Was heilen wir?

Konzeptionen von Krankheit und deren Auswirkungen auf den Bereich der Psychotherapie


Hausarbeit, 2013

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Rechtfertigung eines Begriffs: „krank“

2. Kranke Seele, kranke Psyche?.
2.1 Die biologische Norm
2.2 Geisteskrankheit als Mythos
2.3 ,wahnsinnigʻ als Urteil
2.4 Wie wird der Begriff heute verwendet?

3. Vom Konzept zur Therapie
3.1 Der Krankheitsbegriff in der Psychopharmakotherapie
3.2 Der Krankheitsbegriff in der Psychoanalyse
3.3 Der Krankheitsbegriff in der Verhaltenstherapie

4. Das biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit

5. Fazit

6. Literatur

Wenn ich mit einer Körpertemperatur von 41°C im Bett liege, ist es naheliegend diesen Zustand als ,krankʻ zu bezeichnen. Wenn meine Schilddrüse nachweislich zu wenig Hormon produziert, wird mir wahrscheinlich eine Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert, die mich als ,krankʻ ausweist.

Sitz mir in der Bahn ein Mann gegenüber, der einen Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner in seinen Bart nuschelt, denke ich wahrscheinlich etwas wie: „Der spinnt doch“ oder „der ist sicher psychisch krank“. Doch was, wenn ich weiß, dass dieser Mann ein erfolgreicher Autor ist, der seine fiktiven Briefromane zunächst verbal für sich artikulieren muss, um diese anschließend kunstvoll zu Papier bringen zu können? Denke ich dann anders über diesen Mann? Wenn ja, was macht diesen Sinneswandel aus? Welche Umstände lassen einen Menschen als Genie erscheinen, welche als Wahnsinnigen? Ab wann ist die Abweichung meines Cholesterinspiegels krankhaft – und wovon wird da abgewichen?

1. Rechtfertigung eines Begriffs: „krank“

All diese Fragen zeigen, dass Urteile, die wir in unserem Alltag häufig treffen oder akzeptieren, nicht immer eindeutig oder leicht begründbar sind. Und auch die Trennlinie zwischen Krankheit und Gesundheit, die oft ganz deutlich scheint, ist nicht fest, sondern einem Wandel unterzogen:

Im Jahre 1974 hat die weltgrößte Organisation von PsychopathologInnen (PsychiaterInnen, PsychoanalytikerInnen) und PsychotherapeutInnen, die APA (American Psychiatric Organisation) die Diagnose "Homosexualität" abgeschafft, was in der Folgezeit auch dazu führte, dass 1991 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, im ICD-10. Revision, die Homosexualität als Krankheit abgeschafft wurde.[1]

Dieses Beispiel macht deutlich, dass Wertewandel und ein Umdenken in der Gesellschaft den Krankheitsbegriff mitformen. D.h. aber auch, dass der Krankheitsbegriff nicht rein objektiv ist, sondern andere Aspekte beinhaltet als allein biologische Messwerte.

Die Feststellung, ein Verhalten oder eine körperliche Auffälligkeit sei pathologisch, hat zum Teil weitreichende Folgen für das Leben eines Einzelnen, aber auch das Gesundheitswesen und die mit ihm verbundenen Hilfeleistungen sind stark vom vorherrschenden Krankheitsbegriff abhängig. Diesen gilt es im Folgenden zu untersuchen:

Man unterscheidet in der Regel[2] zwischen körperlichen und geistigen bzw. psychischen Erkrankungen. Diese Unterscheidung findet sich auch in der Internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten, die als eine Kategorie des ICD-10-GM „Psychische und Verhaltensstörungen“ aufführt und diese von anderen, somatischen Krankheiten bzw. Gesundheitsproblemen abgrenzt.[3]

Zudem ergibt sich ein unterschiedlicher Zugang zu Zuständen und zur Beschaffenheit des Psychischen und des Körperlichen. Kann man letzteres durch Messverfahren und Indikatoren verhältnismäßig leicht erfassen und vergleichbar machen, fällt dies im Bereich des Psychischen ungleich schwerer. Wie ist das Vorgehen im Bereich der somatischen Erkrankungen?

