, 1950 Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie, 9. Auflage, 2006

Harzer, Regina/Nauke, Wolfgang: Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 5. Auflage, 2005 von Henting, Hartmut: Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit, 1. Auflage, 2004

Herb, Karlfriedrich: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), in: Brocker Manfred (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens, 1. Auflage, 2007

von Hippel, Ernst: Geschichte der Staatsphilosophie in Hauptkapiteln, 2. Band, 2. Auflage, 1958 Höffe, Otfried: Kleine Geschichte der Philosophie, 1. Auflage, 2005

Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1. Auflage, 1994 Locke, John: Über die Regierung, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 9691, 2003 Magee, Bryan: Geschichte der Philosophie, 1. Auflage, 2007

Meier, Heinrich (Hrsg.): Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 3. Auflage, 1993 (zit.: Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Seite)

Mensching, Günther (Hrsg.): Voltaire - Republikanische Ideen, 1. Auflage, 1986 Platon: Der Staat, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8205, 2000 Sturma, Dieter: Jean-Jacques Rousseau, 1. Auflage, 2001

§ 1 - Einleitung und Aufgabenstellung

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herren der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie.

Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“ Jean-Jacques Rousseau (Gesellschaftsvertrag, I, 1, S. 5)

Der bedeutende schweizerisch-französische Schriftsteller, Philosoph und Musiker Jean-Jaques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 in Genf als Sohn des Uhrmachers Isaac Rousseau geboren. Aufgewachsen bei seinem unnachgiebigen Onkel, verließ Rousseau bereits im Alter von 16 seine Heimat. Es folgte ein Leben geprägt von zahlreichen Wanderschaften, wirklich sesshaft wurde der umtriebige Feingeist nie. Davon zeugen auch seine zahlreichen Affären zu verschiedenen Frauen. Ebenso versuchte sich der geniale Denker an verschiedenen Berufen (Graveur, Musiker, Anwaltsgehilfe, Schriftsteller) - auch hier schlug sein unsteter Charakter durch.1Am Ende seines bewegten Lebens litt er unter Verfolgungswahn und verstarb unerwartet am 2. Juli 1778 - vermutlich an einem Schlaganfall, indes wird ein Freitod nicht ausgeschlossen.2

Innerhalb Rousseaus Werk ist Du Contrat social, ou Principes du droit politique aus dem Jahr 1762 das herausragende rechtsphilosophische Werk. Von Bedeutung ist auch der Bildungsroman Émile, in dem Rousseau die Erziehung eines jungen Menschen bis zu dessen Hochzeit beschreibt. Émile übte großen Einfluss auf pädagogische Lehren der Folgezeit aus. Er wird teilweise als Voraussetzung für das Verständnis des Contrat social angesehen.3

Dass Rousseau seinen hohen Bildungsidealen selbst nicht gerecht wurde, zeigt sein Verhalten gegenüber seinen eigenen Kindern, die er mit Thérèse Levasseur in Paris gezeugt hatte: er schob sie in ein Haus für Findelkinder ab. Dort war die Überlebenschance von Kleinkindern denkbar gering. Rousseaus schriftstellerisches Schaffen erstreckte sich desweiteren auf Abhandlungen über Kunst, Musik und Wissenschaft. Als Musiker und Romancier musste er nicht selten seinen Lebensunterhalt bestreiten.

Ausgehend von einem Abriss der politischen Philosophie Rousseaus (§ 2) bildet die Bedeutung des Vertragsgedankens im Contrat Social (§ 3) den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: Wer sind die Vertragspartner? Welchen Inhalt hat der Vertrag? Welche Konsequenzen für die Staatsorganisation ergeben sich daraus? Vergleichend werden die Gesellschaftsvertragsmodelle von Thomas Hobbes, John Locke und Samuel Pufendorf herangezogen.

Um dem Wirken Rousseaus gerecht zu werden, sollen in § 4 auch die Kritiker Rousseaus zu Wort kommen und der Einfluss des rousseauschen Schaffens beschrieben werden. Auch hier soll der Schwerpunkt auf der Kritik des Vertragsgedankens bei Rousseau liegen.

§ 2 - Kurzer Abriss der politischen Philosophie Rousseaus

Im Gegensatz zu Thomas Hobbes und John Locke versuchte Rousseau nicht einen philosophischen Unterbau für die zu seiner Zeit bestehenden politischen Verhältnisse zu schaffen. Rousseaus Theorien sind von ihrer Entstehungszeit losgelöst. Er hing nicht am Gängelband der Mächtigen. Gleichwohl stand auch Rousseau unter dem Einfluss seiner Zeit. Der totale Herrschaftsanspruch des absolutistischen Ancien Regimes, der ausschweifende Lebensstil der Herrschenden während das Volk in Armut darbte - all dies brachte Rousseau zum Ausgangspunkt seiner Philosophie: eine radikale Zivilisationskritik. Der erste Satz des dieser Arbeit vorangestellten Auszuges drückt dies unmissverständlich aus.

