Das Bestreben der Kunst, sich selbst zu verleugnen

Dargestellt am Beispiel der Architektur und Gestaltung in Paris


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

65 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Architektur und Philosophie als Verhältnis

2. Walter Benjamin: Das Passagenwerk
2.1 Aufbau des Werks
2.2 Seine Methodik

3. Neues Baumaterial und neue Bedürfnisse
3.1 Passagen
3.2 Gasbeleuchtungen
3.3 Eisenbahnen und Bahnhöfe

4. Der Klassizismus und Historismus im Wohnungsbau des 19. Jahrhundert

5. Walter Benjamin: Ein Kind seiner Zeit

6. Auf den Punkt gebracht

7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur

8. Abbildungsverzeichnis

9. Abbildungen

1. Architektur und Philosophie als Verhältnis

Mit Bauwerken schafft sich der Mensch eine zweite Natur, eine eigene, bedürfnisgerechte Umwelt. Bauwerke bieten Schutz, verschaffen dem Menschen eine Atmosphäre und ein Klima, bieten Geborgenheit und Behaglichkeit. Bauwerke repräsentieren aber auch eine Weltsicht, eine Philosophie, sie charakterisieren die Persönlichkeit der Bauherren und die sozialen Beziehungen ihrer Zeit. Nahezu alle Architekturstile und -theorien wurden durch Philosophen und deren Reflexionen mitgeprägt. Unter diesen Aspekten bilden Architektur und Philosophie eine Einheit. So markierte Schinkel zwischen 1803 und 1815 die "Bestimmung der Architektur als Symbol des Lebens" als sein zentrales Anliegen und stützte sich bei seiner Arbeit in sehr starkem Maße auf die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes[1]. Die Relationen zwischen zahlreichen Denkmodellen und deren Manifestation in der Architektur stehen repräsentativ für eine Vielfalt von weiteren Verknüpfungen, Verbindungen und Analogien zwischen den beiden einander nur auf den ersten Blick fremd wirkenden Disziplinen Architektur und Philosophie. Vermittelnde Glieder dieser Einheit sind dabei vor allem Elemente der Kunst, der Kultur und der Ästhetik. Kunstformen, Zeitgeschmack und Zeitgeist manifestieren sich häufig sehr identisch in der Philosophie und in der Architektur der Epochen. So verkörpern, um nur ein Beispiel zu nennen, eine romanische und eine gotische Kathedrale unterschiedliche Gottesbilder.

Im Bewusstsein dieser Zusammenhänge hat sich Walter Benjamin mit den sozialen, architektonischen und bautechnischen Umwälzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts befasst. In seinem fragmentarischen Passagen-Werk zeigt er am Beispiel des Baugeschehens in Paris sehr vielschichtig und detailliert auf, wie sich politische und soziale Umbrüche auch auf die maßgeblichen Leitbilder zur Gestaltung der städtischen Umwelt und in deren gebauter Form auswirken. Er sieht dabei die Vergangenheit mit einem reflektierten Gegenwarts-bewusstsein an und erweckt sie dadurch zum Leben.

Der begrenzte Umfang der vorliegenden Arbeit lässt es nicht zu, das Gesamtwerk Walter Benjamins hier angemessen darzustellen und zu würdigen. Es soll in dieser Schrift deshalb nur ein Aspekt im Passagen-Werk näher betrachtet werden: Inwieweit sowohl durch Kunst und Architektur als auch durch die reale Baupraxis die Möglichkeiten der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung dieser Zeit genutzt wurden. Es soll dabei vor allem auf die Intentionen von Künstlern und Architekten einerseits und auf die Potenzen der Techniker und Ingenieure anderseits eingegangen werden.

Der Charakter der Schrift von Walter Benjamin macht es oft erforderlich, bei der Interpretation und Deutung von Aussagen des Autors auf eine Reihe weiterführender Sekundärliteratur zurückzugreifen. Zu verweisen ist dabei vorrangig auf den seit Jahrzehnten mit Benjamin befassten Herausgeber Rolf Tiedemann, der mit dem Philosophen und Soziologen, sowie engen Freund Benjamins, Theodor W. Adorno zusammenarbeitete[2]. Ferner wurde auf den Literaturwissenschaftler Philipp Eckardt zurückgegriffen[3]. Schließlich stützt sich diese Arbeit bei verschiedenen historischen Einordnungen und Wertungen auf den italienischen Architekten und Architekturhistoriker Leonardo Benevolo[4].

