Es handelt sich bei dem Text um eine Untersuchung der Sprachkrise und Nietzsche-Rezeption in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" unter Heranziehung von Nietzsches Schrift "ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" und unter besonderer Berücksichtigung von Gustav Gerbers"Die Sprache als Kunst", Band 1, Bromberg 1871 als Schlüsseltext zum Verständnis der frühen Sprachkritik Nietzsches.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Sprach-Grenzen und Utopien
2. „Ton und Geberde“- Nietzsches früher Sprachbegriff
3. Gerbers „Die Sprache als Kunst“
a. Die Sprache als Kunst und die „Künstlichkeit“ der Welt
b. Nietzsches Gerber – Rezeption
4. Nietzsches Sprachkritik: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“
a. Die „metaphorische Sprunglogik“
b. Die Ubiquitätsthese der Metapher
c. Konvention und Lüge
5. Der Trieb nach Erkenntnis und der „Wille zur Macht“
6. Der Perspektivismus
7. Kritische Anmerkungen zu Nietzsches Sprachkritik
8. Musils frühe Nietzsche – Rezeption
9. Die Sprachkrise Musils
10. Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“
a. Die strukturellen Grundkategorien Essayismus, Utopie und Resignation
b. Der Protagonist Ulrich
c. Experimentalphilosophie und Essayismus als Lebensstil
11. Sprach-und Lebensdimensionen: „Spekulation à la hausse“ und „ à la baisse“
12. Der „andere Zustand“ – die Geschwisterliebe zwischen Agathe und Ulrich
13. Die „andere Sprache“
15. Schlußbemerkungen: Musils und Nietzsches Utopien in der Gegenüberstellung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Sprachkrise und Utopie
Sprachkrisen sind kulturgeschichtlich kein Ausnahmefall. Sie sind ein latenter „Normalzustand“. Große gesellschaftliche oder kulturelle Umbrüche können zu manifesten Krisen des Sprachgebrauchs, besonders des poetischen, aber durchaus auch des alltäglichen, führen. Die beiden Sprachkrisen des 20. Jahrhunderts datieren einmal in die Jahre der Jahrhundertwende und dann in die Zeit nach 1945. War die zweite Sprachkrise Konsequenz des Missbrauchs der Sprache durch die nationalsozialistische Ideologie zu propagandistischen Zwecken und zur Umschreibung der daraus hervorgegangenen verbrecherischen Handlungen, so steht die Sprachkrise zu Beginn des 20. Jahrhundert in Zusammenhang mit dem Voranschreiten der Technik, naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, der industriellen und damit gesellschaftlichen Entwicklung und der damit verbundenen Auflösung des von Idealismus und Christentum geprägten Welt-und Menschenbildes. Im Auseinanderfallen als sicher geglaubter Korrelationen, Eigenschaften und Werte verliert die Sprache die bisher ihr zugeschriebene Fähigkeit, die Dinge eindeutig zu bezeichnen und zu benennen. Sprachkrise ist also die schmerzliche Konfrontation mit den Grenzen der Sprache hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit ihrer Worte und Begriffe, so wie Rainer Maria Rilke dieser Erfahrung in seinem Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“[1] Ausdruck verliehen hat. Als ein paradigmatischer Text für diese Sprachkrise gilt Hugo von Hofmannsthals vielzitierter fiktiver Brief an Francis Bacon[2], in welchem Lord Chandos dem
