Unheimlicher Horror. Motive, Plots und literarische Verfahren zur Erzeugung von Schrecken bei H.P. Lovecraft


Thèse de Bachelor, 2014

44 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Howard Phillips Lovecraft
2.1. Kindheit und Gebrechen
2.2 Literaturund Bildung
2.3 Entwicklung zum Schriftsteller
2.4 Die letzten Jahre

3. Theorien von Angst und Ekel in der Literatur

4. Unheimlicher Horror nach Lovecraft

5. Beispiele zur Veranschaulichung
5.1 DieFarbe ausdem All
5.1.1 AtmospharischeGestaltung
5.1.2 Erzahlerfigur und Protagonisten
5.1.3 Obernaturliche Elemente
5.1.4 Darstellung des Ekelhaften

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

Einleitung

Bereits im Marchen Von einem, der auszog das Furchten zu lernen, von den Gebrudern Grimm, geht es um die Frage, inwieweit man Angst erlernen kann. Wechselt man von der Seite des neugierigen Schulers auf die lehrende Seite, entsteht in Anlehnung an die Frage des Schulers, die Frage, ob man gleichermaften lernen kann, das Furchten zu lehren. In Literaturkreisen, ist dies nicht immer eindeutig zu beantworten. Subjektive Techniken und literarische Verfahren, sowie stilistische Eigenheiten, erzeugen auch verschiedene Meinungen daruber, ob ein Autor effizient und nachhaltig, eventuell sogar innovativ, Schrecken und Angst beim Rezipienten hervorruft. Geschichtlich gesehen, vollzog sich auch seit jeher ein Wandel im Empfinden, was gruselig, schrecklich, oder tabuisierungsbedurftig ist. So eroffnete die Aufklarung und fortschreitende Sakularisierung zum Beispiel neue Wege der Verlagerung von Toleranzgrenzen und dem gesellschaftlichen Konzens, was nachhaltige Angst und Schock ausmacht - so auch in der Literatur.

Ausgehend von evolutionar bedingten Reaktionen auf gewisse Assoziationen und instinktives Verhalten nach Konfrontation von lebensbedrohlichen Dingen, und unmoralisch auffallendem Verhalten, bedient sich Lovecraft dieser empirisch nachgewiesenen Fakten, um sie, angereichert mit eigenen Theorien zum Angstverhalten der Masse, fur literarischen Horror zu nutzen. Stellt man theoretische Schauerantizipationen der Leser den literarischen Verfahren Lovecrafts zu dessen Erzeugung gegenuber, so entwickelt sich die Frage, wie Lovecraft konkret Angst und Schauer bei seiner Leserschaft hervorruft. Zur Klarung dieser Frage, nach Motivation und Art und Weise dieser speziellen Literaturerschaffung, soll in dieser Arbeit ein biographischer Einblick bestatigen, dass die individuelle Umgebung, Erziehung und Lebensweise Lovecrafts im 19 Jahrhundert, ausschlaggebend zur Gestaltung seiner Horrorliteratur war. Dazu dienen allgemeine Theorien uber Bestandteile und Unterschiede, zwischen erlesener und realer, panischer Angst. Ebenso ist der von Lovecraft eigens angefertigte Essay (Unheimlicher Horror - Das ubernaturliche Grauen in der Literatur), uber die vermeintlich richtige Art und Weise, den Leser in einen authentischen und jenseits von konventionalisierten, gesellschaftlich gewohnten Regeln, zu angstigen, Teil der Losung. Wie schafft es Lovecraft, Emotionen und Horror beim Leserzu erzeugen?

Diese Kernfrage soll wie folgt geklart werden: Erstes wichtiges Element ist seine Biographie, welche deutlich den Zusammenhang eigener Entwicklungsstorungen, Aversionen und seinen literarischen Darstellungen von Angst und Ekel aufzeigt. Dazu erfolgt eine in funf Abschnitte eingeteilte, chronologisch aufbereitete Biographie, welche den Fokus stets darauf halt, zu zeigen, inwiefern Erfahrungen und personliche Ansichten zu seinen spateren Geschichtsgestaltungen fuhrten. Zweiter Schwerpunkt wird ein Oberblick uber Angst und Ekel (auch in biologischer und psychologischer Hinsicht) sein, welcher dem Zwecke dient, objektiv gelost von Lovecrafts Meinung klaren zu konnen, welcher Moglichkeiten sich Literatur allgemein bedienen kann, um Angst und Ekel zu erzeugen.

