Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung


Bachelorarbeit, 2014

45 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der falsche Gebrauch von Ockhams Rasiermesser

3. Ockhams Rasiermesser als methodologische Maxime

4. Platos Rettungsboot – eine notwendige Ergänzung zum Razor?

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Eigenständigkeitserklärung

1. Einleitung

Der Franziskanermönch und Spätscholastiker Wilhelm von Ockham (ca. 1287-1347)[1] darf neben so einflussreichen Denkern wie Augustinus, Johannes Duns Scotus und Thomas von Aquin als einer der bedeutendsten Philosophen und Theologen seiner Epoche gelten. Wenngleich sein Werk heutzutage nur von einigen auf diesem Gebiet spezialisierten Fachwissenschaftlern intensiv rezipiert wird, so hat doch in der modernen Wissenschaftstheorie ein Prinzip beachtliche und herausragende Geltung erlangen können, dessen Ursprung auf den Venerabilis Inceptor („Ehrwürdiger Beginner“), so der Beiname des Franziskaners, zurückgeht: Ockhams Rasiermesser. Es besagt, in unzähligen weiteren Formulierungsvarianten auftauchend, dass bei einer Auswahl mehrerer Theorien zur Erklärung eines Sachverhaltes immer diejenige zu wählen sei, die mit den wenigsten Annahmen auskommt.

Ockhams Rasiermesser ist unter vielen Bezeichnungen bekannt – Sparsamkeits-, Ökonomie-, Parsimonieprinzip, lex parsimoniae etc. sind nur einige davon. Der französische Philosoph Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780) nannte es „le rasoir des Nominaux[2], der schottische Denker Sir William Hamilton (1788-1856) bezeichnete es als das „law of parsimony“[3] und noch auf der selben Seite auch als
„ ‚Occam’s Razor’ “[4]. Bei Ockham selbst taucht es in mehreren Versionen auf. Die wohl geläufigsten sind „ ‚frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora’ “[5] („ ‚Umsonst geschieht durch Mehreres, was sich mit Wenigem tun läßt’ “[6]) und
„ ‚pluralitas non est ponenda sine necessitate’ “[7](„ ‚Eine Mehrheit darf nicht ohne Not zugrundegelegt werden’ “[8]). Definitiv nicht authentisch belegt ist die häufig zu findende [9] Formulierung „Entia non sunt multiplicanda sine necessitate“ („ ‚Seiendes darf nicht ohne Not vervielfacht werden’ “[10]).

Auf den ersten Blick scheint diese Regel der Sparsamkeit ein optimales Werkzeug im Baukasten methodologischer Wissenschaftsinstrumente zu sein. Was spräche denn auch großartig dagegen, zum Zwecke des Erkenntnisfortschrittes immer nach derjenigen Theorie zu streben, die mit Annahmen und Aussagen möglichst sparsam haushaltet, um einer bestimmten Erscheinung in der Natur nicht mit unnötigem Hypothesenballast begegnen zu müssen? Und doch trieb mich bei der Beschäftigung mit Ockhams Rasiermesser ein Gedanke um: Was, wenn bestimmte Sachverhalte in der Natur viel zu komplex sind, um durch eine „einfache“, mit Annahmen sparsam operierende Theorie hinreichend erklärt werden zu können? Was, wenn durch die Anwendung von Ockhams Rasiermesser es nicht, wie es eigentlich der Fall sein sollte, zu einem Erkenntnisfortschritt kommt, sondern zu einer Behinderung des wissenschaftlichen Fortschritts, weil komplexe Muster durch die Applikation einer zu sparsamen Theorie verdeckt werden?

Bei den Vorüberlegungen zu meiner Arbeit hat mich vor allem eines interessiert: Die Anwendung und Brauchbarmachung von Ockhams Rasiermesser im Zuge der sogenannten „Skeptikerbewegung“.