-Adressaten die Symptome seiner Sprachkrise schildert. Der „Chandosbrief“ datiert aus dem Jahr 1902, ist zeitlich also nach dem Lebenswerk Nietzsches und vor dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil entstanden. Er zeigt beispielhaft auf, was sich im „Monolog“ des Novalis[3] ,um 1798/1799 verfasst, bereits andeutet, wenn sich dort die Sprache als handelndes Subjekt vom Willen des Sprachbenutzers befreit, Subjekt und Objekt damit in Eins fallen. Diese Erfahrung liegt auch dem „Chandosbrief“ zu Grunde, wenngleich mehr verunsichernd wahrgenommen und wird dann weiter reflektiert, indem Sprachskepsis und Sprachkrise, aber auch deren Überwindung zu einem, wenn nicht gar zu dem zentralen literarischen Thema überhaupt zum Beginn des 20.Jahrhundert werden. Welche Wege führen aus der Sprachkrise heraus? Einen möglichen Weg hat die Mystik vorgezeichnet: das Schweigen. Es ist dies der Weg, den Maeterlinck und auch Mauthner beschreiten, wobei Mauthner Maeterlinck durchaus kritisch gegenübersteht, mangelt es, laut Mauthner, dessen Auffassung vom Schweigen doch an der gebotenen Reichweite und Radikalität seiner Sprachskepsis.[4] Ob Schweigen aus religiöser Askese und Pietät gegenüber dem Unaussprechlichen oder aus Gründen einer radikalen Sprachskepsis- Schweigen ist nur dann eine Weise der Kommunikation, wenn es eingebettet ist in den Gebrauch der Sprache. So wie zum Gebrauch der Sprache auch das Schweigen als Mittel der Kommunikation gebraucht werden kann, bis hin zum „beredten Schweigen“[5]. Letztendlich führt auch das Schweigen als radikalste Konsequenz einer Sprachskepsis, nicht vollständig aus der Sprachkrise heraus. Ein anderer Weg führt in die Utopie, eine Utopie, durch die die Sprachkrise nicht behoben wird, die jedoch Möglichkeiten eines kreativen Umgangs
damit und eventuelle Teillösungen aufzeigt. Zwei solcher Utopien werden Gegenstand dieser Abhandlung sein. Die eine der beiden Utopien ist eine Variante dessen, was sich mit dem Begriff „Deviationspoetik“ verbindet, also der Gegenüberstellung von nicht-poetischer, alltäglicher oder wissenschaftlicher Sprache und der davon abweichenden poetisch-künstlerischen Sprache. Bei Nietzsche ist dieses Gegenüber beider Weisen des Sprachgebrauchs einerseits radikal verstanden. Andererseits ist der poetischen und der nicht-poetischen Sprache ein Wesentliches und auch Unabänderliches gemeinsam: Keine der beiden Sprechweisen vermag die Wirklichkeit zu erfassen, eine eindeutige Wahrheit durch ein Wort oder einen Begriff zu benennen. Ob poetisch oder nicht-poetisch, Worte und Begriffe bleiben vieldeutig. Bleiben die alltägliche wie die wissenschaftliche Sprache Gegenstand zwischenmenschlicher Konvention, so öffnet sich in der poetischen Sprache dem, der nicht an nur eine Wahrheit glaubt und der darum einen freien Geist hat, eine unendliche Fülle unkonventioneller, kreativer wie intuitiver Möglichkeiten der Sprachgestaltung. Der in Formeln erstarrten, toten, auf Konvention beruhenden Alltags-und Wissenschaftssprache steht eine lebendige, immer im Werden seiende poetische Sprache gegenüber. Beide Sprachen haben ihren eigenen Wert. Die Alltags-und Wissenschaftssprache sichert als Konvention die Überlebens-und Kooperationsfähigkeit der Menschheit. Die poetische Sprache aber, die sich aus aller Regelhaftigkeit löst, ist offen für die künstlerische Gestaltung, den Aspekt der Ästhetik, die Freiheit unablässiger Innovation. Dem gegenüber steht eine andere Utopie, die in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ zum Tragen kommt. Sie beruht nicht auf einer akzentuierten Divergenz von nicht-poetischer und poetischer Sprache, sondern zielt auf eine Annäherung, in der „Ratioides“ und „Nichtratioides“, wie im Lebensvollzug und so auch im Lieben, etwa zwischen Agathe und Ulrich, auch sprachlich zusammenkommen, also auf eine „andere Sprache“ für den „anderen Zustand“, den Ulrich und Agathe in ihrem Beisammensein und ihren „Heiligen Gesprächen“[6] anstreben.