Anschlieftend wird dieses Wissen durch Meinungen und Theorien zur Erschaffung von schockierenden Bildern Lovecrafts angereichert. Um die theoretischen Erlauterungen konkret zu veranschaulichen, werden anhand einer Kurzgeschichte (Die Farbe aus dem All) seiner Prosa stellvertretend Textstellen aufgezeigt und deren Wirkungsabsicht erklart. Eine Zusammenfassung bildet den Abschluss der Arbeit, zeigt die theoretischen Aspekte und ihre Umsetzung auf und zieht ein Resumee, ob diese effizient und tadellos greifen und praktisch gestalterisch angewandt wurden.

2. Howard Philips Lovecraft

Die alteste und starkste Gemutsbewegung, die die Menschheit kennt, ist die Angst; und die alteste und starkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten. Diese Tatsachen werden nur wenige Psychologen bestreiten, und ihre erwiesene Wahrheit muft fur alle Zeit Eigenstandigkeit und Rang der unheimlichen Schauergeschichte als eine literarische Form begrunden.1

Diese Aussage stammt von Howard Philips Lovecraft (im Folgenden HPL oder Lovecraft genannt) und ist ein wichtiger Teil der Erklarung der Relevanz, als auch des Nutzens von Angst in der Literatur. Eine Grundthese, welche als roter Faden omniprasent seine unheimlichen Kurzgeschichten durchzieht. Sie scheint pessimistisch, da er explizit davon ausgeht, dass die starkste Gemutsbewegung der Menschheit eine Negative ist. Um nachzuvollziehen, warum diese Ansicht bei HPL vorherrscht, muss eine biographische Einfuhrung erfolgen, welche sich hauptsachlich auf die Angaben aus Franz Rottensteiners Sammelband Uber HPL, sowie Lyon Sprague de Camps Lovecraft-Biographie stutzt. Dieser Oberblick steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Theorien und Verfahren der Angsterzeugung bei HPL.

HPL wurde am 20. August 1890 in der Angell Street 454 (damals 194) in Providence, Rhode Island2 Massachusetts USA geboren, wo er auch bis auf wenige kleine Unterbrechungen sein ganzes Leben verbrachte. Sein Vater war Winfield Scott Lovecraft, der seinen Lebensunterhalt als reisender Handelsvertreter verdiente. Seine Mutter, Sarah Susan Philips, war eine uberaus angstliche Frau, die verstorende Entscheidungen traf, wie z.B., dass sie ihm verbot mit ,,anderen Kindern seines Alters Bekanntschaft zu schlieften, und [sie] redete ihm fortwahrend ein, er habe ein abstoftendes und entsetzliches Gesicht.“3 Als HPL drei Jahre alt war, erlitt sein Vater einen Nervenzusammenbruch begleitet von intensiven Wahnvorstellungen. Er wurde sogar gewalttatig und man lieferte ihn in die psychiatrische Abteilung des Butler Hospitals ein und entmundigte ihn wegen Geisteskrankheit. Er starb 1898. Zu dieser Zeit begann auch die geistige Verwirrung seiner Mutter. Sie redete ihrem Sohn ein, er sehe so „abscheulich“ aus, dass ersich seinen Mitmenschen nicht zeigen durfe. Selber mied sie jede korperliche Beruhrung mit ihrem Sohn. Genau genommen aber sah HPL seiner Mutter sogar recht ahnlich. Eine weitere Art der Mutter war es, ihren Sohn zu „verhatscheln“. Sie kleidete ihn in Madchenkleidung und wickelte ihm lange Locken, fur die sich HPL ab einem gewissen Alter schamte. Erst mit sechs Jahren konnte er sich durchsetzen und das Haar wurde abgeschnitten. Essen durfte HPL was immer er mochte. Vor allem Suftigkeiten bevorzugte er. Besonders Eiscreme aft er in Massen, was sich bis ins Alter nicht anderte.

HPL ging auch zu Bett, wann es ihm beliebte, meist jedoch erst in den fruhen Morgenstunden. Wahrend er nachts wach war, um zu lesen und sich zu bilden, sah man ihn tagsuber kaum. Selbst Spaziergange durch seine Heimatstadt Providence unternahm er des Nachts und allein, wenn die Straften leerwaren.