2. Walter Benjamin: Das Passagen ̶ Werk

2.1 Aufbau des Werks

Theodor W. Adorno sagt über die Philosophie Benjamins:

„Sucht man in Benjamins Philosophie nach dem, was herauskommt, so wird man notwendig enttäuscht; sie befriedigt nur den, der so lange darüber brütet, bis er findet, was ihr innewohnt.“[5]

Benjamin filtert in seinem Exposé die Eigenart der Neuzeit heraus und veranschaulicht sie als gemeinschaftliche Träumerei. Vom Eisenbau der Passagen wandert er hin zu einem Wunschbild. Diese Utopie ist für ihn nicht die Besinnung auf eine Epoche, sondern deren Traumschlaf neuer Gestaltungen mit neuen Materialien unter neuen sozialen Verhältnissen.

Das Passagen-Werk besteht aus Fragmenten unterschiedlicher Herkunft. Es entstand zwischen 1927 und 1940 und blieb unvollendet. Benjamin nannte es „Passagenarbeit“. Es unterteilt sich in Exposés, Aufzeichnungen und Materialien (u.a. Eisenkonstruktion), seinen ersten Notizen und frühen Entwürfen (u.a. Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau).

Neben dem frühen Aufsatz Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau sind die Exposés die einzigen Texte, die als abgeschlossen gelten. Tiedemann nimmt an, dass es sich bei dem Saturnring eigentlich um einen unveröffentlichten Zeitschriftenartikel handelt.[6]

Das Passagen-Werk umfasst jedoch eine Vielzahl von Themen und Kapiteln, die die Vielfalt und Komplexität der Betrachtungsweisen durch Benjamin verdeutlichen. Von den insgesamt 36 Kapiteln und Fragmenten seien hier stellvertretend solche Themen genannt wie Hausmannisierung, Barrikadenkämpfen; Konspirationen, compagnonnage; soziale Bewegung; die Börse, Wirtschaftsgeschichte; die Kommune; anthropologischer Materialismus, Sektengeschichten; Ecole polytechnique; Passagen, magasins de nouveauté(s), calicots; Panorama; das Interieur, die Spur und Sammlungen zu Marx, Fourier und Saint-Simon.[7]

2.2 Seine Methodik

Es war Benjamins Absicht Material und Theorie, Zitat und Interpretation in eine neuartige Konstellation zu bringen. Dabei bildet die Sammlung von Materialien und Zitaten den Schwerpunkt der Arbeit. Die theoretische Auseinandersetzung und Interpretation treten in den Hintergrund. Die Zitate werden als Bauglieder verwendet, um durch Montage ein großes, einheitliches Konstrukt zu errichten.[8] Gegenstand seiner Untersuchung war es, die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts unverfälscht und so objektiv wie möglich im Detail darzustellen.

Benjamin äußert sich zu seiner Methodik:

"Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden."[9]

Rolf Tiedemann, betrachtet diese Vorgehensweise als einen Versuch, wie konkret und detailliert man in geschichtsphilosophischen Zusammenhängen sein kann.[10]

Benjamin zielte darauf ab den Allgemeingebildeten, an Architektur Interessierten, anzusprechen und deutlich den Inhalt zu vermitteln.[11]

Dennoch bestehen in diesem Konstrukt, zumal sein komplettes Werk unvollendet ist, philologische Schwierigkeiten: Die zumeist kurzen Fragmente geben keinen Aufschluss darüber, wie Benjamin sie untereinander zu verbinden dachte. Oftmals notierte er nur Ideen. Es wird deshalb nicht ersichtlich, ob Benjamin wirklich diese Aspekte in sein Werk einbinden wollte. Die zitierten Stellen und seine eigenen Interpretationen lassen sich schlecht voneinander trennen.[12]

