„Ich bin Berlin“ – diese Aussage des kunstseidenen Mädchens im gleichnamigen Roman von Irmgard Keun zitiert, wie Urte Helduser treffend feststellt, einen männlichen Großstadtdiskurs, in dem die Stadt als Projektionsfläche männlicher Moderneerfahrung weiblich allegorisiert wird. Doris, die Protagonistin des Romans, adaptiert diese Tradition weiblicher Allegorisierung unbewusst, weil diese im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in der populären Kultur eine weite Verbreitung fand. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, welche Weiblichkeitsbilder in dieser Tradition enthalten sind und in welchem Verhältnis sie zu den konkreten Frauenfiguren in der modernen Großstadtliteratur stehen. Wie lassen sich diese Bilder von der weiblichen Stadt mit der tatsächlich in der Stadt existierenden Frau in einen Zusammenhang bringen?
In der Literaturgeschichte ist der Topos von der Stadt als Frau – sei es als Mutter, Göttin oder gefährliche Verführerin – schon sehr viel älter. Bereits in der Bibel ist die Rede von dem wohl prominentesten Beispiel, der Hure Babylon, die als Allegorie auf die gottlose Stadt auch in der Moderne wieder aufgegriffen wird. Doch obwohl die moderne Großstadt als literarisches Motiv in der Literaturwissenschaft sehr beliebt ist, wird ihre weibliche Allegorisierung nur selten kritisch hinterfragt. Diese Arbeit soll einen Beitrag zur Beseitigung dieses Mangels zu leisten, denn eine ausführliche Analyse der Großstadtromane der „Klassischen Moderne“ unter diesem Aspekt gibt es bisher nicht.
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929) und Irmgard Keuns "Das Kunstseidene Mädchen" (1932) können als zwei repräsentative Vertreter dieser „klassischen“ Großstadtliteratur betrachtet werden. Die Themen Stadt und Weiblichkeit sind hier besonders eng miteinander verknüpft. Die Stadt wird zum einen dämonisiert und als solche mit „allen Attributen verführerischer und beängstigender Weiblichkeit ausgestattet“ , zum anderen birgt sie neuen Freiraum für die Frau selbst. Folglich prallen tradierte, großstadtkritische Imaginationen der Stadt als Frau auf moderne Vorstellungen so genannter „neuer“ Frauen, die in der Großstadt die Möglichkeit zur Emanzipation sehen. Hieraus ergibt sich die Frage, wie diese in der Großstadt entstandenen Weiblichkeitsbilder miteinander zu vereinbaren sind bzw. inwiefern eine Emanzipation der Frau möglich ist, solange die stereotypen Weiblichkeitsvorstellungen, die in den Allegorisierungen zum Vorschein kommen, vorherrschen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Zum Großstadt- und Weiblichkeitsdiskurs in der Weimarer Republik
- 2.1 Die Metropole Berlin – ein Ort der Gegensätze
- 2.2 Die Neue Frau in der Großstadt
- 2.3 Die Prostituierte als Topos der Großstadtliteratur
- 3. Die Großstadt als Frau
- 3.1 Zur Weiblichkeit imaginärer Städte bei Sigrid Weigel
- 3.2 Die Stadt als Hure - Mythos Hure Babylon
- 3.3 Bedeutung der Hure Babylon in Döblins Berlin Alexanderplatz
- 3.3.1 Franz Biberkopf und seine Frauen
- 3.3.2 Großstadt und Prostitution bei Döblin
- 4. Die Frau in der Großstadt
- 4.1 Doris als Neue Frau in Keuns Das kunstseidene Mädchen
- 4.2 Inszenierungen von Weiblichkeit
- 4.2.1 Die Geliebte
- 4.2.2 Die Prostituierte
- 4.2.3 Die Ehefrau
- 5. Schlussbetrachtung
- 5.1 Männliche vs. weibliche Großstadtperspektive
- 5.2 Ausblick: Weiblichkeit und Großstadt in der Gegenwartsliteratur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Darstellung von Weiblichkeit in der Großstadtliteratur der Weimarer Republik, insbesondere in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“. Ziel ist es, die Weiblichkeitsbilder in diesen Romanen zu analysieren und ihr Verhältnis zu den konkreten Frauenfiguren und dem Topos der Stadt als Frau zu beleuchten. Die Arbeit hinterfragt die unreflektierte Fortschreibung des Bildes der Stadt als weibliche Allegorie und untersucht die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Emanzipation in diesem Kontext.