Auch stimmte Rousseau nicht in den Reigen der Fortschrittsfanatiker ein, wie Francis Bacon (1561 - 1626) oder René Descartes (1596 - 1650). „Nein“ war seine unmissverständliche Antwort seines Premier Discours auf die Frage der Akademie von Dijon, „ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen“ habe. Dieser Diskurs machte Rousseau über Nacht berühmt, er - der vagabundierende Einzelgänger - wurde der neue „Star“ in den Intellektuellenzirkeln von Paris.

Ob gewollt oder nicht - Rousseau war ein Wegbereiter der Französischen Revolution von 1789. Und damit ist der Einfluss des kleinen Büchleins evident. Für die Revolutionäre war Rousseau ein Held, sein Contrat Social der intellektuelle Sprengstoff; davon zeugt die triumphale Überführung seiner sterblichen Überreste in das Panthéon im Jahr 1794, die auf Anordnung des Wohlfahrtsausschusses erfolgte. Robespierre gründete seine Terrorherrschaft im Wesentlichen auf Grundlage der Ideen Rousseaus und verehrte ihn als Helden.

Rousseau schuf keine philosophischen Grundbegriffe neu, sondern knüpfte in seiner Begrifflichkeit an Traditionen an. Gesellschaftsvertrag, Naturzustand, sogar der zentrale Begriff der volonté générale - all diese Institutionen waren bereits bekannt. Rousseau radikalisierte sie. War beispielsweise Hobbes noch offen gegenüber der Herrschaftsform - der Leviathan konnte ein Monarch oder auch ein Parlament sein - so fordert Rousseau eine radikale demokratische Legislative.

Auf die Kritiker Rousseaus wird noch im Einzelnen einzugehen sein (§ 4). Einig sind sich viele Rousseau-Kenner darin, dass es eklatante Widersprüche im Contrat Social gibt. Rousseau war Gefühlsmensch durch und durch. Die Leidenschaft dominierte in seiner Argumentation bisweilen über die Logik. Doch gerade dies ist wohl Teil der Faszination, die von Rousseaus Ideen noch heute aus geht.

§ 3 - Der Vertragsgedanke in Rousseaus Contrat Social

Ein Vertrag ist ein zwei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft, das durch zwei (oder mehr) sich deckende Willenserklärungen zustande kommt.4Geht man von dieser Standarddefinition des Vertrages aus, könnte man meinen, der rousseausche Gesellschaftsvertrag sei ein Rechtsgeschäft wie jedes andere auch. Dem ist jedoch weit gefehlt. Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist nichts Geringeres als das Fundament eines Staates, etwas antiquiert ausgedrückt einer polis. Dass sich dieser Staat aus der traditionellen Lehre vom Gemeinwesen völlig ausklinkt, macht Rousseau zum Revolutionär - der er eigentlich gar nicht sein wollte.

Rousseau hat in seiner Staatsphilosophie keine neuen Institutionen geschaffen, aber er hat sie radikalisiert. So auch die Idee des Gesellschaftsvertrages.

Herrschaft durch einen Vertrag zu legitimieren - diese Idee war in der Rechts- und Staatsphilosophie weit vor Rousseau bekannt. Prominente Väter von Gesellschaftsvertragstheorien sind Thomas Hobbes (1588 - 1679), John Locke (1632 - 1704) oder Samuel Pufendorf (1632 - 1694). Insbesondere der hobbessche Gesellschaftsvertrag soll im Folgenden als Vergleichsmodell dienen. Er ist deswegen zum Vergleich sehr gut geeignet, weil er einerseits strukturelle Parallelen zum System Rousseau aufweist, auf der anderen Seite aber zu fundamental anderen inhaltlichen Ergebnissen gelangt.

Bevor Rousseau seine Vertragstheorie entfaltet, lehnt er zunächst das Recht des Stärkeren als Legitimationsbasis für Herrschaft ab, indem er das stichhaltigste philosophische Argument dagegen vorbringt, dass man aus einem tatsächlichem Sein nicht auf ein rechtliches Sollen schließen soll5(Humesches Gesetz).