Allgemein liegt es nahe, dass er sehr fruhreif war und schnell an Wissen dazu lernte. Mit einem Jahr sprach er bereits verstandliche Satze und mit zwei Jahren beherrschte er das Alphabet. Mit vier Jahren konnte er lesen und mit sechs verfasste er seine eigenen Texte.4 Bereits fruh entwickelte sich seine Affinitat zum Lernen. Mit acht Jahren begann er mit einem privaten und aus eigenem Interesse heraus angefangenen Lateinstudium. Wenig spater folgte der Wunsch nach Wissen uber Chemie, Geographie und Astronomie. Dazu lieferte die private Bibliothek seines Onkels vorerst genugend Lernmaterial. Mit uber 2000 Banden, die HPL zur freien Verfugung standen, war der Grundstein fur seine enorme Bildung gelegt.5 Eine offizielle Schulbildung hingegen genoss er kaum. Mit Unterbrechungen besuchte er insgesamt ca. 2 Jahre die Grundschule, doch verhinderten sein schlechter Gesundheitszustand und ein rheumatisches Fieber einen Abschluss. Zu dieser Zeit war er schuchtern und verschlossen und wurde von seinen Mitschulern 'gehanselt'. Vermutlich fand er die Schule ohnehin uninteressant, da er sich den meisten dort angebotenen Lernstoff bereits selbst beibrachte.6 Ober Jahre hinweg zog er sich immer mehr zuruck und eignete sich ein aufterst umfassendes Wissen an. Daran, dieses Wissen fur einen Beruf zu nutzen, sei es als Wissenschaftler oder Professor, dachte er vermutlich nie. Stattdessen blieb er tagsuber im Bett liegen und schrieb erst bei Nacht archaisch stilisierte Gedichte und experimentierte mit seinem Chemielabor, oder versuchte sich als Zeichner und Kriminalromanautor, gab aber doch alles wieder auf und verfolgte nichts mit Erfolg.

Auch Kommunikation fand nur sparlich mit seiner Mutter und seinen beiden Tanten statt, die mit im Haus wohnten.

Mit fortgeschrittenem Wissensstand und der Rezeption weiterer Literaten geriet er bei seinen eigenen Texten bald unter den Einfluss der Texte von Edgar Allen Poe und Ambrose Bierce und begann unheimliche Erzahlungen zu schreiben. Die beiden gegenubergestellten Zitate von Poe und Lovecraft skizzieren die Ahnlichkeiten:

,,We do not paint an object true but to appear true to the beholder"7, von Poe und ,,Their art was the part that convinced - when we saw the pictures we saw the deamons themselves and were afraid of them"8, von Lovecraft.

1914 trat er der United Amateur Press Association (UAPA)9 bei, einer Gruppe von Freizeitschriftstellern, die sich geg enseitig Briefe mit Ratschlagen und Kritiken schrieben und die seine ersten Gedichte, Essays und Horrorgeschichten in ihren Publikationen abdruckten.10 Zu der Zeit begann auch die massive Korrespondenz HPLs. Schatzungen zufolge hat er uber 100.000 Briefe geschrieben.11 Ab 1915 gab er sein eigenes Magazin heraus; The Conservative12. Dort gab es keinerlei Schranken fur seinen Rassismus. Michel Houllebecq formuliert in seinem Buch Gegen die Welt gegen das Leben uber HPL, dass sich seit seinem Leben in New York reichlich Hass, Ekel und Furcht in ihm aufbauten und sich seine rassistischen Ansichten dort in eine Rassenneurose verwandelten.13 Und ,,[d]a er arm war, muftte er in denselben Vierteln wohnen wie diese 'obszonen, abstoftenden und alptraumhaften' Einwanderer. Er traf sie auf der Strafte, er traf sie in den Grunanlagen. Von 'fetten, grinsenden Mulatten', von 'haftlichen Negern, die wie riesige Schimpansen aussahen', wurde er in der U- Bahn angerempelt."14 Diese Meinung, so geht aus den autobiographischen7 8 9 10 11 12 13 14

Forschungen hervor, bestand aus Angelesenem aus damaligen Werken, die diese Meinung propagierten. Dies machte sich in einigen Essays und Leitartikeln bemerkbar. Rassismus war in Amerika zu Lovecrafts Lebzeiten nicht unublich. Jahre spater schrieb er reflektierend daruber, dass er aus neuen Kenntnissen folgere, dass er im Unrecht war. Auch seine besten Freunde waren Einwanderer und seine spatere Frau, Sonja Haft Greene, eine russische Judin15