In der somatischen Medizin geht man zunächst davon aus, dass es einen Wert gibt, der einer Norm entspricht und somit als Vergleichspunkt dienen kann. Diese Perspektive stellt den deskriptiven Charakter des Normbegriffs dar. Eine so verstandene Norm kann man nach Sponsel in fünf Vergleichbarkeitskriterien einteilen: Definitions-Norm, konstruktiv-operationale Norm, statistische, funktionelle und ideale Norm.[4]

- Die Definitions -Norm bezeichnet die „Übereinkünfte und Konventionen“, die für eine Begriffsbestimmung getroffen wurden. Diese Bestimmung eines Begriffs ist für seine bessere und kohärentere Verwendbarkeit wichtig.
- Die konstruktiv-operationale Norm geht über eine rein begriffliche Ebene hinaus und erweitert diese z.B. um Angabe darüber, ob und wann etwas vorliegt.
- die statistische Norm ist zunächst ein Zahlenwert, der z.B. die kumulierte Häufigkeit oder die Wahrscheinlichkeit angibt. Von diesem kann direkt noch nichts über die Interpretation des Wertes geschlossen werden, hierfür braucht es einen Theorierahmen.
- Die funktionelle Norm hat als Ankerpunkt eine (angenommene) Funktion, der bei einer Abweichung nicht mehr nachgekommen werden kann, somit kann sie der statistischen Norm einen Theorierahmen geben.

Als Funktion kann das Laufens verstanden werden, wobei ein gebrochenes Bein in diesem Fall einer funktionellen Norm zuwiderlaufen würde, da es das Laufen verhindert. Die Funktion kann jedoch auch ganzheitlicher z.B. als Wohlbefinden definiert werden.

- Im Falle der idealen Norm ist „das Normkriterium ein Ideal, in der Regel nach traditionellen oder individuellen Werten“. Die Idealnorm spiegelt sich z.B. in Schönheitsvorstellungen wider, findet jedoch auch im wissenschaftlichen Bereich statt, wenn es im die Beurteilung einer Theorie nach Idealen z.B. der Schlüssigkeit der Annahmen als Gütekriterium geht.

Sponsel führt weiter aus, dass für eine Norm a) die zu normierende Eigenschaft tatsächlich existieren muss, b) die Möglichkeit einer Normierung beinhaltet und c) eine Konvention/Einigung über diese Norm gefasst werden muss.

Der letzte Schritt führt uns zu der Normvariante, die im Falle des Krankheitsbegriffs am problematischsten scheint: die soziale Norm, die jedem bescheinigt normal zu sein, der „so lebt, wie es die Gesellschaft von ihm erwartet“[5]. Problematisch ist nicht einmal die soziale Norm selbst, sondern ihre verschleierte Existenz als Grundlage für andere Normbegriffe wie z.B. dem medizinischen. Hier wird proklamiert, dass ,krankʻ messbar und validierbar sei, da man sich an mehr oder weniger objektiven Normwerten orientiert.

Andere Autoren widersprechen dieser Position und unterstellen diesem Normbegriff in der Medizin eine weitere Komponente, die über die rein deskriptive hinausgeht. Diese sollen im Folgenden zu Wort kommen.

2. Kranke Seele, kranke Psyche?

Bis hierher ist klar geworden, dass der Krankheitsbegriff in der somatischen Medizin nicht den Objektivitätsansprüchen nachkommen kann, die teilweise an ihn gestellt und von Medizinern selbst erhoben werden. Was jedoch schon für die körperlichen, verhältnismäßig leicht zugänglichen und darstellbaren Befindlichkeiten gilt, hat im Bereich des Psychischen noch größere Bedeutung:

Krankheit wird nicht mehr als Entität, als eine relativ konstante Vorstellung im Sinne einer Dichotomie von Krankheit und Gesundheit aufgefaßt, sondern als soziale Rolle, die von der Bedeutungszuschreibung lebt. Diese Vorstellung hat den Vorteil, daß nicht nur somatische Parameter von Krankheit relativiert werden können, sondern auch der Krankheitsbegriff um die ,subjektive Leidenserfahrungʻ erweitert wird. Wir leiden ja schließlich nicht an Krankheiten, sondern Empfindungen und an Vorstellungen, deren Ursache wohl Veränderungen in der Physis als auch in der Psyche sein können. Wir kennen aber gerade in der Psychotherapie den scheinbar Gesunden, der ganz erbärmlich leiden kann und dem wir in der Psychotherapie ein krankheitswertiges Leiden sofort zugestehen, wo etwa der naturwissenschaftlich orientierte Arzt keine Störung wahrnimmt, da ihm die dazu notwendige Sichtweise fehlt.[6]