Nähert man sich den oben aufgeworfenen Fragestellungen6, so kann man schnell erkennen, dass sich Bestimmungen zum Gesellschaftsvertrag durch den gesamten Contrat Social ziehen. Hauptquelle ist jedoch das erste Buch, darin das sechste Kapitel, welches die Begründung des Gesellschaftsvertrages beinhaltet.

a) Die Teilnehmer des Gesellschaftsvertrages

Der Dreischritt Naturzustand - Gesellschaftsvertrag - Staat, der dem Contrat Social zugrunde liegt, findet sich auch bei Hobbes, Locke und Pufendorf. Mit diesem Gedankenexperiment versuchen alle Kontraktualisten, Herrschaft zu begründen und/oder zu legitimieren. Dabei gehen sie alle von einer unbestimmten Masse7von Menschen aus - der tiergleichen8Anzahl von potentiellen Bürgern eines künftigen Staates. Diese leben im Naturzustand ohne staatliche Institutionen. Auf diesen Naturzustand geht Rousseau in den ersten Kapiteln des Contrat Social nur marginal ein.

Vielmehr hat er in seinen beiden Diskursen [Discours sur les sciences et les arts (1750) und Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755)] einen Kontrapunkt zu John Locke und Thomas Hobbes gesetzt: der Naturzustand ist nicht nur ein vorstaatlicher, sondern auch ein vorgesellschaftlicher Zustand. Darin ist der Mensch ein glücklicher Wilder (homme sauvage).

Auf diesen beiden Diskursen baut der Contrat Social durchaus auf, wenn auch die „Stoßrichtung“ der drei Werke eine unterschiedliche ist: die Erörterungen des Naturzustandes spielen für den Contrat Social beinah keine Rolle mehr, denn Rousseau will weder zurück zur Natur, noch hielt er Gesellschaften wie er sie selbst in Frankreich vorfand überhaupt für reformierbar.9Dennoch erhellen einige Aspekte aus den Diskursen die folgenden Gedankengänge.

Rousseaus Naturzustand ist charakterisiert durch eine Vielzahl von Einzelgängern, die im Ursprung frei und gleich sind und keinen bellum omnia contra omnes wie bei Hobbes führen. Es gibt kein Privateigentum und keine Naturrechte. Gemein sind allen die Selbstliebe (amour de soi) und das Daseinsbewusstsein (sentiment de l’existence).10

Bei Locke war der Naturzustand noch insofern normativ strukturiert, als allen Menschen bereits in diesem Stadium ein Recht auf Leben, Freiheit oder Eigentum zustand.11

Ernst von Hippel hat deswegen geschrieben, dass am Ursprung der Menschheit „der Individualist [stehe], ja fast der Soliptist, womit die Menschheit als aus Nomaden zusammengesetzt erscheint, von denen jede nur um sich selber kreist.“12In diesem Zustand ist der Mensch „gut“.13

Die Wurzel des zivilisatorischen Übels liegt in der Begründung von Privateigentum - dieser Vorgang wird vom Passauer Professor Johann Braun treffend als „Sündenfall“14bezeichnet:

„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem."15

Das Privateigentum legt den Grundstein für die Ungleichheit der Menschen und die Entfremdung von sich selbst. Es entstehen Konkurrenzdruck, Neid, Hass - kurz, all das, woran Rousseaus Gesellschaftskritik anknüpft. Erst in diesem Zustand der Vergesellschaftung entsteht ein Pendant des hobbesschen Krieges aller gegen alle, das System von gegenseitiger Abhängigkeit und Machtgefügen16. Daraus folgert Rousseau:

Ich unterstelle, dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiter bestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte.17

Findet also der Mensch sein Glück, indem er sich wieder in den Naturzustand begibt? Diese Frage verneint Rousseau:

„Was denn? Soll man die Gesellschaften zerstören, Mein und Dein vernichten und dazu zurückkehren, in den Wäldern mit den Bären zu leben? Ein Schluss nach der Art meiner Gegner, dem ich lieber zuvorkommen will, als dass ich ihnen die Schande lassen möchte, ihn zu ziehen.“18

Die Unerträglichkeit des hobbesschen und lockeschen Naturzustandes resultiert aus den zwischenmenschlichen Antagonismen, bei Rousseau sind es die Selbsterhaltungsrisiken in der natürlichen Umgebung, die die Menschen in den Gesellschaftsvertrag treiben.19Rousseau konstruiert aus der Not eine Tugend: er beschreibt den Naturzustand als Chance, die Freiheit auch in der staatlichen Gesellschaft zu finden - durch eine Metamorphose von Natur in Kultur20. Diese Metamorphose vollzieht sich aufgrund eines Gesellschaftsvertrages.21

Rousseau stellt sich folgende Aufgabe: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“22