In den folgenden Jahren schrieb und veroffentlichte er viele Geschichten in ueitgenossischen Literatur-Magazinen und verdiente dabei nur wenige Dollar. Bis zu seinem Tod, am 15.03.1937, erreichte er weder Wohlstand, noch eine weltweite Leserschaft. Seine Kurzgeschichten wurden erst posthum durch Freunde einer breiteren Masse zuganglich gemacht. Eine betrachtliche Rolle am heutigen Bekanntheitsgrad hat dabei Lovecrafts Freund, Verleger und posthumer Ko-Autor August Derleth, der aussagte:

Lovecraft war Zeit seines Lebens ausgesprochen anglophil. Er fuhrte ein isoliertes Leben, da seine Gesundheit nicht die beste war. Seine Halb-Invaliditat ermoglichte es ihm, sehr viel zu lesen - und das Ergebnis bestand darin, daft das vertraumte Kind, das er war, sich eine eigene fremde Welt erschuf und mit den Geschopfen seiner Phantasie bevolkerte. Lovecraft war nicht nur ein scheues Kind, sondern auch ein einzelgangerischer und verschlossener Erwachsener, der erst in den Abendstunden auflebte. Er war hager, groft und meist blaft, obwohl seine Augen hell und voller leben waren. [...] [er] hieltdie meisten seiner Textefurjammerlich schlecht, pflegte Zeit seines Lebens rege Korrespondenz mit uber hundert Personen und verschickte nicht selten Briefe, deren Umfang zwanzig Seiten uberstieg.16

Da HPLs Kindheit und weitere Entwicklung auftergewohnlich verliefen, werden die nachfolgenden Unterkapitel diesbezuglich relevante Details behandeln.

2.1 Kindheit und Gebrechen

Einige Umstande seiner Kinder- und Jugendzeit geben besonderen Anlass zur Erwahnung. Wie bereits in Kapitel 1 angedeutet, war HPL ein ,,altkluges Kind mit einem erstaunlichen Gedachtnis."17 Ereignisse und Umstande aus seiner Entwicklungsphase sind zweifellos Mitbegrunder spaterer Ansichten und literarischer Umsetzungen, vornehmlich in Angst- und Ekelerzeugung.

Seit seiner Kindheit wurde er von seiner ,,neurotischen Mutter18 ", Sarah Susan Phillips, sehr einschrankend behandelt. Insgesamt war die Beziehung zu seiner Mutter eine der pragendsten, die im Zusammenhang mit seinem eigenen Verhalten und Ansichten stehen. De Camp zitiert in diesem Kontext den Anwalt der Familie, der sie als ,,schwachsinnige Schwester" bezeichnet, und sogar der Psychiater des Butler Hospitals, in dem sie 1919 starb, beschrieb sie als „eine Frau von eingeengten Interessen, die durch eine traumatische Psychose im Gefuhl eines nahenden Zusammenbruchs lebte.“19 Sie behandelte ihn mit solcher Sorgfalt, dass sie ihm beinahe jede Freiheit zur Selbstentfaltung entzog. Gefahren wurden praventiv beseitigt und korperlicher Kontakt mit HPL und Gleichaltrigen vermied sie auf exzessive Art und Weise. Dies storte die normale Entwicklung von Emotionen, Beziehungen zu Mitmenschen und Ansichten uber Nahe und Sexualitat sehr. In seinen spateren Schauergeschichten fallt dies besonders auf, da z.B. Protagonisten keinerlei Kommentare zu Sexualitat bzw. eine eigene Libido zugestanden wird. Sie existiert schlicht nicht.20 De facto reagierte er auf das Thema Sexualitat wie etwa ein ,,zolibatarer Philosophy wie de Camp es ausdruckt. Jenes Thema beschreibt er in einem Briefan Sonia21 in eloquenter Art und Weise.