Eine solche „andere Sprache“ zu pflegen wäre dann gewissermaßen Aufgabe des „Erdensekretariats für Genauigkeit und Seele“[7]. Im gemeinsamen Ausgang von der Sprachskepsis gelangen Nietzsche und Musil zu gegensätzlichen utopistischen Vorstellungen, von denen im Weiteren zu handeln sein wird. Umfang und Reichweite von Nietzsches Werk sowie die inhaltliche und formale Vielfältigkeit des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften erfordern dabei in dem gebotenen Rahmen bestimmte Beschränkungen. So wäre es durchaus sinnvoll, auch Musils Mach-Rezeption in diese Untersuchung einzubeziehen. Dazu sei an dieser Stelle auf Piepers Abhandlung[8] verwiesen. Die Aussagen zu Nietzsche stützen sich im wesentlichen auf seine Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“[9], seine ebenso frühe wie grundlegende Arbeit zu Sprachskepsis und Sprachkritik, aber zu Musils Tagebucheintrag „Intuition bei Nietzsche“ (TB 2, Heft 25, S. 1163) schreibt Olmi: „Aber schon hier fühlt Musil die Trennung zwischen „Ratioidem“ und „Irratioidem“; und zugleich fühlt er die Notwendigkeit einer Überwindung dieser Dichotomie. (…). Ewige Spannung, ewige Oszillation zwischen intuitiver, mystischer Erkenntnis und rationalem Denken: das ganze Werk Musils ist ein Versuch, zwischen den zwei gegenteiligen Polen des Geistes eine neue Harmonie zu schaffen.“[10] Eine weitere Einschränkung betrifft die Romanfiguren. Wenngleich namentlich Clarisse und Moosbrugger in ihrem oft regellosen, unkonventionellen, auch vom Wahnsinn diktierten Sprachgebrauch ergiebige Objekte näherer Betrachtung wären, so wird der Fokus dennoch auf den eigentlichen Protagonisten des Romans, Ulrich, gerichtet sein.
2. „Ton und Geberde“ - Nietzsches früher Sprachbegriff
In ihrem „Zum Bilde Friedrich Nietzsches“ aus dem Jahr 1891 unterscheidet Lou Andreas-Salomé im Schaffen Nietzsches drei Hauptphasen[12]. Die erste dieser drei Phasen ist geprägt von seiner Beschäftigung mit der Philosophie Schopenhauers, insbesondere aber der engen persönlichen Beziehung zu Richard Wagner, von der Andreas-Salomé als einer „Jüngerschaft“ Nietzsches gegenüber Wagner spricht13. Es ist die Zeit, in der Nietzsches erstes großes Werk entsteht: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872)[13]. Der Rückblick auf diese frühe Phase lohnt deshalb, weil innerhalb ihrer eine signifikante Veränderung im Sprachverständnis Nietzsches stattfindet, hin zu seiner Sprachskepsis und Sprachkritik, wie sie bereits ein Jahr später in seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (1873)[14] zum Ausdruck kommt, und weil in der „Geburt der Tragödie“ die Duplizität von „dionysisch“ und „apollinisch“ unter dem Einfluss der Metaphysik Schopenhauers entfaltet wird. Diese Duplizität von „dionysisch“ und „apollinisch“ wird im Werk Nietzsches explizit oder implizit immer wieder begegnen. Im Rückgriff auf die altgriechische Mythologie umfasst das Apollinische das Geordnete, Klare und Nüchterne. Ihm entsprechen etwa die bildende Künste und die Poesie. Zur Illustration dessen bedient Nietzsche sich eines im Vierten Buch von Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“[15] vorfindlichen Bildes, aus dem er erschließt, dass Apollo als das „herrliche Götterbild“ des Schopenhauerschen Prinzips der Individuation gelten könne, „aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ‚Scheines‘, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche“[16]. Das Dionysische hingegen ist das Lebendige, Ungeformte, Regellose und ungebunden Kreative schlechthin. Diesem anderen Kunsttrieb entspricht als künstlerischer Ausdruck die Musik.