Die Skeptikerbewegung ist eine international vertretene, professionell organisierte Bewegung von teils Wissenschaftlern, teils interessierten Laien mit dem Ziel, das Vordringen von Pseudowissenschaften, Verschwörungstheorien und Aberglauben in der Gesellschaft zu bekämpfen. Zu den bedeutenden Skeptikerorganisationen gehört etwa das 1976 gegründete Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (CSICOP, mittlerweile nur noch Committee for Skeptical Inquiry, CSI). In Deutschland vertritt die 1987 gegründete Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) die Interessen ihrer Mitglieder und tritt dafür ein, in der Öffentlichkeit para- oder pseudowissenschaftlichen Themengebieten (Homöopathie, Ufos, das Bermuda-Dreieck, Parapsychologie, Verschwörungstheorien zu einer angeblichen „Neuen Weltordnung“ durch die Illuminaten u.v.m.) mit wissenschaftlicher Vernunft und Aufklärung zu begegnen.

Angesichts solcher Zielsetzungen, wie sie von CSI und der GWUP angestrebt werden, liegt es nahe und scheint es überaus verlockend, in der argumentativen Auseinandersetzung mit Diskussionsgegnern, die außergewöhnliche Behauptungen aufstellen, auf Ockhams Rasiermesser zurückzugreifen. Zu denken ist hier etwa an einen Skeptiker, der die These eines Esoterikers, der Mensch besitze eine unsterbliche und immaterielle Seele, unter Rückgriff auf Ockhams Rasiermesser zurückzuweisen sucht, da diese eine überflüssige Entität postulieren würde, die man nun „wegrasieren“ müsse. Dass der Razor für die Skeptikerbewegung durchaus eine wichtige Rolle spielt, zeigt auch, dass im Skeptical Inquirer, der Zeitschrift des CSI, ein Artikel des Autoren Elie A. Shneour erschien, in dem dieser sich mit dem Rasiermesser näher auseinandersetzt. Shneour schreibt:

Ockham is associated with his famous intellectual razor by the enunciation of this principle: Non sunt multiplicanda entia praeter necessitatem, which roughly translated means that things must not be multiplied beyond necessity […]. It affirms that parsimony in thought is usually closest to the truth or that the simplest explanation for an observation is most likely to be the correct one.[11]

Dieser kurze Aufsatz Shneours, der immerhin für den Skeptiker, der Zeitschrift der GWUP, ins Deutsche übersetzt und in Auszügen erneut publiziert wurde[12], soll im folgenden als programmatisch für die Verwendung von Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung begriffen werden. Aufbauend auf einer Argumentation gegen diese höchstproblematische Sichtweise auf das Sparsamkeitsprinzip – zuversichtlich merkt Shneour sogar an, dass „The honest and simple application of this principle to paranormal claims would quickly consign most of them to oblivion“[13] und versteigt sich gar zu der Aussage, dass

Thus far, UFO sightings, the Bermuda Triangle, dowsing, biorhythms, astrology, the Loch Ness monster, psi phenomena, and the like have not been able to withstand the scrutiny of Occam’s Razor in separating fact from fiction.[14]

– möchte ich daher drei Arbeitshypothesen zu diesem wichtigen Instrumentarium des großen Scholastikers formulieren:

1. Ockhams Rasiermesser kann und darf nicht dazu gebraucht werden, tatsächliche
wissenschaftliche Anomalien oder auch nur pseudowissenschaftliche Konzepte
a priori zurückzuweisen. Aus den in These 2 genannten Gründen – Unmöglichkeit
der Beurteilung von Richtigkeit oder Wahrscheinlichkeit von Theorien mittels des
Rasiermessers – ist eine solche Zurückweisung nicht gerechtfertigt. Zudem zeigt sich
die ganz konkrete Gefahr, dass Ockhams Regel sogar dazu gebraucht werden kann,
Modelle zu rechtfertigen, die dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand
widersprechen und somit definitiv falsch sind.

2. Ockhams Rasiermesser ist seiner Natur nach eine methodologische Maxime. Unter
gar keinen Umständen darf es als ontologisches Prinzip aufgefasst werden. Die weit-
hin gebrauchte Formel Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem könnte
falscher nicht sein und birgt die unheilvolle Gefahr, mit dem Razor Dinge
statt Annahmen wegrasieren zu wollen. Stattdessen muss man Ockhams
Ökonomiegedanken als Verfahrensregel begreifen, deren Anwendung zwar helfen
kann, falsche Schlüsse zu vermeiden – eine Beurteilung der Richtigkeit oder auch nur
Wahrscheinlichkeit von Theorien lässt sich damit allerdings nicht vornehmen. Im
Übrigen besteht noch lange kein Zwang dazu, sich als Forscher streng an diese
Verfahrensregel zu halten. Überdies hinaus geht es dem Rasiermesser lediglich um
Sparsamkeit und sonst nichts. Reizvokabeln wie „einfacher“ oder „plausibler“ stellen
einen unzulässigen Psychologismus dar, der in wissenschaftstheoretischen
Diskussionen keine Rolle spielen darf.