Die gegenseitige Liebe zwischen Mann und Weib ist ein imaginatives Erlebnis, welches darauf beruht, daft ihr Gegenstand eine gewisse, eine spezielle Asthetik mit dem eigenen asthetisch-emotionalen Leben dessen besitzt, der sie empfindet...[sic!] Die Jugend bringt gewisse erogene und imaginative Stimuli mit sich, eingebunden in die taktilen Phanomene schlanker, jungfraulich gehaltener Korper und die visuelle Bildkraft klassischer asthetischer Konturen, die eine Art von frischer und fruhlingshafter Unreife symbolisieren, die zwar sehr schon ist, aber nichts mit der hauslichen Liebe zu tun hat. [...] [J]eder hochklassige Mann weift bald seine oder ihre physischen Bedurfnisse auf andere Gebiete zu ubertragen, wenn er in die mittleren Jahre gelangt; andere Formen der Stimulation bedeuten solchen Menschen viel mehr als sexuelle Ausdrucksformen, die sie allenfalls eines fluchtigen Gedankens wurdigen.22

Diese minder empathische Aussage erklart im weitesten Sinne die Tatsache, weshalb auch seine Protagonisten diesem Thema keine Aufmerksamkeit schenken (konnen). Das sich die traumatische Behandlung durch sein Mutter in sein Erwachsenenalter erhielt, bezeugt eine Aussage Lovecrafts, in der er vor seiner Verlobung mit Sonia Greene zu ihr sagte: ,,Wie kann eine Frau ein Gesicht wie das meine lieben?“23 Anlass zu derartigen Kommentaren von Susan uber ihren Sohn vermutet man in einer Neigung Howards zur Chorea (Veitstanz), die sich in unkontrollierbaren Gesichtszuckungen und Grimassen auftert. Heute halt man Chorea minor fur eine Folge von rheumatischem Fieber, das periodisch wiederkehrt.24

Seine spateren Geschichten lassen mehrere wiederkehrende Muster erkennen, so z.B. eigene intellektuelle Bezuge und Verfahrensmuster bezuglich Topographie und Ort der unheimlichen Handlungen und Empirie. So ermoglicht die aus der Kindheit herruhrende Akrophobie Ruckschlusse auf seine Faszination fur enge Gange, Brucken, Hohlen und dergleichen mehr.

Ein stets wiederkehrendes Schauer-Motiv seiner Geschichten liegt seinem Ekel gegenuber jeglichen Meerestieren zugrunde. Da der Groftteil von HPLs Kurzgeschichten sich dieser Thematik annehmen, soil auch dies hier erwahnt werden. Meeresfruchte aller Art riefen schon seit seinen fruhesten Jahren Grauen und Abneigung bis hin zu phobisch anmutendem Ekel hervor. Fisch und alles aus dem Meer stammende rufe laut eigenen Angaben bei ihm unverzuglich schwerste Anfalle von Ubelkeit hervor. Daher ist es ,,kein Zufall, daft die Ungeheuer in seinen spateren Erzahlungen an Kombinationen aus verschiedenen Bewohnern eines Aquariums erinnern, die nur mit kolossaler Grofte und einer bosartigen Intelligenz ausgestattet sind.“25 Sprague de Camp sieht den Zusammenhang zwischen dieser Abscheu und dem Miteinbeziehen dieser Angst in seine Geschichten in einer generellen Abneigung gegen die See. Er verband wahrscheinlich das Meer, ebenso wie Kalte, Nasse und Dunkelheit mit Assoziationen des Bosen in seinen Geschichten. In einem Austausch mit Donald Wandrei erzahlte er einmal, er hasse Fisch und habe Angst vor der See und allem, was damit zu tun hat, seit er zwei Jahre alt war.26

Umsetzungen in seinen Geschichten bietet seine emotionale Verfassung, welche die Aussage eines Psychiaters, der mit Lovecrafts Biographen geredet hat, unterstreicht. Eine etwaige angeborene Reserviertheit und Introvertiertheit wurde bei ihm durch die Neurosen und das Verhalten mutterlicherseits enorm verstarkt. Ein Gedachtnis, welches uberdurchschnittlich gut Wissen speichern kann, wie es bei HPL der Fall war, geht oft mit einer betrachtlichen Einschrankung der emotionalen Fahigkeiten einher. Trauer z.B. und andere Emotionen zur Bewaltigung bei Verlusten bieten dem Betroffenen Schwierigkeiten. Es wird auch von einem eidetischen Gedachtnis gesprochen.27

Die oftmals mit ihm im Zusammenhang erwahnte Poikilothermie schrankte seine Mobilitat und korperliche Verfassung noch weiter ein.