Die Interpretationen Benjamins beziehen sich auf den kulturellen Überbau des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich, der sich auf den von Marx so genannten Fetischcharakter der Ware zurückführen lässt.[13]

3. Neues Baumaterial und neue Bedürfnisse

Mit dem industriellen Fortschritt am Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich aus unterschiedlichen Gründen vieles im Aufkommen und in der Verwendung der herkömmlichen Materialien. Ziegelsteine und Bauholz wurden in besserer Qualität industriell produziert. Das Kanalnetz ermöglichte preisgünstigere Transportmöglichkeiten in und aus allen Richtungen, sodass zum großen Teil die Differenzen zwischen den Orten ausgeglichen werden konnten.[14]

Die Technik der Steinarchitektur basiert auf der Stereotomie, die des Holzes auf der Tektonik. Das folgende Zitat verdeutlicht die Differenzen zwischen den Materialien Eisen, Stein und Holz:

"Das Eisen ist an Festigkeit dem Stein vierzigfach, dem Holz zehnfach überlegen und hat jedem gegenüber trotzdem nur das Vierfache, diesem gegenüber nur das achtfache Eigengewicht. Ein Eisenkörper besitzt also im Vergleich mit einem gleichgroßen Steinvolumen bei nur viermal größerer Schwere eine vierzigmal größere Tragkraft."[15]

"Das neue 'Bauen' hat seinen Ursprung im Augenblick der Industriebildung um 1830, im Augenblick der Umwandlung des handwerklichen in den industriellen Produktionsprozess."[16]

Doch nicht nur das Eisen gewann immer mehr an Bedeutung im Bauwesen, sondern auch das Glas. Noch Ende des 18. Jahrhunderts wurden gewöhnliche Fenster mit Ölpapier bespannt. Jetzt fand die Verwendung von Glas einen großen Anklang. Zudem wurden Schiefer und Ziegel anstelle von Stroh für die Dächer verwendet. Wo immer möglich, wurden Eisen und Gusseisen verwendet.[17]

Im Jahre 1836 setzte sich auch die industrielle Herstellung von Doppel-T-Trägern aus Eisen durch, die die alten Holzbalkendecken nach und nach ersetzten.[18] In diese Zeit fiel schließlich auch die erste praktische Nutzung der Erfindungen von Vicat, Parker und Aspdin: Zement und Beton.

Einen erheblichen Vorteil brachten die Erschütterungen der Napoleonischen Kriege: Fast überall sanken die Preise für Baumaterialien. Dadurch wurden Materialien, die zumeist den oberen Gesellschaftsschichten vorbehalten waren, zugänglich für das Volk.[19] Außerdem stiegen zu Beginn der industriellen Revolution die Arbeitslöhne und die Hygienebedingungen verbesserten sich, was zur Senkung der Kindersterblichkeit führte.[20] Die Veränderung der Bautechnik wurde somit zum entscheidenden Faktor für die Umgestaltung des städtischen Lebens.

"Die ersten Eisenbauten dienten transitorischen Zwecken: Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen. Das Eisen verbindet sich also sofort mit funktionalen Momenten im Wirtschaftsleben. Aber was damals funktional und transitorisch war, beginnt heute in verändertem Tempo formal und stabil zu wirken."[21]

Dennoch stellte Leonardo Benevolo über diese Zeit fest:

"Während zu Beginn der industriellen Wandlung erhebliche technische Fortschritte gemacht werden, gibt es sozusagen keinen Fortschritt auf dem Gebiet des Wohnungsbaus: Im 19. Jahrhundert wird gebaut wie im 18. und im Mittelalter."[22]

Zu Beginn der Verwendung von Eisen brachte die Gesellschaft diesem Baumaterial ein gewisses Misstrauen entgegen, weil es kein unmittelbar von der Natur dargebotener Baustoff ist, sondern als Bildstoff erst künstlich gewonnen wird.[23] Unterstützt wurde diese negative Haltung von den anfänglichen Schwierigkeiten im Bau, die oftmals zu Unfällen[24] führten. Benjamin schrieb zu diesen Vorbehalten:

"Die staubige Fata Morgana des Wintergartens, die trübe Perspektive des Bahnhofs mit dem kleinen Altar des Glücks im Schnittpunkt der Gleise, das alles modert unter falschen Konstruktionen, zu früh gekommenem Glas, zu frühem Eisen."[25]

Dennoch zeigt Benjamin in seinen Aufzeichnungen eine Reihe von Zweckbauten, die besonders von den neuen Baumaterialien und Konstruktionsweisen profitierten.