- Darstellung von Weiblichkeit in der Großstadtliteratur der Weimarer Republik
- Analyse des Topos „Stadt als Frau“, insbesondere des Motivs der „Hure Babylon“
- Vergleich der weiblichen Figuren in „Berlin Alexanderplatz“ und „Das kunstseidene Mädchen“
- Untersuchung des Verhältnisses von traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen und weiblicher Emanzipation in der Großstadt
- Kritische Auseinandersetzung mit der unreflektierten Fortschreibung weiblicher Stadtallegorien
Zusammenfassung der Kapitel
1. Einleitung: Die Einleitung stellt die Forschungsfrage nach den Weiblichkeitsbildern in der modernen Großstadtliteratur und deren Verhältnis zu den konkreten Frauenfiguren vor. Sie führt den Topos der Stadt als Frau ein und verweist auf Sigrid Weigels Kritik an der unreflektierten Fortschreibung dieser Metapher. Die Arbeit wählt Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ als repräsentative Beispiele der „klassischen“ Großstadtliteratur, um die Verknüpfung von Stadt und Weiblichkeit zu untersuchen, insbesondere den Konflikt zwischen traditionellen und modernen Vorstellungen von Weiblichkeit in der Metropole Berlin.
2. Zum Großstadt- und Weiblichkeitsdiskurs in der Weimarer Republik: Dieses Kapitel untersucht den Diskurs um Großstadt und Weiblichkeit in der Weimarer Republik. Es analysiert Berlin als Ort der Gegensätze, die „Neue Frau“ in der Großstadt und die Prostituierte als Topos der Großstadtliteratur. Der Fokus liegt auf den sozialen und kulturellen Kontexten, die die Weiblichkeitsbilder prägen. Es wird der gesellschaftliche Wandel und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen für Frauen in der Metropole beleuchtet. Das Kapitel bildet die Grundlage für die anschließende Analyse der beiden Romane.
3. Die Großstadt als Frau: Dieses Kapitel befasst sich mit der Metapher der Stadt als Frau. Es analysiert Weigels Arbeit zur Weiblichkeit imaginärer Städte und untersucht den Mythos der „Hure Babylon“. Der Fokus liegt auf der Bedeutung dieses Topos in Döblins „Berlin Alexanderplatz“, einschließlich der Analyse von Franz Biberkopfs Beziehungen zu Frauen und der Darstellung von Prostitution im Roman. Das Kapitel erörtert die kritischen Implikationen der Stadt-als-Frau-Metapher und deren Verbindung zur Darstellung von weiblicher Sexualität und Gewalt.
4. Die Frau in der Großstadt: Dieses Kapitel konzentriert sich auf die weiblichen Figuren in den ausgewählten Romanen. Es analysiert Doris in Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ als Beispiel der „Neuen Frau“ und untersucht verschiedene Inszenierungen von Weiblichkeit (Geliebte, Prostituierte, Ehefrau) im Kontext der Großstadt. Es untersucht die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Selbstbestimmung und die Herausforderungen, denen Frauen im Spannungsfeld zwischen traditionellen Geschlechterrollen und der modernen Großstadt ausgesetzt sind. Die Analyse beleuchtet die Konfrontation mit stereotypen Vorstellungen und den Versuch, diese zu durchbrechen.