Anscheinend zog er sich ein seltenes und kaum erforschtes Leiden namens Poikilothermie zu. Der Erkrankte verliert dabei die normale Saugetierfahigkeit, seine Korpertemperatur unabhangig von Veranderungen der Umgebungstemperatur konstant zu halten; sein Korper nimmt die Temperatur der Umgebung an - wie bei einem Reptil oder einem Fisch. Fur den Rest seines Lebens fuhlte Lovecraft sich nur bei Temperaturen uber sechsundzwanzig Grad wohl.28

Seine Erziehung, maftgeblich seine Mutter, ist Hauptgrund fur viele Gebrechen, an denen er bis zu seinem Lebensende litt. Viele davon finden sich in den Plots und Motiven seiner Geschichten wieder. Protagonisten stehen oftmals reprasentativ fur Eigenschaften bzw. Krankheiten HPLs. Aber nicht nur Hauptpersonen besitzen Angste und Eigenschaften, welche sich im Rahmen der Lovecraftschen Biographie widerspiegeln, sondern ganze Topographien und atmospharische Konstrukte lassen Ruckschlusse auf Lovecrafts Entwicklung und den evozierten inneren Gemutszustanden zu. Dies findet spater noch genauer Einzug in die Arbeit.

2.2 Literatur und Bildung

Aufgrund der immensen Fulle an (Fach-)Literatur die HPL seit Kindesalter rezipierte, konnen hier nur einige Werke und Autoren angegeben werden, die ihn inspirierten und bildeten. Es soll eine biographische Entwicklung zur Literaturaffinitat vorgenommen werden, um den Zusammenhang von Leseerfahrung und eigenen Kreationen darzustellen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist neben seiner Lekture auch der autodidaktische Aspekt, welcher betrachtliche Auswirkungen auf seinen spateren Stil und seine Lebenshaltung hatte.

Durch die im vorangegangenen Kapitel erwahnten physischen und psychischen Belastungen, welchen er seit jeher ausgesetzt war, liegt es nahe davon auszugehen, dass Lovecraft sich nicht nur zuruckzog, sondern auch Alternativen suchte, um sich zu beschaftigen. Ausgehend von der Tatsache, dass er fruh Neigungen zu Schrift und Wort entwickelte - er konnte mit zwei Jahren Buchstaben als solche erkennen, mit drei Jahren einfache Texte lesen und mit vier Jahren eigene Kurztexte verfassen - war es auch dem Umstand zu verdanken, dass er in seinem Elternhaus29 Zugang zu einer gut ausgestatteten Bibliothek hatte. Es ist davon auszugehen, dass auch mundlich erzahlte Geschichten den noch kleinen Howard stark pragten. Whipple Phillips bemerkte das Interesse von Howard und forderte dieses, denn ,,[a]ls er bemerkte, daft sein Enkel ahnliche Interessen entwickelte, erzahlte Whipple Phillips dem Knaben Geistergeschichten und Gruselmarchen, die er sich selbst ausdachte."30 Bereits hier fallen die pessimistischen Bilder auf, welche Lovecraft unbestreitbar inspirierten, denn auch er benutzte in seinen Geschichten aquivalente Bilder und Grundgeruste, um Atmosphare und dustere Stimmungen zu erschaffen. So hatte nicht nur seine Mutter ,,groften Einfluft auf H.P. Lovecraft, sondern auch die Bucher, mit denen er sich damals beschaftigte. [...]. Bald verschlang er alles, was ihm an Geschriebenem vor die Augen kam. Eines der ersten Bucher, die er las, war Grimms Marchen.“31 Nebst E.A. Poe und Ambrose Bierce32, war er spater besonders von Edward John Moreton Drax Plunkett, Achtzehnter Baron Dunsany, inspiriert. Sehr bezeichnend und eindeutig ist die Aussage uber Lord Dunsany in seinem Essay Unheimlicher Horror (Originaltitel: Supernatural Horror in Literature), in dem erschreibt, Dunsany sei unubertroffen in der Zauberei einer kristallinen, singenden Prosa und von uberragendem Rang in der Erschaffung einer prachtigen und sehnsuchtsvollen Welt irisierender, exotischer Visionen und dass dessen Geschichten und kurze Theaterstucke ein fast einzigartiges Element in unserer Literatur bilden.33 Lovecraft sieht ihn als ,,Erfinder einer neuen Mythologie und als Erdichter uberraschender Volksmarchen" und er stehe ,,im Dienst einer fremden Welt phantastischer Schonheit, verschworen dem ewigen Kampf gegen die Rohheit und Hasslichkeit der Wirklichkeit des Alltags."34 Der Einfluss Lord Dunsanys lasst sich offenbar nicht auf eine kurze Schaffensperiode begrenzen. So erinnert sich Lovecraft noch 1936 in einem Brief an Fritz Leiber schwarmerisch: ,,Dunsany has a peculiar appeal for me. Casual und tenuous though any one of his fantastic flights may seem, the massed effect of his whole cycle of theogony, myth, legend, hero-epic and dream-chronicle on my consciousness is that of a most potent and particular sort of cosmic liberation."35