3. Um einen radikalen Reduktionismus zu verhindern, der sich einstellen könnte, wenn
Ockhams Rasiermesser zu streng ausgelegt wird, ist es nötig, gewisse
Beobachtungsdaten und Erscheinungen durch ein Instrument zu „retten“, das als
notwendige Ergänzung zum Rasiermesser verstanden werden muss. Aufgabe dieses
Instruments muss es sein, die erzielten Erkenntnisse in das herrschende Weltbild zu
integrieren und sicherzustellen, dass sie durch eine zu willkürliche Anwendung des
Rasiermessers nicht „unter den Tisch fallen“. Eine böswillige „Rasur“ solcher
Resultate durch Ockhams Rasiermesser muss durch ein solches Instrument verhindert
werden können.

Zur Struktur und Vorgehensweise dieser Arbeit: Um meine Thesen zu untermauern, werde ich meine Argumentation auf drei wichtigen Texten aufbauen, deren Aussagen zentral sind, um Ockhams Rasiermesser begreifen zu können. Jedem der drei Texte ist ein Kapitel gewidmet. Dabei wird die grundlegende Argumentation der Texte nicht nur wiedergegeben, sondern auch immer wieder mit ergänzenden Belegen, Hinweisen und Kommentaren durchbrochen, wo dies notwendig erscheint. Am Ende jedes Kapitels findet sich ein kurzes Fazit, das die Bedeutung des jeweiligen Aufsatzes vor Augen führen soll.

Den Anfang macht ein Aufsatz von Dieter Gernert aus dem Jahre 2007[15]. Gernert zeigt in vielfacher Weise auf, dass Ockhams Rasiermesser für eine radikal reduktionistische Zurückweisung wissenschaftlicher Anomalien missbraucht werden kann – eine Verwendung, die bereits der Titel als „Improper Use[16] charakterisiert. Der Autor skizziert die zahlreichen Vorurteile und psychologisch-kognitiven Zerrmuster, die die Methodenregel des Venerabilis Inceptor zu einer Waffe im Glaubenskampf gegen Anomalien verkommen lassen. Seine Erörterung ist vor allem der Versuch, aufzuzeigen, in welchen Fällen eine Anwendung von Ockhams Rasiermesser unbegründet und für den Erkenntnisfortschritt sogar gefährlich sein kann.

Der zweite Aufsatz ist von Jan Peter Beckmann und stammt aus dem Jahre 1990. Beckmann widmet sich ausführlich einer genauen Charakterisierung des Wesens und der wissenschaftstheoretischen Geltung des Rasiermessers. Er vertritt die These, dass es sich bei Ockhams Parsimonieprinzip nicht um ein ontologisches Prinzip handeln könne, sondern um eine methodologische Maxime. Ausgehend von dieser These klärt er bestehende Missverständnisse zum Rasiermesser und zeigt Chancen und Grenzen des Anwendungs- und Wirkungsbereichs des Razors auf. So lernen wir bei Beckmann, dass Ockhams Rasiermesser keineswegs als allheilendes „Wundermittel“ der Wissenschaftstheorie verstanden werden darf und eine genaue Anwendung dieses Instruments stets sorgfältig abgewogen sein sollte. Neben dem historischen Ursprung des Rasiermessers erfahren wir darüber hinaus auch, dass es Ockham keineswegs um im Zusammenhang mit dem Razor oft gebrauchte Reizwörter wie „einfacher“ oder „leichter“ geht und dass die Richtigkeit oder Falschheit von Theorien unabhängig von der Anwendung des Rasiermessers gegeben sein kann.