Das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem ist das von Traum und Rausch. Diese Duplizität findet auch Eingang in Nietzsches frühes Sprachverständnis. In „Die dionysische Weltanschauung“[17] bestimmt er die Grenze der „‘Poesie‘ in der Ausdrucksfähigkeit des Gefühls“[18] durch den Begriff. Was sie über den Begriff nicht auflösen kann, kann durch die instinktive „Geberden“-und Tonsprache mitgeteilt werden. Die „Geberden“sprache ist dem Bereich des Apollinischen zuzuordnen. Sie symbolisiert die „begleitende Vorstellung“ der Mitteilung durch darstellende Gesten, die instinktiv durch „sympathische Innervation“ verstanden werden. Als künstlerischer Ausdruck dieses Kunsttriebes gelten die bildenden Künste sowie die Epik. Die Tonsprache hingegen vermittelt Lust und Unlust, die vom Ton symbolisiert werden. Sie gehört zum Bereich des Dionysischen, deren künstlerische Ausdrucksform die Musik ist, das Ende der Individuation im kollektiv erlebten Rausch. In der Sprache kommen beide, „Geberden“- wie Tonsprache zusammen: „ Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem Ton nennt man S p r a c h e . Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens“[19]. Durch Teilhabe am Apollinischen wie am Dionysischen der Sprache erfährt auch die Poesie eine Steigerung: „ An beide Welten vertheilt erlangt auch die Poesie eine neue Sphäre: zugleich Sinnlichkeit des Bildes, wie im Epos, und Gefühlsrausch des Tons, wie in der Lyrik“[20]. Die wechselvolle und dramatische Beziehung zwischen Nietzsche und Wagner kann in diesem Rahmen nicht näher erörtert werden. Hingewiesen sei auf Sorgner, Birx und Knoepffler: „Wagner und Nietzsche, Kultur-Werk-Wirkung“[21].
3. Gerbers „Die Sprache als Kunst“
a. Die Sprache als Kunst und die „Künstlichkeit der Welt“
War für Nietzsche in der „dionysischen Weltanschauung“ ein Begriff schlicht ein „gemerktes Symbol“[22], denn: „Was man bezeichnen und unterscheiden kann, das begreift man“[23], ist davon ein Jahr später nicht mehr die Rede, sondern das Wort, der Begriff werden zum hinterfragten Ausgangspunkt seiner Sprachkritik. Die Begriffe „Geberde“ und „Ton“ begegnen modifiziert später in Nietzsches Theorie von der Wortbildung als Prozess von „Bild“ und „Laut“ wieder, ebenso der Gedanke einer „Innervation“, dann als „Reiz“ als Ausgangspunkt der Metaphernbildung. Auch wenn die Freundschaft Nietzsches und Wagners bis in den Sommer 1876 Bestand hat[24], so spielt Nietzsches Selbstverständnis in Bezug auf Wagner[25] in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ keine herausragende Rolle mehr. Ein anderer Impulsgeber tritt an Wagners Stelle und inspiriert Nietzsches Sprachtheorie: Gustav Gerber und der erste Band seines Werkes „Die Sprache als Kunst“[26]. Dieses Buch entleiht Nietzsche am 28. September 1872 bei der Universitätsbibliothek Basel[27], um es für die Vorbereitung seiner Vorlesung „Darstellung der antiken Rhetorik“ des WS 1872/73 heranzuziehen. Besonders deren 3. Paragraf, „Verhältniß des Rhetorischen zur Sprache“ und der 7. Paragraf, „Der tropische Ausdruck“, verweisen bereits auf das, was gedanklich dann zusammenfassend in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ zur Darstellung kommt.[28] Auf die Debatte um den Stellenwert der Vorlesung für die Sprachphilosophie kann hier nur hingewiesen werden[29]. Für unseren Zusammenhang wichtig ist, dass