3.1 Passagen

Das exotische Vorbild der Pariser Passagen ist der orientalische Bazar, dessen Einfluss eher aus der Literatur stammt. Es handelt sich beim Bazar um einen ganz anders gearteten Bautyp, bei dem die Verkaufsstände im Gegensatz zu den Passagen geöffnet sind. Bei den Pariser Passagen handelt es sich um verglaste, verschlossene Läden.[26]

J. F. Geist sieht "in der Erfindung der Passagen Rezeptionen aus dem Orient, der Antike, dem Mittelalter und aus unmittelbareren lokalen Vorbildern zu einem Bautyp summerieren, der selbst wieder in vielschichtige, kaum zu entwirrende Zusammenhänge eingebettet ist. Die Passage bleibt durch das 19. Jahrhundert hindurch in ihrem Charakter konstant. Sie erweitert nur ihre Dimensionen, ihre Stellung im öffentlichen Raum der Stadt und paßt sich den stilistischen Strömungen der Zeit an. Sie ist Bestandteil der verglasten Welt, der künstlichen Stadt aus Glas und Eisen."[27]

Die ersten Vorläufer der später eisernen Passagen, setzten sich noch als ausgedehnte hölzerne Stände und Galerien zwischen den Wohngebäuden von Paris zusammen.[28]

Einige Faktoren, die die Voraussetzungen für den Bau von Passagen schafften, waren unter anderem der Bedarf an öffentlichem, störungsfreien Raum sowie die Suche nach neuen Absatzmöglichkeiten für die durch die liberalistische Gesetzgebung geförderte Luxusindustrie. Private Spekulanten kauften und trennten das durch Enteignung frei gewordene Gelände in der Pariser Innenstadt. Außerdem fehlten Bürgersteige in Paris, weshalb begehbare Wege neben den Straßen nötig waren.[29]

Für Benjamin sind die Passagen "die wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts"[30]. Sie sind Bauten des Übergangs und Bauten im Übergang. Sie dienten als Übergang zwischen bereits bestehenden Gebäuden und als Verbindungskanal zwischen zwei Straßen.[31] Deshalb nennt Benjamin sie auch "Mischgebilden von Haus und Straße"[32], die einen Übergang zwischen Drinnen und Draußen ermöglichen. Sie werden als Bauten verkörpert, weil sie den klaren Unterschied zwischen Haus und Straße verwischen. Das Passieren und Hindurchgehen ist deshalb genau die Funktion von Architekturen, die für eine Gesellschaft errichtet werden, die auf Zirkulation basiert.[33]

Die Passagen finden ihr Publikum in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie werden anhand einer damaligen Begriffsbildung eines „Illustrierten Pariser Führers“ wie folgt umschrieben:

„(...) eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben..“[34]

Dieses Zitat verdeutlicht die immense Bedeutung der Passagen für die bürgerliche Gesellschaft.

Nach Benjamin entsprechen diese Bauten damit ganz der Definition der Schwelle. Die Schwelle ist ein Gebiet, welche den Wandel und die Passage funktional und typologisch als ein solcher Übergang bestimmt.[35]

Somit nehmen die Passagen die Stellung von "Vermittlungs ̶ und Verbindungsbauten"[36] ein.