Zu guter Letzt wird der Aufsatz der Autoren Harald Walach und Stefan Schmidt diskutiert[17], die den Vorschlag machen, ergänzend zu Ockhams Rasiermesser ein weiteres Methodeninstrument in den Wissenschaften zu etablieren, das einer zu reduktionistischen Verwendung des Rasiermessers Einhalt gebieten solle: Platos Rettungsboot. Die Entstehung dieses Prinzips führen die Autoren auf den Ursprung der Kosmologie in der Antike zurück. Walach und Schmidt ist besonders daran gelegen, Ockhams Rasiermesser mit Platos Rettungsboot „auszusöhnen“ und auf diese Weise eine starke Symbiose beider Konzepte zu erschaffen, die es ermöglichen solle, aus Sicht der Autoren bisher im Forschungsbetrieb „diskriminierte“ und „totgeschwiegene“ paranormale Phänomene wie Fernheilung, Telepathie, Psychokinese, Präkognition usw. in unser modernes Weltbild zu integrieren. Dabei wird sich der Autor dieser Bachelorarbeit die Theorien des Autorenduos hinsichtlich paranormaler Phänomene nicht zu Eigen machen, sondern lediglich der Frage Beachtung schenken, wie die Fusion von Rasiermesser und Rettungsboot zustande kommt und ob Letzteres ein adäquates Mittel in der Wissenschaftstheorie sein kann.

In einem abschließenden Fazit am Ende meiner Untersuchung sollen die bisher gemachten Erkenntnisse zu Ockhams Rasiermesser zusammengefasst werden. Welche Ergebnisse zeitigt die Analyse im Hinblick auf die wissenschaftstheoretische Stellung des Razors? Welche Stellung nimmt der Ökonomiegedanke in der modernen Forschungsprogrammatik ein? Lassen sich außergewöhnliche Behauptungen mit diesem Instrument angemessen zurückweisen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Sollten wir nicht auch Platos Rettungsboot in die Betrachtung miteinbeziehen, wenn wir Theorien und Hypothesen aufstellen wollen? Verdient dieses Instrument eigentlich den enorm guten Ruf, den es zweifellos trägt? Diesen Fragen und der Verteidigung der genannten drei Thesen will die hiermit vorliegende Untersuchung gewidmet sein.

2. Der falsche Gebrauch von Ockhams Rasiermesser

Bereits zu Beginn seines Aufsatzes macht Gernert in einem kurzen Abstract[18] deutlich, woran ihm gelegen ist. Er definiert Ockhams Rasiermesser in aller Kürze als „methodological principle, due to the medieval philosopher William of Ockham, who mainly opposed an unjustified creation of new terms in philosophy“[19]. Die Motivation für diesen Aufsatz sei die Tatsache, dass „this principle and its later versions are frequently quoted in discussions about anomalies“[20], wobei der Autor möglicherweise skeptische Einwände im Blick hat, die darauf abzielen, außergewöhnliche Behauptungen mit der Begründung zurückweisen zu können, dass diese Behauptungen das wissenschaftliche Sparsamkeitsprinzip verletzen würden – man denke hier etwa an ein Streitgespräch zwischen einem Esoteriker, der die Existenz einer Seele behauptet und an seinen skeptischen Diskussionsgegner, der diese Existenzbehauptung zurückweist mit der Begründung, das Vorhandensein einer Seele sei eine überflüssige Zusatzannahme, die Ockhams Rasiermesser zuwiderlaufe. Gernert folgert, dass „An incorrect use of Ockham's Razor only leads to a perpetuation and corroboration of existing prejudice“[21] gegenüber wissenschaftlichen Anomalien und stellt daher die Forderung auf, dass „this principle should not be used to easily get rid of unwelcome data or concepts“[22].

In einem ersten Abschnitt auf S. 135 hebt Gernert ein immer wiederkehrendes Muster („a Recurrent Pattern[23]) hervor, das er „misinterpretations of empirical facts[24] nennt. Diese „Fehlinterpretationen von empirischen Fakten“ bestehe aus zwei Komponenten: erstens darin, dass gewisse Phänomene zu Unrecht und in irriger Weise als wahr anerkannt würden, obwohl diese Erscheinungen wissenschaftlich nicht haltbar seien („erroneous acceptance of phenomena“[25] – Gernert nennt hier als Beispiele
N-Strahlen, Polywasser und den Piltdown-Menschen [26]) und zweitens darin, dass im Gegensatz hierzu bestimmte Phänomene zunächst ungerechtfertigterweise zurückgewiesen würden, die sich im Nachhinein jedoch als wahr herausstellten („unjustified rejection of phenomena“[27] – hier nennt der Autor etwa Meteoriten, Kugelblitze, die Kontinentalverschiebung und Reverse Transkriptasen [28]).