Hier werden zwei Punkte deutlich. Zum einen gibt es keine neutrale Sichtweise, alle Diagnose findet aus einer Theorie-geladenen und somit Wert-geladenen Perspektive statt. Zum anderen ergibt sich aus diesen Perspektiven für manche Theorien eine Trennung von Psyche und Körper, für andere wiederum spielen sie zusammen. Die Position, die man hierbei einnimmt, formt den gewählten Krankheitsbegriff:

2.1 Die biologische Norm

Es gibt eine Reihe von Definitionen, die den Begriff der Krankheit bzw. den der Gesundheit einfangen wollen. Ich möchte mit der von Boorse beginnen:

An organism is healthy at any moment in proportion as it is not diseased; and a disease is a type of internal state of the organism which:

(i) interferes with the performance of some natural function – i.e., some species-typical contribution to survival and reproduction – characteristic of the organism’s age; and
(ii) is not simply in the nature of the species, i.e. is either atypical of the species or, if typical, mainly due to environmental causes.

The crucial points about this analysis are two. First, diseases are interferences with natural functions. Second, since the functional organization typical of a species is a biological fact, the concept of disease is value-free. Whether or not an organism is diseased can be settled in principle by the methods of natural science. The popularity of the opposite view is, I think, due to a failure to distinguish between the idea of a disease and the much narrower idea of an illness. Diseases become illnesses only when they satisfy certain further, and normative, conditions :

A disease is an illness only if it is serious enough to be incapacitating, and therefore is

(i) undesirable for its bearer;
(ii) a title to special treatment; and
(iii) a valid excuse for normally criticizable behaviour.[7]

Mit seinem Aufsatz nimmt Boorse zu einer größeren Debatte Stellung. Es geht hierbei vor allem darum, ob und inwiefern man den Krankheitsbegriff physiologischer Natur auf den psychologischer Natur übertragen kann. Also darum, ob man körperliche und geistige Beeinträchtigungen und Krankheiten konzeptionell gleich verstehen und verwenden kann.[8]

Boorse bezieht hier klar Stellung und sagt, Krankheit sei das Zuwiderlaufen eines körperlichen Zustandes gegen eine ,natürliche Funktionʻ. Zudem sei diese Funktion objektiv messbar und somit wertfrei. Geistige ist nach Boorse körperliche Krankheit und die psychopathologischen Begriffe nach eben nachgezeichneter Argumentation ebenfalls deskriptiv und wertneutral, da sich die Funktionalität nicht an einer gesetzten Norm orientiert, sondern an einer von der Natur gegebenen Norm. Damit bildet er eine Gegenposition zu Szaz – für den geistige Krankheit ein Mythos ist – und Foucault – der geistige Krankheit als soziales Machtkonstrukt ausdeutet.

2.2 Geisteskrankheit als Mythos

Thomas Szaz hat in seinem Aufsatz The myth of mental illness die These vertreten, dass es psychische Krankheiten nicht gibt und dass der Begriff nicht mehr dienlich sei.

Er argumentiert hierfür auf zwei Ebenen. Zum einen stellt er die Annahme infrage, dass „seelische Krankheiten […] durch einen Defekt oder eine Erkrankung des Zentralen Nervensystems erklärt werden“[9] können. Zum anderen widerspricht er dem Dualismus von psychischen und körperlichen Symptomen und sagt, dieser würde „nur in der Sprache“[10] existieren.

[...]


[1] Rudolf Sponsel, Homosexualitaet in der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie (GIPT) Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen: http://www.sgipt.org/gipt/sex/homo.htm, letzter Zugriff: 22. Juli 2013.

[2] Diese Unterscheidung ist, wie die gesamte Begrifflichkeit, einem Wandel unterzogen. So werden, je nach zugrunde liegender Konzeption, psychische und physische Einschränkungen aufeinander reduziert (s. Boorse, Punkt 2.1). Aber auch eher pragmatische Gründe führen laut Ingo-Wolf Kittel zu einer Trennung dieser beiden Bereiche: „Die Ausgrenzung der Seelenheilkunde aus der Medizin fand daher auch zu einem Zeitpunkt statt, als Ärzte bestimmte neue Methoden in der Medizin zur Anwendung zu bringen suchten. Nachdem sie ihre Tätigkeit im religiös geprägten Mittelalter noch so gut wie ausschließlich auf physische Erscheinungen und dementsprechende Behandlungsmethoden beschränken mußten [...], begannen sie ,im Zeitalter der Vernunftʻ, also in der Neuzeit, mit ihrem auf den Fortschritten der Physik beruhenden Glauben an die Beherrschbarkeit aller Probleme auch in der Medizin alsbald Behandlungsmethoden zu propagieren und zur Anwendung zu bringen, die keineswegs mehr oder nicht ausschließlich physisch wirksam waren […].