die Sprache weder in ihrem Werden noch Wesen den Gesetzmäßigkeiten der Logik folgt, sondern der Rhetorik. Und Nietzsche war hinsichtlich der Tropen vielleicht auf den neuesten, zumindest aber wohl einen umfassenden Stand gebracht. Gerbers Band erschlägt noch immer mit seinem Detail-und Paradigmenreichtum und seiner Fülle an Zitaten . Aus der Menge der Tropen werden für Nietzsche im Weiteren drei von ihnen eine besondere Rolle spielen: die Synekdoche, die Metonymie und vor allem die Metapher. Nietzsche wird diesen Tropen in seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ eine neue Deutung und Funktion geben. Einzelne Worte und mithin Begriffe können sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Die Bedeutung hängt nach Gerber jeweils von dem Bezug ab, in welchem es steht[30]. Fixiert wird die Wortbedeutung also erst durch den Satz[31]. Gerber versteht die Sprachentwicklung von der Gebärde bis hin zur differenziert artikulierten Sprache als einen Bildungsprozess im Sinne einer Bewusstseinsentwicklung, der in horizontaler und vertikaler Richtung verläuft[32], horizontal als Selbstausdifferenzierung, d.h. dass sich der Mensch durch Artikulation objektiviert und sich in dieser Objektivierung selbst wiedererkennt. Zugleich aber emanzipiert sich der Mensch durch die sprachliche Abstraktion von den Vorgegebenheiten der Natur: „Durch die Stimme erhebt sich das Bewußtsein über die Natur, der es nunmehr den Stempel einer selbsteigenen Sinnhaftigkeit aufdrückt“[33]. Hochgradige sprachliche Abstraktion aber bedeutet zugleich, dass ihr das Individuelle, die alltägliche Empfindung und deren subjektive Artikulation geopfert werden. Kalb illustriert das an der hochgradigen Abstraktionsstufe
der Buchstabenschrift: „…aus Gerbers und Nietzsches Perspektive muß es nun so aussehen, als vollende sich in der Buchstabenschrift der Prozeß einer Abstraktion, in dessen Verlauf zunächst die individuelle Empfindungsqualität (zugunsten der allgemeinen Vorstellung) und schließlich sogar die allgemeine Vorstellung (zugunsten des formalen Strukturgesetzes der Sprache) abgestoßen wird.“[34] Dass der Verlust an leiblicher Individualität grösser ist, je höher der Abstraktionsgrad der Sprache ist und dass sich die individuelle Freiheit, die das Subjekt durch seine Selbstentwicklung erreichen kann, sich an seiner Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch bemisst, sind die besonders herauszustellenden Schwachpunkte in Gerbers Theorie der Sprach-und Subjektentwicklung, die er teils in Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Konzept der Sprache als „individuelles Allgemeines“[35] aufgestellt, hinsichtlich der Auffassung aber, dass die schriftlichen Artikulation die mündliche in besonders reflektierter und potenzierter Weise steigere, in Übereinstimmung mit Nietzsche ihm abgegrenzt hat. Für Gerber ist Sprache durchgehend bildhaft. Anders gesagt: Menschen sind Sprachbildner. Als Sprachbildner folgen sie einem Kunsttrieb. Gerber spricht von diesem Kunsttrieb in Analogie zum Spieltrieb bei Schiller[36] und bezieht sich im Weiteren auch auf Jean Paul, für den das Spiel „die erste Poesie des Menschen“ ist.[37]. So kann Gerber zusammenfassen: „In der Kunst also spielen wir“.[38] Die Sprachbildung liegt, da sie einem dem Menschen eigentümlichen Kunsttrieb folgt, der Literatur voraus.[39]
