Die Entfremdung des arbeitenden Individuums in Franz Kafkas "Die Verwandlung"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Arbeit und Entfremdung.
1.1 Die Definition der Begriffe Arbeit und Entfremdung
1.2 Arbeit und Entfremdung als berufliche Erfahrungen Kafkas

2 Die Entfremdung in der Verwandlung
2.1 Gregor Samsas Erfahrung als Ungeziefer
2.2 Die Rolle der Familie
2.3 Die Bedeutung des Arbeitgebers

3 Schlusswort

Quellenverzeichnis

Sekundärliteratur

Einleitung

Entfremdung durch Arbeit ruft zunächst die Assoziation mit der Parole Arbeit macht frei hervor, die im Zuge der Vernichtungspolitik in den Konzentrationslagern im dritten Reich in ein zynisches Licht gerückt wurde.

Jedoch ist die Thematik der Entfremdung keineswegs ein antiquiertes Phänomen, das nur durch offensichtliche, grausame Zwangsarbeit hervorgerufen wird. In der heutigen Zeit ist Burnout der Begriff, der die Entfremdung des Individuums durch Arbeit am treffendsten beschreibt. Burnout, das Ausgebranntsein, wird heute von der Weltgesundheitsorganisation als ein Problem der Lebensbewältigung definiert und ist gekennzeichnet durch tiefe Depressionen und emotionale Erschöpfung, die den Betroffenen sich selbst nicht mehr erkennen lässt (vgl. JAGGI 2008, 6f.). Die Zahl der Betroffenen steigt kontinuierlich an. Universitäten bieten bereits Beratungsgespräche für Burnout-Gefährdete an und viele Arbeitgeber offerieren präventiv Coaching und Therapien zum Stressmanagement. Dies war nicht immer so. Während der Industrialisierung konzentrierte sich das Interesse der meisten Arbeitgeber vor allem auf die Erbringung der Arbeitskraft und die materielle Leistung; der Mensch als Individuum hatte in den Fabrikhallen keinen Platz.

Entfremdung durch Arbeit ist auch in den Werken FRANZ KAFKAS immanent und wird wiederholt thematisiert. Unter diesem Aspekt möchte ich in dieser Arbeit KAFKAS 1915 publiziertes Werk Die Verwandlung untersuchen.

In Kapitel 1 werden zunächst die Begriffe Arbeit und Entfremdung definiert sowie KAFKAS eigene Erfahrung hinsichtlich der Thematik erörtert. Im zweiten Kapitel wird Die Verwandlung in Bezug auf die Aspekte der Entfremdung analysiert. Dabei wird die Entfremdung vorerst aus Gregor Samsas Blickwinkel betrachtet. Daran schließen sich die Einflüsse der Familie und des Arbeitgebers auf seinen Zustand an und abschließend erfolgt ein Schlusswort.

1 Arbeit und Entfremdung

Bereits ROUSSEAU, HEGEL und MARX befassten sich mit der Theorie der Entfremdung. In diesem Kapitel erfolgt zunächst KARL MARX‘ Definition von Arbeit und ein kurzer Abriss seiner Entfremdungstheorie. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass KAFKA sich in seinem Werk tatsächlich an marxistischem Gedankengut orientiert. Dennoch kann die Entfremdungstheorie in der Verwandlung symbolisch gedeutet werden (vgl. SOKEL 1981, 7). Allerdings ist zu hinterfragen, ob ihn die Erfahrungen aus seiner eigenen Berufstätigkeit die Thematik aufgreifen ließen.

1.1 Die Definition der Begriffe Arbeit und Entfremdung

Der zentrale Ausgangspunkt der MARX’SCHEN Theorie ist die Bestimmung des menschlichen Wesens durch die Arbeit. Der Mensch entfaltet durch sie sein Menschsein.

MARX charakterisiert Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte. Diese Wesenskräfte, definiert als Wille, Ziele und Fähigkeiten einzelner Menschen, werden durch die Arbeit gegenständlich (Entäußerung in die Welt). Durch die Arbeit schafft das Individuum eine Art Identität und eine eigene Welt. Dadurch, dass es sich in der produzierten Ware wiedererkennt, findet es zu sich selbst und erhält die Möglichkeit, sich als Produkt seiner Tätigkeiten zu zeigen und eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Die Arbeit wird dadurch zur Wesensbestimmung des Menschen. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Wesenskräfte durch Produktion materialisiert werden und der Arbeiter diese Wesenskräfte wieder zurückholt, indem er sich mit dem Produkt identifiziert. Er hat somit einen Bezug zu sich selbst und zur Welt. Nach MARX zeigt sich die Entfremdung im Misslingen des Prozesses jener Vergegenständlichung der Wesenskräfte (vgl. 1981). Die Bedingung für die Verwirklichung ist, dass die Arbeit bewusst und frei ausgeführt wird. Das Individuum ist entfremdet, wenn ihm seine eigenen Tätigkeiten und die Konsequenzen nicht bewusst sind.