Als selbsternannter Gentleman fuhlte er sich generell eher dem 18. Jahrhundert zugehorig und konsumierte daher nicht nur Literatur dieser Zeit, sondern beschaftigte sich eingehend mit der geschichtlichen Entwicklung des Schauerromans der gotischen Zeit, bis hin zu aktueller Literatur (zu HPLs Lebzeiten aktuell). Durch Unheimlicher Horror, erfahrt man neben Literaturgeschichtlichem36 auch viele Stellungnahmen und Bewertungen Lovecrafts zu unzahligen Autoren fruherer Zeiten. Anfangliche Schauerromane und die Kreation phantastischer, sowie phantasievoll morbider Geister- und Spukgeschichten, werden ebenso thematisiert wie Hintergrunde und Beispiele. Gleich zu Beginn seines Essays vermerkt er generalisierend:

Die Anziehungskraft des Gespenstisch-Gruseligen erreicht im allgemeinen nur einen kleinen Kreis, denn sie verlangt vom Leser ein gewisses MaG an Einbildungskraft und ein Vermogen, sich vom Alltagsleben zu distanzieren. VerhaltnismaGig wenige sind frei genug vom Bann der taglichen Routine, um auf die Rufe von drauGen zu reagieren, und Geschichten von gewohnlichen Gefuhlen und Ereignissen oder von allgemeinen sentimentalen Verzerrungen solcher Gefuhle und Ereignisse werden immer den ersten Platz im Geschmack der Mehrheit behaupten; und das mit Recht vielleicht, da diese Dinge selbstverstandlich den groGten Teil der menschlichen Erfahrungen ausmachen.37

[...]


1 H.P. Lovecraft: Unheimlicher Horror. Das ubernaturliche Grauen in der Literatur. Berlin 1987, S. 7. Kunftig zitiert als ,,H.P. Lovecraft: Unheimlicher Horror".

2 S.T. Joshi: ,,H.P. Lovecraft: Leben und Denken". In: F. Rottensteiner (Hrsg.): Ober H.P. Lovecraft, F.a.M. 1984, S. 13. Kunftig zitiert als ,,S.T. Joshi".

3 Barton L.St. Armand: „Die Fakten im Falle H.P. Lovecraft". In: F. Rottensteiner (Hrsg.): Ober H.P. Lovecraft, F.a.M. 1984, S. 160.

4 Hans Alpers (Hrsg.): Lexikon der Horrorliteratur. Erkrath 1999, S. 210.

5 Vgl.: S.T. Joshi: S. 12.

6 Ebd., S. 16.

7 Zitat von E.A. Poe, in: Margit Haser: ,,Die rationale Handhabung des Irrationalen. Lovecraft im Kiel- wasser E.A. Poes", in: F. Rottensteiner (Hrsg.): Uber H.P. Lovecraft, F.a.M. 1984, S. 211.

8 ZitatvonLovecraft,in:Ebd.

9 Vgl.: S.T. Joshi: S. 19:,,[...] denn durch die fieberhafte und umfangreiche Aktivitat im Amateurjour- nalismus [...] vervollkommnete Lovecraft nicht nurseinen Prosastil und erweiterte seinen intellektu- ellen Horizont, sondern fing auch wieder an - fur uns am wichtigsten -, Schauergeschichten zu schrei- ben."

10 Ebd., S. 18.

11 Lyon Sprague de Camp: Lovecraft. Eine Biographie. Berlin 1975, S.88. Da heiftt es: ,,Man schatzt, daft er mindestens hunderttausend Briefe geschrieben hat, alles in allem mindestens zehn Millionen Worter umfassend. [...] Im Schnitt brachte eres auf acht bis zehn Briefe pro Tag; wenn ereinmal in Ruckstand geriet, erhohte er diese Zahl auf funfzehn."