3.2 Gasbeleuchtungen

In einem der im Passagen-Werk enthaltenen frühen Entwürfen, dem Saturnring oder Etwas vom Eisenbau,beschreibt Benjamin eine Zeichnung des Künstlers Grandvilles mit dem Titel Le pont des planétes [37] aus dem Jahre 1844. Anhand dieser utopischen und zynischen Illustration verweist Benjamin auf die unbegrenzten Möglichkeiten im Bauen mit Eisen: Es geht in dem Buch um einen kleinen Kobold, der im Weltraum zurechtfinden will. Auf der Abbildung sind die einzelnen Planeten durch Brücken aus Eisen miteinander verknüpft. Der Ring des Saturn bildet eine Art Aussichtsplattform für die Bewohner.[38]

In dieser Illustration werden auch Gaslaternen dargestellt, die den Weg beleuchten. Mit solchen Lichtquellen wurde das Pariser Stadtbild im 19. Jahrhundert bereichert.[39] Sie wurden automatisch nachts eingeschaltet und bei Sonnenaufgang wieder ausgeschaltet. Ebenso wurden die Turmuhren beleuchtet.[40]

Die nun beleuchteten Turmuhren und die nun erhellten Wege ermöglichten den Menschen auch nachts aktiv zu sein und in der Dunkelheit zurecht zu finden. So erweiterten sich die Möglichkeiten gesellschaftlicher Aktivitäten und der Lebensrhythmus wurde nicht mehr durch das Sonnenlicht bestimmt. Dadurch erlangten die Gaslaternen das Symbol der größeren Unbegrenztheit und des Luxus´. Sie verliehen der Stadt auch eine permanente Feierlichkeit. Leben und Kultur gewannen in Paris des 19. Jahrhunderts eine neue zeitliche und räumliche Dimension.

3.3 Eisenbahnen und Bahnhöfe

Der vorindustrielle Überlandverkehr in der Großstadt und in den freien Landstrichen erfolgte mit Hilfe der Postkutsche. Innerhalb der Städte gab es die Poststationen, die oftmals auch ein Gasthaus mit dem Namen "Zur Post" beinhalteten. Sie waren ein fester Bestandteil der Stadt.

Dies änderte sich zunehmend durch die Nutzung von Eisenbahnen und Eisenbahnhöfen.[41] Dennoch übernahm der Bahnhof keineswegs die soziale Stellung der Poststationen, da sie durch ihre massiven und weiträumigen Konstruktionen kein Gefühl der Vertrautheit für das Volk vermittelten. Sie waren zu öffentlich und ließen Intimität vermissen.

Dies erklärt auch die Position der Bahnhöfe als "Verkehrsbauten" abseits der altertümlichen Stadtmauern:

Man hat lange Zeit fälschlicherweise angenommen, die Bahnhöfe würden für die Bewohner der Städte zu Anziehungspunkten werden. Ganz im Gegenteil jedoch steht heute fest, dass man sich eher von diesen lärmenden Zentren fernhält. Die Hotels, die den Bahnhöfen am nähersten sind, gehen in der Regel schlecht.“[42]

Dieses industrielle Antlitz zeigte aber nur eine Hälfte des Bahnhofs. Der urbane Personenbahnhof, um den es letztendlich hier geht, war keinesfalls nur eine rein industrielle Zweckkonstruktion aus Eisen und Glas. Vielmehr beinhaltet er durch eine bizarre Halbierung seiner Gesamtlänge, die in Eisen und Glas komplettierte ursprüngliche Bahnhalle[43], als auch das in Gestein eingefasste Empfangsgebäude[44], welches dem geöffneten Raum, der Stadt, zugewandt war. Jene Gliederung in zwei unterschiedliche Abteilungen, die man passend als „ mi-usine, mi palais“[45] bestimmt hatte, ist, wie Alfred Gotthold Meyer diagnostizierte, eine architekturhistorische Neuheit, „[f]ür die Baukunst zwei ganz verschiedene Welten, denn in der Tat kennt die Architektur keine Baugattung, in der ein einziges Gebäude zwei formal so grundverschiedene Hauptteile vereinte [...]".[46]

Bahnhöfe mussten also industrielle Transport- und Verkehrsbauten sein, sie mussten aber zugleich als Zugangsort, Aufenthaltsraum und kurzfristige Unterkunft für Menschen dienen. Ein Anspruch an Zweckmäßigkeit und Atmosphäre.

[...]


[1] Vgl. Lohmann, Petra: Architektur als Symbol des Lebens.Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels von 1803 bis 1815. Habil.-Schrift; in: Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 162, München und Berlin 2010.