Im zweiten Abschnitt auf S. 136 nimmt sich Gernert nun des eigentlichen Sparsamkeitsgedankens Ockhams an. Er definiert Ockhams Rasiermesser als
„ ‚methodolodical principle, particularly in the context of ontological issues, according to which philosophy and science should assume as few theoretical entities as possible for purposes of explanation, explication, definition etc’ “[29]. Dieses Gesetz der Parsimonie wiederum erscheine, so Gernert, in zwei Ausprägungen: „ ‚Pluralitas non est ponenda sine necessitate’ and ‚Frustra fit per plura, quod potest fieri per pauciora’ “[30]. Der entscheidende Satz ist jedoch folgender: „the frequently cited form ‚Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem (sine necessitate)’ (entities must not be multiplied beyond necessity) does not occur in Ockham“[31].

Dieses vorläufige Fazit muss nun überraschen, glaubt man doch als Wissenschaftler oft, mit Ockhams Rasiermesser eine Methodik an der Hand zu haben, mittels derer man dazu in die Lage versetzt würde, viele außergewöhnliche Behauptungen (wie etwa die, der Mensch besitze eine Seele oder sogenannte „Ufos“ seien Raumschiffe Außerirdischer) aufgrund ihrer vermeintlichen Verletzung des Sparsamkeitsgedankens zurückzuweisen. Dass dem allerdings nicht so ist – zumindest dann nicht, wenn man derlei Behauptungen unter Rückgriff auf die dritte Formulierung angreifen wollte, denn diese taucht ja, wie gezeigt, bei Ockham nicht auf – weist Gernert überzeugend nach. Und er steht mit seiner Meinung nicht allein da: In Bezug auf die Formel Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem hält auch das Historische Wörterbuch der Philosophie fest, dass diese „bei Ockham nicht belegt ist“[32].

Den wahren Sinngehalt von Ockhams methodologischer Regel könne, so der Autor weiter, „be understood only in the context of the philosophical and theological debates of that time, especially on the ‚problem of universals’ “[33], wobei sich Gernert offenkundig auf den Universalienstreit der Scholastik bezieht.

Drei mögliche abgewandelte Versionen des ursprünglichen Ockham’schen Rasiermessers listet Gernert zum Ende dieses Abschnitts hin auf: 1) das Parsimonieprinzip („principle of parsimony[34]), das der Originalversion am nächsten komme und behutsame Umsicht fordere, was die Prägung neuer Begrifflichkeiten und Konzepte anginge [35], 2) das Einfachheitsprinzip („principle of simplicity[36]), das abziele auf „explanations, reasons, theories, etc., which should be as simple as
possible“[37] und 3) die Forderung nach Ausschluss unnötiger Zusatzannahmen („demand for an exclusion of unnecessary additional hypotheses[38]).

[...]


[1] Ockham wird zitiert nach der historisch-kritischen Ausgabe: Venerabilis Inceptoris Guillelmi de Ock-
ham: Opera Philosophica et Theologica ad fidem codicum manuscriptorum edita. St. Bonaventure, New
York: Cura Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae, 1974-1988. 17 Bde. Dabei steht OP für
Opera philosophica und OT für Opera theologica, gefolgt von einer
römischen Ziffer, die den betreffenden Band angibt.

[2] de Condillac, Étienne Bonnot: Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746). Paris: Libraire
Armand Colin, 1924. I, sect. 5 §5, Anm., S. 92.

[3] Hamilton, William: Discussions on philosophy and literature, education and university reform. London:
Longman, Brown, Green and Longmans, 1852. Appendix I, S. 590.

[4] Ebd.