12 Vgl.: Ebd., S. 16:,,[...] The Conservative (19-15-23; 13 Ausgaben). Durch Diese Zeitschrift-die fast ausschlieftlich Essays und Gedichte enthielt, zum Groftteil von Ihm selbst - kam Lovecraft in Kontakt mit anderen Mitgliedern ahnlicher oder unterschiedlicher Geisteshaltung, die nicht nur zu lebenslangen Bekannten wurden, [...], sondern auch mithalfen, durch eine standig anwachsende Korrespondenz und schlieftlich personliche Bekanntschaft, Lovecraft aus seinem Schneckenhaus hervorzulocken, seinen Geschmack und seinen Horizont zu erweitern."

13 Vgl.: Michel Houllebecq: Gegen die Welt gegen das Leben. H.P. Lovecraft. Koln 2002, S.99-100.

14 Ebd.

15 S. T. Joshi: S.20.

16 August Derleth uber HPL, in: Hans Alpers (Hrsg.): Lexikon der Horrorliteratur. Erkrath 1999, S.211.

17 S. de Camp: S. 9.

18 Ebd., S. 8.

19 Ebd.

20 Von Sodomie, und Nekrophilie durch literarische Verfahren zur Erzeugung von Ekel abgesehen.

21 Ebd., S. 145. Sonia bat ihn personlich, ihr mitzuteilen, was er uber die Liebe denke.

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Ebd., S. 27.

25 Ebd., S. 61.

26 Ebd.

27 Ebd., S.47.

28 Ebd.

29 Hier ist das Haus gemeint in dem Lovecraft aufwuchs. In Wirklichkeit war es das Haus von Whipple van Buren Phillips, HPLs Groftvater mutterlicherseits. Sarah Susan Phillips Lovecraft zog dort 1893 mit ihrem Mann Winfield Scott Lovecraft ein.

30 Ebd., S. 19-20.

31 Ebd., S. 20.

32 Lovecraft: In seinem Essay Supernatural Horror in Literature, New York 1973. (zu deutsch: Unheim- licherHorror. Das ubernaturliche Grauen in derLiteratur, S. 72), lobt und beschreibt HPL Poe Bierce mit deutlicherTendenz zur Idealisierung in positiver Hinsicht:,,[...] wenn auch seine [O'Brien, Einfugung von mir, R.K.] Begabung, offen gesagt, nicht von der gleichen titanischen Grofte war, wie sie Poe und Hawthorne auszeichnete. Dieser Grofte naher kam der ekzentrische [sic!] und ungeruhrte Journalist Ambrose Bierce, [...]. Bierce war Satiriker und Pamphletistvon Graden, doch sein kunstlerischer Ruf beruht unbedingt auf seinem grimmigen und wilden Kurzgeschichten, von denen viele den Burgerkrieg behandeln, und zwar mit dem lebhaftesten und realistischsten Ausdruck, den dieser Konflikt in der erzahlenden Literatur jemals gefunden hat.!

33 Vgl.: Lovecraft: Unheimlicher Horror, S. 110.

34 Ebd.

35 Lovecraft, in: A. Derleth, D. Wandrei, J. Turner (Hrsg): Selected Letters V, Wisconsin 1976, S. 353.

36 Lovecraft: Unheimlicher Horror. Die Masse an geschichtlichen Hintergrunden ist derart groG, dass hier, auch aus Grunden derThematik der Arbeit, eine Erwahnung genugen muss.

37 Ebd., S. 7-8.

Fin de l'extrait de 44 pages

Résumé des informations

Titre
Unheimlicher Horror. Motive, Plots und literarische Verfahren zur Erzeugung von Schrecken bei H.P. Lovecraft
Université
University of Siegen  (Philosophische Fakultät)
Note
1,7
Auteur
Année
2014
Pages
44
N° de catalogue
V271301
ISBN (ebook)
9783656645856
ISBN (Livre)
9783656645887
Taille d'un fichier
623 KB
Langue
allemand
Annotations
Mots clés
Howard, Phillips, Lovecraft, Angst, Ekel, Bachelorarbeit, Schauer, Grudel, Horror
Citation du texte
Ramon Klein (Auteur), 2014, Unheimlicher Horror. Motive, Plots und literarische Verfahren zur Erzeugung von Schrecken bei H.P. Lovecraft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271301

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