Überträgt man den Gedanken der Vertragsdefinition (s.o.) auf die Menschen im Naturzustand, so geben sie folgende Willenserklärung ab:

„Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“23

Diese Metaphorik, die sich auf den menschlichen Körper als Sinnbild des Staates bezieht, finden wir bereits bei Platon. Das Gehirn als Sitz der Vernunft steht in der Hierarchie des Staates - verkörpert durch die „Philosophenkönige“ auch an oberster Stelle. Das tieferliegende Herz steht für die Empfindungen der Wächter und Krieger. Schließlich siedeln sich im Bereich der Geschlechtsorgane die niederen Begierden an, die für den dritten Stand der Handwerker und Kaufleute steht.24

Über den Begriff Gemeinwillen wird noch zu sprechen sein25- er bildet den zentralen Gehalt des Vertrages, mit ihm steht und fällt der rousseausche Staat.

Die oben bereits erwähnte Metamorphose von Natur in Kultur beschreibt Rousseau als totale Entäußerung (aliénation totale).26Was ist darunter zu verstehen?

Rousseau definiert drei Möglichkeiten der menschlichen Existenz:

- Ein erstes Modell ist der oben erwähnte homme sauvage. Als tierähnlichen Wilden beschreibt Rousseau den Naturzustandsbewohner - wild aber glücklich.
- In seinem Erziehungsroman Émile schildert Rousseau detailiert eine Eremitenexistenz. Der junge Held des Romans wird fern ab von jedem kulturellen Einfluss erzogen.
- Gegenstück dazu ist der citoyen, der (freie) Staatsbürger aristotelischer Prägung.

Durch die aliénation totale wandelt sich der homme sauvage zum citoyen. Die natürliche, angeborene Freiheit wird vollkommen entäußert und wandelt sich durch den Vertrag in die staatlich garantierte Freiheit. Hier ist ein klarer Unterschied insbesondere zu Locke zu erkennen, der den Menschen mit liberalen Grundfreiheiten in die Staatlichkeit führt. Solche naturrechtliche Vorbehalte würden den rousseauschen Staat permanent der Gefahr aussetzen, wieder in den Naturzustand zurückzufallen und wären ein Widerspruch zur staatlichen Souveränität.27Nur durch die totale Entäußerung aller Rechte kann das staatliche Gebilde entstehen, das die Freiheit der Individuen garantiert - wo der Mensch (im rousseauschen Sinne) Mensch bleiben kann.28Auch die Freiheit erfährt eine Metamorphose: aus der

[...]


1vgl. auch Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, § 18, S. 214.

2 ausführlich zur Person: Georg Holmsten, Jean-Jacques Rousseau: Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 17. Auflage, 2005; Jens-Peter Gaul, Jean-Jacques Rousseau, 1. Auflage, 2001.

3 Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 209.

4Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 203.

5Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 4, S. 9 f..

6§ 1.

7vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, V, 2.1., S. 160.

8 bei Hobbes sinnbildlich der lupus.

9So auch Herb, in Brandt/Herb, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, II, S. 28; a.A. Derathé, der die Diskurse als unmittelbare Fundamente des Contrat Social betrachtet.

10Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, X, S. 199.

11Locke, Über die Regierung, II, S. 7

12von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie, S. 94.

13zur Problematik dieser Ansicht Sturma, Jean-Jacques Rousseau, S. 104 f..

14Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, § 18, S. 218.

15 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 173.

16vgl. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, § 18, S. 217.

17Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 6, S. 16.

18Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 319.

19Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, V, 2.1., S. 157 f.

20vgl. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, § 18, S. 219.

21dazu siehe § 3.

22 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 6, S. 17.

23Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 6, S. 18.

24vgl. Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, II, S. 46.

25§ 3 b).

26vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 6, S. 17.

27Herb, in Brandt/Herb, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, II, S. 41.

28 vgl. Buchheim, Der Staat 1996, 389 (393).

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Details

Titel
Die Bedeutung des Vertragsgedankens in Jean-Jaques Rousseaus "Contrat Social"
Hochschule
Universität Regensburg  (Fakultät für Rechtswissenschaft)
Veranstaltung
Studienseminar
Autor
Jahr
2010
Seiten
18
Katalognummer
V270653
ISBN (eBook)
9783656621928
ISBN (Buch)
9783656621980
Dateigröße
694 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bedeutung, vertragsgedankens, jean-jaques, rousseaus, contrat, social
Arbeit zitieren
Sebastian Bösl (Autor:in), 2010, Die Bedeutung des Vertragsgedankens in Jean-Jaques Rousseaus "Contrat Social", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270653

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