Während das Tier nur anlässlich unmittelbarer körperlicher Bedürfnisse produziert, ist der Mensch dazu fähig, darüber hinaus zu produzieren und seine Arbeit selbst zu organisieren. Dies ermöglicht ihm schöpferisches und innovatives Schaffen. Bei der entfremdeten Arbeit wird der Unterschied zwischen der bewussten Tätigkeit des Menschen und der unfreien Tätigkeit des Tieres undeutlich.

Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht (a.a.O., 516).

Für MARX fungiert der Mensch demnach nur als Mensch, wenn er nicht arbeitet. Die produktive Tätigkeit wird zur Existenzerhaltung - wie beim Tier - herabgesetzt. Der Arbeiter kann folglich nur in den Augenblicken Mensch sein, in denen er nicht arbeitet und seinen physischen Bedürfnissen nachgeht. Der Arbeiter ist in den Tätigkeiten Mensch, die er mit dem Tier teilt, nicht in den eigentlich menschlichen.

[...] daß der Mensch nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische (a.a.O., 514f.).

MARX geht davon aus, dass in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nur entfremdete Arbeit verrichtet wird. Diese entfremdet den Arbeiter von seiner produzierten Ware, der Tätigkeit an sich und den Menschen aus seiner Umwelt. Infolgedessen wird die Beziehung zu sich selbst und der Welt beeinträchtigt. Die Entfremdung zeigt sich so auf zwei Dimensionen: zum einen durch die Unfähigkeit, sich mit der Ware zu identifizieren, zum anderen durch den Kontrollverlust. Das Individuum wird zum Objekt der Handlung und enteignet. Der entfremdete Arbeiter hat keine Kontrolle über das von ihm hergestellte Produkt; er besitzt es nicht, obwohl er seine Arbeitskraft dafür aufgewendet hat. Gleichwohl er Teilprozesse der Produktherstellung bewirkt, besteht keine Beziehung zum Endprodukt. Die eigene Tätigkeit ist entfremdet, so dass das Individuum schließlich unter Machtlosigkeit, Verarmung und Sinnverlust leidet. Denn die entfremdete Arbeit vollzieht sich nicht nur durch Fremdbestimmung, der Arbeiter muss auch die Stumpfheit der Arbeit hinnehmen, die eine Verwirklichung eigener Ideen und die Entfaltung der Persönlichkeit außer Acht lässt. Durch die entfremdete Arbeit entwickelt der Arbeiter eine instrumentelle Beziehung zu sich selbst und seiner zu verrichtenden Arbeit, da ebendiese keinen intrinsischen Zweck verfolgt, sondern ein bloßes Mittel darstellt. Die Fertigkeiten, die für die Arbeit nötig sind, werden ebenfalls zum Mittel degradiert und damit auch das arbeitende Individuum, das sein Leben als bloßes Mittel erkennt (vgl. ebd.).

Die deutsche Philosophin RAHEL JAEGGI charakterisiert Entfremdung folgendermaßen:

Der Begriff „Entfremdung“ verweist auf ein ganzes Bündel miteinander verwobener Motive. Entfremdung bedeutet Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt gegenüber. Entfremdung ist das Unvermögen, sich zu anderen Menschen, Dingen, zu gesellschaftlichen Institutionen und damit auch [...] zu sich selbst in Beziehung zu setzen. Eine entfremdete Welt präsentiert sich dem Individuum als sinn- und bedeutungslos, erstarrt oder verarmt, als eine Welt, die nicht „die seine“ ist, in der es nicht „zu Hause“ ist oder auf die es keinen Einfluss nehmen kann. Das entfremdete Subjekt wird sich selbst zum Fremden, es erfährt sich nicht mehr als „aktiv wirksames Subjekt“ [...] (2005, 20).