Der Mensch als Sprachbildner oder Sprachkünstler bringt Sprachbilder, Tropen, rhetorische Figuren hervor. Denn es ist das Wesen der Sprache, tropisch zu sein.[40] Tropen dienen dazu, die Seele selbst des Sprachkünstlers und nichts anderes zum Ausdruck zu bringen[41], „den einzelnen, bestimmten Moment des Seelenlebens“ zu verkörpern[42]. So schafft sich die Seele eine künstlerische, eine künstliche, anthropomorphe Welt, die ihr vertraut ist.[43] Genau das aber hat die Menschheit im Gang ihrer Entwicklung vergessen[44], dass ihre Worte, ihre Begriffe, ihre Sprache ganz und gar tropisch sind und das seelische Erleben, das irgendwann mal am Anfang einer Tropenbildung stand, schon längst nicht mehr zugänglich ist und dass das, was der Mensch für die Wirklichkeit hält, lediglich eine Illusion, eine Vorstellung derselben ist. Vollständig von Tropen durchdrungen kann die Sprache weder die Dinge eindeutig beschreiben noch benennen, ist sie zur Erkenntnis der Wirklichkeit oder Wahrheit nicht mehr brauchbar. Die künstliche Welt, die sich die Seele bei Gerber mittels der Sprachkunst, der Bildung von Tropen und Sprachbildern schafft, vom Menschen belebt und ihm in ihrem Anthropomorphismus vertraut, wird in Nietzsches Sprachkritik zu einer Welt der Täuschungen, der Illusionen, des Selbstbetrugs. Davon wird in Zusammenhang mit seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ noch zu handeln sein. Festzuhalten ist an dieser Stelle die Gerber und Nietzsche gemeinsame Vorstellung vom durchgängig tropischen Charakter der Sprache als eine der wesentlichen Voraussetzungen für Nietzsches Sprachskepsis und –kritik.
Primär ist der Selbstzweck der Sprache also Kunst, während die Bezeichnung und Benennung von Dingen oder die Bildung von Begriffen eine sekundäre Funktion ist sind. Hödl verortet Gerber darum im „Horizont einer idealistischen Philosophie der Selbstentfaltung des Geistes in seinen Tätigkeiten, innerhalb derer Gerber die Sprache in ihrem Ursprung dem künstlerischen Bereich zuordnet, zu sehen. Dieses künstlerische Moment wird von Gerber also positiv bewertet und seine Kritik an den begrifflichen Leistungen des Denkens ist von daher motiviert, während Nietzsche in WL diese Elemente aus Gerber in einen anderen-skeptischen, wenn nicht pessimistischen-Kontext transformiert“[46]. Damit ist die Frage nach der Gerber-Rezeption Nietzsches angesprochen, deren umstrittene Reichweite für das Werk Nietzsches als Ganzes hier nicht untersucht werden kann. [47]
b. Nietzsches Gerber-Rezeption
Zentral für Nietzsches Gerber-Rezeption ist , wie bereits gesagt, die Vorstellung Gerbers, die Sprache sei durchgehend metaphorisch. Diese Theorie wird, so Gerber, durch zwei Argumente gestützt. Das erste Argument ist, dass erst der Satz die kleinste Bedeutungseinheit sei, mithin das einzelne Wort seine Bedeutung erst aus dem Bedeutungszusammenhang des ganzen Satzes gewinnt. Die Bedeutung des Satzes als kleineste Bedeutungseinheit hat schon Humboldt betont[48]. Die andere Begründung für den durchgängig metaphorischen Charakter der Sprache bezieht Gerbers aus der Lehre von den Tropen anhand der Synekdoche. Danach geben Worte und Begriffe lediglich einen Aspekt der Empfindungen wieder, worin aber das Ganze der Empfindungen gemäß der Synekdoche mit eingeschlossen ist[49]. Beispiele für Synekdocheen gibt Gerber etwa anhand des Wortes „Schlange“[50]. Die Bedeutung des Wortes oder Begriffs kann nur aus dem Zusammenhang erschlossen werden, in welchen das Wort oder der Begriff gestellt ist, das Reptil oder die Warteschlange, der Meeresbewohner oder die Erkrankung. Tropen sind nicht hinsichtlich ihrer