[5] So etwa in Boehner, Philotheus; Gál, Gedeon; Brown, Stephanus (Hrsg.): Summa logicae I, 12. OP I.
St. Bonaventure, 1974. S. 43. In: Venerabilis Inceptoris Guillelmi de Ockham, a.a.O. Für weitere Beleg-

Belegstellen vgl. Beckmann, Jan P.: Ontologisches Prinzip oder
methodologische Maxime? Ockham und der Ökonomiegedanke einst und jetzt. In: Vossenkuhl,
Wilhelm; Schönberger, Rolf (Hrsg.): Die Gegenwart
Ockhams. Weinheim: VCH-Verlagsgesellschaft, 1990. S. 191-207.

[6] Beckmann, Jan P.: Wilhelm von Ockham. Beck’sche Reihe Denker; 533. 2. Aufl. 2010. München: C.H.

Beck, 1995. S. 43.

[7] So etwa in Gál, Gedeon; Brown, Stephano (Hrsg.): Scriptum in Librum primum Sententiarum Ordinatio.
Prologus et distinctio Prima. Prol., q 1; d. 1; q. 3. OT I. St. Bonaventure, 1967. S. 74 u. passim. In:
Venerabilis Inceptoris Guillelmi de Ockham, a.a.O. Für weitere Belegstellen vgl. Beckmann 1990,
S. 203, Anm. 4.

[8] Beckmann 1990, S. 43.

[9] Für eine Auswahl an Belegstellen für diese falsche Formulierung in der philosophischen Literatur vgl.
Beckmann 2010, Anhang II., Anm. 10, S. 193.

[10] A.a.O., S. 42.

[11] Shneour, Elie A.: Occamʹs Razor. In: Skeptical Inquirer Vol. 10 (1986). S. 310-313. Hier: S. 311.

Hervorhebung wie im Original.

[12] Shneour, Elie A.: Ockams Kriterium (Occamʹs Razor). Auszugsweise aus dem Amerikanischen über-

setzt von C.H. Roß. In: Der Skeptiker 1, Jg. 1 (1987). S. 3-4.

[13] Shneour 1986, a.a.O., S. 311.

[14] Ebd.

[15] Gernert, Dieter: Ockham's Razor and Its Improper Use. In: Journal of Scientific Exploration Vol. 21,
No. 1 (2007). S. 135-140.

[16] A.a.O., S. 135. Hervorhebung wie im Original.

[17] Walach, Harald; Schmidt, Stefan: Repairing Plato’s Life Boat with Ockham’s Razor. The Important
Function of Research in Anomalies for Consciousness Studies. In: Journal of Consciousness
Studies Vol. 12, No. 2 (2005). S. 52-70.

[18] Gernert, a.a.O., S. 135.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Ebd

[22] Ebd.

[23] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[24] Ebd. Hervorhebungen wie im Original.

[25] Ebd.

[26] Vgl. für die drei Beispiele ebd.

[27] Ebd.

[28] Vgl. für die vier Beispiele ebd.

[29] Gethmann, C.F.: Ockham’s razor. In: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissen-
schaftstheorie. 4 Bde. Bd. 2 H-O. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut, 1984.
S. 1063-1064. Hier: S. 1063. Zit. nach: Gernert, a.a.O., S. 136.

[30] Gernert, a.a.O., S. 136.

[31] Ebd.

[32] Cloeren, H.J.: Ockham’s razor. In: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörter-

buch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‹Wörterbuchs der philosophischen Begriffe›
von Rudolf Eisler. 13. Bde. Bd. 6 Mo-O. Basel/Stuttgart: Schwabe, 1984. S. 1094-1096. Hier: S. 1094.

[33] Gernert, a.a.O., S. 136.

[34] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[35] Vgl. ebd.

[36] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

[37] Ebd.

[38] Ebd. Hervorhebung wie im Original.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung
Hochschule
Universität Münster  (Philosophisches Seminar)
Note
2,5
Autor
Jahr
2014
Seiten
45
Katalognummer
V272013
ISBN (eBook)
9783656640950
ISBN (Buch)
9783656641001
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ockhams, rasiermesser, skeptikerbewegung
Arbeit zitieren
Kim Schlotmann (Autor:in), 2014, Ockhams Rasiermesser in der Skeptikerbewegung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272013

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