JAEGGI beschreibt den Entfremdeten als in der eigenen Welt verloren. Die Entfremdung geht mit unechtem Verhalten des Betroffenen einher. Eine Person ist sich dann selbst entfremdet, wenn sie die eigenen Bedürfnisse zurückstellt und sich dem Willen anderer beugt. Auch wenn man Tätigkeiten ausübt, mit denen man sich nicht identifizieren kann oder zwischenmenschliche Beziehungen als austauschbar erlebt werden, tritt ein entfremdeter Zustand ein. Dazu gehört ebenso die soziale Isolation. Die Entfremdung findet hier also gegenüber dem sozialen Umfeld statt. Entfremdung resultiert ferner aus der Einseitigkeit und dem Mangel an Tätigkeiten, da dem Individuum Entfaltungsmöglichkeiten verwehrt bleiben. Eine entfremdete Beziehung geht folglich immer mit Defiziten gegenüber sich selbst, anderen und der Welt einher (vgl. a.a.O., 21ff.).

1.2 Arbeit und Entfremdung als berufliche Erfahrungen

FRANZ KAFKA war nicht nur Schriftsteller, sondern auch - oder vor allem - Beamter einer Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt und Teilhaber einer Asbestfabrik in Prag. Im Rahmen von Dienstreisen in verschiedene Betriebe erhielt er Einblicke in den Arbeitsalltag der Industriearbeiter. Man geht davon aus, dass er während seiner Fabrikbesichtigungen ständig mit der Entfremdung der Arbeiter konfrontiert war und deren Lebenspraxis nicht nur eine Inspirationsquelle für seine Werke, sondern wohl auch eine psychische Belastung darstellte. Im Laufe seiner Berufslaufbahn fand eine zunehmende Technisierung in der Industrie statt, die nicht zuletzt zu einem massiven Anstieg der Arbeitsunfälle führte. Zu KAFKAS Tätigkeitsbereichen in der Anstalt gehörten die Prävention von Unfällen sowie die Einreihung der Betriebe in Gefahrenklassen. Branchen mit hohem Unfallrisiko und entsprechenden Unfallzahlen waren verpflichtet, höhere Beitragszahlungen zu leisten. Eine Verbesserung der präventiven Maßnahmen in den Unternehmen führte gleichzeitig auch zu einer Verringerung der Versicherungsbeiträge (vgl. JAHNKE 1988, 45f.). Somit befand KAFKA sich stets in einer Stellung zwischen den Interessen der Industriearbeiter und den Industriebetrieben. Jedoch hatten er und die Anstalt kaum direkten Einfluss auf die Verbesserung und Weiterentwicklung der Unfallverhütung. Seine Aufgabe war es daher, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und verbesserte Schutzmaßnahmen in den Betrieben durch Vorträge und Aufsätze zu propagieren (vgl. a.a.O., 43ff.). Seine veröffentlichten Schriften zum Arbeitsschutz geben Aufschluss darüber, dass er über die lebensbedrohlichen Arbeitsverhältnisse und die Unfallgefährdung der Fabrikarbeiter sehr genau Bescheid wusste. Immer häufiger war er mit Streiks der Arbeiter konfrontiert, die eine Senkung der Arbeitszeit und höhere Löhne forderten. Die Missachtung der Schutzvorschriften führte in einem Steinbruch sogar zu tödlichen Unfällen. KAFKA sah, in welch miserablen Umständen sich die Arbeiter befanden und erkannte die sozialen Probleme und Konflikte in der kapitalistischen Arbeitswelt. Die elende Situation der Arbeiterschaft registrierte er auch in seiner Asbestfabrik, die für ihn selbst eine berufliche Doppelbelastung darstellte. Hier erkannte er die Entfremdung der Arbeitsexistenzen und erklärte diese durch die monotone Arbeitsweise, die mechanisierte Produktion und die damit einhergehende Gefährdung. Ferner beschrieb er den steten Lärm, den Schmutz, die hierarchische Struktur und den Mangel an Kommunikation als Ursache für die Entmenschlichung der Arbeiter (vgl. KAFKA 1983, 167f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Entfremdung des arbeitenden Individuums in Franz Kafkas "Die Verwandlung"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsch als Fremdsprache)
Veranstaltung
Literaturgeschichte, Schlüsseltexte und Epochen
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
19
Katalognummer
V271411
ISBN (eBook)
9783656629634
ISBN (Buch)
9783656629627
Dateigröße
635 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literatur, Kafka, Verwandlung, Entfremdung, Marx, Arbeit, Samsa, Machtlosigkeit, Selbstentfremdung, Aufopferung, Familie, Ungeziefer, Arbeitstier
Arbeit zitieren
Sandra Braunstorfer (Autor:in), 2014, Die Entfremdung des arbeitenden Individuums in Franz Kafkas "Die Verwandlung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271411

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