Bedeutung nachträglich modifizierte Worte und Begriffe. Es ist vielmehr das wesen der Worte und begriffe, Tropen zu sein. Dieser Gedanke schließt an frühere Sprachtheorien an, so etwa bei Vico, Hamann und Herder, die das „‘bildhaft‘-metaphorische Sprechen dem begrifflich-abstrakten genetisch“ vorordnen.[51] Dazu kommen noch zwei weitere Aspekte. Der eine ist der der willkürlichen Setzung, etwa der grammatischen Bestimmung des Geschlechts[52], der andere ist der unwillkürliche historische Aspekt, der sich aus der „Biographie“ und der „Seelenwanderung“ als „Übertragungen“ im Rahmen sprachgeschichtlicher Veränderungen ergeben[53] ist Sprache ja nicht ein abgeschlossenes Vorhandenes, sondern ein ständig Veränderungen erfahrenes Werden[54]. Um angesichts des durchgehend metaphorischen Charakters der Sprache überhaupt eine Verständigung herstellen zu können, bedarf es Sprachkonventionen, die sich bei Gerber auch auf das Wesen der Worte und nicht nur auf deren Bedeutung beziehen[55]. Solche Konventionen sind unabdingbar für die alltägliche Verständigung, soll der Austausch von Mitteilungen und Bedürfnissen im Lebensvollzug nicht in babylonischer Verwirrung aufgehen. Die Bildung von Konventionen wird durch zwei Vorgänge unterstützt: durch die Gewinnung der Bedeutung eines Wortes oder Begriffs aus dem zugeordneten Zusammenhang[56] und durch den gewohnheitsmäßigen Gebrauch, den Usus eines Wortes oder Begriffs[57]. Für Humboldt wird die Bildung von Konventionen besonders gefördert durch den Trieb des Menschen zur Kommunikation und Gemeinschaftsbildung[58].
[...]
[1]. Rilke , s.o. : Hier versagt die Sprache nicht nur ihren Dienst eines eindeutigen Bezeichnen und Benennens, sondern ihre Verwendung, als gäbe es so etwas wie eine Eindeutigkeit der Begriffe, wirkt geradezu destruktiv.
[2]. Mayer , S. 46 – 59.
[3]. „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei-Sie machen eine Welt für sich aus-Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll-eben darum spiegelt sich in ihnen dass seltsame Verhältnißspiel der Dinge“. Novalis S. 5
[4].s. Mauthner S. 117ff
[5]. zum Thema „Schweigen“ s. a. Hart-Nibbrig
[6]MoE, S. 746 - 771
[7]. MoE, S. 597
[8]. s. Pieper
[9]. KSA 1, WL, S. 873 – 890
[10]. Olmi, S. 120f
[11]. Seidler, S. 332, ist m.E. zuzustimmen, wenn er feststellt: „Erstens ist auch für Musils Verhältnis zu Nietzsche nicht Clarisse, sondern der Hauptcharakter des Romans , Ulrich, die ausschlaggebende Gestalt.“
[12]. Schmid , S. 74, siehe dazu auch Pütz ( 1975), S. 23ff
[13]. Schmid , S. 74
[14]. Publiziert erst nach Andreas-Salomès erwähnter Phaseneinteilung für das Werk Nietzsches
[15]. Schopenhauer, S. 457
[16]. KSA 1, GT, S.28
[17]. KSA 1, DW, S. 551 - 577
[18]. KSA 1, DW, S. 572
[19]. KSA 1, DW, S. 575f
[20]. KSA 1, DW, S. 577
[21]. s. Sorgner
[22. KSA 1, DW, S. 576
[23]. KSA 1, DW, S. 576
[24]. s. Caysa, S.50
[25]. Caysa, S. 60: „Nietzsche wollte nicht nur ein ‚Arzt der Cultur‘, sondern auch der Erbe und Neustifter der Kulturerneuerungsträume Richard Wagners sein.“
[26]. erschienen 1871 in Bromberg
[27]. Stingelin II, S. 425
[28]. zu dieser Vorlesung s. Hödl, S. 39ff
[29].dazu Stingelin I
[30]. „Dabei müssen wir uns erinnern, daß ein einzelnes Wort für sich blosse Abstraktion ist, denn seine Bedeutung und seine Bedeutungen erhält es nur im Satz, den es als Wurzel schon bedeutete; die vielen Bedeutungen der Wörter sind eben die verschiedenen Beziehungen, in welche sie treten können“. Gerber, S. 353.