[2] Siehe Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 11 ̶ 41.

[3] Siehe Ekardt, Phillip: Passage als Modell, in: Zeitschrift für Sprach- und Kulturwissenschaften, Bd. 37, München 2005.

[4] Siehe Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1964.

[5] Zitiert nach Salzinger, Helmut: Swinging Benjamin, Frankfurt am Main 1973, S. 5.

[6] Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 40.

[7] Vgl. Ebda., S. 81 ̶ 82.

[8] Vgl. Ebda., S. 13.

[9] Zitiert nach Ebda., S. 574.

[10] Vgl. Ebda., S. 15.

[11] Vgl. Ebda., S. 13 ̶ 14.

[12] Vgl. Ebda., S. 14.

[13] Vgl. Ebda., S. 25.

[14] Vgl. Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1964, S. 58.

[15] Zitiert nach Meyer, Alfred Gotthold: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik, Berlin 1997, S. 5.

[16] Zitiert nach Giedon, Siegfried: Bauen in Frankreich. Eisen. Eisenbeton, Leipzig und Berlin 1929, S. 2.

[17] Vgl. Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1964, S. 58.

[18] Vgl. Ebda., S. 60.

[19] Vgl. Ebda., S. 60.

[20] Vgl. Ebda., S. 62.

[21] Zitiert nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 216.

[22] Zitiert nach Benevolo, Leonardo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1964, S. 58.

[23] Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 220.

[24] Beispielsweise der Zugunglück im Gare Montparnasse am 22. Oktober 1895, siehe Abb. 1 und Abb. 11.

Vgl. Richou, G: L'accident de la gare Montparnasse, in: La Nature, Nr. 1171, 9. November 1895, S. 369 ̶ 371.

[25] Zitiert nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 218.

[26] Vgl. Geist, Johann Friedrich: Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl., München 1979, S. 40 ̶ 41.

Siehe Abb. 2 bis Abb. 6.

[27] Zitiert nach Geist, Johann Friedrich: Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl., München 1979, S. 86.

[28] Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 139.

[29] Vgl. Geist, Johann Friedrich: Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, 4. Aufl., München 1979, S. 90.

[30] Zitiert nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 1002.

[31] Siehe Abb. 7 bis Abb. 9.

[32] Zitiert nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 104.

[33] Vgl. Ekardt, Phillip: Passage als Modell, in: Zeitschrift für Sprach- und Kulturwissenschaften, Bd. 37, München 2005, S. 452.

[34] Zitiert nach Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. V1, Frankfurt am Main 1977, S.45.

[35] Vgl. Ekardt, Phillip: Passage als Modell, in: Zeitschrift für Sprach- und Kulturwissenschaften, Bd. 37, München 2005, S. 452.

[36] Zitiert nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 185.

[37] Siehe Abb. 10.

[38] Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 1060.

[39] Siehe Abb. 8, Abb. 9 und Abb. 11 bis Abb. 15.

[40] Siehe Abb. 19.

[41] Siehe Abb. 16 bis Abb. 18.

[42] Zitiert nach Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 154 ̶ 155.

[43] Siehe Abb. 17.

[44] Siehe Abb. 16.

[45] Bedeutung: halb Fabrik, halb Palast

[46] Zitiert nach Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 154 ̶ 155.

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Das Bestreben der Kunst, sich selbst zu verleugnen
Untertitel
Dargestellt am Beispiel der Architektur und Gestaltung in Paris
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Kunstgeschichtliches Institut)
Veranstaltung
Passage, Schacht, Sphäre – Schlüsseltexte der Architekturphilosophie von Walter Benjamin, Jacques Derrida und Peter Sloterdijk
Note
2
Autor
Jahr
2013
Seiten
65
Katalognummer
V270740
ISBN (eBook)
9783656623816
ISBN (Buch)
9783656623823
Dateigröße
7771 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Passagenarbeit, Passagen-Werk, Adorno, Theodor, Eisenkonstruktion, Saturnring, Etwas vom Eisenbau
Arbeit zitieren
Ann-Sophie Parker (Autor:in), 2013, Das Bestreben der Kunst, sich selbst zu verleugnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270740

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