Die Scheidung einer Seelenheilkunde von der übrigen Medizin, und damit die Unterscheidung zwischen einer somatischen und psychischen Heilkunde, kann somit auch methodisch begründet werden, da sich die in der Medizin zur Anwendung kommenden Verfahren ihrem unmittelbaren Angriffspunkt entsprechend in zwei große Gruppen einteilen lassen. Die eine Gruppe besteht in all den bekannten Verfahren, die ungeachtet ihrer weiteren Auswirkungen eine physische, wissenschaftlich also nur physiologisch erfaßbare Wirkung auf uns Menschen haben. Die andere Gruppe wird gebildet von verschiedenen Formen sozialer Interaktion, in denen wir - wenn auch nicht nur zu therapeutischen Zwecken - einen nun einmal "psychisch" genannten (s. hierzu Giegel 1969) Einfluß auf Mitmenschen ausüben können.“

Ingo-Wolf Kittel, Systematische Überlegungen zum Begriff "krank" in der Medizin im allgemeinen und in der Seelenheilkunde im besonderen, in: Rudolf Degkwitz &H Siedow, Standorte der Psychiatrie. Band 2: Zum umstrittenen psychiatrischen Krankheitsbegriff. Urban &Schwarzenberg, München 1981, S. 145f.

Mit Verweis auf Hans-Joachim Giegel, Die Logik der seelischen Ereignisse. Suhrkamp, Frankfurt 1969.

[3] http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/index.htm (letzter Zugriff: ) Siehe Kategorie F00-F99.

[4] Rudolf Sponsel, Handbuch integrativer psychologischer Psychotherapie. IEC Verlag, Erlangen 1995, S . 83.

[5] Josef Egger, Zum Krankheitsbegriff in der Verhaltenstherapie, in: Alfred Pritz &Hilarion Petzold (Hg.), Der Krankheitsbegriff in der modernen Psychotherapie. Junfermann, Paderborn 1992, S. 308.

[6] Alfred Pritz, Zur Definition von ,Psychotherapieʻ in den psychotherapeutischen Schulen und ihren Implikationen für den Krankheitsbegriff, in: Pritz &Petzold (Hg.), Der Krankheitsbegriff in der modernen Psychotherapie, S. 65.

[7] Christopher Boorse, What a Theory of Mental Health should be. Journal for the Theory of Social Behaviour, 6,1, 1967, S. 62f.

[8] „An die Stelle der relativ verlässlichen apparativen diagnostischen Möglichkeiten in der Körpermedizin – wie z.B. durch Röntgen, Labor etc. - treten in der Diagnostik dieser [psychischen, Anm. d. Verf.] Erkrankungen die weniger verlässlichen Methoden der psychiatrischen Exploration und der psychologischen Tests, wenn wir einmal von den körperlich begründbaren psychischen Störungen absehen.“ Heiko Waller, Sozialmedizin. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 217.

Diese Unterscheidung zwischen psychischer und physischer Verfassung wird auch zu Beginn dieser Arbeit deutlich. So begegnen wir dem Phänomen Fieber anders als dem der Selbstgespräche.

[9] Thomas Szaz, Der Mythos von der seelischen Krankheit, in: Keupp, Heinrich (Hg.), Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. Urban &Schwarzenberg, München, Berlin, Wien 1972, S. 46.

[10] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Was heilen wir?
Untertitel
Konzeptionen von Krankheit und deren Auswirkungen auf den Bereich der Psychotherapie
Hochschule
Universität Stuttgart
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
23
Katalognummer
V271107
ISBN (eBook)
9783656635888
ISBN (Buch)
9783656635871
Dateigröße
883 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
konzeptionen, krankheit, auswirkungen, bereich, psychotherapie
Arbeit zitieren
Lisa Atzler (Autor:in), 2013, Was heilen wir?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271107

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