[31]. Gerber, S. 353
[32]. Kalb, S. 167
[33]. Kalb, S. 167
[34]. Kalb, S. 171
[35]. „Indem Rede und Gesang zuerst frei strömten, bildete sich die Sprache nach dem Maass der Begeisterung und der Freiheit und Stärke der zusammenwirkenden Geisteskräfte. Dies konnte aber nur von allen Individuen zugleich ausgehn, jeder Einzelne musste darin von dem Andern getragen werden, da die Begeisterung nur durch die Sicherheit, verstanden und empfunden zu sein, neuen Aufflug gewinnt“ Humboldt, Sprachbau, S. 303, s.a. Gerber , S. 178
[36]. Gerber , S.3
[37]. Gerber, S. 3
[38]. Gerber , S.4
[39]. Gerber, S. 52
[40]. siehe Hödl, S. 80
[41]. „…denn der Sprachkunst ist die Sprache nicht M i t t e l zur Darstellung irgend welchen I n h a l t s, welchen die Seele aufgenommen haben kann, sondern sie selbst, ihre Formation ist der alleinige Zweck der Darstellung“ Gerber , S.30
[42]. Gerber , S. 30
[43]. “Damit die Seele sich ausspreche, muss sie sich mit einem Leibe bekleiden, einem Stoffe, und diesen entnimmt sie der Natur. Sie schafft sich so ein belebte, vermenschlichte Welt, welche ihre Gleichgültigkeit und Fremdheit abgelegt hat und mit ihr sympathisirt.“ Gerber , S. 18
[44]. KSA 1, WL, S. 878
[45]. s.u. Abschnitt 4, S. 15
[46]. Hödl, S. 87
[47]. s. dazu und zu Humboldt: Kalb, S. 161, Anm. 3
[48]. s. Gerber, S. 150
[49]. s. Gerber, S. 363f
[50]. S. Gerber, S. 365f
[51]. s. Schmitz-Emans, S. 53
[52]. s. Gerber, S. 379f
[53]. s. Gerber, S.343
[54]. vergl. KSA 11, NF 38 (14), S. 613
[55]. s. Hödl, S. 80
[56]. Gerber, S. 306: „sondern immer einzelne, bestimmte Menschen, die Gestikulation, Betonung, die Benennung durch Eigennamen, die ausführliche Beschreibung, mit einem Worte, der Zusammenhang mit allen anderen Dingen, Personen, Worten, welche zu dem Moment in Beziehung stehen; -Dies erst beschränkt die Unbestimmtheit der Lautbilder soweit, dass von einem hinreichende Verständniss die Rede sein kann“.
[57]. s. Gerber, S. 464
[58]. Humboldt, Verschiedenheiten, 43, S. 173
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- Heiko Gerdes-Janssen (Autor:in), 2013, Sprachkrise und Nietzsche. Rezeption in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271064