Schlüsselwörter
Weiblichkeit, Großstadt, Weimarer Republik, Berlin Alexanderplatz, Das kunstseidene Mädchen, Alfred Döblin, Irmgard Keun, Hure Babylon, „Neue Frau“, Prostitution, Großstadtliteratur, Geschlechterrollen, Emanzipation, Stadtallegorie, Weiblichkeitsbilder, moderne Frauenbilder.
Häufig gestellte Fragen zu: Weiblichkeit und Großstadt in der Literatur der Weimarer Republik
Was ist der Gegenstand der vorliegenden Arbeit?
Die Arbeit untersucht die Darstellung von Weiblichkeit in der Großstadtliteratur der Weimarer Republik, insbesondere in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Weiblichkeitsbilder in diesen Romanen und deren Verhältnis zu den konkreten Frauenfiguren sowie dem Topos der Stadt als Frau.
Welche Hauptthemen werden behandelt?
Die Arbeit beleuchtet die Darstellung von Weiblichkeit in der Großstadtliteratur der Weimarer Republik, analysiert den Topos der „Stadt als Frau“ (insbesondere das Motiv der „Hure Babylon“), vergleicht die weiblichen Figuren in den beiden ausgewählten Romanen, untersucht das Verhältnis von traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen und weiblicher Emanzipation in der Großstadt und setzt sich kritisch mit der unreflektierten Fortschreibung weiblicher Stadtallegorien auseinander.
Welche Romane werden analysiert?
Die Arbeit konzentriert sich auf Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ als repräsentative Beispiele der „klassischen“ Großstadtliteratur der Weimarer Republik. Diese Romane dienen als Fallstudien zur Untersuchung der Verknüpfung von Stadt und Weiblichkeit.
Wie wird die „Stadt als Frau“-Metapher behandelt?
Die Arbeit analysiert die Metapher der „Stadt als Frau“, insbesondere den Mythos der „Hure Babylon“. Sie untersucht die Bedeutung dieses Topos in Döblins „Berlin Alexanderplatz“, einschließlich der Analyse von Franz Biberkopfs Beziehungen zu Frauen und der Darstellung von Prostitution. Die kritischen Implikationen dieser Metapher und deren Verbindung zur Darstellung weiblicher Sexualität und Gewalt werden erörtert. Die Arbeit bezieht sich auch auf Sigrid Weigels Kritik an der unreflektierten Fortschreibung dieser Metapher.
Welche weiblichen Figuren werden untersucht?
Die Arbeit analysiert verschiedene weibliche Figuren, unter anderem Doris in Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ als Beispiel der „Neuen Frau“. Es werden verschiedene Inszenierungen von Weiblichkeit (Geliebte, Prostituierte, Ehefrau) im Kontext der Großstadt untersucht.
Was ist die Zielsetzung der Arbeit?
Die Arbeit zielt darauf ab, die Weiblichkeitsbilder in den ausgewählten Romanen zu analysieren und ihr Verhältnis zu den konkreten Frauenfiguren und dem Topos der Stadt als Frau zu beleuchten. Sie hinterfragt die unreflektierte Fortschreibung des Bildes der Stadt als weibliche Allegorie und untersucht die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Emanzipation in diesem Kontext.
Welche Schlussfolgerungen werden gezogen?
Die Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert die männliche vs. weibliche Großstadtperspektive. Ein Ausblick auf Weiblichkeit und Großstadt in der Gegenwartsliteratur wird gegeben.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit?
Schlüsselwörter sind: Weiblichkeit, Großstadt, Weimarer Republik, Berlin Alexanderplatz, Das kunstseidene Mädchen, Alfred Döblin, Irmgard Keun, Hure Babylon, „Neue Frau“, Prostitution, Großstadtliteratur, Geschlechterrollen, Emanzipation, Stadtallegorie, Weiblichkeitsbilder, moderne Frauenbilder.
- Arbeit zitieren
- Elena Schefner (Autor:in), 2013, „Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin.“ Zum Verhältnis von Großstadt und Weiblichkeit in "Berlin Alexanderplatz" und "Das kunstseidene Mädchen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271210